Verzehrende Leidenschaft (ePub)
August 1400: Nach einem Schiffbruch findet sich Moira Robertson an der rauen Nordwest-Küste Schottlands wieder – das Unwetter hat ihr alles geraubt, außer den Kleiderfetzen, die sie am Leib trägt – und dem geheimnisvollen Fremden, der ihr auf dem Schiff zu...
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Produktinformationen zu „Verzehrende Leidenschaft (ePub)“
August 1400: Nach einem Schiffbruch findet sich Moira Robertson an der rauen Nordwest-Küste Schottlands wieder – das Unwetter hat ihr alles geraubt, außer den Kleiderfetzen, die sie am Leib trägt – und dem geheimnisvollen Fremden, der ihr auf dem Schiff zu Hilfe kam. Auch wenn sie langsam zu dem respektlosen Unbekannten Vertrauen fasst, fürchtet sie, sich an dem Feuer, das er in ihr entfacht hat, zu verbrennen...
Tavig MacAlpin ist auf der Flucht. Ein Edelmann – zu Unrecht des Mordes angeklagt. Mit der Suche nach Verbündeten hat er eigentlich genug zu tun. Doch der rothaarigen Schönheit, die ihm das Schicksal geschickt hat, ist er sofort verfallen...
''Wenigen Autoren gelingt es, die schottischen Highlands so kenntnisreich und farbenprächtig zu beschreiben wie Hannah Howell'' Publishers Weekly
Tavig MacAlpin ist auf der Flucht. Ein Edelmann – zu Unrecht des Mordes angeklagt. Mit der Suche nach Verbündeten hat er eigentlich genug zu tun. Doch der rothaarigen Schönheit, die ihm das Schicksal geschickt hat, ist er sofort verfallen...
''Wenigen Autoren gelingt es, die schottischen Highlands so kenntnisreich und farbenprächtig zu beschreiben wie Hannah Howell'' Publishers Weekly
Lese-Probe zu „Verzehrende Leidenschaft (ePub)“
Verzehrende Leidenschaft von Hannah HowellVor der Küste im Nordwesten Schottlands - August 1400
Na komm schon, Mädchen, meine Schmeicheleien verdienen doch wenigstens ein kleines Lächeln!«
Moira warf einen verstohlenen Blick auf den Mann vor ihr. Er ließ sie kaum aus den Augen, seit sie vor drei Tagen aufs Schiff gekommen waren. Die krumme Annie, ihre scharfzüngige Aufpasserin, hatte etwas über diesen Mann gegrummelt und Moira streng angewiesen, ihm aus dem Weg zu gehen. Doch das war gar nicht so einfach auf einem derart kleinen Schiff.
Der Mann hatte etwas Seltsames an sich. Sein schwarzes Haar war von grauen Strähnen durchzogen, und um die Taille war er so füllig, dass sein Wams spannte. Sein schwarzer Bart war struppig, und seinen Hut hatte er so tief in die Stirn gezogen, dass man seine Augen kaum sehen konnte.
... mehr
Das alles wies auf einen schmuddeligen älteren Mann hin, doch Moira hatte noch einiges andere bemerkt, was in dieses Bild nicht recht passen wollte. Die engen Ärmel seines eleganten kurzen schwarzen Rocks ließen starke, schlanke Arme erahnen. Seine ebenfalls schwarze Hose saß so knapp, dass sich darunter lange, wohlgeformte Beine abzeichneten. Seine Stimme war tief und kräftig, die Stimme eines vor Lebenslust sprühenden jungen Mannes. Seine Bewegungen wirkten geschmeidig und elegant, auch sie passten nicht zu seinem offenkundigen Alter und seiner Leibesfülle. Als er sie jetzt anlächelte, war Moira überzeugt, dass er nicht der war, der zu sein er vorgab. Diese Erkenntnis verstärkte jedoch ihr Unbehagen. Als sie sich suchend nach der krummen Annie umblickte, stellte sie zu ihrem Verdruss fest, dass die gichtige Alte sich gerade an einen ebenso gichtigen alten Matrosen heranmachte.
»Sie wird gleich kommen, um Euch zu tadeln und Euch wegzuzerren«, meinte der Mann.
»Ich glaube, ich gehe lieber zu ihr.« Moira keuchte überrascht auf, als er sie bei der Hand packte und festhielt.
»Aber, aber! Ihr wollt der Alten doch nicht die Gelegenheit zu einer kleinen Schäkerei verderben, oder?«
Moira war über seine unverblümten Worte empört. Dass Annie möglicherweise ans Schäkern dachte, warf sie beinahe ebenso aus der Bahn wie die Berührung dieses seltsamen Mannes. Er fing an zu grinsen, runzelte dann aber die Stirn. Offensichtlich hatte er die Angst in ihrer Miene bemerkt. Daran war ihr Vormund schuld, der oft genug dafür sorgte, dass sie Männer fürchten gelernt hatte. Es war zwar unberechtigt, aber in dem Moment, als der Bursche sie bei der Hand gepackt hatte, war sie in Erwartung einer Ohrfeige erstarrt.
»Ach, mein armes, süßes, ängstliches Kindchen, Ihr braucht Euch doch vor dem alten George Fraser nicht zu fürchten!«
Da es sie ärgerte, dass dieser Mann sie als Kindchen bezeichnete, fasste sie sich ein Herz und befreite sich aus seinem Griff. »Meiner Meinung nach, Mr Fraser, sollte ein Kindchen gut aufpassen, wenn ein dreimal so alter Mann versucht, mit ihm zu schäkern.«
»Dreimal so alt?« George schnappte nach Luft, doch dann machte er sich an seinem Wams zu schaffen und zuckte die Schultern. »Das Alter hält einen Mann nicht davon ab, sich am Anblick eines hübschen jungen Mädchens zu erfreuen.«
»Dann sollte Euch vielleicht Eure Gemahlin davon abhalten.«
»Das hätte sie wohl getan, aber sie weilt nicht mehr unter uns.« Seufzend lehnte er sich an die Reling. »Meine gute Margaret hat sich vor drei Jahren ein Fieber eingefangen und ihren letzten Atemzug ausgehaucht.«
»Oh, das tut mir leid, Sir.« Sie tätschelte seinen Arm, doch ihr Mitgefühl schwand, als sie merkte, wie stark und schlank dieser sich anfühlte. »Ich wollte keine schmerzlichen Erinnerungen wecken.«
»He, Sir, lasst bloß Eure alten Pfoten von dem jungen Mädchen!«, fauchte die krumme Annie und zerrte Moiras Hand von seinem Arm, bevor er seine Hand darauf legen konnte.
»Wir haben uns doch nur über seine Gemahlin unterhalten«, protestierte Moira und versuchte, sich aus Annies eisernem Griff zu befreien. Aber die mit Altersflecken übersäte Klaue des Weibs lag wie eine Fessel um ihr Gelenk.
»Na, die sollte dem alten Lustmolch mal eine deftige Abreibung verpassen.«
»Annie«, ächzte Moira und errötete ob der derben Sprache ihrer Betreuerin. »Seine Gemahlin ist verstorben!«
»Ach so. Wahrscheinlich hat er sie mit seinen Liebeleien in den Tod getrieben.«
»Es tut mir leid, Sir.« Moiras Entschuldigung klang etwas unsicher, denn sie bemerkte, dass der Mann ein Grinsen unterdrückte.
»Jetzt komm schon.« Annie zerrte sie zu den kleinen Kajüten. »Du willst doch nicht etwa, dass der alte Bearnard dich im Gespräch mit einem Mann erwischt, oder?«
Der bloße Gedanke an ihren Vormund schickte Moira einen kalten Schauer über den Rücken. Sie hörte augenblicklich auf, sich gegen Annies festen Griff zu wehren. »Nay, das würde mir wahrhaftig nicht gefallen.«
Tavig MacAlpin sah seufzend zu, wie die krumme Annie Moira mit finsterer Miene abführte. Dann vergewisserte er sich, dass niemand ihn beobachtete, und rückte sorgsam die dicke Schicht um seine Taille zurecht. Seit er Moira Robertson zu Gesicht bekommen hatte, war ihm seine Verkleidung als ergrauender George Fraser wie ein wahrer Fluch erschienen, obwohl er wusste, dass sie momentan lebensnotwendig war. Die auf seinen Kopf ausgesetzte Summe war hoch genug, um selbst die standhaftesten Männer in Versuchung zu führen. Und die Männer auf dem kleinen Schiff waren nicht besonders standhaft.
Drei lange Tage hatte es gedauert, bis sich endlich eine Gelegenheit ergeben hatte, mit Moira ins Gespräch zu kommen. Allerdings fragte er sich, warum er überhaupt so erpicht darauf gewesen war. Er hatte sie eifrig beobachtet, wenn sie mit der gebeugten, grauhaarigen Pflegerin auf dem Deck herumschlenderte. Moiras leuchtend rotes Haar war immer zu festen Zöpfen geflochten, aber gelegentlich brachen ein paar widerspenstige Locken aus, um sich um ihr kleines, ovales Gesicht zu legen. Als er das Glück gehabt hatte, sie näher zu betrachten, staunte er, dass ihre weiche weiße Haut kaum Sommersprossen aufwies. Und er erinnerte sich noch sehr gut, wie verwundert er gewesen war, als er ihr zum ersten Mal in die Augen geblickt hatte. Er hatte mit braunen oder grünen Augen gerechnet, nicht jedoch mit den strahlenden blauen Augen, die dieses Mädchen besaß. Und wie groß diese Augen waren, dachte er nun und verzog den Mund zu einem schwachen Lächeln. Leise lachend gestand er sich ein, dass er keine Mühen gescheut hatte, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, nur damit er die großen blauen Augen mit ihren langen, dichten, dunklen Wimpern sehen konnte.
Er musste kichern, als ihm einfiel, dass er sich möglicherweise so gut an ihr Gesicht erinnerte, weil es von ihr sonst nicht viel zu sehen gab. Sie war ziemlich klein und ziemlich dürr. Es waren zwar weibliche Formen zu erahnen, aber auch die fielen eher klein aus. Moira Robertson gehörte mit Sicherheit nicht zu der Sorte Frauen, die Tavig normalerweise bevorzugte, doch er musste zugeben, dass sie dennoch seine volle Aufmerksamkeit erobert hatte.
Er fluchte, als er sich an die Angst erinnerte, die in ihren wundervollen Augen bei seiner Berührung aufgeflackert war. Diese Angst tauchte noch einmal überdeutlich auf, als die krumme Annie Moiras Vormund erwähnte. Selbst die Farbe auf Moiras hohen Wangenknochen war verblasst. Ihr Vormund, Sir Bearnard Robertson, war ein richtiger Tyrann, das hatte Tavig gleich bemerkt. Er hatte zwar nicht gesehen, dass der Kerl Moira schlug, traute es ihm jedoch durchaus zu. Er konnte nur hoffen, dass Bearnard das Mädchen in Ruhe ließ, zumindest so lange, bis er der Burg seines Cousins Mungan nahe genug und in Sicherheit war. Denn er wusste, wenn Bearnard Robertson die Hand gegen das Mädchen erhob, würde er dazwischentreten. Aber ein Kampf mit einem Mann in Robertsons Größe könnte seine Verkleidung ruinieren. Wenn man ihn erkannte, würde man ihn seinem hinterhältigen Cousin Iver ausliefern. Und dort erwartete ihn der Strick für eine Untat, die er nicht begangen hatte.
Plötzlich kam eine kühle Brise auf, und Tavig fröstelte. Fluchend zog er seinen schweren, schwarzen Umhang fester um sich und blickte finster in den Himmel. In die üblichen Abendwolken, Vorboten der nahenden Nacht, hatten sich ein paar unheilverkündende schwarze Wolken gemischt. Eine weitere eiskalte Böe wehte über das Deck, diesmal weit kraftvoller als die erste. Das verhieß nichts Gutes: Ein später Sommersturm zog auf. Tavig musste wohl oder übel bald in die winzige Kajüte zurück, die er mit drei weiteren Männern teilte. Das war ihm gar nicht recht, denn solche Nähe vergrößerte nur die Chance, enttarnt zu werden. Doch der Regen, den dieser Sturm mit sich bringen würde, war für seine Verkleidung weitaus gefährlicher. Deshalb nahm er sich vor, beim ersten Tropfen Schutz zu suchen.
Etwas Schweres lag auf Moiras Brust und holte sie langsam aus ihren Träumen. Als sie die Augen aufschlug, musste sie einen Schrei unterdrücken. Beim düsteren Licht einer Laterne, die man unvorsichtigerweise nicht gelöscht hatte und die nun wild an ihrem Haken tanzte, sah Moira, dass es sich nicht um die krumme Annie handelte, die sich auf sie gelegt hatte, sondern um Connor, den Bewaffneten ihres Vormunds. Einen Moment lang lag sie reglos da und wagte kaum zu atmen, bis sie merkte, dass von Connor keine Gefahr ausging; denn dazu war er viel zu betrunken. Ihre Angst schlug rasch in Zorn um.
Leise fluchend wand sie sich unter dem schnarchenden Mann heraus. Einen Moment lang dachte sie daran, sich auf dem Boden der Kajüte zum Schlafen zu legen, doch ihr wurde rasch klar, dass zwischen all den Betrunkenen, die dort lagen, kaum Platz für sie war. Deshalb drückte sie sich murrend an die Wand in der Hoffnung, sich von Connor fernzuhalten, der nach Alkohol und Schweiß stank. Zum hundertsten Mal fragte sie sich, warum sie sich nicht die Zeit genommen hatten, die Reise auf einem Pferdekarren zu bewältigen. Die Lösegeldforderung für ihre Cousine Una war schon vor Wochen eingetroffen. Ihr Vormund hätte genauso gut einen längeren, dafür aber bequemeren Weg wählen können, um seine Tochter zu retten. Selbst die schlechtesten Straßen hätten ihnen nicht so viel abverlangt wie diese Seereise. Und außerdem hätte sie dann nicht so beengt mit ihren Verwandten und deren Bediensteten in der viel zu kleinen Kajüte nächtigen müssen.
Das Schiff rollte, drehte sich um seine Längsachse. Moira runzelte die Stirn und spitzte die Ohren, während sie sich an den Rand des Strohsacks klammerte, um nicht gegen den laut schnarchenden Connor geworfen zu werden. Das kleine Schiff schlingerte in einer von Sturmböen gepeitschten See. Moiras Augen wurden groß, als sie hörte, wie Wind und Regen auf das Schiff einstürmten. Ja, sie waren wohl in ein Unwetter geraten, ein ziemlich schlimmes noch dazu, soweit sie das beurteilen konnte. Der Regen prasselte so heftig aufs Deck, dass es sich wie Trommelschläge anhörte, und der Wind heulte um das Schiff herum.
Annie! Moiras Herz machte vor Angst einen Sprung, als ihr ihre Begleiterin einfiel. Die Alte war nicht in der Kajüte. Vermutlich war sie hinausgeschlichen, um den Matrosen zu treffen, mit dem sie vorher geschäkert hatte, und saß nun in dem Sturm fest. Sie musste hinaus und sich vergewissern, dass Annie in Sicherheit war.
Mit angehaltenem Atem kroch Moira vorsichtig zum Fußende des Bettes. Sie holte ihren Umhang, den sie an einen Bettpfosten gehängt hatte, und warf ihn sich um die Schultern. Dann krabbelte sie auf allen vieren zur Tür. So, wie das Schiff rollte, wäre es unmöglich gewesen, aufrecht gehend einen Weg durch die Leute zu finden, die auf dem ganzen Boden verstreut lagen. Obwohl alle dank des reichhaltigen Alkoholgenusses tief zu schlafen schienen, bewegte sich Moira sehr behutsam, um niemanden aufzuwecken. Sie wollte lieber nicht gesehen werden. Wenn jemand sie ertappte, würde sie sich bestimmt vor ihrem Vormund rechtfertigen müssen.
Vor der Kajüte lehnte sie sich erst einmal an die Wand des engen Ganges und holte tief Luft. Was sollte sie nun tun? Vielleicht befand sich Annie ja in irgendeiner anderen Kajüte, im Trockenen und in Sicherheit? Doch diesen Gedanken verwarf sie kopfschüttelnd. Der Mann, mit dem Annie herum-geschäkert hatte, war nur ein einfacher Deckhelfer gewesen, ein armer Kerl ohne irgendeinen Rang. Er hatte bestimmt keinen eigenen Raum, zu dem er Annie hätte bringen können. Wenn überhaupt, befanden sich die beiden noch auf Deck. Es blieb ihr wohl nichts anderes übrig, als nachzusehen und sich zu vergewissern, dass die Alte wohlauf war.
Ihr erster Versuch wäre beinahe der letzte gewesen. Sobald sie die erste Stufe erklommen hatte, schlingerte das Schiff so heftig, dass sie stürzte und gegen die harte Wand prallte. Dort blieb sie erst einmal keuchend sitzen, bevor sie es erneut versuchte, auch wenn ihr ganzer Körper von dem Sturz schmerzte.
Als sie endlich auf dem Deck angelangt war, hätten der heulende Sturm und der prasselnde Regen sie beinahe gleich wieder vertrieben. Doch sie biss die Zähne zusammen und hangelte sich an allen Gegenständen in ihrer Reichweite vorwärts, um nach Annie zu suchen. Einerseits konnte sie sich kaum vorstellen, dass die Alte noch hier draußen war, doch sie lag auch nicht in ihrem Bett, wo sie hingehört hätte. Noch herrschte ein Zwielicht, das der Sturm nicht völlig verfinstert hatte, aber es würde trotzdem nicht leicht sein, in diesem Regen eine dürre alte Frau zu finden. Moira verfluchte die Alte herzhaft, während sie sich auf dem schlingernden Schiff mühsam weiterkämpfte.
Tavig sah die kleine Gestalt, die sich gegen Wind und Regen stemmte. Er schimpfte halblaut. In der letzten Stunde hatte er alles versucht, um zu seiner Kajüte zu gelangen, doch der Mannschaft fehlte ein Matrose, und der Kapitän hatte ihn aufgefordert mitzuhelfen. Tavig wusste, dass sich der Vermisste mit Annie herumtrieb. Außerdem wusste er, dass seine Verkleidung mit jedem Regentropfen schlechter wurde. Doch wenn er sich jetzt verdrückte, könnte es das Leben aller Leute auf diesem Schiff gefährden.
Und nun Moira. In der letzten Stunde hatte er inständig gehofft, dass er sich irrte und sie sich nicht auf die Suche nach ihrer liebestollen alten Begleiterin begeben würde. Hätte sich seine verdammte Hellsichtigkeit nicht wenigstens diesmal als falsch erweisen können? Doch nein - das Mädchen stolperte geradewegs in eine Menge Ärger, und das zu wissen bereitete ihm wahrhaftig keine Freude - noch dazu, weil ihm klar war, dass er gewissermaßen der Auslöser sein würde. Gerade fiel sie wieder hin, nur wenige Fuß von ihm entfernt, und klammerte sich an der Reling fest. Seufzend stolperte er zu ihr. Jetzt machte er sich nur noch Sorgen um ein einziges Leben.
»Was habt Ihr denn hier zu suchen?«, schrie er, um den wütenden Sturm zu übertönen. »Die wenigen Matrosen, die sich jetzt noch an Deck herumtreiben, sind alle angebunden. Und sobald wie möglich werden sich alle nach unten in Sicherheit bringen. Dort solltet auch Ihr Euch aufhalten.«
»Ihr doch genauso.«
»Ich musste helfen, die Schotten dichtzumachen.« Stirnrunzelnd blickte er zum Himmel, als Wind und Regen plötzlich nachließen. »Es sieht so aus, als müsste der Sturm Atem holen.«
»Gut. Jetzt werde ich Annie bestimmt finden.«
»Annie treibt es irgendwo mit ihrem Matrosen.« Er schüttelte den Kopf, als sie so heftig errötete, dass es selbst im Dämmerlicht nicht zu übersehen war.
»Das mag schon sein«, erwiderte sie verzagt. »Aber vielleicht steckt sie trotzdem in der Klemme. Sobald der Sturm losbrach, hätte sie sich in unsere Kajüte zurückziehen sollen.« Eine weitere Böe erfasste sie, und sie klammerte sich wieder fester an die Reling.
Tavig betrachtete sie. Wie konnte er sie nur dazu bringen, sich wieder unter Deck zu begeben? Dann erstarrte er. In ihm machte sich das kalte, bekannte Gefühl breit, dass er in Umständen feststeckte, die er weder beherrschen noch ändern konnte. Er bemühte sich, seine Angst und seine Hilflosigkeit nicht zu zeigen, aber er wusste, dass es ihm nicht ganz gelang, als er sagte: »Entfernt Euch von dieser Reling, Mädchen!«
Moira runzelte die Stirn. Seine Stimme klang seltsam angestrengt. Sie erstarrte. War Master Fraser etwa nicht nur der alte Lüstling, für den sie ihn gehalten hatte, sondern noch etwas weitaus Gefährlicheres?
»Das werde ich tun, sobald der Wind wieder etwas nachlässt«, erwiderte sie. Aber vielleicht sollte sie sich lieber möglichst rasch aus der Reichweite dieses Mannes entfernen?
»Der Wind wird nicht nachlassen«, fauchte er. »Wir befinden uns mitten in einem Unwetter. Die kleine Atempause wird nicht sehr lange dauern, danach wird der Sturm wahrscheinlich sogar noch heftiger toben. Und jetzt entfernt Euch endlich von dieser elenden Reling!«
In dem Moment, als sie beschloss, seiner Aufforderung zu folgen, nur damit er endlich Ruhe gab, bemerkte sie etwas, das sie innehalten ließ: Master Frasers Haar war nicht mehr so grau und stumpf wie vorher. Die graue Farbe war herausgesickert und hatte sich in klebrigen Klumpen an den Spitzen gesammelt. Verwundert starrte sie ihn an. Vor ihren Augen löste sich gerade eine der wenigen noch verbliebenen grauen Strähnen auf, die Farbe glitt nach unten. Master Fraser war mit Sicherheit nicht der, der zu sein er vorgab. Überwältigt von Neugier, streckte sie die Hand aus, um seine Haare zu berühren.
»Euer Alter wird vom Regen weggespült«, murmelte sie. Doch gleich darauf riss sie erschrocken die Augen auf, weil ihrem Gegenüber ein derber Fluch entfuhr.
»Ich wusste, dass das passieren würde«, grollte er. »Ich muss sofort ins Trockene.« Er packte sie so unsanft, dass sie gegen ihn taumelte.
»Hier steckst du also - um herumzuhuren!«
Bestürzt schrie Moira auf, als sie von ihrem Vormund, Sir Bearnard, grob gepackt und weggerissen wurde. »Nay, Sir, ich schwöre, ich bin nur hier, um die krumme Annie zu suchen«, erwiderte sie kläglich.
»Und das tust du in den Armen dieses Gauners?«, knurrte er und schüttelte sie heftig. »Willst du etwa all deinen Sünden auch noch die Lüge hinzufügen, du kleines Miststück?«
Als Bearnard mit seiner feisten Hand zum Schlag ausholte, drehte sich Moira rasch um. Sie versuchte, möglichst ruhig zu bleiben, um all die Spannung und den Widerstand aus ihrem Körper zu vertreiben. Im Lauf der Jahre hatte sie gelernt, dass Bearnards Schläge an Wucht verloren, wenn ihr Körper schlaff war. Sie gab keinen Laut von sich, als er sie mit dem Handrücken quer übers Gesicht schlug und sie auf das Holzdeck fiel. Auf allen vieren landend, senkte sie hastig den Kopf, ohne ihren Vormund ganz aus den Augen zu lassen. Sie wollte darauf vorbereitet sein und den schlimmsten Schmerz vermeiden, falls er beschloss, seinen brutalen Tadel noch mit ein paar Tritten zu verstärken.
Auf einmal störte ein seltsames Geräusch ihre Konzentration. Sie schüttelte den Kopf, aber das Geräusch stammte nicht daher, weil ihr Kopf vom Schlag ihres Vormunds dröhnte. Nein, dieses Geräusch war ein leises, grimmiges, wütendes Fauchen, ausgestoßen von dem Mann, der sich George Fraser nannte. Moira drehte sich herum und setzte sich aufrecht hin, um ihn besser sehen zu können. Sie sperrte den Mund vor Staunen weit auf, als sich der Bursche auf Bearnard stürzte und den viel größeren, schwereren Mann mit einem Fausthieb zu Fall brachte.
»Ihr seid wirklich ein schneidiger Kerl, Robertson«, grollte er verächtlich. »Es erfordert einiges an Mut, um ein kleines, zierliches Mädchen zu schlagen.«
»Hütet Eure Zunge, Sir«, schrie Bearnard, während er sich wieder aufrappelte. »Einem Mann, der einem Mädchen nachstellt, das gerade mal halb so alt ist wie er, steht es kaum zu, sich derart selbstgerecht über andere zu empören. Ihr seid doch nur ein alter Lustmolch, der versucht, ein törichtes junges Ding zu verführen.«
»Selbst wenn dem so wäre, würde es mich trotzdem noch zu einem besseren Mann machen im Vergleich zu einem brutalen Hundesohn, der sich anschleicht, um ein argloses junges Mädchen zu verprügeln.«
Bearnard schnaubte wutentbrannt, dann stürzte er sich auf Master Fraser. Die beiden Männer gingen krachend zu Boden. Moira schrie entsetzt auf. Ohne zu wissen, was sie tun sollte, trat sie näher an die Kämpfenden heran. Doch irgendetwas musste sie tun, um den Streit zu beenden, den sie, ohne es zu wollen, entfacht hatte.
»Sei bloß nicht so blöd!«, erklang eine tiefe Stimme hinter ihr, und Arme legten sich um ihre Taille.
Sie drehte den Kopf um. »Nicol!«, rief sie, als ihr Blick auf ihren Cousin fiel. »Wo kommst du denn her?«
»Ich bin Vater gefolgt, als er sich auf die Suche nach dir gemacht hat. Wahrscheinlich hatte ich eine Eingebung, dass du kurz davor stündest, eine große Torheit zu begehen. Grundgütiger, Moira, warum willst du denn mit dem alten Narren da herumtändeln?«
»Ich habe nicht mit ihm herumgetändelt. Ich war auf der Suche nach der krummen Annie, und Master Fraser wollte mich überreden, zurück in meine Kajüte zu gehen.«
»Es wäre besser gewesen, du hättest sie nie verlassen«, murrte Nicol, dann meinte er plötzlich: »Der Bauch deines Retters ist verrutscht!«
Was sollte das denn heißen? Moira blickte auf die Kämpfenden. Mittlerweile waren wieder beide auf den Beinen und umkreisten einander wachsam, jeder darauf bedacht, eine Blöße zu finden, um den anderen anzugreifen. Als sie Master Fraser musterte, riss sie erstaunt die Augen auf. Sein weicher Bauch beulte sich in einem unregelmäßigen Klumpen an seiner linken Seite. Sein Wams war aufgerissen, und irgendetwas hing ihm über dem Bund der anliegenden Hose. Als sie genauer hinsah, merkte sie, dass Master Frasers weicher Bauch nur aus zusammengerollten Lumpen bestand.
»Das Grau in seinen Haaren ist auch weggespült worden«, sagte sie.
»Aye«, pflichtete Nicol ihr bei. »Der Mann ist nicht der, der zu sein er vorgibt. Verflixt noch mal, ich glaube, ich weiß, wer das ist.«
Bevor Moira Nicol um eine Erklärung bitten konnte, hatte der sich schon zu seinem Vater aufgemacht. Bearnard war inzwischen zum Angriff übergegangen und hatte seinen Gegner, der um einiges kleiner war als er, mit einem Fausthieb niedergestreckt. Dabei hatte George Fraser seinen Hut verloren, den nun der Wind packte und aufs Meer hinauswehte. Seine mittlerweile vollkommen schwarzen Haare flatterten ihm um den Kopf, während er sich bemühte, Bearnard davon abzuhalten, die feisten Hände um seinen Hals zu legen. Fraser war nun eindeutig als ein junger, kräftiger Mann zu erkennen.
Nicol trat einen weiteren Schritt auf seinen Vater zu, während dieser mitten in seiner Bewegung innehielt. Die Mienen der zwei Männer verrieten Moira, dass sie nun beide den Mann erkannt hatten und überrascht waren, dass er an Bord war. Frasers Gesichtsausdruck sagte ihr, dass es ihm gar nicht recht war, erkannt worden zu sein. Sie erstarrte. Plötzlich hatte sie Angst um den Mann, der sie so galant hatte verteidigen wollen.
»Tavig MacAlpin!«, entfuhr es Bearnard. Er sprang hoch und griff nach seinem Schwert.
»Jawohl. Und was geht Euch das an?«, fauchte Tavig, während er langsam aufstand und sich vor den Robertsons aufbaute.
»Das geht jeden rechtschaffenen Mann zwischen hier und London etwas an.«
»Ihr seid kein rechtschaffener Mann, Robertson, sondern ein brutaler Schläger, der andere mit seinen Fäusten und seinem unerschöpflichen Vorrat an Brutalität in Schach hält. Achtung oder Zuneigung sind Euch fremd, deshalb weckt Ihr Furcht in den Menschen um Euch herum.« Tavig legte langsam die Hand auf sein Schwert und stellte sich auf den Angriff ein, mit dem er fest rechnete. »Es ist ein Wunder, dass Ihr so lange überlebt habt und dass Euch noch keiner den fetten Hals durchgeschnitten hat.«
»Und Ihr wärt wohl der Richtige dafür, stimmt's? Nichts gefällt Euch besser, als Euch von hinten anzuschleichen und einem Mann die Kehle aufzuschlitzen - oder den Bauch, wie Ihr es bei Euren Freunden getan habt. Euer Cousin Iver MacAlpin hat eine stattliche Summe auf Euch ausgesetzt, und die werde ich mir holen.« Bearnard zückte sein Schwert und stürzte sich auf Tavig.
»Vater!«, schrie Nicol. »Sir Iver will den Mann lebendig.« »Der Mistkerl verdient den Tod«, knurrte Sir Bearnard. »Kommt doch und versucht es«, höhnte Tavig. »Na ja, viel-
leicht habt Ihr ja sogar Glück, aber bevor ich sterbe, schlitze ich
Euch noch den Bauch auf, Mistkerl!«
Wutschnaubend griff Bearnard immer heftiger an, doch Tavig parierte jeden Schlag. Er wollte nicht sterben, aber er wollte auch nicht gefangen genommen werden. Wenn er an seinen verräterischen Cousin Iver ausgeliefert wurde, würde er einen langsamen, qualvollen Tod für zwei Morde sterben, die er nicht begangen hatte. Wenn er den Kampf gegen Robertson nicht gewinnen konnte, wollte er sicherstellen, dass der Mann ihn tötete.
»Nay, Onkel Bearnard!«, schrie Moira, als Tavig stolperte und Bearnard zum tödlichen Schlag ausholte.
Während Tavig fieberhaft vor Bearnards Schwert wegkroch, sah er, dass Moira zu ihrem Onkel stürzte. Er fluchte, als Bearnard das Mädchen wegstieß und sie gegen die Reling schleuderte, genau die Reling, vor der Tavig sie gewarnt hatte. Bearnard war kurz abgelenkt, was Tavig rasch nutzte. Er stürzte sich auf den Kerl und stieß ihn zu Boden. Mit zwei raschen, wütenden Fausthieben schlug er ihn bewusstlos. Dann richtete er sich wieder auf und eilte zu Moira, ohne weiter auf Bearnards Sohn Nicol zu achten.
»Mädchen, Ihr müsst von dieser Reling weg!«, herrschte er sie an, wobei er Nicol, der inzwischen das Schwert auf ihn gerichtet hatte, weiterhin kaum beachtete.
Moira war noch immer benommen von Bearnards Ohrfeige, doch während sie versuchte, der barschen Aufforderung dieses seltsamen Mannes zu folgen, richtete sich der erneut aufgekommene Wind gegen sie. Die Böen stürmten auf sie ein und drückten sie gegen die Reling. Der heulende Wind hielt sie so fest, dass sie sich kaum rühren konnte. Ihr war, als würde ihr der Atem aus dem Körper gepresst. Die groben Planken der Reling bohrten sich in ihren Rücken, während der Sturm sie immer stärker gegen das Holz drückte.
Sie sah, dass Tavig mit aller Kraft gegen den Wind ankämpfte und versuchte, sich ihr zu nähern. Dann hörte sie plötzlich ein unheilverkündendes Geräusch: das Splittern von Holz.
Die Reling, an die Moira gepresst wurde, gab nach. Tavig und Nicol stießen einen Warnschrei aus. Moira klammerte sich an die Bretter, doch ein Großteil der Reling hing nun über den schäumenden Wogen. Der Teil, an den sie sich klammerte, war nur noch mit einer schmalen Planke mit dem Rest verbunden. Vorsichtig versuchte sie, sich daran entlangzuhangeln und in die Reichweite von Nicols und Tavigs ausgestreckten Händen zu kommen. Sie war nur um Haaresbreite davon entfernt, als die Reling ihre letzte schwache Verbindung zum Schiff aufgab. Mit einem Schrei stürzte Moira in die sturmgepeitschte See.
Tavig klammerte sich an den unbeschädigten Teil der Reling und rief Moiras Namen. Er konnte kaum noch ihr weißes Nachthemd erkennen. Sie hielt sich noch immer an der Planke fest, aber ihr Köper befand sich schon zur Hälfte in der eiskalten, aufgewühlten See. Das Mädchen konnte den Kopf bestimmt nicht mehr sehr lange über Wasser halten, und sie konnte sich auch nicht allein daraus befreien. Bald würde sie in den hohen Wellen untergehen. Auf sich allein gestellt, hatte sie keine Chance zu überleben.
»Holt mir das Seil dort drüben!«, keuchte Tavig und deutete auf einen Strick, der an einem Poller vertaut war.
»Was könnt Ihr schon tun?«, rief Nicol, steckte das Schwert jedoch zurück in die Scheide und beeilte sich, Tavigs Befehl zu folgen.
»Ich springe ihr nach.« Tavig schlang das Tau um seine Schultern und trat zu der Lücke in der Reling.
Nicol packte ihn am Wams. »Seid Ihr von Sinnen? Das werdet Ihr nicht überleben!«
»Besser sterben bei dem Versuch, einen dürren Rotschopf zu retten, als am Galgen zu enden. Und vielleicht sterbe ich ja gar nicht.«
Mit einem Blick auf die tosenden Wogen erwiderte Nicol: »Doch, das werdet Ihr.«
»Mir wär's lieber, wenn ich es nicht täte. Aber eines weiß ich: Ich muss jetzt zu Moira, sonst überlebt sie es nicht. Es ist allerdings verdammt schwer, der kleinen Stimme in mir zu folgen, die mich auffordert, ihr nachzuspringen. Ich hoffe nur, diese Stimme ist anständig genug, mir auch zu sagen, was passieren wird, nachdem ich in diese schwarzen, gefährlichen Wogen gesprungen bin.«
»Was plappert Ihr da, MacAlpin?«
»Das Schicksal, mein Bester, das verflixte Schicksal.« Er betete, dass seine Eingebung weiterhin recht behielte, dann holte er tief Luft und sprang. Als er in dem kalten Wasser landete, geriet er einen Moment lang in Panik. Er ging in einer gischtbekrönten Welle unter und fürchtete, dass er nie mehr an die Oberfläche kommen würde. Doch dann begann er, gegen die widrigen Elemente zu kämpfen, und schaffte es, den Kopf über Wasser zu bekommen. Er atmete mehrmals tief durch, nicht nur, weil er es dringend nötig hatte, sondern auch vor Erleichterung. Als Nächstes sah er sich nach Moira um, und als er ihr weißes Nachthemd erblickte, schwamm er kraftvoll darauf zu.
Er verfluchte die stürmische See. Wie er bald erkannte, klammerte sich Moira noch immer verzweifelt an die Planke. Bei ihr angelangt, hievte er sich auf das kümmerliche Floß, schlang sich hastig das Seil um die Taille und band sich damit an der Planke fest. Sobald er sich sicher genug fühlte, packte er Moira an einem ihrer schlanken Handgelenke und zog sie aus dem Wasser. Sie sackte neben ihm zusammen. Während die kalten Wogen sie überliefen, sicherte er auch eine ihrer Hände mit dem Seil. Dann nahm er ihre freie Hand in die seine. Als er sich flach auf die nasse Planke presste, befand er sich Nase an Nase mit Moira.
»Ihr seid verrückt!«, keuchte sie und hustete, als eine weitere Welle über sie hinweglief und das Salzwasser in ihren Mund drang. »Jetzt werden wir beide ertrinken!«
Bei der nächsten Welle, die über sie hinwegspülte, konnte sich Tavig des Gefühls nicht erwehren, dass sie vielleicht recht hatte.
© WELTBILD
Das alles wies auf einen schmuddeligen älteren Mann hin, doch Moira hatte noch einiges andere bemerkt, was in dieses Bild nicht recht passen wollte. Die engen Ärmel seines eleganten kurzen schwarzen Rocks ließen starke, schlanke Arme erahnen. Seine ebenfalls schwarze Hose saß so knapp, dass sich darunter lange, wohlgeformte Beine abzeichneten. Seine Stimme war tief und kräftig, die Stimme eines vor Lebenslust sprühenden jungen Mannes. Seine Bewegungen wirkten geschmeidig und elegant, auch sie passten nicht zu seinem offenkundigen Alter und seiner Leibesfülle. Als er sie jetzt anlächelte, war Moira überzeugt, dass er nicht der war, der zu sein er vorgab. Diese Erkenntnis verstärkte jedoch ihr Unbehagen. Als sie sich suchend nach der krummen Annie umblickte, stellte sie zu ihrem Verdruss fest, dass die gichtige Alte sich gerade an einen ebenso gichtigen alten Matrosen heranmachte.
»Sie wird gleich kommen, um Euch zu tadeln und Euch wegzuzerren«, meinte der Mann.
»Ich glaube, ich gehe lieber zu ihr.« Moira keuchte überrascht auf, als er sie bei der Hand packte und festhielt.
»Aber, aber! Ihr wollt der Alten doch nicht die Gelegenheit zu einer kleinen Schäkerei verderben, oder?«
Moira war über seine unverblümten Worte empört. Dass Annie möglicherweise ans Schäkern dachte, warf sie beinahe ebenso aus der Bahn wie die Berührung dieses seltsamen Mannes. Er fing an zu grinsen, runzelte dann aber die Stirn. Offensichtlich hatte er die Angst in ihrer Miene bemerkt. Daran war ihr Vormund schuld, der oft genug dafür sorgte, dass sie Männer fürchten gelernt hatte. Es war zwar unberechtigt, aber in dem Moment, als der Bursche sie bei der Hand gepackt hatte, war sie in Erwartung einer Ohrfeige erstarrt.
»Ach, mein armes, süßes, ängstliches Kindchen, Ihr braucht Euch doch vor dem alten George Fraser nicht zu fürchten!«
Da es sie ärgerte, dass dieser Mann sie als Kindchen bezeichnete, fasste sie sich ein Herz und befreite sich aus seinem Griff. »Meiner Meinung nach, Mr Fraser, sollte ein Kindchen gut aufpassen, wenn ein dreimal so alter Mann versucht, mit ihm zu schäkern.«
»Dreimal so alt?« George schnappte nach Luft, doch dann machte er sich an seinem Wams zu schaffen und zuckte die Schultern. »Das Alter hält einen Mann nicht davon ab, sich am Anblick eines hübschen jungen Mädchens zu erfreuen.«
»Dann sollte Euch vielleicht Eure Gemahlin davon abhalten.«
»Das hätte sie wohl getan, aber sie weilt nicht mehr unter uns.« Seufzend lehnte er sich an die Reling. »Meine gute Margaret hat sich vor drei Jahren ein Fieber eingefangen und ihren letzten Atemzug ausgehaucht.«
»Oh, das tut mir leid, Sir.« Sie tätschelte seinen Arm, doch ihr Mitgefühl schwand, als sie merkte, wie stark und schlank dieser sich anfühlte. »Ich wollte keine schmerzlichen Erinnerungen wecken.«
»He, Sir, lasst bloß Eure alten Pfoten von dem jungen Mädchen!«, fauchte die krumme Annie und zerrte Moiras Hand von seinem Arm, bevor er seine Hand darauf legen konnte.
»Wir haben uns doch nur über seine Gemahlin unterhalten«, protestierte Moira und versuchte, sich aus Annies eisernem Griff zu befreien. Aber die mit Altersflecken übersäte Klaue des Weibs lag wie eine Fessel um ihr Gelenk.
»Na, die sollte dem alten Lustmolch mal eine deftige Abreibung verpassen.«
»Annie«, ächzte Moira und errötete ob der derben Sprache ihrer Betreuerin. »Seine Gemahlin ist verstorben!«
»Ach so. Wahrscheinlich hat er sie mit seinen Liebeleien in den Tod getrieben.«
»Es tut mir leid, Sir.« Moiras Entschuldigung klang etwas unsicher, denn sie bemerkte, dass der Mann ein Grinsen unterdrückte.
»Jetzt komm schon.« Annie zerrte sie zu den kleinen Kajüten. »Du willst doch nicht etwa, dass der alte Bearnard dich im Gespräch mit einem Mann erwischt, oder?«
Der bloße Gedanke an ihren Vormund schickte Moira einen kalten Schauer über den Rücken. Sie hörte augenblicklich auf, sich gegen Annies festen Griff zu wehren. »Nay, das würde mir wahrhaftig nicht gefallen.«
Tavig MacAlpin sah seufzend zu, wie die krumme Annie Moira mit finsterer Miene abführte. Dann vergewisserte er sich, dass niemand ihn beobachtete, und rückte sorgsam die dicke Schicht um seine Taille zurecht. Seit er Moira Robertson zu Gesicht bekommen hatte, war ihm seine Verkleidung als ergrauender George Fraser wie ein wahrer Fluch erschienen, obwohl er wusste, dass sie momentan lebensnotwendig war. Die auf seinen Kopf ausgesetzte Summe war hoch genug, um selbst die standhaftesten Männer in Versuchung zu führen. Und die Männer auf dem kleinen Schiff waren nicht besonders standhaft.
Drei lange Tage hatte es gedauert, bis sich endlich eine Gelegenheit ergeben hatte, mit Moira ins Gespräch zu kommen. Allerdings fragte er sich, warum er überhaupt so erpicht darauf gewesen war. Er hatte sie eifrig beobachtet, wenn sie mit der gebeugten, grauhaarigen Pflegerin auf dem Deck herumschlenderte. Moiras leuchtend rotes Haar war immer zu festen Zöpfen geflochten, aber gelegentlich brachen ein paar widerspenstige Locken aus, um sich um ihr kleines, ovales Gesicht zu legen. Als er das Glück gehabt hatte, sie näher zu betrachten, staunte er, dass ihre weiche weiße Haut kaum Sommersprossen aufwies. Und er erinnerte sich noch sehr gut, wie verwundert er gewesen war, als er ihr zum ersten Mal in die Augen geblickt hatte. Er hatte mit braunen oder grünen Augen gerechnet, nicht jedoch mit den strahlenden blauen Augen, die dieses Mädchen besaß. Und wie groß diese Augen waren, dachte er nun und verzog den Mund zu einem schwachen Lächeln. Leise lachend gestand er sich ein, dass er keine Mühen gescheut hatte, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, nur damit er die großen blauen Augen mit ihren langen, dichten, dunklen Wimpern sehen konnte.
Er musste kichern, als ihm einfiel, dass er sich möglicherweise so gut an ihr Gesicht erinnerte, weil es von ihr sonst nicht viel zu sehen gab. Sie war ziemlich klein und ziemlich dürr. Es waren zwar weibliche Formen zu erahnen, aber auch die fielen eher klein aus. Moira Robertson gehörte mit Sicherheit nicht zu der Sorte Frauen, die Tavig normalerweise bevorzugte, doch er musste zugeben, dass sie dennoch seine volle Aufmerksamkeit erobert hatte.
Er fluchte, als er sich an die Angst erinnerte, die in ihren wundervollen Augen bei seiner Berührung aufgeflackert war. Diese Angst tauchte noch einmal überdeutlich auf, als die krumme Annie Moiras Vormund erwähnte. Selbst die Farbe auf Moiras hohen Wangenknochen war verblasst. Ihr Vormund, Sir Bearnard Robertson, war ein richtiger Tyrann, das hatte Tavig gleich bemerkt. Er hatte zwar nicht gesehen, dass der Kerl Moira schlug, traute es ihm jedoch durchaus zu. Er konnte nur hoffen, dass Bearnard das Mädchen in Ruhe ließ, zumindest so lange, bis er der Burg seines Cousins Mungan nahe genug und in Sicherheit war. Denn er wusste, wenn Bearnard Robertson die Hand gegen das Mädchen erhob, würde er dazwischentreten. Aber ein Kampf mit einem Mann in Robertsons Größe könnte seine Verkleidung ruinieren. Wenn man ihn erkannte, würde man ihn seinem hinterhältigen Cousin Iver ausliefern. Und dort erwartete ihn der Strick für eine Untat, die er nicht begangen hatte.
Plötzlich kam eine kühle Brise auf, und Tavig fröstelte. Fluchend zog er seinen schweren, schwarzen Umhang fester um sich und blickte finster in den Himmel. In die üblichen Abendwolken, Vorboten der nahenden Nacht, hatten sich ein paar unheilverkündende schwarze Wolken gemischt. Eine weitere eiskalte Böe wehte über das Deck, diesmal weit kraftvoller als die erste. Das verhieß nichts Gutes: Ein später Sommersturm zog auf. Tavig musste wohl oder übel bald in die winzige Kajüte zurück, die er mit drei weiteren Männern teilte. Das war ihm gar nicht recht, denn solche Nähe vergrößerte nur die Chance, enttarnt zu werden. Doch der Regen, den dieser Sturm mit sich bringen würde, war für seine Verkleidung weitaus gefährlicher. Deshalb nahm er sich vor, beim ersten Tropfen Schutz zu suchen.
Etwas Schweres lag auf Moiras Brust und holte sie langsam aus ihren Träumen. Als sie die Augen aufschlug, musste sie einen Schrei unterdrücken. Beim düsteren Licht einer Laterne, die man unvorsichtigerweise nicht gelöscht hatte und die nun wild an ihrem Haken tanzte, sah Moira, dass es sich nicht um die krumme Annie handelte, die sich auf sie gelegt hatte, sondern um Connor, den Bewaffneten ihres Vormunds. Einen Moment lang lag sie reglos da und wagte kaum zu atmen, bis sie merkte, dass von Connor keine Gefahr ausging; denn dazu war er viel zu betrunken. Ihre Angst schlug rasch in Zorn um.
Leise fluchend wand sie sich unter dem schnarchenden Mann heraus. Einen Moment lang dachte sie daran, sich auf dem Boden der Kajüte zum Schlafen zu legen, doch ihr wurde rasch klar, dass zwischen all den Betrunkenen, die dort lagen, kaum Platz für sie war. Deshalb drückte sie sich murrend an die Wand in der Hoffnung, sich von Connor fernzuhalten, der nach Alkohol und Schweiß stank. Zum hundertsten Mal fragte sie sich, warum sie sich nicht die Zeit genommen hatten, die Reise auf einem Pferdekarren zu bewältigen. Die Lösegeldforderung für ihre Cousine Una war schon vor Wochen eingetroffen. Ihr Vormund hätte genauso gut einen längeren, dafür aber bequemeren Weg wählen können, um seine Tochter zu retten. Selbst die schlechtesten Straßen hätten ihnen nicht so viel abverlangt wie diese Seereise. Und außerdem hätte sie dann nicht so beengt mit ihren Verwandten und deren Bediensteten in der viel zu kleinen Kajüte nächtigen müssen.
Das Schiff rollte, drehte sich um seine Längsachse. Moira runzelte die Stirn und spitzte die Ohren, während sie sich an den Rand des Strohsacks klammerte, um nicht gegen den laut schnarchenden Connor geworfen zu werden. Das kleine Schiff schlingerte in einer von Sturmböen gepeitschten See. Moiras Augen wurden groß, als sie hörte, wie Wind und Regen auf das Schiff einstürmten. Ja, sie waren wohl in ein Unwetter geraten, ein ziemlich schlimmes noch dazu, soweit sie das beurteilen konnte. Der Regen prasselte so heftig aufs Deck, dass es sich wie Trommelschläge anhörte, und der Wind heulte um das Schiff herum.
Annie! Moiras Herz machte vor Angst einen Sprung, als ihr ihre Begleiterin einfiel. Die Alte war nicht in der Kajüte. Vermutlich war sie hinausgeschlichen, um den Matrosen zu treffen, mit dem sie vorher geschäkert hatte, und saß nun in dem Sturm fest. Sie musste hinaus und sich vergewissern, dass Annie in Sicherheit war.
Mit angehaltenem Atem kroch Moira vorsichtig zum Fußende des Bettes. Sie holte ihren Umhang, den sie an einen Bettpfosten gehängt hatte, und warf ihn sich um die Schultern. Dann krabbelte sie auf allen vieren zur Tür. So, wie das Schiff rollte, wäre es unmöglich gewesen, aufrecht gehend einen Weg durch die Leute zu finden, die auf dem ganzen Boden verstreut lagen. Obwohl alle dank des reichhaltigen Alkoholgenusses tief zu schlafen schienen, bewegte sich Moira sehr behutsam, um niemanden aufzuwecken. Sie wollte lieber nicht gesehen werden. Wenn jemand sie ertappte, würde sie sich bestimmt vor ihrem Vormund rechtfertigen müssen.
Vor der Kajüte lehnte sie sich erst einmal an die Wand des engen Ganges und holte tief Luft. Was sollte sie nun tun? Vielleicht befand sich Annie ja in irgendeiner anderen Kajüte, im Trockenen und in Sicherheit? Doch diesen Gedanken verwarf sie kopfschüttelnd. Der Mann, mit dem Annie herum-geschäkert hatte, war nur ein einfacher Deckhelfer gewesen, ein armer Kerl ohne irgendeinen Rang. Er hatte bestimmt keinen eigenen Raum, zu dem er Annie hätte bringen können. Wenn überhaupt, befanden sich die beiden noch auf Deck. Es blieb ihr wohl nichts anderes übrig, als nachzusehen und sich zu vergewissern, dass die Alte wohlauf war.
Ihr erster Versuch wäre beinahe der letzte gewesen. Sobald sie die erste Stufe erklommen hatte, schlingerte das Schiff so heftig, dass sie stürzte und gegen die harte Wand prallte. Dort blieb sie erst einmal keuchend sitzen, bevor sie es erneut versuchte, auch wenn ihr ganzer Körper von dem Sturz schmerzte.
Als sie endlich auf dem Deck angelangt war, hätten der heulende Sturm und der prasselnde Regen sie beinahe gleich wieder vertrieben. Doch sie biss die Zähne zusammen und hangelte sich an allen Gegenständen in ihrer Reichweite vorwärts, um nach Annie zu suchen. Einerseits konnte sie sich kaum vorstellen, dass die Alte noch hier draußen war, doch sie lag auch nicht in ihrem Bett, wo sie hingehört hätte. Noch herrschte ein Zwielicht, das der Sturm nicht völlig verfinstert hatte, aber es würde trotzdem nicht leicht sein, in diesem Regen eine dürre alte Frau zu finden. Moira verfluchte die Alte herzhaft, während sie sich auf dem schlingernden Schiff mühsam weiterkämpfte.
Tavig sah die kleine Gestalt, die sich gegen Wind und Regen stemmte. Er schimpfte halblaut. In der letzten Stunde hatte er alles versucht, um zu seiner Kajüte zu gelangen, doch der Mannschaft fehlte ein Matrose, und der Kapitän hatte ihn aufgefordert mitzuhelfen. Tavig wusste, dass sich der Vermisste mit Annie herumtrieb. Außerdem wusste er, dass seine Verkleidung mit jedem Regentropfen schlechter wurde. Doch wenn er sich jetzt verdrückte, könnte es das Leben aller Leute auf diesem Schiff gefährden.
Und nun Moira. In der letzten Stunde hatte er inständig gehofft, dass er sich irrte und sie sich nicht auf die Suche nach ihrer liebestollen alten Begleiterin begeben würde. Hätte sich seine verdammte Hellsichtigkeit nicht wenigstens diesmal als falsch erweisen können? Doch nein - das Mädchen stolperte geradewegs in eine Menge Ärger, und das zu wissen bereitete ihm wahrhaftig keine Freude - noch dazu, weil ihm klar war, dass er gewissermaßen der Auslöser sein würde. Gerade fiel sie wieder hin, nur wenige Fuß von ihm entfernt, und klammerte sich an der Reling fest. Seufzend stolperte er zu ihr. Jetzt machte er sich nur noch Sorgen um ein einziges Leben.
»Was habt Ihr denn hier zu suchen?«, schrie er, um den wütenden Sturm zu übertönen. »Die wenigen Matrosen, die sich jetzt noch an Deck herumtreiben, sind alle angebunden. Und sobald wie möglich werden sich alle nach unten in Sicherheit bringen. Dort solltet auch Ihr Euch aufhalten.«
»Ihr doch genauso.«
»Ich musste helfen, die Schotten dichtzumachen.« Stirnrunzelnd blickte er zum Himmel, als Wind und Regen plötzlich nachließen. »Es sieht so aus, als müsste der Sturm Atem holen.«
»Gut. Jetzt werde ich Annie bestimmt finden.«
»Annie treibt es irgendwo mit ihrem Matrosen.« Er schüttelte den Kopf, als sie so heftig errötete, dass es selbst im Dämmerlicht nicht zu übersehen war.
»Das mag schon sein«, erwiderte sie verzagt. »Aber vielleicht steckt sie trotzdem in der Klemme. Sobald der Sturm losbrach, hätte sie sich in unsere Kajüte zurückziehen sollen.« Eine weitere Böe erfasste sie, und sie klammerte sich wieder fester an die Reling.
Tavig betrachtete sie. Wie konnte er sie nur dazu bringen, sich wieder unter Deck zu begeben? Dann erstarrte er. In ihm machte sich das kalte, bekannte Gefühl breit, dass er in Umständen feststeckte, die er weder beherrschen noch ändern konnte. Er bemühte sich, seine Angst und seine Hilflosigkeit nicht zu zeigen, aber er wusste, dass es ihm nicht ganz gelang, als er sagte: »Entfernt Euch von dieser Reling, Mädchen!«
Moira runzelte die Stirn. Seine Stimme klang seltsam angestrengt. Sie erstarrte. War Master Fraser etwa nicht nur der alte Lüstling, für den sie ihn gehalten hatte, sondern noch etwas weitaus Gefährlicheres?
»Das werde ich tun, sobald der Wind wieder etwas nachlässt«, erwiderte sie. Aber vielleicht sollte sie sich lieber möglichst rasch aus der Reichweite dieses Mannes entfernen?
»Der Wind wird nicht nachlassen«, fauchte er. »Wir befinden uns mitten in einem Unwetter. Die kleine Atempause wird nicht sehr lange dauern, danach wird der Sturm wahrscheinlich sogar noch heftiger toben. Und jetzt entfernt Euch endlich von dieser elenden Reling!«
In dem Moment, als sie beschloss, seiner Aufforderung zu folgen, nur damit er endlich Ruhe gab, bemerkte sie etwas, das sie innehalten ließ: Master Frasers Haar war nicht mehr so grau und stumpf wie vorher. Die graue Farbe war herausgesickert und hatte sich in klebrigen Klumpen an den Spitzen gesammelt. Verwundert starrte sie ihn an. Vor ihren Augen löste sich gerade eine der wenigen noch verbliebenen grauen Strähnen auf, die Farbe glitt nach unten. Master Fraser war mit Sicherheit nicht der, der zu sein er vorgab. Überwältigt von Neugier, streckte sie die Hand aus, um seine Haare zu berühren.
»Euer Alter wird vom Regen weggespült«, murmelte sie. Doch gleich darauf riss sie erschrocken die Augen auf, weil ihrem Gegenüber ein derber Fluch entfuhr.
»Ich wusste, dass das passieren würde«, grollte er. »Ich muss sofort ins Trockene.« Er packte sie so unsanft, dass sie gegen ihn taumelte.
»Hier steckst du also - um herumzuhuren!«
Bestürzt schrie Moira auf, als sie von ihrem Vormund, Sir Bearnard, grob gepackt und weggerissen wurde. »Nay, Sir, ich schwöre, ich bin nur hier, um die krumme Annie zu suchen«, erwiderte sie kläglich.
»Und das tust du in den Armen dieses Gauners?«, knurrte er und schüttelte sie heftig. »Willst du etwa all deinen Sünden auch noch die Lüge hinzufügen, du kleines Miststück?«
Als Bearnard mit seiner feisten Hand zum Schlag ausholte, drehte sich Moira rasch um. Sie versuchte, möglichst ruhig zu bleiben, um all die Spannung und den Widerstand aus ihrem Körper zu vertreiben. Im Lauf der Jahre hatte sie gelernt, dass Bearnards Schläge an Wucht verloren, wenn ihr Körper schlaff war. Sie gab keinen Laut von sich, als er sie mit dem Handrücken quer übers Gesicht schlug und sie auf das Holzdeck fiel. Auf allen vieren landend, senkte sie hastig den Kopf, ohne ihren Vormund ganz aus den Augen zu lassen. Sie wollte darauf vorbereitet sein und den schlimmsten Schmerz vermeiden, falls er beschloss, seinen brutalen Tadel noch mit ein paar Tritten zu verstärken.
Auf einmal störte ein seltsames Geräusch ihre Konzentration. Sie schüttelte den Kopf, aber das Geräusch stammte nicht daher, weil ihr Kopf vom Schlag ihres Vormunds dröhnte. Nein, dieses Geräusch war ein leises, grimmiges, wütendes Fauchen, ausgestoßen von dem Mann, der sich George Fraser nannte. Moira drehte sich herum und setzte sich aufrecht hin, um ihn besser sehen zu können. Sie sperrte den Mund vor Staunen weit auf, als sich der Bursche auf Bearnard stürzte und den viel größeren, schwereren Mann mit einem Fausthieb zu Fall brachte.
»Ihr seid wirklich ein schneidiger Kerl, Robertson«, grollte er verächtlich. »Es erfordert einiges an Mut, um ein kleines, zierliches Mädchen zu schlagen.«
»Hütet Eure Zunge, Sir«, schrie Bearnard, während er sich wieder aufrappelte. »Einem Mann, der einem Mädchen nachstellt, das gerade mal halb so alt ist wie er, steht es kaum zu, sich derart selbstgerecht über andere zu empören. Ihr seid doch nur ein alter Lustmolch, der versucht, ein törichtes junges Ding zu verführen.«
»Selbst wenn dem so wäre, würde es mich trotzdem noch zu einem besseren Mann machen im Vergleich zu einem brutalen Hundesohn, der sich anschleicht, um ein argloses junges Mädchen zu verprügeln.«
Bearnard schnaubte wutentbrannt, dann stürzte er sich auf Master Fraser. Die beiden Männer gingen krachend zu Boden. Moira schrie entsetzt auf. Ohne zu wissen, was sie tun sollte, trat sie näher an die Kämpfenden heran. Doch irgendetwas musste sie tun, um den Streit zu beenden, den sie, ohne es zu wollen, entfacht hatte.
»Sei bloß nicht so blöd!«, erklang eine tiefe Stimme hinter ihr, und Arme legten sich um ihre Taille.
Sie drehte den Kopf um. »Nicol!«, rief sie, als ihr Blick auf ihren Cousin fiel. »Wo kommst du denn her?«
»Ich bin Vater gefolgt, als er sich auf die Suche nach dir gemacht hat. Wahrscheinlich hatte ich eine Eingebung, dass du kurz davor stündest, eine große Torheit zu begehen. Grundgütiger, Moira, warum willst du denn mit dem alten Narren da herumtändeln?«
»Ich habe nicht mit ihm herumgetändelt. Ich war auf der Suche nach der krummen Annie, und Master Fraser wollte mich überreden, zurück in meine Kajüte zu gehen.«
»Es wäre besser gewesen, du hättest sie nie verlassen«, murrte Nicol, dann meinte er plötzlich: »Der Bauch deines Retters ist verrutscht!«
Was sollte das denn heißen? Moira blickte auf die Kämpfenden. Mittlerweile waren wieder beide auf den Beinen und umkreisten einander wachsam, jeder darauf bedacht, eine Blöße zu finden, um den anderen anzugreifen. Als sie Master Fraser musterte, riss sie erstaunt die Augen auf. Sein weicher Bauch beulte sich in einem unregelmäßigen Klumpen an seiner linken Seite. Sein Wams war aufgerissen, und irgendetwas hing ihm über dem Bund der anliegenden Hose. Als sie genauer hinsah, merkte sie, dass Master Frasers weicher Bauch nur aus zusammengerollten Lumpen bestand.
»Das Grau in seinen Haaren ist auch weggespült worden«, sagte sie.
»Aye«, pflichtete Nicol ihr bei. »Der Mann ist nicht der, der zu sein er vorgibt. Verflixt noch mal, ich glaube, ich weiß, wer das ist.«
Bevor Moira Nicol um eine Erklärung bitten konnte, hatte der sich schon zu seinem Vater aufgemacht. Bearnard war inzwischen zum Angriff übergegangen und hatte seinen Gegner, der um einiges kleiner war als er, mit einem Fausthieb niedergestreckt. Dabei hatte George Fraser seinen Hut verloren, den nun der Wind packte und aufs Meer hinauswehte. Seine mittlerweile vollkommen schwarzen Haare flatterten ihm um den Kopf, während er sich bemühte, Bearnard davon abzuhalten, die feisten Hände um seinen Hals zu legen. Fraser war nun eindeutig als ein junger, kräftiger Mann zu erkennen.
Nicol trat einen weiteren Schritt auf seinen Vater zu, während dieser mitten in seiner Bewegung innehielt. Die Mienen der zwei Männer verrieten Moira, dass sie nun beide den Mann erkannt hatten und überrascht waren, dass er an Bord war. Frasers Gesichtsausdruck sagte ihr, dass es ihm gar nicht recht war, erkannt worden zu sein. Sie erstarrte. Plötzlich hatte sie Angst um den Mann, der sie so galant hatte verteidigen wollen.
»Tavig MacAlpin!«, entfuhr es Bearnard. Er sprang hoch und griff nach seinem Schwert.
»Jawohl. Und was geht Euch das an?«, fauchte Tavig, während er langsam aufstand und sich vor den Robertsons aufbaute.
»Das geht jeden rechtschaffenen Mann zwischen hier und London etwas an.«
»Ihr seid kein rechtschaffener Mann, Robertson, sondern ein brutaler Schläger, der andere mit seinen Fäusten und seinem unerschöpflichen Vorrat an Brutalität in Schach hält. Achtung oder Zuneigung sind Euch fremd, deshalb weckt Ihr Furcht in den Menschen um Euch herum.« Tavig legte langsam die Hand auf sein Schwert und stellte sich auf den Angriff ein, mit dem er fest rechnete. »Es ist ein Wunder, dass Ihr so lange überlebt habt und dass Euch noch keiner den fetten Hals durchgeschnitten hat.«
»Und Ihr wärt wohl der Richtige dafür, stimmt's? Nichts gefällt Euch besser, als Euch von hinten anzuschleichen und einem Mann die Kehle aufzuschlitzen - oder den Bauch, wie Ihr es bei Euren Freunden getan habt. Euer Cousin Iver MacAlpin hat eine stattliche Summe auf Euch ausgesetzt, und die werde ich mir holen.« Bearnard zückte sein Schwert und stürzte sich auf Tavig.
»Vater!«, schrie Nicol. »Sir Iver will den Mann lebendig.« »Der Mistkerl verdient den Tod«, knurrte Sir Bearnard. »Kommt doch und versucht es«, höhnte Tavig. »Na ja, viel-
leicht habt Ihr ja sogar Glück, aber bevor ich sterbe, schlitze ich
Euch noch den Bauch auf, Mistkerl!«
Wutschnaubend griff Bearnard immer heftiger an, doch Tavig parierte jeden Schlag. Er wollte nicht sterben, aber er wollte auch nicht gefangen genommen werden. Wenn er an seinen verräterischen Cousin Iver ausgeliefert wurde, würde er einen langsamen, qualvollen Tod für zwei Morde sterben, die er nicht begangen hatte. Wenn er den Kampf gegen Robertson nicht gewinnen konnte, wollte er sicherstellen, dass der Mann ihn tötete.
»Nay, Onkel Bearnard!«, schrie Moira, als Tavig stolperte und Bearnard zum tödlichen Schlag ausholte.
Während Tavig fieberhaft vor Bearnards Schwert wegkroch, sah er, dass Moira zu ihrem Onkel stürzte. Er fluchte, als Bearnard das Mädchen wegstieß und sie gegen die Reling schleuderte, genau die Reling, vor der Tavig sie gewarnt hatte. Bearnard war kurz abgelenkt, was Tavig rasch nutzte. Er stürzte sich auf den Kerl und stieß ihn zu Boden. Mit zwei raschen, wütenden Fausthieben schlug er ihn bewusstlos. Dann richtete er sich wieder auf und eilte zu Moira, ohne weiter auf Bearnards Sohn Nicol zu achten.
»Mädchen, Ihr müsst von dieser Reling weg!«, herrschte er sie an, wobei er Nicol, der inzwischen das Schwert auf ihn gerichtet hatte, weiterhin kaum beachtete.
Moira war noch immer benommen von Bearnards Ohrfeige, doch während sie versuchte, der barschen Aufforderung dieses seltsamen Mannes zu folgen, richtete sich der erneut aufgekommene Wind gegen sie. Die Böen stürmten auf sie ein und drückten sie gegen die Reling. Der heulende Wind hielt sie so fest, dass sie sich kaum rühren konnte. Ihr war, als würde ihr der Atem aus dem Körper gepresst. Die groben Planken der Reling bohrten sich in ihren Rücken, während der Sturm sie immer stärker gegen das Holz drückte.
Sie sah, dass Tavig mit aller Kraft gegen den Wind ankämpfte und versuchte, sich ihr zu nähern. Dann hörte sie plötzlich ein unheilverkündendes Geräusch: das Splittern von Holz.
Die Reling, an die Moira gepresst wurde, gab nach. Tavig und Nicol stießen einen Warnschrei aus. Moira klammerte sich an die Bretter, doch ein Großteil der Reling hing nun über den schäumenden Wogen. Der Teil, an den sie sich klammerte, war nur noch mit einer schmalen Planke mit dem Rest verbunden. Vorsichtig versuchte sie, sich daran entlangzuhangeln und in die Reichweite von Nicols und Tavigs ausgestreckten Händen zu kommen. Sie war nur um Haaresbreite davon entfernt, als die Reling ihre letzte schwache Verbindung zum Schiff aufgab. Mit einem Schrei stürzte Moira in die sturmgepeitschte See.
Tavig klammerte sich an den unbeschädigten Teil der Reling und rief Moiras Namen. Er konnte kaum noch ihr weißes Nachthemd erkennen. Sie hielt sich noch immer an der Planke fest, aber ihr Köper befand sich schon zur Hälfte in der eiskalten, aufgewühlten See. Das Mädchen konnte den Kopf bestimmt nicht mehr sehr lange über Wasser halten, und sie konnte sich auch nicht allein daraus befreien. Bald würde sie in den hohen Wellen untergehen. Auf sich allein gestellt, hatte sie keine Chance zu überleben.
»Holt mir das Seil dort drüben!«, keuchte Tavig und deutete auf einen Strick, der an einem Poller vertaut war.
»Was könnt Ihr schon tun?«, rief Nicol, steckte das Schwert jedoch zurück in die Scheide und beeilte sich, Tavigs Befehl zu folgen.
»Ich springe ihr nach.« Tavig schlang das Tau um seine Schultern und trat zu der Lücke in der Reling.
Nicol packte ihn am Wams. »Seid Ihr von Sinnen? Das werdet Ihr nicht überleben!«
»Besser sterben bei dem Versuch, einen dürren Rotschopf zu retten, als am Galgen zu enden. Und vielleicht sterbe ich ja gar nicht.«
Mit einem Blick auf die tosenden Wogen erwiderte Nicol: »Doch, das werdet Ihr.«
»Mir wär's lieber, wenn ich es nicht täte. Aber eines weiß ich: Ich muss jetzt zu Moira, sonst überlebt sie es nicht. Es ist allerdings verdammt schwer, der kleinen Stimme in mir zu folgen, die mich auffordert, ihr nachzuspringen. Ich hoffe nur, diese Stimme ist anständig genug, mir auch zu sagen, was passieren wird, nachdem ich in diese schwarzen, gefährlichen Wogen gesprungen bin.«
»Was plappert Ihr da, MacAlpin?«
»Das Schicksal, mein Bester, das verflixte Schicksal.« Er betete, dass seine Eingebung weiterhin recht behielte, dann holte er tief Luft und sprang. Als er in dem kalten Wasser landete, geriet er einen Moment lang in Panik. Er ging in einer gischtbekrönten Welle unter und fürchtete, dass er nie mehr an die Oberfläche kommen würde. Doch dann begann er, gegen die widrigen Elemente zu kämpfen, und schaffte es, den Kopf über Wasser zu bekommen. Er atmete mehrmals tief durch, nicht nur, weil er es dringend nötig hatte, sondern auch vor Erleichterung. Als Nächstes sah er sich nach Moira um, und als er ihr weißes Nachthemd erblickte, schwamm er kraftvoll darauf zu.
Er verfluchte die stürmische See. Wie er bald erkannte, klammerte sich Moira noch immer verzweifelt an die Planke. Bei ihr angelangt, hievte er sich auf das kümmerliche Floß, schlang sich hastig das Seil um die Taille und band sich damit an der Planke fest. Sobald er sich sicher genug fühlte, packte er Moira an einem ihrer schlanken Handgelenke und zog sie aus dem Wasser. Sie sackte neben ihm zusammen. Während die kalten Wogen sie überliefen, sicherte er auch eine ihrer Hände mit dem Seil. Dann nahm er ihre freie Hand in die seine. Als er sich flach auf die nasse Planke presste, befand er sich Nase an Nase mit Moira.
»Ihr seid verrückt!«, keuchte sie und hustete, als eine weitere Welle über sie hinweglief und das Salzwasser in ihren Mund drang. »Jetzt werden wir beide ertrinken!«
Bei der nächsten Welle, die über sie hinwegspülte, konnte sich Tavig des Gefühls nicht erwehren, dass sie vielleicht recht hatte.
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Autoren-Porträt von Hannah Howell
Hannah Howell hat sich seit ihrem ersten Buch 1988 einen Namen als Autorin romantischer historischer Romane gemacht. Die begeisterte England-Reisende lebt an der Ostküste der USA, wo ihre Familie seit 1630 ansässig ist. Sie ist verheiratet, hat zwei erwachsene Söhne, einen Enkel und fünf Katzen, von denen eine den Namen Oliver Cromwell trägt.
Bibliographische Angaben
- Autor: Hannah Howell
- 2013, 284 Seiten, Deutsch
- Verlag: Weltbild Deutschland
- ISBN-10: 3863656970
- ISBN-13: 9783863656973
- Erscheinungsdatum: 19.02.2013
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