Was man für Geld nicht kaufen kann / Ullstein eBooks (ePub)
Die moralischen Grenzen des Marktes
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Was man für Geld nicht kaufen kann von Michael J. SandelEinführung: Märkte und Moral
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Manches ist für Geld nicht zu kaufen. Aber nicht mehr viel. Heutzutage steht fast alles zum Verkauf, wie die folgenden Beispiele zeigen:
• Zellen-Upgrade im Knast: 82 Dollar pro Nacht. Im kalifornischen Santa Ana und einigen anderen Städten erhalten Strafgefangene, die kein Gewaltverbrechen begangen haben, gegen Bezahlung bessere Haftbedingungen - etwa eine saubere, ruhige Zelle abseits der weniger zahlungskräftigen Gefangenen.
• Benutzung der für Fahrgemeinschaften reservierten Spur als Alleinfahrer: acht Dollar während des Berufsverkehrs. Minneapolis und andere Städte versuchen Staus zu verringern, indem sie Alleinfahrer dafür bezahlen lassen, auf Sonderspuren fahren zu dürfen - die Preise variieren je nach Verkehrslage.
• Kosten für das Austragen eines Embryos durch eine indische Leihmutter: 6250 Dollar. Paare aus dem Westen, die Leihmütter suchen, tun dies zunehmend in Indien, wo diese Praxis legal ist und die Kosten nur ein Drittel dessen betragen, was man in den USA dafür bezahlt.
• Das Recht, in die USA einzuwandern: 500 000 Dollar. Ausländer, die 500 000 Dollar investieren und mindestens zehn Arbeitsplätze in einer Region mit hoher Arbeitslosigkeit schaffen, erhalten auf Wunsch eine Green Card, die ihnen unbefristetes Aufenthaltsrecht gibt.
• Das Recht, ein Schwarzes Nashorn (eine bedrohte Tierart) zu schießen: 150 000 Dollar. Südafrika erlaubt Ranchern inzwischen, Jägern das Recht zum Abschuss einer beschränkten Zahl von Nashörnern zu verkaufen, um den Landwirten dadurch einen Anreiz zu geben, die gefährdete Art zu züchten und zu schützen.
• Die Handynummer eines Arztes: ab 1500 Dollar pro Jahr. Für Patienten, die bereit sind, eine jährliche Gebühr von 1500 bis 25000 Dollar zu entrichten, bieten immer mehr Hausärzte an, über Handy erreichbar zu sein und noch am selben Tag einen Termin mit ihnen zu vereinbaren.
• Das Recht, eine Tonne Kohlenstoff zu emittieren: 13 Euro. Die EU hat einen Emissionshandel für Kohlenstoff eingeführt, der es Firmen ermöglicht, das Recht zur Umweltverschmutzung zu verkaufen oder zu kaufen.
• Die Aufnahme an einer angesehenen Universität: ? Dollar. Der Preis wird nicht offiziell genannt, doch Vertreter von Spitzenunis haben dem Wall Street Journal erzählt, dass sie einige Studenten mit eher bescheidenem Noten- schnitt aufnehmen, deren Eltern wohlhabend und spendabel sind.
Nicht jeder kann es sich leisten, dergleichen zu kaufen. Zum Glück gibt es heutzutage zugleich massenhaft neue Wege, Geld zu verdienen. Wer ein wenig Extra-Cash benötigt, kann sich hier inspirieren lassen:
• Vermietung der Stirn (oder anderer Körperteile) zu Werbezwecken: 777 Dollar. Die Air New Zealand heuerte dreißig Leute an, sich den Schädel rasieren zu lassen und auf diesem eine wieder entfernbare Tätowierung zur Schau zu stellen: »Abwechslung gefällig? Ab nach Neuseeland. «
• Menschliches Versuchskaninchen in einer Arzneimittelstudie für eine Pharmafirma: 7500 Dollar. Abhängig von der physischen Belastung durch das Testverfahren kann die Bezahlung auch höher oder niedriger ausfallen.
• In Somalia oder Afghanistan für ein privates Militärunternehmen kämpfen: von 250 Dollar pro Monat bis 1000 Dollar pro Tag. Die Bezahlung hängt von Qualifikation, Erfahrung und Staatsangehörigkeit ab.
• Nächtliches Schlangestehen am Capitol Hill in Vertretung eines Lobbyisten, der an einer Anhörung im Kongress teilnehmen will: 15 bis 20 Dollar pro Stunde. Die Lobbyisten bezahlen Warteschlangen-Firmen, die ihrerseits unter anderem Obdachlose anheuern, die sich in die Schlange stellen.
• Ein Buch lesen: zwei Dollar. Um Kinder zum Lesen zu ermuntern, werden Zweitklässler in Dallas in einer Schule mit unterdurchschnittlichem Leistungsniveau für jedes gelesene Buch bezahlt.
• In vier Monaten 14 Pfund abnehmen: 378 Dollar. Firmen und Krankenversicherungen bieten Übergewichtigen finanzielle Anreize zur Gewichtsreduzierung und anderen Arten gesunder Lebensführung.
• Sie kaufen die Lebensversicherungspolice einer erkrankten oder älteren Person, bezahlen die laufenden Prämien und kassieren nach dem Todesfall die Versicherungssumme: potenziell Millionen (je nach Police). Diese Art, auf das Leben Fremder zu wetten, ist zu einer Branche mit einem Volumen von 30 Milliarden Dollar geworden. Je früher der Unbekannte stirbt, desto mehr verdient der Anleger.
Wir leben also heute in einer Zeit, in der fast alles ge- und verkauft werden kann. Im Lauf der letzten drei Jahrzehnte haben es die Märkte - und die damit verbundenen Wertvorstellungen - geschafft, unser Leben wie nie zuvor zu beherrschen. Nicht, dass wir uns bewusst dafür entschieden hätten. Es scheint einfach über uns gekommen zu sein.
Als der Kalte Krieg zu Ende ging, erfreuten sich die Märkte und das Marktdenken verständlicherweise eines hohen Ansehens. Kein anderes Organisationsprinzip hat bei der Produktion und Verteilung von Gütern ähnlich viel Überfluss und Wohlstand hervorgebracht. Doch während sich immer mehr Länder in aller Welt auf die Marktmechanismen verließen, geschah noch etwas anderes. Im Leben der Gesellschaft begannen die Wertvorstellungen des Marktes eine immer größere Rolle zu spielen. Ökonomie wurde zu einer Herrschaftswissenschaft. Inzwischen gilt die Logik des Kaufens und Verkaufens nicht mehr nur für materielle Güter - sie lenkt zunehmend das Leben insgesamt. Es wird Zeit, uns zu fragen, ob wir so wirklich leben wollen.
Der Triumph des Marktes
Die Jahre und Jahrzehnte vor der Finanzkrise von 2008 waren durch den unbedingten Glauben an die Märkte und die positiven Folgen der Deregulierung gekennzeichnet - es war eine Ära der triumphierenden Märkte. Sie begann Anfang der 80er Jahre, als Ronald Reagan und Margaret Thatcher ihre Überzeugung verkündeten, dass nicht Staaten, sondern Märkte der Schlüssel zu Wohlstand und Freiheit seien. In den 90ern setzte sich diese Ansicht mit dem Wirtschaftsliberalismus von Bill Clinton und Tony Blair fort, die den Glauben daran, dass Märkte das vorrangige Mittel zur Herstellung des Gemeinwohls seien, in moderater Form aufgriffen und konsolidierten.
Heute wird dieser Glaube in Frage gestellt. Die Ära der triumphierenden Märkte hat ein Ende gefunden. Die Finanzkrise säte nicht nur Zweifel an deren Fähigkeit, das Risiko effizient zu streuen, sondern löste bei vielen Menschen auch das Gefühl aus, dass die Märkte sich von der Moral abgekoppelt hätten und wir diese beiden Sphären irgendwie wieder miteinander verknüpfen müssten. Was das bedeuten könnte oder wie wir es zustande bringen sollten, ist allerdings unklar.
Manche halten das moralische Versagen der Märkte für die Folge von Gier, die dazu geführt habe, dass die Entscheidungsträger unverantwortliche Risiken eingingen. Dieser Ansicht nach besteht die Lösung darin, die Gier zu zügeln, auf die Integrität und die Verantwortung der Banker und Führungskräfte an der Wall Street zu bestehen und vernünftige gesetzliche Regeln einzuführen, mit denen sich verhindern ließe, dass sich eine ähnliche Krise wiederholt.
Diese Diagnose trifft bestenfalls teilweise zu. Obwohl Gier sicherlich eine Rolle in der Finanzkrise gespielt hat, geht es hier um etwas Größeres. Die schicksalhafteste Änderung der letzten drei Jahrzehnte war nicht die Zunahme der Gier. Es war die Ausdehnung der Märkte und ihrer Wertvorstellungen in Lebensbereiche, in die sie nicht gehören.
Um diesen Zustand zu ändern, müssen wir mehr tun, als gegen die Gier zu wettern; wir müssen die Rolle überdenken, die die Märkte in unserer Gesellschaft spielen sollten. Wir brauchen eine öffentliche Debatte darüber, was es heißt, die Märkte in ihre Schranken zu weisen. Und als Voraussetzung für diese Debatte müssen wir die moralischen Grenzen der Märkte durchdenken. Wir müssen uns fragen, ob es Dinge gibt, die für Geld nicht zu haben sein sollten.
Das Übergreifen von Märkten und marktorientiertem Denken auf Aspekte des Lebens, die bislang von Normen außerhalb des Marktes gesteuert wurden, ist eine der bedeutsamsten Entwicklungen unserer Zeit.
Denken Sie an die Ausbreitung von gewinnorientierten Schulen, Kliniken und Gefängnissen und an die Auslagerung von Kriegshandlungen an private Militärunternehmen. (Im Irak und in Afghanistan waren mehr Angestellte privater Sicherheits- und Militärunternehmen im Einsatz als Soldaten der US-Armee.)
Denken Sie daran, dass öffentliche Polizeikräfte durch private Sicherheitsfirmen abgelöst werden - besonders in den USA und in England, wo es mittlerweile doppelt so viele private Sicherheitsleute wie Polizeibeamte gibt.17 Denken Sie an die aggressive Werbung für verschreibungspflichtige Medikamente. (Jemand, der in den USA die Fernsehwerbung vor den Abendnachrichten sieht, könnte glauben, das bei Weitem größte Gesundheitsproblem der Welt sei nicht die Malaria, die Onchozerkose oder die Schlafkrankheit, sondern eine grassierende Epidemie der erektilen Dysfunktion.)
Oder denken Sie an die Werbung in öffentlichen Schulen, an den Verkauf des Rechts, Parks und öffentlichen Einrichtungen »Namen zu geben«, die Vermarktung von Eiern und Sperma mit »definierten Eigenschaften«, die Auslagerung der Schwangerschaft an Ersatzmütter in Entwicklungsländern, den Handel von Unternehmen und Staaten mit Emissionsrechten oder das amerikanische System der Finanzierung von Wahlkämpfen, das beinahe den Eindruck erweckt, man könne das Wahlergebnis kaufen.
Vor dreißig Jahren waren wir noch weit davon entfernt, Gesundheit, Ausbildung, öffentliche Sicherheit, Strafvollzug, Umweltschutz, Freizeit, Fortpflanzung und andere gesellschaftliche Güter über die Märkte zuzuteilen. Heute halten wir das weitgehend für selbstverständlich.
Alles ist käuflich
Warum sollten wir uns darüber Sorgen machen, dass wir auf dem Weg in eine Gesellschaft sind, in der alles käuflich ist?
Aus zwei Gründen - einer davon hat mit Ungleichheit zu tun, der andere mit Korruption.
Zuerst die Ungleichheit: In einer Gesellschaft, in der alles käuflich ist, haben es Menschen mit bescheidenen Mitteln schwerer. Je mehr für Geld zu haben ist, desto schwerer fällt der Reichtum (oder sein Fehlen) ins Gewicht.
Bestünde der einzige Vorteil von Reichtum darin, Jachten, Sportwagen und teure Feriendomizile erstehen zu können, würden Ungleichheiten bei Einkommen und Vermögen nicht sehr viel bedeuten. Doch weil man mit Geld mittlerweile immer mehr kaufen kann - etwa politischen Einfluss, gute medizinische Versorgung, eine Wohnung in einer guten Wohngegend statt in einem Viertel mit hoher Kriminalität, Zugang zu Eliteschulen -, wird die Verteilung von Einkommen und Reichtum zu einem immer bedeutsameren Faktor. Wo alles von Wert ge- und verkauft wird, macht allein der Besitz von Geld den Unterschied aus.
Das erklärt, warum die letzten Jahrzehnte für Familien aus der Unter- oder Mittelschicht besonders schwierig gewesen sind. Nicht nur ist die Kluft zwischen Reichen und Armen größer geworden, die Kommerzialisierung aller Lebensbereiche hat auch den Stachel der Ungleichheit zugespitzt, indem sie dem Geld eine bedeutendere Rolle zugewiesen hat.
Der zweite Grund, weshalb wir zögern sollten, alles zu kommodifizieren, also zur Handelsware zu machen, ist
© ullstein
Manches ist für Geld nicht zu kaufen. Aber nicht mehr viel. Heutzutage steht fast alles zum Verkauf, wie die folgenden Beispiele zeigen:
• Zellen-Upgrade im Knast: 82 Dollar pro Nacht. Im kalifornischen Santa Ana und einigen anderen Städten erhalten Strafgefangene, die kein Gewaltverbrechen begangen haben, gegen Bezahlung bessere Haftbedingungen - etwa eine saubere, ruhige Zelle abseits der weniger zahlungskräftigen Gefangenen.
• Benutzung der für Fahrgemeinschaften reservierten Spur als Alleinfahrer: acht Dollar während des Berufsverkehrs. Minneapolis und andere Städte versuchen Staus zu verringern, indem sie Alleinfahrer dafür bezahlen lassen, auf Sonderspuren fahren zu dürfen - die Preise variieren je nach Verkehrslage.
• Kosten für das Austragen eines Embryos durch eine indische Leihmutter: 6250 Dollar. Paare aus dem Westen, die Leihmütter suchen, tun dies zunehmend in Indien, wo diese Praxis legal ist und die Kosten nur ein Drittel dessen betragen, was man in den USA dafür bezahlt.
• Das Recht, in die USA einzuwandern: 500 000 Dollar. Ausländer, die 500 000 Dollar investieren und mindestens zehn Arbeitsplätze in einer Region mit hoher Arbeitslosigkeit schaffen, erhalten auf Wunsch eine Green Card, die ihnen unbefristetes Aufenthaltsrecht gibt.
• Das Recht, ein Schwarzes Nashorn (eine bedrohte Tierart) zu schießen: 150 000 Dollar. Südafrika erlaubt Ranchern inzwischen, Jägern das Recht zum Abschuss einer beschränkten Zahl von Nashörnern zu verkaufen, um den Landwirten dadurch einen Anreiz zu geben, die gefährdete Art zu züchten und zu schützen.
• Die Handynummer eines Arztes: ab 1500 Dollar pro Jahr. Für Patienten, die bereit sind, eine jährliche Gebühr von 1500 bis 25000 Dollar zu entrichten, bieten immer mehr Hausärzte an, über Handy erreichbar zu sein und noch am selben Tag einen Termin mit ihnen zu vereinbaren.
• Das Recht, eine Tonne Kohlenstoff zu emittieren: 13 Euro. Die EU hat einen Emissionshandel für Kohlenstoff eingeführt, der es Firmen ermöglicht, das Recht zur Umweltverschmutzung zu verkaufen oder zu kaufen.
• Die Aufnahme an einer angesehenen Universität: ? Dollar. Der Preis wird nicht offiziell genannt, doch Vertreter von Spitzenunis haben dem Wall Street Journal erzählt, dass sie einige Studenten mit eher bescheidenem Noten- schnitt aufnehmen, deren Eltern wohlhabend und spendabel sind.
Nicht jeder kann es sich leisten, dergleichen zu kaufen. Zum Glück gibt es heutzutage zugleich massenhaft neue Wege, Geld zu verdienen. Wer ein wenig Extra-Cash benötigt, kann sich hier inspirieren lassen:
• Vermietung der Stirn (oder anderer Körperteile) zu Werbezwecken: 777 Dollar. Die Air New Zealand heuerte dreißig Leute an, sich den Schädel rasieren zu lassen und auf diesem eine wieder entfernbare Tätowierung zur Schau zu stellen: »Abwechslung gefällig? Ab nach Neuseeland. «
• Menschliches Versuchskaninchen in einer Arzneimittelstudie für eine Pharmafirma: 7500 Dollar. Abhängig von der physischen Belastung durch das Testverfahren kann die Bezahlung auch höher oder niedriger ausfallen.
• In Somalia oder Afghanistan für ein privates Militärunternehmen kämpfen: von 250 Dollar pro Monat bis 1000 Dollar pro Tag. Die Bezahlung hängt von Qualifikation, Erfahrung und Staatsangehörigkeit ab.
• Nächtliches Schlangestehen am Capitol Hill in Vertretung eines Lobbyisten, der an einer Anhörung im Kongress teilnehmen will: 15 bis 20 Dollar pro Stunde. Die Lobbyisten bezahlen Warteschlangen-Firmen, die ihrerseits unter anderem Obdachlose anheuern, die sich in die Schlange stellen.
• Ein Buch lesen: zwei Dollar. Um Kinder zum Lesen zu ermuntern, werden Zweitklässler in Dallas in einer Schule mit unterdurchschnittlichem Leistungsniveau für jedes gelesene Buch bezahlt.
• In vier Monaten 14 Pfund abnehmen: 378 Dollar. Firmen und Krankenversicherungen bieten Übergewichtigen finanzielle Anreize zur Gewichtsreduzierung und anderen Arten gesunder Lebensführung.
• Sie kaufen die Lebensversicherungspolice einer erkrankten oder älteren Person, bezahlen die laufenden Prämien und kassieren nach dem Todesfall die Versicherungssumme: potenziell Millionen (je nach Police). Diese Art, auf das Leben Fremder zu wetten, ist zu einer Branche mit einem Volumen von 30 Milliarden Dollar geworden. Je früher der Unbekannte stirbt, desto mehr verdient der Anleger.
Wir leben also heute in einer Zeit, in der fast alles ge- und verkauft werden kann. Im Lauf der letzten drei Jahrzehnte haben es die Märkte - und die damit verbundenen Wertvorstellungen - geschafft, unser Leben wie nie zuvor zu beherrschen. Nicht, dass wir uns bewusst dafür entschieden hätten. Es scheint einfach über uns gekommen zu sein.
Als der Kalte Krieg zu Ende ging, erfreuten sich die Märkte und das Marktdenken verständlicherweise eines hohen Ansehens. Kein anderes Organisationsprinzip hat bei der Produktion und Verteilung von Gütern ähnlich viel Überfluss und Wohlstand hervorgebracht. Doch während sich immer mehr Länder in aller Welt auf die Marktmechanismen verließen, geschah noch etwas anderes. Im Leben der Gesellschaft begannen die Wertvorstellungen des Marktes eine immer größere Rolle zu spielen. Ökonomie wurde zu einer Herrschaftswissenschaft. Inzwischen gilt die Logik des Kaufens und Verkaufens nicht mehr nur für materielle Güter - sie lenkt zunehmend das Leben insgesamt. Es wird Zeit, uns zu fragen, ob wir so wirklich leben wollen.
Der Triumph des Marktes
Die Jahre und Jahrzehnte vor der Finanzkrise von 2008 waren durch den unbedingten Glauben an die Märkte und die positiven Folgen der Deregulierung gekennzeichnet - es war eine Ära der triumphierenden Märkte. Sie begann Anfang der 80er Jahre, als Ronald Reagan und Margaret Thatcher ihre Überzeugung verkündeten, dass nicht Staaten, sondern Märkte der Schlüssel zu Wohlstand und Freiheit seien. In den 90ern setzte sich diese Ansicht mit dem Wirtschaftsliberalismus von Bill Clinton und Tony Blair fort, die den Glauben daran, dass Märkte das vorrangige Mittel zur Herstellung des Gemeinwohls seien, in moderater Form aufgriffen und konsolidierten.
Heute wird dieser Glaube in Frage gestellt. Die Ära der triumphierenden Märkte hat ein Ende gefunden. Die Finanzkrise säte nicht nur Zweifel an deren Fähigkeit, das Risiko effizient zu streuen, sondern löste bei vielen Menschen auch das Gefühl aus, dass die Märkte sich von der Moral abgekoppelt hätten und wir diese beiden Sphären irgendwie wieder miteinander verknüpfen müssten. Was das bedeuten könnte oder wie wir es zustande bringen sollten, ist allerdings unklar.
Manche halten das moralische Versagen der Märkte für die Folge von Gier, die dazu geführt habe, dass die Entscheidungsträger unverantwortliche Risiken eingingen. Dieser Ansicht nach besteht die Lösung darin, die Gier zu zügeln, auf die Integrität und die Verantwortung der Banker und Führungskräfte an der Wall Street zu bestehen und vernünftige gesetzliche Regeln einzuführen, mit denen sich verhindern ließe, dass sich eine ähnliche Krise wiederholt.
Diese Diagnose trifft bestenfalls teilweise zu. Obwohl Gier sicherlich eine Rolle in der Finanzkrise gespielt hat, geht es hier um etwas Größeres. Die schicksalhafteste Änderung der letzten drei Jahrzehnte war nicht die Zunahme der Gier. Es war die Ausdehnung der Märkte und ihrer Wertvorstellungen in Lebensbereiche, in die sie nicht gehören.
Um diesen Zustand zu ändern, müssen wir mehr tun, als gegen die Gier zu wettern; wir müssen die Rolle überdenken, die die Märkte in unserer Gesellschaft spielen sollten. Wir brauchen eine öffentliche Debatte darüber, was es heißt, die Märkte in ihre Schranken zu weisen. Und als Voraussetzung für diese Debatte müssen wir die moralischen Grenzen der Märkte durchdenken. Wir müssen uns fragen, ob es Dinge gibt, die für Geld nicht zu haben sein sollten.
Das Übergreifen von Märkten und marktorientiertem Denken auf Aspekte des Lebens, die bislang von Normen außerhalb des Marktes gesteuert wurden, ist eine der bedeutsamsten Entwicklungen unserer Zeit.
Denken Sie an die Ausbreitung von gewinnorientierten Schulen, Kliniken und Gefängnissen und an die Auslagerung von Kriegshandlungen an private Militärunternehmen. (Im Irak und in Afghanistan waren mehr Angestellte privater Sicherheits- und Militärunternehmen im Einsatz als Soldaten der US-Armee.)
Denken Sie daran, dass öffentliche Polizeikräfte durch private Sicherheitsfirmen abgelöst werden - besonders in den USA und in England, wo es mittlerweile doppelt so viele private Sicherheitsleute wie Polizeibeamte gibt.17 Denken Sie an die aggressive Werbung für verschreibungspflichtige Medikamente. (Jemand, der in den USA die Fernsehwerbung vor den Abendnachrichten sieht, könnte glauben, das bei Weitem größte Gesundheitsproblem der Welt sei nicht die Malaria, die Onchozerkose oder die Schlafkrankheit, sondern eine grassierende Epidemie der erektilen Dysfunktion.)
Oder denken Sie an die Werbung in öffentlichen Schulen, an den Verkauf des Rechts, Parks und öffentlichen Einrichtungen »Namen zu geben«, die Vermarktung von Eiern und Sperma mit »definierten Eigenschaften«, die Auslagerung der Schwangerschaft an Ersatzmütter in Entwicklungsländern, den Handel von Unternehmen und Staaten mit Emissionsrechten oder das amerikanische System der Finanzierung von Wahlkämpfen, das beinahe den Eindruck erweckt, man könne das Wahlergebnis kaufen.
Vor dreißig Jahren waren wir noch weit davon entfernt, Gesundheit, Ausbildung, öffentliche Sicherheit, Strafvollzug, Umweltschutz, Freizeit, Fortpflanzung und andere gesellschaftliche Güter über die Märkte zuzuteilen. Heute halten wir das weitgehend für selbstverständlich.
Alles ist käuflich
Warum sollten wir uns darüber Sorgen machen, dass wir auf dem Weg in eine Gesellschaft sind, in der alles käuflich ist?
Aus zwei Gründen - einer davon hat mit Ungleichheit zu tun, der andere mit Korruption.
Zuerst die Ungleichheit: In einer Gesellschaft, in der alles käuflich ist, haben es Menschen mit bescheidenen Mitteln schwerer. Je mehr für Geld zu haben ist, desto schwerer fällt der Reichtum (oder sein Fehlen) ins Gewicht.
Bestünde der einzige Vorteil von Reichtum darin, Jachten, Sportwagen und teure Feriendomizile erstehen zu können, würden Ungleichheiten bei Einkommen und Vermögen nicht sehr viel bedeuten. Doch weil man mit Geld mittlerweile immer mehr kaufen kann - etwa politischen Einfluss, gute medizinische Versorgung, eine Wohnung in einer guten Wohngegend statt in einem Viertel mit hoher Kriminalität, Zugang zu Eliteschulen -, wird die Verteilung von Einkommen und Reichtum zu einem immer bedeutsameren Faktor. Wo alles von Wert ge- und verkauft wird, macht allein der Besitz von Geld den Unterschied aus.
Das erklärt, warum die letzten Jahrzehnte für Familien aus der Unter- oder Mittelschicht besonders schwierig gewesen sind. Nicht nur ist die Kluft zwischen Reichen und Armen größer geworden, die Kommerzialisierung aller Lebensbereiche hat auch den Stachel der Ungleichheit zugespitzt, indem sie dem Geld eine bedeutendere Rolle zugewiesen hat.
Der zweite Grund, weshalb wir zögern sollten, alles zu kommodifizieren, also zur Handelsware zu machen, ist
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Bibliographische Angaben
- Autor: Michael J. Sandel
- 2012, 1. Auflage, 304 Seiten, Deutsch
- Verlag: Ullstein Taschenbuchvlg.
- ISBN-10: 3843705097
- ISBN-13: 9783843705097
- Erscheinungsdatum: 09.11.2012
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Pressezitat
"Ein exzellenter Fragesteller, eine Art Moderator für die Probleme unserer Zeit.", Rheinische Post, Lothar Schröder, 22.11.2012
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