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Vier unvergessene Onkel

Nie zurückgekehrt aus dem Krieg. TV-Journalist Reinhold Beckmann erzählt seine Familiengeschichte

Im Buch "Aenne und ihre Brüder" erinnert TV-Moderator Reinhold Beckmann an das außergewöhnliche Schicksal seiner Mutter. © Steven Haberland

"Eine Hand hat fünf Finger, wenn vier fehlen ist es noch 'ne Hand?"

Diese Liedzeile singt Reinhold Beckmann 2021 anlässlich des Volkstrauertags im Deutschen Bundestag. Was vielleicht nicht jeder weiß: der bekannte Sportmoderator (Sportschau) und TV-Journalist Reinhold Beckmann ist auch Liedermacher. In seinem Song "Vier Brüder" verarbeitet er die erschütternde Geschichte seiner vier Onkel Alfons, Hans, Franz und Willi, die alle im Zweiten Weltkrieg umkamen. Jetzt ist ihre Geschichte auch in Buchform erschienen.

Die Reaktion auf den Song waren für Beckmann – wie er im Interview weiter unten erzählt – sehr berührend. Denn viele berichteten ihm anschließend von den eigenen verlorenen Vätern, Onkeln oder Großvätern, die nicht heimgekehrt waren. Ein Schicksal, das Familie Beckmann mit einer ganzen Generation teilt. Doch während in anderen Familien oft über die Kriegsjahre geschwiegen wurde, hielt Reinhold Beckmanns Mutter Aenne die Erinnerung an ihre vier verstorbenen Brüder immer lebendig. Kurz bevor sie 2019 verstarb, übergab sie ihm sogar einen Schuhkarton mit den gesammelten Feldpostbriefen ihrer Brüder. Ein Erinnerungsschatz, der jetzt in Reinhold Beckmanns neues Buch eingeflossen ist: "Aenne und ihre Brüder".

Reinhold Beckmann und seine Mutter Aenne standen sich zeitlebens nahe. Kurz nach ihrem 98. Geburtstag ruft Aenne Beckmann ihren Sohn noch einmal zu sich und übergibt ihm die Feldpostbriefe ihrer vier Brüder, die sie jahrzehntelang aufbewahrt hatte. © Reinhold Beckmann, privat

Feldpost aus der Vergangenheit:

Wie es zum neuen Buch kam, warum er die AFD verklagt hat und was er an seiner Mutter bewunderte – Reinhold Beckmann im Interview

Kurz vor dem Tod Ihrer Mutter Aenne 2019 haben Sie einen Schuhkarton voller Briefe von ihr erhalten. Es waren die Feldpostbriefe ihrer vier Brüder, die alle im Krieg umkamen. Was haben Ihre Onkel in diesen Briefen geschildert? Und hat es Sie berührt, so authentische Familienzeugnisse in Händen zu halten?

Reinhold Beckmann: Ich habe meine vier Onkel bis dahin ja nur aus den Erzählungen meiner Mutter gekannt. Es waren einfache Jungs vom Dorf, Schuhmacher und Schneider... Irgendwann im Laufe des Schreibprozesses zum Buch wurden sie mir dann ganz vertraut. Auf einmal schlüpften echte Menschen aus den Briefzeilen, ganz unterschiedliche Persönlichkeiten. Das hat mich sehr bewegt. Plötzlich hatte ich einen Lieblingsonkel – Franz, den ältesten, der als sein Bruder Hans gefallen war so warme und mitfühlende Zeilen an die Familie schrieb und dem Krieg von Beginn an kritisch gegenüberstand.

In den Briefen geht es oft um ganz Alltägliches. Aber ich spüre auch, wie tief verzweifelt meine Onkel waren.

Erstaunlich, was sie aus der Ferne so alles organisiert haben. Zwei der vier Brüder haben während des Krieges noch geheiratet – und mussten danach wieder zurück an die Front. Wie groß wird die Einsamkeit dort draußen gewesen sein, wie grauenhaft dieses Gefühl: Ich hänge hier in der ganz großen Scheiße und komme möglicherweise nicht mehr lebend da raus.

Vor 2 Jahren haben Sie Ihren Song "Vier Brüder" im Deutschen Bundestag vorgetragen, in dem es um Ihre Onkel geht. Darin heißt es: "Eine Hand hat fünf Finger, wenn vier fehlen ist es noch 'ne Hand? Vier Träume, nie gelebt. Geopfert für ein Mörderland." Ist es wichtig, persönliche Schicksale – jetzt in Buchform – öffentlich zur Sprache zur bringen?

Reinhold Beckmann: Als damals das Video zu ‚Vier Brüder‘ auf YouTube erschien, haben Menschen begonnen, in den Kommentarspalten auch von ihren verlorenen Vätern, Onkeln und Großvätern im Zweiten Weltkrieg zu erzählen. Das war sehr berührend – und mit ein Auslöser, jetzt dieses Buch zu schreiben.

Weil es nicht nur das Schicksal meiner Familie ist, sondern so oder ähnlich das Schicksal einer ganzen Generation.

Oft wurde nach dem Krieg darüber geschwiegen, doch meine Mutter hat viel über die Zeit damals gesprochen und die Erinnerung an ihre verlorenen Brüder hochgehalten. An den Feiertagen saßen die vier gefühlt immer mit am Tisch, in fast jedem Zimmer zuhause hing eine Fotocollage, auf der Aenne die vier wieder vereint hatte. Das Buch erzählt, wie es für die Menschen daheim war, als keiner zurückkam. Und beispielhaft am kleinen Ort Wellingholzhausen auch, wie es den Nazis gelingen konnte, in ländlichen Regionen Fuß zu fassen. Und welche Rolle die Kirchen dabei spielten.

Interview hier weiterlesen

Dass ihre Brüder unvergessen blieben, war Reinhold Beckmanns Mutter Aenne wichtig. In fast jedem Zimmer hing eine Fotocollage der vier. © Reinhold Beckmann, privat

Worum geht's im neuen Buch von Reinhold Beckmann?

Aenne und ihre Geschwister wachsen im Dorf Wellingholzhausen in der Nähe des Teutoburger Walds auf. Aennes Mutter stirbt bald nach ihrer Geburt und wird durch eine ebenso fleißige wie herrische Stiefmutter ersetzt. Auch ihr Vater erliegt wenige Jahre später einem alten Kriegsleiden, ein Stiefvater tritt an seine Stelle. Die Lebensumstände für die Schusterfamilie sind hart, das Umfeld erzkatholisch und das Verhältnis von Aenne und ihren Geschwistern zu den Eltern wenig herzlich. Vielleicht ein Grund, warum Aenne, ihre Schwester Lisbeth und ihre vier Brüder Alfons, Hans, Franz und Willi fest zusammenhalten. Bis der Krieg die Geschwister trennt.
Geschickt bettet Reinhold Beckmann die private Tragödie seiner Familie in den historischen Kontext ein. Die Geschichte bleibt persönlich und doch werden viele Nachkriegskinder darin Parallelen zur eigenen Familiengeschichte wiederfinden.

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Herausgeputzt posieren drei der vier Brüder und die kleine Aenne (zweite von rechts in der ersten Reihe) vor der Verwandtschaft fürs Familienfoto. © Reinhold Beckmann, privat

Fortsetzung des Interviews


2018 haben Sie zusammen mit Ihrer Mutter den damaligen AfD-Bundesvorsitzenden Gauland verklagt, weil er den Zweiten Weltkrieg als „Vogelschiss in der deutschen Geschichte“ bezeichnet hatte. Aktuell hat die AfD mehr Zuspruch denn je – wie besorgt sind Sie?

Reinhold Beckmann: Unser Gefühl damals war: Es darf doch nicht sein, dass man ihm das einfach so durchgehen lässt – diese Taktik der AfD, die Grenzen des Sagbaren immer weiter aufzuweichen! Meine Mutter und ich haben deshalb, unterstützt vom Bremer Menschenrechtsanwalt Bernhard Docke, nach § 189 StGB geklagt, „Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener“. Die zuständige Staatsanwaltschaft in Thüringen wertete die Meinungsfreiheit Alexander Gaulands am Ende aber höher als die Verletztheit meiner Mutter und wies die Klage ab. Immerhin, wir hatten es versucht!

Die Politikverdrossenheit und Unzufriedenheit, die sich in den aktuellen Umfragen widerspiegelt, diese neue angebliche ‚Salonfähigkeit‘ der AfD bis in die gesellschaftliche Mitte hinein, besorgt mich sehr.

Sie flechten viele kleine Details in Ihr Buch „Aenne und ihre Brüder“ ein wie den Schauer, der Ihrer Mutter den Rücken runterläuft, wenn in der Kirche gesungen wird. Haben Sie sich beim Schreiben an vieles erinnert, was Ihnen Ihre Mutter im Laufe ihres Lebens erzählt hat?

Reinhold Beckmann: Meine Mutter Aenne war eine leidenschaftliche Erzählerin. Zudem waren wir beide uns sehr nah, und ich kann vieles wiederfühlen, was sie geschildert hat. Ein paar Tonbandprotokolle von Gesprächen mit ihr gibt es auch. Dennoch hätte ich sie jetzt beim Schreiben manches gerne noch gefragt. Bei den Recherchen haben sich hier und da auch kleine Rätsel entschlüsselt, wo vorher ‚Familienlegenden‘ gesponnen worden waren. Viele Dinge, gerade zu den letzten Lebenstagen ihrer Brüder, wussten wir ja gar nicht so genau.

Sie schreiben die Dialoge im Dialekt Ihrer Familie, die aus der Nähe des Teutoburger Walds stammt. Haben Sie den Dialekt als Kind so gelernt, können Sie den heute noch sprechen?

Reinhold Beckmann: Das ist der Dialekt meiner Familie mütterlicherseits. Aenne hat ihr Glück nach dem Krieg in der Nähe von Bremen gefunden, in Twistringen, wo sie meinen Vater kennenlernte und ich dann auch groß geworden bin. In Plattdeutsch bin ich deshalb einigermaßen firm, den Wellingholzhäuser Dialekt aber habe ich mir übersetzen lassen – und fürs Hörbuch ein bisschen geübt.

Ihre Mutter hat viele Verluste verkraften müssen im Leben und ist dennoch ein offener und nahbarer Mensch geblieben, schreiben Sie. Was haben Sie von Ihrer Mutter fürs Leben gelernt?

Reinhold Beckmann: Aenne war ein gläubiger Mensch, sie hatte so ein bedingungsloses Gottvertrauen, um das ich sie manchmal beneidet habe. Sie war aber auch eine mutige junge Frau, die nach dem Krieg ihr Leben selbst in die Hand genommen hat. Was ich später bewundert habe, war ihre Bescheidenheit zum Glück. Ihre Antwort auf meine Frage ‚Mutter, wie geht‘s Dir?‘ war eigentlich immer ‚Ach weißt Du, Reinhold, ich bin zufrieden‘. Eine große Gabe.