1913
Der Sommer des Jahrhunderts
1913 ist das Jahr, in dem die Gegenwart beginnt. In Kunst, Literatur und Musik werden die Extreme ausgereizt, als gäbe es kein Morgen, oder besser: Als wüsste man schon, dass es kein Morgen gibt... ...
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Produktinformationen zu „1913 “
1913 ist das Jahr, in dem die Gegenwart beginnt. In Kunst, Literatur und Musik werden die Extreme ausgereizt, als gäbe es kein Morgen, oder besser: Als wüsste man schon, dass es kein Morgen gibt... 1913 ist der Sommer des Jahrhunderts.
Rilke trinkt mit Freud. Benn liebt Lasker-Schüler. Malewitsch malt ein Quadrat. Kirchner gibt der modernen Metropole ein Gesicht. Kafka, Joyce und Musil trinken in Triest einen Cappuccino, am selben Tag. Und der österreichische Postkartenmaler Adolf Hitler verkauft in München seine biederen Stadtansichten.
Man kokst, man trinkt, man ätzt, man hasst. Man schreibt, man malt, man zieht sich gegenseitig an und stößt sich ab, man liebt und verflucht sich. Alles scheint möglich. Und doch wohnt dem gleißenden Anfang das Ahnen des Verfalles inne. Der Erste Weltkrieg führte die Schrecken alles vorher schon Erkannten und Gedachten nur noch aus.
Florian Illies lässt das Jahr 1913 in einem grandiosen Panorama lebendig werden: Personen und Situationen sind beeindruckend charakterisiert. „1913 Der Sommer des Jahrhunderts“ ist so farbig, schillernd und vielgestaltig wie der Sommer des Jahres 1913 selbst: Illies schreibt manchmal fast in Stichpunkten, dann wieder erzählt er Weltbewegendes wie Anekdoten, lässt uns an Geschichte teilhaben mit Fakten, die eben jener Geschichte die Lebendigkeit und Spannung zurückgeben, die ihr von Historikern so oft genommen wird.
Am nächsten Morgen, als Thomas Mann in den Zug zurück nach München steigt, lässt Kerr den Text in die Redaktion der Zeitung „Der Tag“ bringen. Am 5. Januar erscheint er. Als Thomas Mann ihn liest, bricht er zusammen. „Unmännlich“ sei er, so schreibt Kerr – das wird Mann am meisten treffen. Ob Kerr damit auf Thomas Manns verheimlichte Homosexualität anspielte oder ob es Mann nur als eine Anspielung verstand, ist einerlei ... Das hat er nur geschrieben, weil er mich nicht bekommen hat, du lieber Thommy, sagt Katia zum Trost und streicht ihm mütterlich über den Scheitel ... (Florian Illies: 1913 Der Sommer des Jahrhunderts)
„1913 Der Sommer des Jahrhunderts“ beleuchtet ein großes historisches Thema und wurde geschrieben von Florian Illies, einem der erfolgreichsten Sachbuchautoren im deutschsprachigen Raum und Autor des Bestsellers "Generation Golf".
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Klappentext zu „1913 “
Ein Buch so farbig, so schillernd, so vielgestaltig wie der Sommer des Jahrhunderts."Ich konnte nicht mehr aufhören zu lesen - Illies' Geschichten sind einfach großartig." Ferdinand von Schirach
Die Geschichte eines ungeheuren Jahres, das ein ganzes Jahrhundert prägte: Florian Illies entfaltet virtuos ein historisches Panorama. 1913: Es ist das eine Jahr, in dem unsere Gegenwart begann. In Literatur, Kunst und Musik werden die Extreme ausgereizt, als gäbe es kein Morgen. Zwischen Paris und Moskau, zwischen London, Berlin und Venedig begegnen wir zahllosen Künstlern, deren Schaffen unsere Welt auf Dauer prägte. Man kokst, trinkt, ätzt, hasst, schreibt, malt, zieht sich gegenseitig an und stößt sich ab, liebt und verflucht sich.
Es ist ein Jahr, in dem alles möglich scheint. Und doch wohnt dem gleißenden Anfang das Ahnen des Verfalles inne. Literatur, Kunst und Musik wussten schon 1913, dass die Menschheit ihre Unschuld verloren hatte. Der Erste Weltkrieg führte die Schrecken alles vorher schon Erkannten und Gedachten nur noch aus. Florian Illies lässt dieses eine Jahr, einen Moment höchster Blüte und zugleich ein Hochamt des Unterganges, in einem grandiosen Panorama lebendig werden.
Malewitsch malt ein Quadrat, Proust begibt sich auf die Suche nach der verlorenen Zeit, Benn liebt Lasker-Schüler, Rilke trinkt mit Freud, Strawinsky feiert das Frühlingsopfer, Kirchner gibt der modernen Metropole ein Gesicht, Kafka, Joyce und Musil trinken am selben Tag in Triest einen Cappuccino - und in München verkauft ein österreichischer Postkartenmaler namens Adolf Hitler seine biederen Stadtansichten.
"Die Konstruktion des Buches ist fabelhaft, Florian Illies' anekdotischen Gaben sind es nicht minder, die Charakterisierung von Personen und Situationen ist beeindruckend. Auch was ich zu kennen meinte, habe ich hier ganz neu gelesen." Henning Ritter
Lese-Probe zu „1913 “
1913 Der Sommer des Jahrhunderts von Florian IlliesJANUAR
Das ist der Monat, in dem sich Hitler und Stalin beim Spazierengehen im Schlosspark von Schönbrunn begegnen, Thomas Mann fast geoutet und Franz Kafka vor Liebe fast verrückt wird. Zu Sigmund Freud auf die Couch schleicht eine Katze. Es ist sehr kalt, der Schnee knirscht unter den Füßen. Else Lasker-Schüler ist total verarmt, verliebt sich in Gottfried Benn, bekommt eine tolle Pferdepostkarte von Franz Marc, nennt Gabriele Münter aber eine Null. Ernst Ludwig Kirchner zeichnet die Kokotten am Potsdamer Platz. Der erste Looping wird geflogen. Aber es hilft alles nichts. Oswald Spengler arbeitet schon am »Untergang des Abendlandes«.
Es ist die erste Sekunde des Jahres 1913. Ein Schuss hallt durch dunkle Nacht. Man hört ein kurzes Klicken, die Finger am Abzug spannen sich an, dann ein zweiter, dumpfer Schuss. Die alarmierte Polizei eilt herbei und nimmt den Schützen sofort fest. Er heißt Louis Armstrong.
Mit einem gestohlenen Revolver hatte der Zwölfjährige in New Orleans das neue Jahr begrüßen wollen. Die Polizei steckt ihn in eine Zelle und schickt ihn schon am frühen Morgen des 1. Januar in eine Besserungsanstalt, das Colored Waifs' Home for Boys. Er führt sich dort so wild auf, dass der Leiter der Anstalt Peter Davis sich nicht anders zu helfen weiß, als ihm spontan eine Trompete in die Hand zu drücken (eigentlich hat er ihn ohrfeigen wollen). Louis Armstrong aber wird urplötzlich stumm, nimmt das Instrument fast zärtlich entgegen, und seine Finger, die noch in der Nacht zuvor nervös mit dem Abzug des Revolvers gespielt hatten, spüren erneut das kalte Metall, doch statt eines Schusses entlockt er der Trompete noch im Zimmer des Direktors erste warme, wilde Töne.
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»Gerade der Mitternachtsschuß. Schreien auf der Gasse und der Brücke. Glockenläuten und Uhrenschlagen.« Aus Prag berichtet: Dr. Franz Kafka, Angestellter der Arbeiter-Unfall- Versicherung für das Königreich Böhmen. Sein Publikum sitzt im fernen Berlin, in der Etagenwohnung in der Immanuelkirchstraße 29, es ist nur eine Person, doch es ist für ihn die ganze Welt: Felice Bauer, fünfundzwanzig, etwas blond, etwas knochig, etwas schlaksig, Stenotypistin in der Carl Lindström A. G. Im August, es goss in Strömen, da hatten sie sich kurz kennengelernt, sie hatte nasse Füße bekommen, er sehr schnell kalte. Aber seitdem schreiben sie sich nachts, wenn ihre Familien schlafen, hochtemperierte, zauberhafte, seltsame, verstörende Briefe. Und nachmittags meist noch einen hinterher. Als Felice einmal ein paar Tage nichts von sich hören ließ, da fing er, als er aus unruhigen Träumen erwachte, verzweifelt »Die Verwandlung« an zu schreiben. Er hatte ihr von dieser Geschichte erzählt, kurz vor Weihnachten war sie fertiggeworden (sie lag jetzt in seinem Sekretär, gewärmt von den beiden Fotos, die ihm Felice von sich geschickt hatte). Doch wie schnell sich ihr ferner, geliebter Franz selbst in ein schreckliches Rätsel verwandeln konnte, das erfuhr sie erst mit diesem Silvesterbrief. Ob sie ihn wohl, so fragt er aus dem Nichts, mit dem Schirm kräftig schlagen würde, wenn er einfach im Bett liegen bliebe, wenn sie sich für ein Treffen in Frankfurt am Main verabredet hätten, um nach einer Ausstellung ins Theater zu gehen, so fragt Kafka einleitend in einem dreifachen Konjunktiv. Und dann beschwört er scheinbar harmlos ihre gemeinsame Liebe, träumt davon, dass Felices und seine Hand unlösbar zusammengebunden sind. Um dann fortzufahren: Es sei »immerhin möglich, dass einmal auf solche Weise zusammengebunden ein Paar zum Schafott geführt wurde«. Was für ein reizender Gedanke für einen Brautbrief. Man hat sich noch nicht einmal geküsst, da phantasiert der Mann schon vom gemeinsamen Gang zum Schafott. Kafka selbst scheint kurzzeitig erschrocken über das, was da aus ihm herausbricht: »Aber was läuft mir denn da alles durch den Kopf?«, schreibt er. Die Erklärung ist einfach: »Das macht die 13 in der neuen Jahreszahl.« So also beginnt 1913 in der Weltliteratur: mit einer Gewaltphantasie.
Vermisstenanzeige. Es fehlt: Leonardos »Mona Lisa«. 1911 wurde sie aus dem Louvre gestohlen, es gibt noch immer keine heiße Spur. Pablo Picasso wird von der Pariser Polizei verhört, doch er hat ein Alibi und darf wieder nach Hause gehen. Im Louvre legen die trauernden Franzosen Blumensträuße an der kahlen Wand ab.
In den ersten Januartagen, ganz genau wissen wir es nicht, kommt aus Krakau mit dem Zug ein leicht verwahrloster, vierundreißigjähriger Russe am Wiener Nordbahnhof an. Draußen Schneegestöber. Er hinkt. Seine Haare sind in diesem Jahr noch nicht gewaschen worden, sein buschiger Schnurrbart, der sich wie wucherndes Gestrüpp unter seiner Nase ausbreitet, kann die Pockennarben im Gesicht nicht verbergen. Er trägt russische Bauernschuhe und einen vollgestopften Koffer, kaum angekommen, steigt er sofort in eine Trambahn, die ihn rausbringen soll nach Hietzing. In seinem Pass steht »Stavros Papadopoulos«, das soll nach einer griechisch-georgischen Mischung klingen, und so verwahrlost, wie er aussah, und so kalt, wie es gerade war, nahm ihm das jeder Grenzer ab. In Krakau, im anderen Exil, hatte er am Abend zuvor Lenin ein letztes Mal beim Schach besiegt, zum siebten Mal hintereinander. Das konnte er deutlich besser als Fahrradfahren. Lenin hatte verzweifelt versucht, ihm auch das beizubringen. Revolutionäre müssen schnell sein, hatte er ihm eingebläut. Doch der Mann, der eigentlich Josef Wissarionowitsch Dschugaschwili hieß und sich jetzt Stavros Papadopoulos nannte, lernte das Radfahren nicht. Kurz vor Weihnachten stürzte er übel auf den vereisten Kopfsteinpflaster- Straßen Krakaus. Sein Bein war noch voller Wunden, sein Knie verstaucht, erst seit ein paar Tagen konnte er überhaupt wieder auftreten. Mein »prächtiger George« hatte Lenin ihn lächelnd genannt, als er ihm entgegengehinkt kam, um den gefälschten Pass für die Reise nach Wien entgegenzunehmen. Und nun gute Fahrt, Genosse.
Unbehelligt überquerte er die Grenzen, fieberhaft saß er im Zug über seinen Manuskripten und Büchern, die er beim Umsteigen hektisch in seinen Koffer stopfte.
Nun, in Wien angekommen, legte er den georgischen Tarnnamen ab. Vom Januar 1913 an sagte er: Mein Name ist Stalin, Josef Stalin. Als er aus der Tram gestiegen war, sah er rechts das Schloss Schönbrunn, hell erleuchtet im matten Wintergrau, dahinter den Park. Er geht in die Schönbrunner Schlossstraße 30, so steht es auf dem kleinen Zettel, den ihm Lenin gegeben hatte. Und: »Bei Trojanow klingeln«. Also schlägt er sich den Schnee von den Schuhen, schnäuzt in sein Taschentuch und drückt etwas unsicher den Klingelknopf. Als das Hausmädchen erscheint, sagt er das verabredete Codewort.
Eine Katze schleicht sich in der Wiener Berggasse 19 in das Arbeitszimmer von Sigmund Freud, in dem sich gerade die Mittwochsgesellschaft zum Kolleg versammelt hat. Das ist die zweite Überraschungsbesucherin innerhalb kurzer Zeit: Im Spätherbst war schon Lou Andreas-Salomé zu der Herrenrunde gestoßen, erst argwöhnisch beäugt, nun schmachtend verehrt. Lou Andreas-Salomé trug an ihrem Strumpfband eine lange Reihe von Skalps erlegter Geistesgrößen: Mit Nietzsche war sie in einem Beichtstuhl im Petersdom, mit Rilke im Bett und in Russland bei Tolstoi, Frank Wedekind nannte seine »Lulu« nach ihr und Richard Strauss seine
»Salomé«. Nun erlag ihr Freud zumindest intellektuell - sie durfte in diesem Winter sogar in seiner Arbeitsetage wohnen, diskutierte mit ihm sein neues Buch über »Totem und Tabu«, an dem er gerade saß, und hörte ihm zu, wenn er sein Leid klagte über C. G.Jung und die abtrünnigen Psychologen aus Zürich. Vor allem aber ließ sich die inzwischen 52-jährige Lou Andreas-Salomé, Autorin mehrerer Bücher über den Geist und die Erotik, vom Meister selbst in der Psychoanalyse ausbilden - im März dann würde sie in Göttingen ihre eigene Praxis eröffnen. So sitzt sie also im feierlichen Mittwochskolleg, neben ihr die gelehrten Kollegen, rechts die schon damals legendäre Couch und überall die kleinen Skulpturen, die der antikenversessene Freud sammelte, um sich über die Gegenwart hinwegzutrösten. Und in diese andächtige Runde huschte nun, als Lou die Tür betrat, auch eine Katze hinein. Erst war Freud irritiert, doch als er sah, mit welcher Neugier die Katze die griechischen Vasen und römischen Kleinskulpturen musterte, da ließ er ihr gerührt etwas Milch bringen. Aber Lou Andreas-Salomé berichtet: »Dabei nahm sie jedoch von ihm trotz seiner steigenden Liebe und Bewunderung durchaus keine Notiz, richtete ihre grünen Augen mit den schiefen Pupillen kaltsinnig auf ihn wie auf einen beliebigen Gegenstand, und wenn er auch nur für einen Augenblick mehr wollte als ihr egoistisch-narzisstisches Schnurren, dann musste er den Fuß vom bequemen Liegestuhl heruntertun und mit den erfinderisch bezauberndsten Bewegungen der Stiefelspitze um ihre Aufmerksamkeit werben.« Woche für Woche erhielt die Katze fortan Zutritt zum Kolleg, als sie kränkelte, durfte sie mit Wickelkompressen auch auf Freuds Couch liegen. Sie erwies sich jedoch offenbar als therapieresistent.
Apropos Rilke. Wo steckt er eigentlich?
Die Angst, dass sich 1913 als Unglücksjahr erweisen könnte, sitzt den Zeitgenossen im Nacken. Gabriele D'Annunzio schenkt einem Freund sein »Martyrium des Heiligen Sebastian« und datiert es in der Widmung lieber vorsorglich mit »1912 + 1«. Und Arnold Schönberg hält den Atem an angesichts der Unglückszahl. Nicht ohne Grund erfand er die »Zwölf-Ton-Musik« - eine Grundlage der modernen Musik, geboren auch aus dem Schrecken ihres Schöpfers vor dem, was danach kommen würde. Die Geburt des Rationalen aus dem Geist des Aberglaubens. In Schönbergs Stücken kommt die Zahl »13« nicht vor, nicht als Takt, kaum einmal als Seitenzahl. Als er mit Entsetzen merkte, dass seine Oper über Moses und Aaron 13 Buchstaben haben würde, strich er Aaron das zweite a und so heißt sie seitdem »Moses und Aron«. Und nun also ein ganzes Jahr im Zeichen der Unglückszahl. Schönberg wurde an einem 13. September geboren - und es trieb ihn die panische Angst um, an einem Freitag, dem 13. zu sterben. Aber half alles nichts. Arnold Schönberg starb an einem Freitag, dem 13. (allerdings erst 1913 + 38, also 1951). Doch auch 1913 wird für ihn noch eine schöne Überraschung bereithalten. Er wird öffentlich geohrfeigt. Aber der Reihe nach.
Und nun erst einmal: Auftritt Thomas Mann. Am frühen Morgen des 3. Januar setzt sich Mann in München in den Zug. Er liest erst ein paar Zeitungen und Briefe, blickt hinaus auf die schneebedeckten Hügel des Thüringer Waldes, nickt dann im überheizten Abteil immer wieder ein über den sorgenden Gedanken um seine Katia, die schon wieder zu einer Kur in die Berge aufgebrochen ist. Im Sommer hatte er sie in Davos besucht und im Wartezimmer des Arztes hatte er plötzlich eine Idee für eine große Erzählung gehabt, doch jetzt kommt sie ihm sinnlos vor, zu weltabgewandt, diese Sanatoriumsgeschichte. Na ja, jetzt würde ja erst einmal in ein paar Wochen sein »Tod in Venedig« erscheinen.
Thomas Mann sitzt im Zug und sorgt sich um seine Garderobe, ärgerlich, dass die langen Zugfahrten immer diese Druckfalten an den Kleidern hinterlassen, er würde den Mantel nachher im Hotel noch einmal aufbügeln lassen müssen. Er steht auf, schiebt die Waggontür zur Seite und beschließt, ein wenig auf und ab zu gehen. So steif, dass die anderen Gäste immer denken, der Schaffner kommt. Draußen fliegen die Dornburger Schlösser vorbei, Bad Kösen, die Weinhänge der Saale, tiefverschneit, die Rebenreihen ziehen sich wie Zebrastreifen die Hänge empor. Hübsch eigentlich, aber Thomas Mann spürt, wie die Angst in ihm hochsteigt, je näher er Berlin kommt.
Er lässt sich, als er den Zug verlassen hat, sogleich ins Hotel Unter den Linden fahren und schaut an der Rezeption umher, ob er denn auch erkannt werde von den anderen Gästen, die hinter ihm zu den Aufzügen drängen. Dann bezieht er sein Zimmer, dasselbe wie stets, um sich aufwendig neu einzukleiden und seinen Schnurrbart noch ein wenig zu kämmen.
Im Grunewald, tief im Westen der Stadt, bindet sich zur selben Stunde Alfred Kerr im Ankleidezimmer seiner Villa in der Höhmannstraße 6 seine Fliege und zwirbelt die Enden seines Schnurrbartes kampfeslustig empor.
Um zwanzig Uhr soll ihr Duell beginnen. Um viertel nach sieben steigen beide in ihre Droschken. Sie fahren zu den Kammerspielen des Deutschen Theaters, gleichzeitig treffen sie ein. Und ignorieren sich. Es ist kalt, schnell eilen beide hinein. Einst in Bansin am Ostseestrand, aber das muss unter uns bleiben, da hatte er, Alfred Kerr, Deutschlands größter Kritiker und eitelster Fatzke, um Katia Pringsheim geworben, die reiche Jüdin mit den Katzenaugen. Doch sie hatte ihn, den gedankenwilden, stolzen Breslauer, abgewiesen und sich Thomas Mann an die Brust geworfen, diesem stocksteifen Hanseaten. Unbegreiflich. Aber vielleicht konnte er es ihm ja heute Abend heimzahlen.
Thomas Mann setzt sich in die erste Reihe und versucht gravitätische Ruhe auszustrahlen. Heute abend hat seine
»Fiorenza« Premiere, das Buch, das er schrieb, als er Katia lieben lernte. Aber er ahnt, dass es heute ein Debakel geben könnte, das Stück war seit langem sein Sorgenkind. Man hätte es nicht zu einem Drama machen sollen, um ein Drama zu verhindern, denkt er. »Ich habe einiges zu retten versucht, glaube aber nicht, dass man auf mich hört«, hatte er an Maximilian Harden geschrieben, bevor er in München aus der Mauerkircherstraße 13 aufbrach.
Er hasste es, sehenden Auges in ein Unglück zu gehen. Das war eines Thomas Mann nicht würdig. Aber was er im Dezember bei den Proben gesehen hatte, verhieß nichts Gutes. Gequält verfolgt er das Stück, das die Florentiner Hochrenaissance zum Leben erwecken soll, aber es kommt nicht in Fahrt, mehr Uff als Uffizien.
Irgendwann erlaubt sich Mann einen verstohlenen Blick über die linke Schulter. Dort, in der dritten Reihe entdeckt er Alfred Kerr, dessen Bleistift über den Notizblock rast. Tief ist das Dunkel im Zuschauerraum und doch meint er auf den Zügen Kerrs ein Lächeln zu erkennen. Es ist das Lächeln des Sadisten, der sich freut, dass ihm diese Inszenierung schönsten Stoff zum Quälen bietet. Und als er den unruhigen Blick Thomas Manns erhascht, durchläuft ihn noch ein wohligerer Schauer. Er genießt es, dass Thomas Mann und seine verunglückte »Fiorenza« nun in seiner Hand liegen. Denn er weiß: Er wird sehr fest zudrücken und wenn er loslässt, wird sie leblos zu Boden taumeln.
Da fällt der Vorhang und freundlicher Applaus kommt auf, so freundlich sogar, dass es dem Regisseur in seiner einzig wirklich geglückten Inszenierung gelingt, Thomas Mann zweimal auf die Bühne zu bitten. Er wird dies in unzähligen Briefen in den nächsten Wochen zu bemerken nie vergessen. Zweimal! Würdevoll versucht er sich also zu verbeugen, zweimal!, es wirkt eher ungelenk. In der dritten Reihe sitzt Alfred Kerr und klatscht nicht. Noch in der Nacht, als er in seiner schicken Villa im Grunewald ankommt, lässt er sich einen Tee bringen und fängt an zu schreiben. Feierlich setzt er sich an seine Schreibmaschine und setzt als erstes eine römische Eins aufs Papier. Kerr nummeriert seine Absätze einzeln, als seien es Bände einer Werkausgabe. Zunächst wetzt er den Säbel: »Der Verfasser ist ein feines, etwas dünnes Seelchen, dessen Wohnung ihre stille Wurzel im Sitzfleisch hat.« Und dann legt er los: Die Dame Fiorenza, die wohl als Symbol Florenz' zu gelten habe, sei völlig blutleer, das ganze Stück in den Bibliotheken zusammengeschrieben, steif, trocken, kraftlos, kitschig, überflüssig. Das sind so seine Worte.
Als Kerr auch seinen zehnten Absatz nummeriert und abgeschlossen hat, zieht er zufrieden das letzte Papier aus der Maschine. Eine Vernichtung.
Am nächsten Morgen, als Thomas Mann in den Zug zurück nach München steigt, lässt Kerr den Text in die Redaktion der Zeitung »Der Tag« bringen. Am 5. Januar erscheint er. Als Thomas Mann ihn liest, bricht er zusammen. »Unmännlich « sei er, so schreibt Kerr - das wird Mann am meisten treffen. Ob Kerr damit auf Thomas Manns verheimlichte Homosexualität anspielte oder ob es Mann nur als eine Anspielung verstand, ist einerlei. Kerr sah so genau wie sonst nur Kraus, wo er mit Worten tiefe Wunden hinterlassen konnte. Thomas Mann in jedem Fall fühlt sich tief getroffen, »bis ins Blut«, wie er schreibt. Das gesamte Frühjahr 1913 wird er sich von dieser Kritik nicht erholen, in keinem Brief fehlt der Hinweis, kein Tag ohne Wut auf diesen Kerl, auf diesen Kerr. An Hugo von Hofmannsthal schreibt Mann: »Ich hatte ungefähr gewusst, was kommen würde, aber es übertraf alle Erwartungen. Ein giftiges Gejökel, dem der Ahnungsloseste die persönliche Mordlust anmerken musste!«.
Das hat er nur geschrieben, weil er mich nicht bekommen hat, du lieber Thommy, sagt Katia zum Trost und streicht ihm mütterlich über den Scheitel, als sie aus der Kur zurückgekommen ist.
Copyright © S. Fischer Verlag GmbH. Frankfurt am Main 2012
»Gerade der Mitternachtsschuß. Schreien auf der Gasse und der Brücke. Glockenläuten und Uhrenschlagen.« Aus Prag berichtet: Dr. Franz Kafka, Angestellter der Arbeiter-Unfall- Versicherung für das Königreich Böhmen. Sein Publikum sitzt im fernen Berlin, in der Etagenwohnung in der Immanuelkirchstraße 29, es ist nur eine Person, doch es ist für ihn die ganze Welt: Felice Bauer, fünfundzwanzig, etwas blond, etwas knochig, etwas schlaksig, Stenotypistin in der Carl Lindström A. G. Im August, es goss in Strömen, da hatten sie sich kurz kennengelernt, sie hatte nasse Füße bekommen, er sehr schnell kalte. Aber seitdem schreiben sie sich nachts, wenn ihre Familien schlafen, hochtemperierte, zauberhafte, seltsame, verstörende Briefe. Und nachmittags meist noch einen hinterher. Als Felice einmal ein paar Tage nichts von sich hören ließ, da fing er, als er aus unruhigen Träumen erwachte, verzweifelt »Die Verwandlung« an zu schreiben. Er hatte ihr von dieser Geschichte erzählt, kurz vor Weihnachten war sie fertiggeworden (sie lag jetzt in seinem Sekretär, gewärmt von den beiden Fotos, die ihm Felice von sich geschickt hatte). Doch wie schnell sich ihr ferner, geliebter Franz selbst in ein schreckliches Rätsel verwandeln konnte, das erfuhr sie erst mit diesem Silvesterbrief. Ob sie ihn wohl, so fragt er aus dem Nichts, mit dem Schirm kräftig schlagen würde, wenn er einfach im Bett liegen bliebe, wenn sie sich für ein Treffen in Frankfurt am Main verabredet hätten, um nach einer Ausstellung ins Theater zu gehen, so fragt Kafka einleitend in einem dreifachen Konjunktiv. Und dann beschwört er scheinbar harmlos ihre gemeinsame Liebe, träumt davon, dass Felices und seine Hand unlösbar zusammengebunden sind. Um dann fortzufahren: Es sei »immerhin möglich, dass einmal auf solche Weise zusammengebunden ein Paar zum Schafott geführt wurde«. Was für ein reizender Gedanke für einen Brautbrief. Man hat sich noch nicht einmal geküsst, da phantasiert der Mann schon vom gemeinsamen Gang zum Schafott. Kafka selbst scheint kurzzeitig erschrocken über das, was da aus ihm herausbricht: »Aber was läuft mir denn da alles durch den Kopf?«, schreibt er. Die Erklärung ist einfach: »Das macht die 13 in der neuen Jahreszahl.« So also beginnt 1913 in der Weltliteratur: mit einer Gewaltphantasie.
Vermisstenanzeige. Es fehlt: Leonardos »Mona Lisa«. 1911 wurde sie aus dem Louvre gestohlen, es gibt noch immer keine heiße Spur. Pablo Picasso wird von der Pariser Polizei verhört, doch er hat ein Alibi und darf wieder nach Hause gehen. Im Louvre legen die trauernden Franzosen Blumensträuße an der kahlen Wand ab.
In den ersten Januartagen, ganz genau wissen wir es nicht, kommt aus Krakau mit dem Zug ein leicht verwahrloster, vierundreißigjähriger Russe am Wiener Nordbahnhof an. Draußen Schneegestöber. Er hinkt. Seine Haare sind in diesem Jahr noch nicht gewaschen worden, sein buschiger Schnurrbart, der sich wie wucherndes Gestrüpp unter seiner Nase ausbreitet, kann die Pockennarben im Gesicht nicht verbergen. Er trägt russische Bauernschuhe und einen vollgestopften Koffer, kaum angekommen, steigt er sofort in eine Trambahn, die ihn rausbringen soll nach Hietzing. In seinem Pass steht »Stavros Papadopoulos«, das soll nach einer griechisch-georgischen Mischung klingen, und so verwahrlost, wie er aussah, und so kalt, wie es gerade war, nahm ihm das jeder Grenzer ab. In Krakau, im anderen Exil, hatte er am Abend zuvor Lenin ein letztes Mal beim Schach besiegt, zum siebten Mal hintereinander. Das konnte er deutlich besser als Fahrradfahren. Lenin hatte verzweifelt versucht, ihm auch das beizubringen. Revolutionäre müssen schnell sein, hatte er ihm eingebläut. Doch der Mann, der eigentlich Josef Wissarionowitsch Dschugaschwili hieß und sich jetzt Stavros Papadopoulos nannte, lernte das Radfahren nicht. Kurz vor Weihnachten stürzte er übel auf den vereisten Kopfsteinpflaster- Straßen Krakaus. Sein Bein war noch voller Wunden, sein Knie verstaucht, erst seit ein paar Tagen konnte er überhaupt wieder auftreten. Mein »prächtiger George« hatte Lenin ihn lächelnd genannt, als er ihm entgegengehinkt kam, um den gefälschten Pass für die Reise nach Wien entgegenzunehmen. Und nun gute Fahrt, Genosse.
Unbehelligt überquerte er die Grenzen, fieberhaft saß er im Zug über seinen Manuskripten und Büchern, die er beim Umsteigen hektisch in seinen Koffer stopfte.
Nun, in Wien angekommen, legte er den georgischen Tarnnamen ab. Vom Januar 1913 an sagte er: Mein Name ist Stalin, Josef Stalin. Als er aus der Tram gestiegen war, sah er rechts das Schloss Schönbrunn, hell erleuchtet im matten Wintergrau, dahinter den Park. Er geht in die Schönbrunner Schlossstraße 30, so steht es auf dem kleinen Zettel, den ihm Lenin gegeben hatte. Und: »Bei Trojanow klingeln«. Also schlägt er sich den Schnee von den Schuhen, schnäuzt in sein Taschentuch und drückt etwas unsicher den Klingelknopf. Als das Hausmädchen erscheint, sagt er das verabredete Codewort.
Eine Katze schleicht sich in der Wiener Berggasse 19 in das Arbeitszimmer von Sigmund Freud, in dem sich gerade die Mittwochsgesellschaft zum Kolleg versammelt hat. Das ist die zweite Überraschungsbesucherin innerhalb kurzer Zeit: Im Spätherbst war schon Lou Andreas-Salomé zu der Herrenrunde gestoßen, erst argwöhnisch beäugt, nun schmachtend verehrt. Lou Andreas-Salomé trug an ihrem Strumpfband eine lange Reihe von Skalps erlegter Geistesgrößen: Mit Nietzsche war sie in einem Beichtstuhl im Petersdom, mit Rilke im Bett und in Russland bei Tolstoi, Frank Wedekind nannte seine »Lulu« nach ihr und Richard Strauss seine
»Salomé«. Nun erlag ihr Freud zumindest intellektuell - sie durfte in diesem Winter sogar in seiner Arbeitsetage wohnen, diskutierte mit ihm sein neues Buch über »Totem und Tabu«, an dem er gerade saß, und hörte ihm zu, wenn er sein Leid klagte über C. G.Jung und die abtrünnigen Psychologen aus Zürich. Vor allem aber ließ sich die inzwischen 52-jährige Lou Andreas-Salomé, Autorin mehrerer Bücher über den Geist und die Erotik, vom Meister selbst in der Psychoanalyse ausbilden - im März dann würde sie in Göttingen ihre eigene Praxis eröffnen. So sitzt sie also im feierlichen Mittwochskolleg, neben ihr die gelehrten Kollegen, rechts die schon damals legendäre Couch und überall die kleinen Skulpturen, die der antikenversessene Freud sammelte, um sich über die Gegenwart hinwegzutrösten. Und in diese andächtige Runde huschte nun, als Lou die Tür betrat, auch eine Katze hinein. Erst war Freud irritiert, doch als er sah, mit welcher Neugier die Katze die griechischen Vasen und römischen Kleinskulpturen musterte, da ließ er ihr gerührt etwas Milch bringen. Aber Lou Andreas-Salomé berichtet: »Dabei nahm sie jedoch von ihm trotz seiner steigenden Liebe und Bewunderung durchaus keine Notiz, richtete ihre grünen Augen mit den schiefen Pupillen kaltsinnig auf ihn wie auf einen beliebigen Gegenstand, und wenn er auch nur für einen Augenblick mehr wollte als ihr egoistisch-narzisstisches Schnurren, dann musste er den Fuß vom bequemen Liegestuhl heruntertun und mit den erfinderisch bezauberndsten Bewegungen der Stiefelspitze um ihre Aufmerksamkeit werben.« Woche für Woche erhielt die Katze fortan Zutritt zum Kolleg, als sie kränkelte, durfte sie mit Wickelkompressen auch auf Freuds Couch liegen. Sie erwies sich jedoch offenbar als therapieresistent.
Apropos Rilke. Wo steckt er eigentlich?
Die Angst, dass sich 1913 als Unglücksjahr erweisen könnte, sitzt den Zeitgenossen im Nacken. Gabriele D'Annunzio schenkt einem Freund sein »Martyrium des Heiligen Sebastian« und datiert es in der Widmung lieber vorsorglich mit »1912 + 1«. Und Arnold Schönberg hält den Atem an angesichts der Unglückszahl. Nicht ohne Grund erfand er die »Zwölf-Ton-Musik« - eine Grundlage der modernen Musik, geboren auch aus dem Schrecken ihres Schöpfers vor dem, was danach kommen würde. Die Geburt des Rationalen aus dem Geist des Aberglaubens. In Schönbergs Stücken kommt die Zahl »13« nicht vor, nicht als Takt, kaum einmal als Seitenzahl. Als er mit Entsetzen merkte, dass seine Oper über Moses und Aaron 13 Buchstaben haben würde, strich er Aaron das zweite a und so heißt sie seitdem »Moses und Aron«. Und nun also ein ganzes Jahr im Zeichen der Unglückszahl. Schönberg wurde an einem 13. September geboren - und es trieb ihn die panische Angst um, an einem Freitag, dem 13. zu sterben. Aber half alles nichts. Arnold Schönberg starb an einem Freitag, dem 13. (allerdings erst 1913 + 38, also 1951). Doch auch 1913 wird für ihn noch eine schöne Überraschung bereithalten. Er wird öffentlich geohrfeigt. Aber der Reihe nach.
Und nun erst einmal: Auftritt Thomas Mann. Am frühen Morgen des 3. Januar setzt sich Mann in München in den Zug. Er liest erst ein paar Zeitungen und Briefe, blickt hinaus auf die schneebedeckten Hügel des Thüringer Waldes, nickt dann im überheizten Abteil immer wieder ein über den sorgenden Gedanken um seine Katia, die schon wieder zu einer Kur in die Berge aufgebrochen ist. Im Sommer hatte er sie in Davos besucht und im Wartezimmer des Arztes hatte er plötzlich eine Idee für eine große Erzählung gehabt, doch jetzt kommt sie ihm sinnlos vor, zu weltabgewandt, diese Sanatoriumsgeschichte. Na ja, jetzt würde ja erst einmal in ein paar Wochen sein »Tod in Venedig« erscheinen.
Thomas Mann sitzt im Zug und sorgt sich um seine Garderobe, ärgerlich, dass die langen Zugfahrten immer diese Druckfalten an den Kleidern hinterlassen, er würde den Mantel nachher im Hotel noch einmal aufbügeln lassen müssen. Er steht auf, schiebt die Waggontür zur Seite und beschließt, ein wenig auf und ab zu gehen. So steif, dass die anderen Gäste immer denken, der Schaffner kommt. Draußen fliegen die Dornburger Schlösser vorbei, Bad Kösen, die Weinhänge der Saale, tiefverschneit, die Rebenreihen ziehen sich wie Zebrastreifen die Hänge empor. Hübsch eigentlich, aber Thomas Mann spürt, wie die Angst in ihm hochsteigt, je näher er Berlin kommt.
Er lässt sich, als er den Zug verlassen hat, sogleich ins Hotel Unter den Linden fahren und schaut an der Rezeption umher, ob er denn auch erkannt werde von den anderen Gästen, die hinter ihm zu den Aufzügen drängen. Dann bezieht er sein Zimmer, dasselbe wie stets, um sich aufwendig neu einzukleiden und seinen Schnurrbart noch ein wenig zu kämmen.
Im Grunewald, tief im Westen der Stadt, bindet sich zur selben Stunde Alfred Kerr im Ankleidezimmer seiner Villa in der Höhmannstraße 6 seine Fliege und zwirbelt die Enden seines Schnurrbartes kampfeslustig empor.
Um zwanzig Uhr soll ihr Duell beginnen. Um viertel nach sieben steigen beide in ihre Droschken. Sie fahren zu den Kammerspielen des Deutschen Theaters, gleichzeitig treffen sie ein. Und ignorieren sich. Es ist kalt, schnell eilen beide hinein. Einst in Bansin am Ostseestrand, aber das muss unter uns bleiben, da hatte er, Alfred Kerr, Deutschlands größter Kritiker und eitelster Fatzke, um Katia Pringsheim geworben, die reiche Jüdin mit den Katzenaugen. Doch sie hatte ihn, den gedankenwilden, stolzen Breslauer, abgewiesen und sich Thomas Mann an die Brust geworfen, diesem stocksteifen Hanseaten. Unbegreiflich. Aber vielleicht konnte er es ihm ja heute Abend heimzahlen.
Thomas Mann setzt sich in die erste Reihe und versucht gravitätische Ruhe auszustrahlen. Heute abend hat seine
»Fiorenza« Premiere, das Buch, das er schrieb, als er Katia lieben lernte. Aber er ahnt, dass es heute ein Debakel geben könnte, das Stück war seit langem sein Sorgenkind. Man hätte es nicht zu einem Drama machen sollen, um ein Drama zu verhindern, denkt er. »Ich habe einiges zu retten versucht, glaube aber nicht, dass man auf mich hört«, hatte er an Maximilian Harden geschrieben, bevor er in München aus der Mauerkircherstraße 13 aufbrach.
Er hasste es, sehenden Auges in ein Unglück zu gehen. Das war eines Thomas Mann nicht würdig. Aber was er im Dezember bei den Proben gesehen hatte, verhieß nichts Gutes. Gequält verfolgt er das Stück, das die Florentiner Hochrenaissance zum Leben erwecken soll, aber es kommt nicht in Fahrt, mehr Uff als Uffizien.
Irgendwann erlaubt sich Mann einen verstohlenen Blick über die linke Schulter. Dort, in der dritten Reihe entdeckt er Alfred Kerr, dessen Bleistift über den Notizblock rast. Tief ist das Dunkel im Zuschauerraum und doch meint er auf den Zügen Kerrs ein Lächeln zu erkennen. Es ist das Lächeln des Sadisten, der sich freut, dass ihm diese Inszenierung schönsten Stoff zum Quälen bietet. Und als er den unruhigen Blick Thomas Manns erhascht, durchläuft ihn noch ein wohligerer Schauer. Er genießt es, dass Thomas Mann und seine verunglückte »Fiorenza« nun in seiner Hand liegen. Denn er weiß: Er wird sehr fest zudrücken und wenn er loslässt, wird sie leblos zu Boden taumeln.
Da fällt der Vorhang und freundlicher Applaus kommt auf, so freundlich sogar, dass es dem Regisseur in seiner einzig wirklich geglückten Inszenierung gelingt, Thomas Mann zweimal auf die Bühne zu bitten. Er wird dies in unzähligen Briefen in den nächsten Wochen zu bemerken nie vergessen. Zweimal! Würdevoll versucht er sich also zu verbeugen, zweimal!, es wirkt eher ungelenk. In der dritten Reihe sitzt Alfred Kerr und klatscht nicht. Noch in der Nacht, als er in seiner schicken Villa im Grunewald ankommt, lässt er sich einen Tee bringen und fängt an zu schreiben. Feierlich setzt er sich an seine Schreibmaschine und setzt als erstes eine römische Eins aufs Papier. Kerr nummeriert seine Absätze einzeln, als seien es Bände einer Werkausgabe. Zunächst wetzt er den Säbel: »Der Verfasser ist ein feines, etwas dünnes Seelchen, dessen Wohnung ihre stille Wurzel im Sitzfleisch hat.« Und dann legt er los: Die Dame Fiorenza, die wohl als Symbol Florenz' zu gelten habe, sei völlig blutleer, das ganze Stück in den Bibliotheken zusammengeschrieben, steif, trocken, kraftlos, kitschig, überflüssig. Das sind so seine Worte.
Als Kerr auch seinen zehnten Absatz nummeriert und abgeschlossen hat, zieht er zufrieden das letzte Papier aus der Maschine. Eine Vernichtung.
Am nächsten Morgen, als Thomas Mann in den Zug zurück nach München steigt, lässt Kerr den Text in die Redaktion der Zeitung »Der Tag« bringen. Am 5. Januar erscheint er. Als Thomas Mann ihn liest, bricht er zusammen. »Unmännlich « sei er, so schreibt Kerr - das wird Mann am meisten treffen. Ob Kerr damit auf Thomas Manns verheimlichte Homosexualität anspielte oder ob es Mann nur als eine Anspielung verstand, ist einerlei. Kerr sah so genau wie sonst nur Kraus, wo er mit Worten tiefe Wunden hinterlassen konnte. Thomas Mann in jedem Fall fühlt sich tief getroffen, »bis ins Blut«, wie er schreibt. Das gesamte Frühjahr 1913 wird er sich von dieser Kritik nicht erholen, in keinem Brief fehlt der Hinweis, kein Tag ohne Wut auf diesen Kerl, auf diesen Kerr. An Hugo von Hofmannsthal schreibt Mann: »Ich hatte ungefähr gewusst, was kommen würde, aber es übertraf alle Erwartungen. Ein giftiges Gejökel, dem der Ahnungsloseste die persönliche Mordlust anmerken musste!«.
Das hat er nur geschrieben, weil er mich nicht bekommen hat, du lieber Thommy, sagt Katia zum Trost und streicht ihm mütterlich über den Scheitel, als sie aus der Kur zurückgekommen ist.
Copyright © S. Fischer Verlag GmbH. Frankfurt am Main 2012
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Autoren-Porträt von Florian Illies
Florian Illies, der »große Geschichtenerzähler« (»Süddeutsche Zeitung«), verwandelt die Vergangenheit in seinen Büchern in lebendige Gegenwart. Er verwebt in seinem mitreißenden und humorvollen Stil kurze Miniaturen zu großen historischen Panoramen und Epochenporträts. Mit seinem Welterfolg »1913. Der Sommer des Jahrhunderts« begründete Illies ein neues Genre.Illies, geboren 1971, studierte Kunstgeschichte in Bonn und Oxford. Er war Feuilletonchef der »Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung«, leitete das Auktionshaus Grisebach und ist jetzt Mitherausgeber der »ZEIT«. Bei S. FISCHER erschien zuletzt das inzwischen in 18 Sprachen übersetzte Buch über die 1920er und 1930er Jahre »Liebe in Zeiten des Hasses«. Sein Kunst-Podcast »Augen zu« (gemeinsam mit Giovanni di Lorenzo) gehört zu den meistgehörten Podcasts deutscher Sprache.
Bibliographische Angaben
- Autor: Florian Illies
- 2012, 21. Aufl., 320 Seiten, mit Abbildungen, Maße: 14,8 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: S. Fischer Verlag GmbH
- ISBN-10: 3100368010
- ISBN-13: 9783100368010
- Erscheinungsdatum: 24.10.2012
Rezension zu „1913 “
Florian Illies hat ein Jahrhundertbuch geschrieben. Alexander Kluge Welt am Sonntag 20130106
Pressezitat
Florian Illies hat ein Jahrhundertbuch geschrieben. Alexander Kluge Welt am Sonntag 20130106
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