3096 Tage
Natascha Kampuschs Leben im Keller-Gefängnis
"Über Strecken lesen sich die 288 Seiten wie ein Lehrbuch der Psychologie mit einer einzigen Versuchsperson: Natascha Kampusch."
Berliner Zeitung
Im März 1998 wird die 10-jährige Natascha Kampusch auf dem Schulweg...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „3096 Tage “
"Über Strecken lesen sich die 288 Seiten wie ein Lehrbuch der Psychologie mit einer einzigen Versuchsperson: Natascha Kampusch."
Berliner Zeitung
Im März 1998 wird die 10-jährige Natascha Kampusch auf dem Schulweg entführt. Acht Jahre lang wird das Mädchen gefangen gehalten, bis ihr die Flucht in die Freiheit gelingt. Hier spricht sie über ihr Leben im Keller und ihre Beziehung zu ihrem Entführer.
Klappentext zu „3096 Tage “
Natascha Kampusch erlitt das schrecklichste Schicksal, das einem Kind zustoßen kann: Am 2. März 1998 wurde sie im Alter von zehn Jahren auf dem Schulweg entführt. Ihr Peiniger, der Nachrichtentechniker Wolfgang Priklopil, hielt sie in einem Kellerverlies gefangen - 3096 Tage lang. Am 23. August 2006 gelang ihr aus eigener Kraft die Flucht. Priklopil nahm sich noch am selben Tag das Leben.
Lese-Probe zu „3096 Tage “
3096 Tage von Natascha KampuschWas soll schon passieren?
Der letzte Tag meines alten Lebens
Ich versuchte zu schreien. Aber es kam kein Laut heraus. Meine Stimmbänder haben einfach nicht mitgemacht. Alles in mir war ein Schrei. Ein stummer Schrei, den niemand hören konnte.
... mehr
AM NÄCHSTEN TAG erwachte ich traurig und wütend. Der Ärger über den Zorn meiner Mutter, der dem Vater gegolten hatte und an mir ausgelassen worden war, schnürte mir den Brustkorb ein. Noch mehr quälte mich aber, dass sie mir verboten hatte, ihn jemals wiederzusehen. Es war eine dieser leichtfertig dahingesagten Entscheidungen gewesen, die Erwachsene über die Köpfe von Kindern hinweg fällen -- aus Zorn oder aus einer plötzlichen Laune heraus, ohne zu bedenken, dass es dabei nicht nur um sie, sondern auch um die tiefsten Bedürfnisse derer geht, die solchen Schiedssprüchen ohnmächtig gegenüberstehen.
Ich hasste dieses Gefühl der Ohnmacht, ein Gefühl, das mich daran erinnerte, ein Kind zu sein. Ich wollte endlich erwachsener werden, in der Hoffnung, die Auseinandersetzungen mit meiner Mutter würden mir dann nicht mehr so nahe gehen. Ich wollte lernen, meine Gefühle hinunterzuschlucken und damit auch diese tiefgehende Angst, die Streit mit den Eltern bei Kindern auslöst.
Mit meinem zehnten Geburtstag hatte ich den ersten und unselbständigsten Abschnitt meines Lebens hinter mich gebracht. Das magische Datum, das meine Selbständigkeit auch amtlich verbriefen würde, rückte näher: Noch acht Jahre, dann würde ich ausziehen und mir einen Beruf suchen. Dann würde ich nicht länger von den Entscheidungen der Erwachsenen rund um mich herum abhängig sein, denen meine Bedürfnisse weniger wert waren als ihre kleinen Streitigkeiten und Eifersüchteleien. Acht Jahre noch, die ich nützen wollte, um mich auf ein selbstbestimmtes Leben vorzubereiten.
Einen wichtigen Schritt in Richtung Selbständigkeit hatte ich bereits einige Wochen zuvor getan: Ich hatte meine Mutter davon überzeugt, dass sie mich allein zur Schule gehen ließ. Obwohl ich bereits in der vierten Klasse war, hatte sie mich bis dahin immer mit dem Auto vor der Schule abgesetzt. Die Fahrt dauerte nicht einmal fünf Minuten. Jeden Tag hatte ich mich vor den anderen Kindern für meine Schwäche geschämt, die für jeden sichtbar wurde, wenn ich aus dem Auto stieg und meine Mutter mir einen Abschiedskuss gab. Eine ganze Weile schon hatte ich mit ihr darüber verhandelt, dass es nun an der Zeit sei, den Schulweg allein zu bewältigen. Ich wollte damit nicht nur den Eltern, sondern vor allem mir zeigen, dass ich kein kleines Kind mehr war. Und dass ich meine Angst besiegen konnte.
Meine Unsicherheit war etwas, das mich zutiefst quälte. Sie überfiel mich schon auf dem Weg durch das Stiegenhaus, setzte sich im Hof fort und wurde zum bestimmenden Gefühl, wenn ich durch die Straßen der Rennbahnsiedlung lief. Ich fühlte mich schutzlos und winzig und hasste mich dafür. An diesem Tag, das nahm ich mir fest vor, wollte ich versuchen, stark zu sein. Dieser Tag sollte der erste meines neuen Lebens und der letzte meines alten werden. Im Nachhinein mutet es beinahe zynisch an, dass genau an diesem Tag mein Leben, wie ich es kannte, tatsächlich endete. Allerdings auf eine Weise, für die mir jegliche Vorstellungskraft fehlte.
Entschlossen schob ich die gemusterte Bettdecke zur Seite und stand auf. Wie immer hatte mir meine Mutter die Sachen bereitgelegt, die ich anziehen sollte. Ein Kleid mit einem Oberteil aus Jeansstoff und einem Rock aus kariertem, grauem Flanell. Ich fühlte mich unförmig darin, eingezwängt, als hielte mich das Kleid fest in einem Stadium, dem ich doch längst entwachsen wollte.
Missmutig schlüpfte ich hinein, dann ging ich über den Flur in die Küche. Auf dem Tisch hatte meine Mutter die Pausenbrote für mich zurechtgelegt, eingewickelt in Papierservietten, die das Logo des kleinen Lokals in der Marco-Polo-Siedlung und ihren Namen trugen. Als es Zeit war zu gehen, schlüpfte ich in meinen roten Anorak und schulterte meinen bunten Rucksack. Ich streichelte die Katzen und verabschiedete mich von ihnen. Dann öffnete ich die Tür zum Stiegenhaus und ging hinaus. Auf dem letzten Absatz blieb ich stehen und zögerte, jenen Satz im Kopf, den meine Mutter mir Dutzende Male gesagt hatte: »Man darf nie im Ärger auseinandergehen. Man weiß ja nicht, ob man sich wiedersehen wird!« Sie konnte wütend werden, sie war impulsiv, und oft rutschte ihr die Hand aus. Aber wenn es daran ging, sich zu verabschieden, war sie immer sehr liebevoll. Sollte ich wirklich ohne ein Wort gehen? Ich drehte mich um, aber dann siegte doch das Gefühl der Enttäuschung, das der Vorabend in mir hinterlassen hatte. Ich würde ihr keinen Kuss mehr geben und sie mit meinem Schweigen strafen. Außerdem, was sollte schon passieren?
»Was soll schon passieren?«, murmelte ich halblaut vor mich hin. Die Worte hallten im Treppenhaus mit den grauen Fliesen. Ich wandte mich wieder um und ging die Stufen hinunter. Was soll schon passieren? Der Satz wurde mein Mantra für den Weg hinaus auf die Straße und durch die Häuserblocks zur Schule. Mein Mantra, gerichtet gegen die Angst und gegen das schlechte Gewissen, mich nicht verabschiedet zu haben. Ich verließ den Gemeindebau, lief an seiner endlosen Mauer entlang und wartete am Zebrastreifen. Die Straßenbahn ratterte an mir vorüber, vollgestopft mit Menschen auf dem Weg zur Arbeit. Mein Mut sank. Alles um mich herum schien plötzlich viel zu groß für mich. Der Streit mit meiner Mutter ging mir nach, und das Gefühl, in diesem Beziehungsgeflecht zwischen meinen streitenden Eltern und deren neuen Partnern, die mich nicht akzeptierten, unterzugehen, machte mir Angst. Die Aufbruchstimmung, die ich an diesem Tag hatte verspüren wollen, wich der Gewissheit, dass ich einmal mehr um einen Platz in diesem Geflecht würde kämpfen müssen. Und dass ich es nicht schaffen würde, mein Leben zu ändern, wenn mir schon der Zebrastreifen wie ein unüberwindbares Hindernis vorkam.
Ich begann zu weinen und spürte, wie der Drang übermächtig wurde, einfach zu verschwinden und mich in Luft aufzulösen. Ich ließ den Verkehr an mir vorbeifließen und stellte mir vor, wie ich auf die Straße treten und mich ein Auto erfassen würde. Es würde mich ein paar Meter mitschleifen, und dann wäre ich tot. Mein Rucksack würde neben mir liegen, und meine rote Jacke wäre wie eine Signalfarbe auf dem Asphalt, die schrie: Seht nur, was ihr mit diesem Mädchen gemacht habt. Meine Mutter würde aus dem Haus stürzen, um mich weinen und alle ihre Fehler einsehen. Ja, das würde sie. Ganz sicher.
Natürlich sprang ich nicht vor ein Auto und auch nicht vor die Straßenbahn. Ich hätte niemals so viel Aufmerksamkeit auf mich ziehen wollen. Stattdessen gab ich mir einen Ruck, überquerte die Straße und ging den Rennbahnweg entlang in Richtung meiner Volksschule am Brioschiweg. Der Weg führte durch ein paar ruhige Nebenstraßen, gesäumt von kleinen Einfamilienhäusern aus den 1950er Jahren mit bescheidenen Vorgärten. In einer Gegend, die geprägt war von Industriebauten und Plattenbausiedlungen, wirkten sie anachronistisch und beruhigend zugleich. Als ich in die Melangasse einbog, wischte ich mir die letzten Tränen vom Gesicht, dann trottete ich mit gesenktem Kopf weiter.
Ich weiß nicht mehr, was mich veranlasste, den Kopf zu heben. Ein Geräusch? Ein Vogel? Jedenfalls fiel mein Blick auf einen weißen Lieferwagen. Er stand in der Parkspur auf der rechten Straßenseite und wirkte in dieser ruhigen Umgebung seltsam fehl am Platz. Vor dem Lieferwagen sah ich einen Mann stehen. Er war schlank, nicht sehr groß und blickte irgendwie ziellos umher: als würde er auf etwas warten und wüsste nicht, worauf.
Ich verlangsamte meine Schritte und wurde steif. Meine Angst, die ich so wenig greifen konnte, war mit einem Schlag zurück und überzog meine Arme mit einer Gänsehaut. Sofort hatte ich den Impuls, die Straßenseite zu wechseln. Eine schnelle Abfolge von Bildern und Wortfetzen raste durch meinen Kopf: Sprich nicht mit fremden Männern ... Steig nicht in ein fremdes Auto ... Entführungen, Missbrauch, die vielen Geschichten, die ich über gekidnappte Mädchen im Fernsehen gesehen hatte. Aber wenn ich wirklich erwachsen werden wollte, durfte ich diesem Impuls nicht nachgeben. Ich musste mich stellen und zwang mich weiterzugehen. Was soll schon passieren? Der Schulweg war meine Prüfung. Ich würde sie bestehen, ohne auszuweichen.
AM NÄCHSTEN TAG erwachte ich traurig und wütend. Der Ärger über den Zorn meiner Mutter, der dem Vater gegolten hatte und an mir ausgelassen worden war, schnürte mir den Brustkorb ein. Noch mehr quälte mich aber, dass sie mir verboten hatte, ihn jemals wiederzusehen. Es war eine dieser leichtfertig dahingesagten Entscheidungen gewesen, die Erwachsene über die Köpfe von Kindern hinweg fällen -- aus Zorn oder aus einer plötzlichen Laune heraus, ohne zu bedenken, dass es dabei nicht nur um sie, sondern auch um die tiefsten Bedürfnisse derer geht, die solchen Schiedssprüchen ohnmächtig gegenüberstehen.
Ich hasste dieses Gefühl der Ohnmacht, ein Gefühl, das mich daran erinnerte, ein Kind zu sein. Ich wollte endlich erwachsener werden, in der Hoffnung, die Auseinandersetzungen mit meiner Mutter würden mir dann nicht mehr so nahe gehen. Ich wollte lernen, meine Gefühle hinunterzuschlucken und damit auch diese tiefgehende Angst, die Streit mit den Eltern bei Kindern auslöst.
Mit meinem zehnten Geburtstag hatte ich den ersten und unselbständigsten Abschnitt meines Lebens hinter mich gebracht. Das magische Datum, das meine Selbständigkeit auch amtlich verbriefen würde, rückte näher: Noch acht Jahre, dann würde ich ausziehen und mir einen Beruf suchen. Dann würde ich nicht länger von den Entscheidungen der Erwachsenen rund um mich herum abhängig sein, denen meine Bedürfnisse weniger wert waren als ihre kleinen Streitigkeiten und Eifersüchteleien. Acht Jahre noch, die ich nützen wollte, um mich auf ein selbstbestimmtes Leben vorzubereiten.
Einen wichtigen Schritt in Richtung Selbständigkeit hatte ich bereits einige Wochen zuvor getan: Ich hatte meine Mutter davon überzeugt, dass sie mich allein zur Schule gehen ließ. Obwohl ich bereits in der vierten Klasse war, hatte sie mich bis dahin immer mit dem Auto vor der Schule abgesetzt. Die Fahrt dauerte nicht einmal fünf Minuten. Jeden Tag hatte ich mich vor den anderen Kindern für meine Schwäche geschämt, die für jeden sichtbar wurde, wenn ich aus dem Auto stieg und meine Mutter mir einen Abschiedskuss gab. Eine ganze Weile schon hatte ich mit ihr darüber verhandelt, dass es nun an der Zeit sei, den Schulweg allein zu bewältigen. Ich wollte damit nicht nur den Eltern, sondern vor allem mir zeigen, dass ich kein kleines Kind mehr war. Und dass ich meine Angst besiegen konnte.
Meine Unsicherheit war etwas, das mich zutiefst quälte. Sie überfiel mich schon auf dem Weg durch das Stiegenhaus, setzte sich im Hof fort und wurde zum bestimmenden Gefühl, wenn ich durch die Straßen der Rennbahnsiedlung lief. Ich fühlte mich schutzlos und winzig und hasste mich dafür. An diesem Tag, das nahm ich mir fest vor, wollte ich versuchen, stark zu sein. Dieser Tag sollte der erste meines neuen Lebens und der letzte meines alten werden. Im Nachhinein mutet es beinahe zynisch an, dass genau an diesem Tag mein Leben, wie ich es kannte, tatsächlich endete. Allerdings auf eine Weise, für die mir jegliche Vorstellungskraft fehlte.
Entschlossen schob ich die gemusterte Bettdecke zur Seite und stand auf. Wie immer hatte mir meine Mutter die Sachen bereitgelegt, die ich anziehen sollte. Ein Kleid mit einem Oberteil aus Jeansstoff und einem Rock aus kariertem, grauem Flanell. Ich fühlte mich unförmig darin, eingezwängt, als hielte mich das Kleid fest in einem Stadium, dem ich doch längst entwachsen wollte.
Missmutig schlüpfte ich hinein, dann ging ich über den Flur in die Küche. Auf dem Tisch hatte meine Mutter die Pausenbrote für mich zurechtgelegt, eingewickelt in Papierservietten, die das Logo des kleinen Lokals in der Marco-Polo-Siedlung und ihren Namen trugen. Als es Zeit war zu gehen, schlüpfte ich in meinen roten Anorak und schulterte meinen bunten Rucksack. Ich streichelte die Katzen und verabschiedete mich von ihnen. Dann öffnete ich die Tür zum Stiegenhaus und ging hinaus. Auf dem letzten Absatz blieb ich stehen und zögerte, jenen Satz im Kopf, den meine Mutter mir Dutzende Male gesagt hatte: »Man darf nie im Ärger auseinandergehen. Man weiß ja nicht, ob man sich wiedersehen wird!« Sie konnte wütend werden, sie war impulsiv, und oft rutschte ihr die Hand aus. Aber wenn es daran ging, sich zu verabschieden, war sie immer sehr liebevoll. Sollte ich wirklich ohne ein Wort gehen? Ich drehte mich um, aber dann siegte doch das Gefühl der Enttäuschung, das der Vorabend in mir hinterlassen hatte. Ich würde ihr keinen Kuss mehr geben und sie mit meinem Schweigen strafen. Außerdem, was sollte schon passieren?
»Was soll schon passieren?«, murmelte ich halblaut vor mich hin. Die Worte hallten im Treppenhaus mit den grauen Fliesen. Ich wandte mich wieder um und ging die Stufen hinunter. Was soll schon passieren? Der Satz wurde mein Mantra für den Weg hinaus auf die Straße und durch die Häuserblocks zur Schule. Mein Mantra, gerichtet gegen die Angst und gegen das schlechte Gewissen, mich nicht verabschiedet zu haben. Ich verließ den Gemeindebau, lief an seiner endlosen Mauer entlang und wartete am Zebrastreifen. Die Straßenbahn ratterte an mir vorüber, vollgestopft mit Menschen auf dem Weg zur Arbeit. Mein Mut sank. Alles um mich herum schien plötzlich viel zu groß für mich. Der Streit mit meiner Mutter ging mir nach, und das Gefühl, in diesem Beziehungsgeflecht zwischen meinen streitenden Eltern und deren neuen Partnern, die mich nicht akzeptierten, unterzugehen, machte mir Angst. Die Aufbruchstimmung, die ich an diesem Tag hatte verspüren wollen, wich der Gewissheit, dass ich einmal mehr um einen Platz in diesem Geflecht würde kämpfen müssen. Und dass ich es nicht schaffen würde, mein Leben zu ändern, wenn mir schon der Zebrastreifen wie ein unüberwindbares Hindernis vorkam.
Ich begann zu weinen und spürte, wie der Drang übermächtig wurde, einfach zu verschwinden und mich in Luft aufzulösen. Ich ließ den Verkehr an mir vorbeifließen und stellte mir vor, wie ich auf die Straße treten und mich ein Auto erfassen würde. Es würde mich ein paar Meter mitschleifen, und dann wäre ich tot. Mein Rucksack würde neben mir liegen, und meine rote Jacke wäre wie eine Signalfarbe auf dem Asphalt, die schrie: Seht nur, was ihr mit diesem Mädchen gemacht habt. Meine Mutter würde aus dem Haus stürzen, um mich weinen und alle ihre Fehler einsehen. Ja, das würde sie. Ganz sicher.
Natürlich sprang ich nicht vor ein Auto und auch nicht vor die Straßenbahn. Ich hätte niemals so viel Aufmerksamkeit auf mich ziehen wollen. Stattdessen gab ich mir einen Ruck, überquerte die Straße und ging den Rennbahnweg entlang in Richtung meiner Volksschule am Brioschiweg. Der Weg führte durch ein paar ruhige Nebenstraßen, gesäumt von kleinen Einfamilienhäusern aus den 1950er Jahren mit bescheidenen Vorgärten. In einer Gegend, die geprägt war von Industriebauten und Plattenbausiedlungen, wirkten sie anachronistisch und beruhigend zugleich. Als ich in die Melangasse einbog, wischte ich mir die letzten Tränen vom Gesicht, dann trottete ich mit gesenktem Kopf weiter.
Ich weiß nicht mehr, was mich veranlasste, den Kopf zu heben. Ein Geräusch? Ein Vogel? Jedenfalls fiel mein Blick auf einen weißen Lieferwagen. Er stand in der Parkspur auf der rechten Straßenseite und wirkte in dieser ruhigen Umgebung seltsam fehl am Platz. Vor dem Lieferwagen sah ich einen Mann stehen. Er war schlank, nicht sehr groß und blickte irgendwie ziellos umher: als würde er auf etwas warten und wüsste nicht, worauf.
Ich verlangsamte meine Schritte und wurde steif. Meine Angst, die ich so wenig greifen konnte, war mit einem Schlag zurück und überzog meine Arme mit einer Gänsehaut. Sofort hatte ich den Impuls, die Straßenseite zu wechseln. Eine schnelle Abfolge von Bildern und Wortfetzen raste durch meinen Kopf: Sprich nicht mit fremden Männern ... Steig nicht in ein fremdes Auto ... Entführungen, Missbrauch, die vielen Geschichten, die ich über gekidnappte Mädchen im Fernsehen gesehen hatte. Aber wenn ich wirklich erwachsen werden wollte, durfte ich diesem Impuls nicht nachgeben. Ich musste mich stellen und zwang mich weiterzugehen. Was soll schon passieren? Der Schulweg war meine Prüfung. Ich würde sie bestehen, ohne auszuweichen.
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Autoren-Porträt von Natascha Kampusch
Natascha Kampusch, Jahrgang 1988, war zehn Jahre alt, als sie auf dem Schulweg entführt wurde. Erst nach über acht Jahren gelang ihr die Flucht. Seitdem versucht sie, ihr Leben in Freiheit zu meistern. Seit einigen Jahren engagiert sie sich für traumatisierte Jugendliche.
Bibliographische Angaben
- Autor: Natascha Kampusch
- 2012, 19. Aufl., Maße: 12 x 18,9 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: Ullstein TB
- ISBN-10: 3548374263
- ISBN-13: 9783548374260
- Erscheinungsdatum: 13.01.2012
Rezension zu „3096 Tage “
"Über Strecken lesen sich die 284 Seiten wie ein Lehrbuch der Psychologie mit einer einzigen Versuchsperson: Natascha Kampusch." (Berliner Zeitung, Norbert Mappes-Niediek, 08.09.10)"Das Dokument einer Selbstermächtigung und die Zurückweisung der banalen Psychologisierungsmuster des Boulevards ... Ein gutes Buch." (Der Tagesspiegel, Dennis Scheck, 26.09.10)
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