Abyssinia
Mein Jahr in Äthiopien
Ich habe einen Traum von Afrika ...
Es gibt sie, die hungernden Kinder, Naturkatastrophen und unvorstellbare Armut. Aber auch die andere Seite Äthiopiens: das aufregende Land voller Überraschungen, beeindruckender Menschen und Geschichten, das die...
Es gibt sie, die hungernden Kinder, Naturkatastrophen und unvorstellbare Armut. Aber auch die andere Seite Äthiopiens: das aufregende Land voller Überraschungen, beeindruckender Menschen und Geschichten, das die...
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Produktinformationen zu „Abyssinia “
Ich habe einen Traum von Afrika ...
Es gibt sie, die hungernden Kinder, Naturkatastrophen und unvorstellbare Armut. Aber auch die andere Seite Äthiopiens: das aufregende Land voller Überraschungen, beeindruckender Menschen und Geschichten, das die Journalistin Carola Frentzen von der ersten Minute an fasziniert und mitten ins Herz getroffen hat. 2008 zieht sie ans Horn von Afrika, um mit ihrem Lebensgefährten eine Hilfsorganisation aufzubauen. Archaische Riten und Moderne, Herzlichkeit und Offenheit, aber auch Gleichgültigkeit und Korruption - die Gegensätze lassen sich manchmal ebenso schwer ertragen wie das Scheitern ihrer Liebe. Als Carola Frentzen nach einem Jahr schweren Herzens Abschied nimmt, hat nicht nur sie das Leben vieler Menschen verändert, sondern auch Abessinien hat sie vieles gelehrt.Eine bewegende Liebeserklärung an ein faszinierendes Land und seine Menschen.
Es gibt sie, die hungernden Kinder, Naturkatastrophen und unvorstellbare Armut. Aber auch die andere Seite Äthiopiens: das aufregende Land voller Überraschungen, beeindruckender Menschen und Geschichten, das die Journalistin Carola Frentzen von der ersten Minute an fasziniert und mitten ins Herz getroffen hat. 2008 zieht sie ans Horn von Afrika, um mit ihrem Lebensgefährten eine Hilfsorganisation aufzubauen. Archaische Riten und Moderne, Herzlichkeit und Offenheit, aber auch Gleichgültigkeit und Korruption - die Gegensätze lassen sich manchmal ebenso schwer ertragen wie das Scheitern ihrer Liebe. Als Carola Frentzen nach einem Jahr schweren Herzens Abschied nimmt, hat nicht nur sie das Leben vieler Menschen verändert, sondern auch Abessinien hat sie vieles gelehrt.Eine bewegende Liebeserklärung an ein faszinierendes Land und seine Menschen.
Klappentext zu „Abyssinia “
Ich habe einen Traum von Afrika ...Es gibt sie, die hungernden Kinder, Naturkatastrophen und unvorstellbare Armut. Aber auch die andere Seite Äthiopiens: das aufregende Land voller Überraschungen, beeindruckender Menschen und Geschichten, das die Journalistin Carola Frentzen von der ersten Minute an fasziniert und mitten ins Herz getroffen hat. 2008 zieht sie ans Horn von Afrika, um mit ihrem Lebensgefährten eine Hilfsorganisation aufzubauen. Archaische Riten und Moderne, Herzlichkeit und Offenheit, aber auch Gleichgültigkeit und Korruption die Gegensätze lassen sich manchmal ebenso schwer ertragen wie das Scheitern ihrer Liebe. Als Carola Frentzen nach einem Jahr schweren Herzens Abschied nimmt, hat nicht nur sie das Leben vieler Menschen verändert, sondern auch Abessinien hat sie vieles gelehrt.
Eine bewegende Liebeserklärung an ein faszinierendes Land und seine Menschen.
'Eine bewegende Liebeserklärung an ein faszinierendes Land und seine Menschen.' -- Unterwegs
Lese-Probe zu „Abyssinia “
Abyssinia: Mein Jahr in Äthiopien von Carola FrentzenVorwort
Wieso Äthiopien? Viele Leser werden mich das wahrscheinlich fragen. Warum sollte sich jemand ein Jahr Auszeit nehmen und dieses dann ausgerechnet in einem der ärmsten Länder der Welt verbringen statt auf Tahiti, in Namibia oder Alaska? Meine Ant- wort lautet: Äthiopien fällt auf seine Art durchaus unter die Kategorie Traumziel, ebenso wie die Südsee, die Kalahari-Wüste oder das Nordpolarmeer. Es kommt darauf an, wonach man sucht.
Ich möchte Ihnen eine Geschichte erzählen. Es ist meine Geschichte, und es ist eine Geschichte über Äthiopien, und natürlich erzähle ich sie aus meiner Perspektive, aus meinem ganz persönlichen Blickwinkel. Vielleicht wird unter meinen Lesern jemand sein, der Äthiopien selbst bereist hat, der die Dinge anders sieht und völlig andere Erfahrungen gemacht hat. Wir alle erleben als Reisende unsere ganz eigene Geschichte, wir alle sind eigenständige Individuen mit unseren Sehnsüchten, unseren Träumen, unseren Erlebnissen und Abenteuern. Ich kann Ihnen nur anbieten, mich auf meiner Reise zu begleiten. Kommen Sie mit mir nach Äthiopien, lassen Sie sich mit mir auf dieses uralte Land ein, und vergessen Sie für eine Weile alles, was Sie bisher über das Horn von Afrika wussten.
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»Abyssinia« lautet der alte Name für das Kaiserreich. Das Wort kommt wahrscheinlich aus dem Arabischen, andere glauben, der Begriff sei bereits vor fast 3500 Jahren in altägyptischen Inschriften aufgetaucht. Für mich hat Abyssinia, nach allem, was ich erlebt habe, eine zweifache Bedeutung: Es steht für die Größe und Kultur des Landes, vor allem jedoch versteckt sich darin der Ausdruck abyss - Abgrund. Und ein solcher tat sich vor mir auf, nur acht Wochen nach meiner Ankunft in Addis Abeba.
Private Krisen, Wut, Verzweiflung, all dies ändert den Blick auf ein Land. Dass ich Äthiopien trotz meiner Erlebnisse immer noch liebe, ist ein untrügliches Zeichen dafür, dass Orte ein Eigenleben entwickeln, wenn wir dies zulassen.
Es war kein einfacher Weg, der mich nach Afrika geführt hat. Und Äthiopien ist kein einfaches Land. Aber es ist ein aufregendes Land, ein Land voller Überraschungen, beeindruckender Menschen und Geschichten, die mich ein Leben lang begleiten werden. Es ist auch das Land, in dem ich bis an meine Grenzen gehen musste und manchmal über sie hinaus. Ich bin Teil dieses Kontinents geworden, der mir so viele Begebenheiten und Begegnungen, so viel Schönheit und so viel Traurigkeit geschenkt hat. Meine Zeit in Äthiopien hat mir die Augen für vieles geöffnet, das ich vorher nicht sehen konnte.
Was am Ende bleibt, sind Erinnerungen an Tage voller afrikanischer Lebensfreude unter Schirmakazien und violetten Jacaranda-Bäumen und laue Nächte unter dem unendlich weiten afrikanischen Himmel. Erinnerungen an die Begegnung mit den wilden Afar und den diskriminierten Weyto, die herrlichen Nachmittage im schattigen Tukul von Abba Abebe, das Mitleid mit den unter ihrer Last zusammenbrechenden Eseln. Und natürlich dieser Moment, in dem ein kleiner Junge meine Hand ergriff, und mir zu verstehen gab, dass ich wirklich etwas ändern kann - wenn auch nur im Kleinen.
Sind Sie bereit? Dann kommen Sie mit mir. Ich bringe Sie ans Horn von Afrika, wo Trostlosigkeit und Hoffnung oft so nah beiein- anderliegen.
Wirst du uns helfen?
Ich fühle noch seine kühle Hand auf meiner Haut. Ich fühle, wie er meine warme Hand umklammert und zum ersten Mal wieder Hoffnung schöpft. In einem Pulk von Kindern laufe ich über den schmuddeligen Vorplatz, entdecke die halb verfallenen Schulgebäude, von denen der Putz blättert. Der kleine Junge. Er hat ein durchlöchertes orangefarbenes T-Shirt an, seine schwarzen Haare sind voller Staub, und auf dem Rücken trägt er einen kaputten khakigrünen Schulranzen. Mit großen braunen Augen schaut er zu mir hoch.
»Wirst du uns helfen?«, fragt er zaghaft in gebrochenem Englisch.
Ich muss schlucken. Ich merke, wie meine Augen feucht werden. »Ich werde es versuchen«, sage ich leise und lächle ihm aufmunternd zu, während er seine kleinen schmutzverkrusteten Fingernägel noch tiefer in meine Haut bohrt.
»Ich werde es versuchen«, sage ich ein zweites Mal, jetzt eher zu mir selbst.
Habe ich ihn im Stich gelassen? Habe ich sie alle im Stich gelassen? Oder habe ich alles getan, was mir zu dieser Zeit möglich war?
Das Gewissen hat eine starke Stimme, noch viel stärker als die des kleinen Jungen. Aber wie soll man Äthiopien mit reinem Gewissen verlassen? Hier hat man nie alles getan, so sehr man sich auch bemüht.
Ich bin gekommen, um etwas zu verändern. Mit 2000 Euro aus einer Privatspende in der Tasche stehe ich vor dieser Grund- schule, diesem Bild des Jammers, und mir werden die Knie weich. Ich bin froh, dass ich nicht allein bin, dass mich zwei Freunde aus Bahir Dar, einem Städtchen in Nordäthiopien, begleiten. Sie hatten mir von der Situation der Schule erzählt: Über zweitausend Kinder
werden hier täglich unterrichtet, rund fünfhundert von ihnen sind Waisen. Sie leben bei »Adoptivfamilien«, und wenn sie nachmit- tags nach Hause kommen, müssen sie auf den Feldern arbeiten oder Ziegenherden bewachen, um sich ihr abendliches Stück injera - das äthiopische Fladenbrot - zu verdienen. Tagsüber haben die Kleinen meist so großen Hunger, dass manche von ihnen in der Klasse in Ohnmacht fallen.
Natürlich kam mir bei diesen Erzählungen erst einmal meine eigene Schulzeit in den Sinn, während der jeden Tag ein dick belegtes Pausenbrot in meinem Tornister auf mich wartete. Wie ungerecht das alles ist! Was haben die zauberhaften Geschöpfe in diesem Land denn getan, um ein solches Schicksal zu verdienen? Und vor allem: Wie schaffen sie es, sich trotz allen Elends ihr Lachen zu bewahren? Ja, sie lachen mich an, drängen sich vor die Linse meiner Digitalkamera, als würden sie hoffen, dadurch irgendwo für immer eine Spur zu hinterlassen.
Sie haben es geschafft. Sie haben für immer eine Spur hinter- lassen, nicht nur auf den Fotos, sondern tief in meinem Herzen. Immer wieder schaue ich mir die Bilder an, diese fröhlichen offenen Münder mit ihren Zahnlücken, diese dunklen Augen, die trotz ihres Schicksals so viel Stolz, Selbstbewusstsein und Freude am Leben ausstrahlen.
Ich bin wieder in Europa, und heute fielen dicke Schneeflocken vom Himmel. Ich ließ sie mein Gesicht benetzen und spürte im gleichen Atemzug die äthiopische Hitze auf meinem Kopf. Wie kann das sein? Lebe ich in zwei Welten? Oder habe ich meine Entscheidung schon längst gefällt?
»Woran denkst du, wenn du morgens aufwachst?«, fragte mich gestern ein Freund. Ohne nachzudenken sagte ich: »An Äthiopien.«
Ich denke immer an Äthiopien, ich denke immer an Tadela, Melkamsira, Wubetu und an all die anderen, die meine Zeit dort begleitet haben. Ich komme nicht los, bin gefangen zwischen
Vernunft und Gefühl, zwischen der von Familie und Freunden auferlegten Pflicht, für finanzielle Absicherung zu sorgen, und dem Wissen, dass ich zurück muss, zurück nach Afrika. Werden all diese wunderbaren Menschen, die ich kennenlernen durfte, jemals Schnee auf ihrer Haut spüren? Werden sie jemals das Meer und all die Schönheiten dieser Welt sehen? Werden sie je verstehen, aus welcher Welt ich komme und welch belanglose Probleme mich plagen? Wie könnten sie es verstehen? In einer Welt, in der es so oft um Leben und Tod, um Hunger und Durst, um Malaria und AIDS geht, scheinen meine Sorgen alle so klein. Und vielleicht ist es das, was ich an Äthiopien so liebe: dass das Land die Dinge in die richtige Perspektive rückt.
Ach, Äthiopien. Geliebtes, infernalisches Äthiopien. Land im Chaos, Land im Aufbruch.
Wahrscheinlich sind es gerade die vielen Widersprüche, die mir in dem Land am Horn von Afrika begegnet sind, die mich so faszinieren. Es ist, als mache man einen Zeitsprung in eine längst vergangene Ära. In eine Zeit voller Schlichtheit und Genügsamkeit, aber auch voller Geheimnisse, die sich einem Menschen aus dem Westen erst ganz langsam offenbaren. Gleichzeitig scheint gerade eine neue Ära anzubrechen, in der schicke italienische Restaurants und Cocktailbars neben traditionellen Gasthäusern ihre Pforten öffnen, Internetcafés aus dem Boden schießen und Beyoncé und die Black Eyed Peas Konzerte geben. Widersprüche.
Äthiopien, das allgemein als die »Wiege der Menschheit« gilt, ist auf dem Weg, sich die unschuldigen Kinderschuhe abzustreifen. Es kann sich nicht mehr den Errungenschaften der Moderne entziehen. Sie brechen in einer Art Zeitraffer über Städte wie Addis Abeba, Bahir Dar und Awassa herein, viel zu schnell und unaufhaltsam. Was sich in Europa und den USA in den vergangenen fünfzig Jahren langsam entwickelt hat, überrollt Teile des alten Abessiniens seit wenigen Jahren wie eine Flutwelle. Auf der Strecke bleiben dabei die Armen, die Kranken, die Landarbeiter -
kurz all diejenigen, die die Regierung auf ihrer Rechnung vergessen hat.
Äthiopien lässt mich nicht mehr los, hat mich fest im Griff. Ich spüre eine tiefe Liebe zu diesem Land, und ich weiß, dass ich eines Tages zurückkehren werde. Die Stimme meines Gewissens regt sich und schreit laut und unerbittlich: Du kannst etwas tun! Warum vergeudest du all die kostbare Zeit mit schwermütigen Gedanken? Und wenn ich dann immer noch den Wald vor lauter Bäumen nicht sehe, ruft mir mein Gewissen das staubige kleine Kindergesicht in Erinnerung, das zu mir hochblickt und fragt: »Wirst du uns helfen?«
Der Traum
Vor vielen Jahren hatte ich einen Traum. Es war keine besondere Nacht, es war eine Nacht wie jede andere. Ich kann mich weder an den Monat noch an das Jahr meines Traums erinnern. Aber die Bilder sehe ich noch heute klar vor mir: Ich stehe mit meinem Gepäck in der Hand auf einem weiten Platz. Eine staubige Ebene breitet sich vor mir aus, umgeben von einer sanften hügeligen Landschaft. Auf einer Anhöhe sind kleine runde Strohhütten angesiedelt. Sie sind ärmlich, aber auf ihre eigene Art strahlen sie Würde und Kraft aus. Ich weiß in meinem Traum instinktiv, dass ich mich in Afrika befinde - obwohl ich bis dahin noch nie auf den Schwarzen Kontinent gereist war.
Es riecht nach trockener Erde, die heiße Luft umhüllt mich und duftet nach Neubeginn, nach dem Anfang von etwas Großem. Ich fühle mich zwar noch als Fremde, betrachte meine Umgebung aber bereits als jemand, der hier seinen Platz sucht, weil ich weiß, dass ich für lange Zeit bleiben werde. Auch die Farben meines
Traums sind afrikanisch, dominiert wird er von Ockertönen und sandigem Hellgelb. Die ganze Ebene ist hell, savannenartig. Das Land ist trocken, vertrocknet, außer knorrigen Büschen und Schirmakazien gibt es so gut wie keine Vegetation. Obwohl Menschen um mich herum sind, vor allem spielende Kinder, werde ich kaum beachtet. Ich fühle mich nicht als weißer Eindringling, als Attraktion. In mir weiß ich: Ich habe hier eine Aufgabe zu erfüllen, ich bin geschickt worden, um sie zu erfüllen. Ich bin angekommen.
Lange hatte ich nicht mehr an diesen Traum gedacht, bis ich vor einigen Jahren erstmals nach Afrika flog. Nach Kenia, um genau zu sein. Kenia war in meiner Jugend das Land meiner Lebensträume gewesen, auf Karen Blixens Spuren wollte ich wandeln und Abenteuer erleben - damals wusste ich noch nichts von dem, was die Kolonisation in Afrika und allen südlichen Erdteilen angerichtet hatte.
Als ich am Ende des Urlaubs mit Joseph - einem einheimischen Reiseführer - die Giriama-Dörfer unweit der Touristen- hochburg Malindi besuchte, kam mir mein Traum wieder in den Sinn. Nur wenige Kilometer vom Indischen Ozean entfernt liegen dort im Landesinneren die Ansiedlungen dieses Volksstamms, ein Bild der Armut, der Trostlosigkeit, der Hoffnungslosigkeit. Kaum eine internationale Hilfsorganisation findet ihren Weg in die Dörfer, geschweige denn Touristen, die meist nicht einmal von der Existenz der Giriama wissen, während sie in den Hotels und Luxusresorts am türkisen Ozean Urlaub machen.
Joseph hatte meinen Freund Alessio und mich eingeladen.
»Ich bitte nur sehr wenige Urlauber, diese Tour mit mir zu machen«, hatte er zwei Tage zuvor beim Abendessen gesagt. »Ihr seid zwei Menschen, denen ich diese Seite Kenias gerne zeigen würde. Was haltet ihr davon, in mein Heimatdorf zu fahren? Wir können meinen Minibus nehmen, dann wären wir in etwa drei Stunden dort.«
Wir nickten, neugierig und nicht wissend, was uns erwarten würde.
Am Morgen des »Ausflugs« erwartete uns Joseph in Malindi. Mit dem Van steuerte er geradewegs auf einen Supermarkt zu.
»So, da gehen wir jetzt rein, und ihr kauft einfach, was ihr für richtig haltet. Reis, Mehl, Salz, Zucker oder auch Stifte und Schuhe«, erklärte er auf seine typische trockene Art. »Gebt nur so viel aus, wie ihr entbehren könnt. Aber da, wo wir jetzt hinfahren, fehlt es wirklich an allem.«
Alessio und ich sahen uns fragend an. Wir folgten Joseph in das Geschäft und orientierten uns bei unseren Einkäufen an seinem Beispiel. Dann begannen wir, das Dach des Kleinbusses zu beladen. Wir hatten etwa 20 Kilo Reis erstanden, zudem andere wichtige Grundnahrungsmittel sowie Schulhefte, Kugelschreiber und einige Paare Flipflops für Kinder.
Wenige Minuten später befanden wir uns auf einer Schotterpiste. Weg vom Touristenluxus, hinein ins echte Kenia, von dem nur so wenige Urlauber etwas wissen.
Etwa eine Stunde dauerte die Fahrt bis zu unserem ersten Stopp. Ein Dorf? Eigentlich nicht. Eher eine Ansammlung von mehreren Strohhütten. Ringsherum das pure Nichts. Keine Straßen, keine Schule, keine Läden, kein Lebenszeichen außer dem vereinzelten Kreischen eines Vogels.
»Wo sind wir hier?«, fragte ich.
»Wir sind im ersten Giriama-Dorf angekommen. Die Giriama sind ein ethnischer Volksstamm, der von Lamu bis zur kenianisch-tansanischen Grenze im Süden etwa 30 Kilometer von der Küste entfernt lebt«, erklärte Joseph.
Schon kamen Kinder auf uns zugelaufen, am Körper trugen sie nichts als zerlöcherte Lumpen. Eltern und andere Familien- angehörige, die uns neugierig begutachteten, folgten. Ich hatte in meinem Leben noch nie eine solche Armut gesehen, eine solch trostlose Existenz - und all dies nur eine Autostunde entfernt von den All-Inclusive-Hotels rund um Malindi und Diani Beach.
Da standen wir also mitten im Land der Giriama, umringt von Menschen, die viel zu dünn und deren Gesichter von Fliegen übersät waren. Sie berührten mich zaghaft, befühlten meine blonden Haare.
Wann mag hier wohl zuletzt ein Auto vorbeigekommen sein?, fragte ich mich - und bekam die Antwort gleich präsentiert. Ein knochiger Mann mit grauen Haaren kam aus einer der Hütten und hielt einen weißen Sack mit der Aufschrift »UN« in der Hand. Er war leer. Er war alt. Wie mag das sein, wenn man sich nur von der Hoffnung nährt, dass alle paar Monate ein Wagen der Vereinten Nationen mit Hilfsgütern vorbeikommt?
Ich gab einem der Kinder ein paar Flipflops. Der kleine Junge schaute auf seine Füße mit den leuchtend gelben Plastiksandalen, Tränen liefen ihm über das Gesicht. Er hatte noch nie Schuhe getragen.
Ich lief zum Bus, verkroch mich in die hinterste Ecke und weinte hemmungslos.
Wir wussten damals, dass wir etwas tun müssen. Aber was? Eine Idee musste her, etwas Neues, etwas wirklich Nützliches. Alessio hatte es immer deutlicher gespürt als ich: Als Halb-Äthiopier, der in Italien, der Schweiz und England ausgebildet worden war und als Marketingexperte beruflich erfolgreich gewesen war, fühlte er seit langem eine große Verantwortung seinem Land gegenüber.
Für mich waren es hingegen zunächst mehr das Fernweh und der Wille, in meinem Leben etwas wirklich Sinnvolles zu tun, die mich trieben. Aber da war auch eine immer stärker werdende Liebe zu einem Kontinent, so fremdartig und wild, dass er die Erfüllung aller meiner Sehnsüchte verhieß.
Fernweh in Rom
Dennoch schien mein Traum zu diesem Zeitpunkt unerreichbar. Ich war Auslandskorrespondentin der größten deutschen Nachrichtenagentur in Rom. Ein Traumjob. So etwas wirft man nicht einfach weg. Mit Mitte dreißig hatte ich alles erreicht, was ich als Heranwachsende kaum zu hoffen gewagt hatte und was für viele andere Menschen das ganz große Los bedeutet. Ich lebte in einer der schönsten Städte der Welt, fand berufliche Anerkennung, hatte viele Freunde und konnte mir alles kaufen, was mir gefiel, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken: Designerkleidung, italienische Schuhe, edle Taschen, teure Handys. Ich aß in den besten Restaurants der Stadt und bereiste die halbe Welt - von den Seychellen bis Australien, von Borneo bis Kuba. Manchmal war ich dreimal im Jahr auf verschiedenen Kontinenten. Ich traf berühmte Menschen und begleitete den Papst in seinem Flugzeug auf Reisen. Ich habe mich selbst jahrelang in den Vordergrund gestellt, und es war richtig so.
Aber dann überfiel mich irgendwann eine totale innere Leere. Was jetzt?, fragte ich mich, und die Frage quälte mich monatelang. Sollte es immer so weitergehen? Sollte ich für den Rest meines Lebens jeden Tag die zwar interessante, aber doch immer gleiche Arbeit tun? Und was bedeutete mir der Luxus in meinem Leben überhaupt? Ich war doch die, die nie Komfort gebraucht hatte, die während der Studienzeit und auch in den ersten Jahren danach in WGs gehaust und mit leerem Kühlschrank gelebt hatte.
Rom war schon seit Jahren in meinen Gedanken gewesen, eigentlich schon, seit ich ein Kind war und die »Asterix-und-Obelix«- Hefte verschlungen hatte. So überlegte ich nicht lange, als auf meiner Schule ein Italienischkurs angeboten wurde, und bald nach dem Abitur wusste ich, dass ich die Sprache sowie die Literatur
und Kultur Italiens studieren wollte. Ich schrieb meine Magister- arbeit in der Stadt am Tiber, verbrachte dort Anfang der Neunzigerjahre aufregende sechs Monate und wusste anschließend: Hier will ich leben - koste es, was es wolle.
Gleichzeitig hoffte ich, auch meinen Berufswunsch »Journalistin« verwirklichen zu können. Doch das brauchte seine Zeit. So schlug ich mich ein paar Jahre mit Übersetzungen sowie als Nachhilfe- und Deutschlehrerin durch. Doch irgendwann war es so weit: Ich hatte viele deutsche Freunde der schreibenden Zunft kennengelernt und bereits bei einigen Zeitungen und beim deutschen Radio als Urlaubsvertretung gearbeitet, als mich eines Tages der Pressesprecher der Deutschen Botschaft anrief. Er ließ verlauten, bei der größten Nachrichtenagentur meiner Heimat werde eine Assistentin gesucht. Sofort rief ich an - und bekam die Stelle. Die Zukunft empfing mich in der warmen römischen Frühlingsluft mit offenen Armen. Ich war glücklich, stolz und voller Tatendrang.
Zwei Jahre später wurden meine geheimsten Hoffnungen erfüllt: Ich stieg zur Korrespondentin auf. »Dich muss bei der Geburt eine Fee geküsst haben«, meinte eine Freundin damals schmunzelnd. »Irgendwie fließt bei dir immer alles perfekt zusammen, du scheinst immer zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein!«
Ich war noch glücklicher, noch stolzer, voll unstillbarem Tatendrang.
Was dann geschah, ich kann es nicht wirklich erklären. Ich denke, meine innere Wende kam nach dem Tod Johannes Pauls II. im Jahr 2005. Nicht etwa, weil ich katholisch wäre - im Gegenteil, ich bin protestantisch getaufte Rheinländerin. Es war vielmehr die Ruhe nach dem Sturm, die Zeit nach den vielen journalistisch durchge- arbeiteten Tagen und Nächten, die etwas in mir bewirkte. Der Tod eines Papstes und die Wahl seines Nachfolgers, das ist - so zynisch es auch klingen mag - das größte Ereignis, über das ein Italien-Korrespondent berichten kann. Es ist die Nachricht, über die jeder Journalist schreiben möchte - nicht einmal die Wahl eines ameri- kanischen Präsidenten ist damit vergleichbar. Und wenn es dann wirklich passiert, wenn die Todesnachricht als Eilmeldung über alle Fernsehkanäle flimmert, ist man doch irgendwie nie vorbereitet auf das, was dann kommt: Wochenlanger Stress, in dem das Essen und Trinken, das Schlafen und sogar manchmal das Denken zu kurz kommen. Erst wenn dann wieder Ruhe einkehrt, zieht der Schreiber Bilanz. Bei mir war dieser Moment wie der Fall in ein tiefes Loch.
»Das wird schon wieder, bald lachst du über all deine Zweifel«, sagten meine Freunde, während wir abends durch die verwinkelten Gassen von Trastevere schlenderten und Schokoladeneis schleckten. Sie konnten es nicht verstehen - wie auch? Ich verstand mich ja selbst kaum noch. Ich wusste nur: In mir regte sich die Löwin, das wilde Tier, das ich jahrelang zum Schlafen ver- donnert hatte. Ich sagte ihr, sie solle Ruhe geben, befahl ihr zu schweigen - doch sie wollte nicht hören.
Die Löwin - ist sie nicht die Königin der Savanne, das Symbol Afrikas? Die innere Unruhe in mir, das Gefühl des Getriebenseins, die Rastlosigkeit, die mich im Urlaub in die ganze Welt hinauszog, die ewige Sehnsucht gepaart mit einem tiefen, alles durchdringenden Fernweh, ich hatte dies immer als »die Löwin in mir« bezeichnet. Solange sie ruht, ist alles friedlich. Aber wehe, sie wacht auf. Dann gibt es kein Entkommen, dann muss ich rennen, in dem Tempo, das mir dieses wilde Tier in meiner Seele vorgibt. Ich muss rennen, um mit meinem eigenen Leben Schritt zu halten und um die neuen Ufer zu erreichen, von denen mir die Löwin vorschwärmt.
Und ich wusste instinktiv: Es war Zeit, etwas zurückzugeben für all das Schöne, das mir widerfahren war.
Aber sosehr ich mich in meinen Gedanken verlor und die Möglichkeit zur Veränderung suchte, sowenig fand ich einen Ausweg. Ich fühlte mich festgekettet in Rom, der Ewigen Stadt, die mir so viele Jahre lang so viel gegeben hatte. Mein römischer Traum war aus- geträumt, ich war an seinem Ende angekommen. Ich lebte nicht mehr im Jetzt, sondern immer auf etwas hin, das nie zu kommen schien - oder ich klammerte mich an Vergangenem fest, als das Leben mir noch leicht und sinnvoll erschien. Gleichzeitig lähmte mich eine absolute Trägheit, ich begann, mich selbst für diese innere Stagnation zu hassen. Ich suchte weiterhin die Erfüllung in meiner Arbeit als Journalistin, ohne zu bemerken, dass sie mich nicht retten konnte, weil sie Teil meiner Traurigkeit war.
Wenn sich ein Traum erfüllt, dann muss ein neuer schon bereitstehen - dieses Motto hatte ich mir als Jugendliche zu eigen gemacht. Und jetzt? Ich bin die Heldin der heilenden Vorstellungs- kraft und die Königin der mörderischen Tatenlosigkeit, schrieb ich in den dunkelsten Tagen in mein Tagebuch. Die Löwin in mir grollte, aber ihre Prankenhiebe fassten ins Leere. Sie wollte losrennen, neuen Ufern entgegen, aber ich hielt sie an der Leine.
Ich brauchte lange, um zu verstehen, dass unser Weg oft über viele Umwege zu den so lange gesuchten Antworten führt, als stünde schon alles von Anfang an in einem Buch geschrieben. Nur, dass wir den Weg nicht kennen, uns manchmal verlaufen und lange umherirren, bis sich eine helle, savannenartige Ebene vor uns auf- tut. Schicksal, wenn man so will. Und mein Schicksal hieß: ein Jahr Auszeit, ein Jahr Äthiopien.
Die erste Reise
Vor drei Jahren fuhr ich mit Alessio erstmals nach Äthiopien. Das frühere Abessinien, jenes Land, das die meisten Menschen im Westen vor allem mit Dürren und Hungersnöten in Zusammen- hang bringen. Viele haben wohl noch die Bilder vom Live-Aid- Konzert 1985 in London und Philadelphia in Erinnerung. Damals versuchte Bob Geldof, der vor den Fernsehschirmen versammelten Welt die Katastrophe mit der Musik von über sechzig Mega-Pop- und Rockstars vor Augen zu führen und sammelte letztlich 140 Millionen US-Dollar Spendengelder für die sterbenden Menschen am Horn von Afrika. Hungernde Kinder mit großen, hervortretenden Augen und Mütter, die zusammengekauert vor Strohhütten saßen, Männer mit so dürren Beinen, dass sie sich kaum aufrecht halten konnten - dies war damals der Inbegriff Äthiopiens. Und über zwei Jahrzehnte hat sich daran nicht viel geändert.
Als Alessio mir eine Reise ins Land seiner Vorfahren vorschlug, war ich direkt Feuer und Flamme. Äthiopien schien genau der richtige Ort zu sein, um meinen Tatendrang zu neuem Leben zu erwecken. Denn auch ich hatte noch ebendiese Bilder vor Augen: trockene Ebenen, ausgedörrte Felder, hungernde oder unterer- nährte Menschen, die weit unterhalb der Armutsgrenze ihr Dasein fristeten. Hier ist Hilfe nötig, hier kann man mit der richtigen Idee etwas bewirken, sagte ich mir. Der einzige Wermutstropfen war für mich, dass Äthiopien heute, seit Eritrea 1993 seine Unab- hängigkeit von dem Nachbarstaat erreichen konnte, ein Land ohne Meereszugang ist - und ich liebe Wasser und Ozeane.
Alessio war zu diesem Zeitpunkt selbst noch nie in Äthiopien gewesen. Jedoch hatten seine Mutter und seine Schwestern ihm ausführlich von der Kultur und den Traditionen des ostafrika- nischen Staates erzählt, von der Zeit Kaiser Haile Selassies, vom Prunk und Reichtum vergangener Tage, vom Stolz einer Nation,
die als einzige Afrikas nie kolonisiert worden war - hatten sich die Äthiopier doch der Eroberung durch die Italiener unter Benito Mussolini erfolgreich widersetzt.
Von all dem hatte ich vorher keine Ahnung gehabt. Sicher, der Name Haile Selassie sagte mir etwas und auch der Name der Hauptstadt Addis Abeba. Aber irgendwie war und ist Äthiopien in der westlichen Welt kaum ein Thema - wenn nicht gerade wieder eine folgenschwere Dürre über das Land hereinbricht und während der Abendnachrichten hungernde Kinder und sterbende Viehherden über die TV-Schirme flimmern.
Für Alessio war das anders. Er spürte schon lange das innere Bedürfnis, das Heimatland seiner Mutter zu besuchen. Aber ich möchte erst dorthin fahren, wenn ich eine Idee habe, wie ich dem Land und den Menschen helfen kann, sagte er mir immer wieder. Durch unsere Erfahrungen in Kenia angespornt, begannen wir, eine solche Idee zu erspinnen. Nahrungshilfe, das hatten schon so viele andere versucht, und es hatte nie dauerhaft eine Veränderung gebracht. Landwirtschaftliche Projekte? Die waren zu sehr vom Wetter abhängig und schieden deshalb auch aus. »Hilfe zur Selbst- hilfe« war das einzige Konzept, das uns während unserer wochen- langen Überlegungen sinnvoll erschien. Dies setzte Bildung voraus, die Möglichkeit für Jugendliche aus den ärmsten Familien, etwas zu lernen und sich anschließend selbst etwas aufzubauen im Leben.
Und so begannen wir, eine eigene Hilfsorganisation ins Leben zu rufen, noch bevor wir jemals einen Fuß auf äthiopischen Boden gesetzt hatten.
Unser Konzept war genauso einfach wie genial: Wir beschlossen, Trainingszentren im ganzen Land zu gründen, in denen Jugendliche aus ärmsten Verhältnissen in Unternehmensführung, Computerwissenschaften und Englisch unterrichtet würden. Die einzigen Voraussetzungen: Die Studenten müssten mindestens die zehnte Klasse abgeschlossen haben, zwischen sechzehn und fünfundzwanzig Jahre alt sein und aus Familien mit einem maximalen
Monatseinkommen von 500 Birr (etwa 50 US-Dollar) stammen. Nach eineinhalb Jahren Ausbildung sollten sie mit Hilfe von Managementexperten, Mikrofinanzinstitutionen und privaten Investoren damit beginnen, sich eine eigene Firma aufzubauen.
Dies würde weitere Arbeitsplätze schaffen und zudem einen Kreis schließen, der für das Äthiopien des neuen Jahrtausends von enormer Wichtigkeit war: In Afrika, das wussten wir, stehen Familie und Dorfgemeinschaft im Vordergrund. Unsere Studenten würden sich also - so hofften wir - nicht mit ihrem neuen Wohl- stand nach Europa absetzen, sondern ihre Familien und Bekannten unterstützen. »Social Entrepreneurship« heißt dieses Zauberwort - Unternehmensgründungen mit sozialem Hintergrund. Denn die Rettung kann nur durch die neue Generation erfolgen, nur sie kann nachhaltige Veränderung bringen. Gleichzeitig war es uns aber wichtig, mit unserer Organisation auch den Eltern und den Großeltern zu helfen, indem ihre Kinder für sie sorgten und ihnen ein besseres Leben ermöglichen würden.
Ein halbes Jahr lang planten, recherchierten und diskutierten wir. Als unsere Idee konkrete Formen annahm, kontaktierte Alessio erstmals seine langjährigen Geschäftspartner aus der Computer- und Marketingbranche: große Unternehmen mit viel Geld und den nötigen Mitteln, um soziale Projekte zu unterstützen. Und siehe da - einige von ihnen zeigten sich sofort begeistert von unseren Plänen. Zudem rief Alessio spontan bei einem Freund seiner Mutter in Äthiopien an, um bürokratische Fragen abzuklären. Solomon gab bereitwillig Auskunft und war direkt angetan von der Idee. Er hatte lange in den USA gelebt, sprach perfekt englisch und wollte sich sowieso gerade beruflich verändern. Also sagte der Siebenundfünfzigjährige prompt zu, als Generalmanager für unsere Organisation zu arbeiten.
Mit mehreren Zehntausend Euro Startkapital in der Tasche und fünf Koffern voller Kleider, die unsere Freunde in Italien für
Kinder in Äthiopien gesammelt hatten, machten wir uns schließlich auf zum römischen Flughafen. Ziel: Bole Airport, Addis Abeba.
Nach fünfeinhalb Stunden landeten wir in Äthiopien. Lange Zeit war die Maschine der Ethiopian Airlines zuvor über dem Sudan geschwebt. Es war ein grandioser Anblick: Wüste, rote Wüste, überall, bis hin zum Horizont. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass Teile dieser gewaltigen Weite wahrscheinlich noch nie von einem Menschen betreten worden waren. Die endlosen Sandebenen des Sudan ließen es mich erstmals wieder spüren: Es gibt noch Orte auf der Welt, die nicht restlos erkundet sind. Immer hatte ich starke Frauen aus der Geschichte bewundert und mir gewünscht, in ihrer Zeit gelebt zu haben - Abenteurerinnen und Pionierinnen wie Elly Beinhorn, Amelia Earhart oder Karen Blixen, die das Unmögliche wagten und es nicht bereut haben. Die Dinge sahen, die noch nie eine Frau aus dem Westen gesehen hatte. Frauen, die bereit gewesen wären, für ihre Passion zu sterben - und es, zumindest im Fall von Amelia Earhart, auch taten.
Meine Zeit und meine Heimat Europa bieten wenig Platz für Abenteuer. Alles ist schon erforscht, wissenschaftlich studiert und festgehalten. Die Frauen haben sich ihre Rechte erkämpft und die Billigfluggesellschaften haben die Erde zu einem stets erreichbaren Ort gemacht, in der Grenzen mühelos überquert werden. Meine Zeit ist eine Zeit der Bequemlichkeit, eine Zeit der Medien, der Computer, der unbegrenzten Möglichkeiten. Aber diese Möglichkeiten erfordern kaum noch Mut, es braucht keine Kühnheit, um sich in der Welt von heute zurechtzufinden.
Ich war noch ganz in diesen Gedanken, als sich plötzlich das Landschaftsbild unter uns schlagartig änderte. Wir waren über die unsichtbare Grenze zwischen dem Sudan und Äthiopien geflogen. Von nun an und für die restliche Stunde der Reise reihten sich grüne, braune und sandfarbene Felder aneinander, alle rechteckig, alle gleich. Ab und zu wurde diese von Menschen gemachte
Eintönigkeit von kleineren Bergen unterbrochen, aber auch die waren kahl, fast ohne Baumbewuchs. Ich gestehe es: Ich war ein wenig enttäuscht. Sollte dies das Land meiner bevorstehenden Abenteuer sein? Ackerland?
Aber dann rief ich mir in Erinnerung, dass Äthiopien in seinem nördlichen Teil ein Hochland ist und es wohl deshalb keinen üppig grünen, tropischen Pflanzenwuchs geben konnte. Und ich sagte mir, dass es ja eigentlich ein Segen war, dass die Äthiopier so viel Landwirtschaft betrieben, denn dann musste es auch mit der Nahrungsversorgung bergauf gehen.
Irgendwann umrundeten wir einen weiteren Berg - den Mount Entoto - und dann lag sie vor uns: die Hauptstadt Addis Abeba, die »neue Blume«, wie Kaiser Menelik II. sie getauft hatte, als er sie Ende des 19. Jahrhunderts am Fuße des 3200 Meter hohen Entoto gründete.
Das Flughafengebäude war viel moderner und größer, als ich es mir vorgestellt hatte. Die Beamten bei der Visa-Ausgabe klebten freundlich ein Stück Papier mit seltsamen Schriftzeichen in meinen Pass und hießen mich mit einem Lächeln in ihrem Land willkommen. Und unsere fünf Koffer tuckerten bereits über das Gepäckband, als wir aus der Passkontrolle in den Terminal kamen. In Rom musste ich immer mindestens eine Dreiviertelstunde auf die italienische Langsamkeit schimpfend ausharren, bis ich endlich mein Gepäck in den Händen hielt - ganz zu schweigen von der Tatsache, dass mehr als einmal mein Koffer in London oder Paris statt in der Ewigen Stadt gelandet war, was lange Prozeduren beim »Lost-and-Found«-Schalter zur Folge hatte.
So traten wir in die äthiopische Sonne hinaus. Italien hatten wir bei Nieselregen und 12 Grad verlassen, am Horn von Afrika herrscht im November hingegen Trockenzeit. Ich zog mir den Pullover aus und entdeckte einen nett dreinblickenden Äthiopier, der direkt auf uns zusteuerte.
»Alessio? Carola?«, fragte er.
Es war Solomon. Dieser rundliche Mann mit seiner leicht getönten Brille und dem gewinnenden Lächeln war mir auf den ersten Blick sympathisch. Wir begrüßten uns, als würden wir uns schon ewig kennen, plauderten gleich ganz unbefangen miteinander und fuhren in seinem schwarzen Isuzu-Geländewagen schnur- stracks ins Getümmel der Drei-Millionen-Metropole.
Zwei Dinge spüren Ankömmlinge, die erstmals nach Äthiopien reisen, sofort: Erstens ist die Luft unglaublich weich, was den meisten gleich das Herz für das Land öffnet. Zweitens ist die Luft aber auch unglaublich dünn, was den meisten dann gleich den Atem nimmt. Das spürt man jedoch erst, wenn man eine Treppe hochsteigt oder im Hotelpool schwimmen geht. Addis Abeba liegt auf einer Höhe zwischen 2300 und 2600 Metern - in Skiurlauben in der Schweiz waren die Hänge, über die ich wedelte, meist nicht einmal 1800 Meter hoch. Luftknappheit, Herzrasen und Nasenbluten sind zunächst die Folgen - aber wie ich heute weiß, gewöhnt sich der menschliche Körper in der Regel nach etwa drei Wochen an die Höhe.
Auf den ersten Blick wirkt Addis Abeba wie eine typische Großstadt in einem Entwicklungsland: bunt, laut und konfus. Es stinkt nach Abgasen, die alte, tattrige Autos und Laster in schwarzen Wolken aus dem Auspuff in die Luft schießen, die Häuser auf den Hauptstraßen wirken monoton, überall liegen Menschen in Lumpen am Wegesrand. Was mir sofort auffiel, waren die geradezu vorzeitlichen Gerüste, von denen die im Bau befindlichen Häuserzeilen umgeben waren. Sie bestehen in ganz Äthiopien aus zusammengenagelten, dünnen Baumstämmen, die hoch in die Luft ragen; die Arbeiter kraxeln ohne Absicherung darauf herum.
Ich sog die Eindrücke in mich auf, konnte mich gar nicht sattsehen an den Farben, an den geschäftig umherlaufenden Menschen in ihren traditionellen weißen Gewändern, an den Herden von Ziegen und Schafen, an den Märkten und Verkaufsbuden. Ich war tatsächlich in Äthiopien! Alessio schien noch auf- geregter als ich, er spähte von rechts nach links durch die Seitenfenster des Autos, stellte Solomon unzählige Fragen und wirkte einfach nur glücklich.
Zwei Wochen reisten wir damals durch verschiedene Regionen und konzentrierten uns dabei vor allem auf das nördliche Hochland: die Simien Mountains, Bahir Dar, Gondar-Orte so magisch, spirituell und historisch, dass sie uns nicht mehr losließen. Uns hatte das Äthiopien-Fieber gepackt. Gleichzeitig begannen wir mit der Gründung unserer ersten Businessschule in Bahir Dar. Wir hatten die aufstrebende Kleinstadt dafür auserkoren, weil uns örtliche Politiker gleich Hilfe und Unterstützung zusagten und wir dort in manchen Ortsteilen eine geradezu bestürzende Armut vor- fanden.
»Eigentlich hätten wir als Regionalregierung schon lange auf die gleiche Idee wie ihr kommen müssen«, sagte uns der zuständige Präsident der Region Amhara. »Wir müssen neue Arbeitsplätze schaffen und mittelständische Unternehmen gründen, nur so kann es vorangehen. Ihr tut im Grunde unsere Arbeit - und dafür sind wir sehr dankbar.«
Wir waren froh, und in unserem anfänglichen Übermut dachten wir, dass alles in Äthiopien so reibungslos und ohne große bürokratische Hindernisse vonstattengeht.
Wir sollten uns täuschen.
© 2010 by Blanvalet Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH. Schutzumschlag: © bürosüd , München (CHF: empf. VK Preis)
»Abyssinia« lautet der alte Name für das Kaiserreich. Das Wort kommt wahrscheinlich aus dem Arabischen, andere glauben, der Begriff sei bereits vor fast 3500 Jahren in altägyptischen Inschriften aufgetaucht. Für mich hat Abyssinia, nach allem, was ich erlebt habe, eine zweifache Bedeutung: Es steht für die Größe und Kultur des Landes, vor allem jedoch versteckt sich darin der Ausdruck abyss - Abgrund. Und ein solcher tat sich vor mir auf, nur acht Wochen nach meiner Ankunft in Addis Abeba.
Private Krisen, Wut, Verzweiflung, all dies ändert den Blick auf ein Land. Dass ich Äthiopien trotz meiner Erlebnisse immer noch liebe, ist ein untrügliches Zeichen dafür, dass Orte ein Eigenleben entwickeln, wenn wir dies zulassen.
Es war kein einfacher Weg, der mich nach Afrika geführt hat. Und Äthiopien ist kein einfaches Land. Aber es ist ein aufregendes Land, ein Land voller Überraschungen, beeindruckender Menschen und Geschichten, die mich ein Leben lang begleiten werden. Es ist auch das Land, in dem ich bis an meine Grenzen gehen musste und manchmal über sie hinaus. Ich bin Teil dieses Kontinents geworden, der mir so viele Begebenheiten und Begegnungen, so viel Schönheit und so viel Traurigkeit geschenkt hat. Meine Zeit in Äthiopien hat mir die Augen für vieles geöffnet, das ich vorher nicht sehen konnte.
Was am Ende bleibt, sind Erinnerungen an Tage voller afrikanischer Lebensfreude unter Schirmakazien und violetten Jacaranda-Bäumen und laue Nächte unter dem unendlich weiten afrikanischen Himmel. Erinnerungen an die Begegnung mit den wilden Afar und den diskriminierten Weyto, die herrlichen Nachmittage im schattigen Tukul von Abba Abebe, das Mitleid mit den unter ihrer Last zusammenbrechenden Eseln. Und natürlich dieser Moment, in dem ein kleiner Junge meine Hand ergriff, und mir zu verstehen gab, dass ich wirklich etwas ändern kann - wenn auch nur im Kleinen.
Sind Sie bereit? Dann kommen Sie mit mir. Ich bringe Sie ans Horn von Afrika, wo Trostlosigkeit und Hoffnung oft so nah beiein- anderliegen.
Wirst du uns helfen?
Ich fühle noch seine kühle Hand auf meiner Haut. Ich fühle, wie er meine warme Hand umklammert und zum ersten Mal wieder Hoffnung schöpft. In einem Pulk von Kindern laufe ich über den schmuddeligen Vorplatz, entdecke die halb verfallenen Schulgebäude, von denen der Putz blättert. Der kleine Junge. Er hat ein durchlöchertes orangefarbenes T-Shirt an, seine schwarzen Haare sind voller Staub, und auf dem Rücken trägt er einen kaputten khakigrünen Schulranzen. Mit großen braunen Augen schaut er zu mir hoch.
»Wirst du uns helfen?«, fragt er zaghaft in gebrochenem Englisch.
Ich muss schlucken. Ich merke, wie meine Augen feucht werden. »Ich werde es versuchen«, sage ich leise und lächle ihm aufmunternd zu, während er seine kleinen schmutzverkrusteten Fingernägel noch tiefer in meine Haut bohrt.
»Ich werde es versuchen«, sage ich ein zweites Mal, jetzt eher zu mir selbst.
Habe ich ihn im Stich gelassen? Habe ich sie alle im Stich gelassen? Oder habe ich alles getan, was mir zu dieser Zeit möglich war?
Das Gewissen hat eine starke Stimme, noch viel stärker als die des kleinen Jungen. Aber wie soll man Äthiopien mit reinem Gewissen verlassen? Hier hat man nie alles getan, so sehr man sich auch bemüht.
Ich bin gekommen, um etwas zu verändern. Mit 2000 Euro aus einer Privatspende in der Tasche stehe ich vor dieser Grund- schule, diesem Bild des Jammers, und mir werden die Knie weich. Ich bin froh, dass ich nicht allein bin, dass mich zwei Freunde aus Bahir Dar, einem Städtchen in Nordäthiopien, begleiten. Sie hatten mir von der Situation der Schule erzählt: Über zweitausend Kinder
werden hier täglich unterrichtet, rund fünfhundert von ihnen sind Waisen. Sie leben bei »Adoptivfamilien«, und wenn sie nachmit- tags nach Hause kommen, müssen sie auf den Feldern arbeiten oder Ziegenherden bewachen, um sich ihr abendliches Stück injera - das äthiopische Fladenbrot - zu verdienen. Tagsüber haben die Kleinen meist so großen Hunger, dass manche von ihnen in der Klasse in Ohnmacht fallen.
Natürlich kam mir bei diesen Erzählungen erst einmal meine eigene Schulzeit in den Sinn, während der jeden Tag ein dick belegtes Pausenbrot in meinem Tornister auf mich wartete. Wie ungerecht das alles ist! Was haben die zauberhaften Geschöpfe in diesem Land denn getan, um ein solches Schicksal zu verdienen? Und vor allem: Wie schaffen sie es, sich trotz allen Elends ihr Lachen zu bewahren? Ja, sie lachen mich an, drängen sich vor die Linse meiner Digitalkamera, als würden sie hoffen, dadurch irgendwo für immer eine Spur zu hinterlassen.
Sie haben es geschafft. Sie haben für immer eine Spur hinter- lassen, nicht nur auf den Fotos, sondern tief in meinem Herzen. Immer wieder schaue ich mir die Bilder an, diese fröhlichen offenen Münder mit ihren Zahnlücken, diese dunklen Augen, die trotz ihres Schicksals so viel Stolz, Selbstbewusstsein und Freude am Leben ausstrahlen.
Ich bin wieder in Europa, und heute fielen dicke Schneeflocken vom Himmel. Ich ließ sie mein Gesicht benetzen und spürte im gleichen Atemzug die äthiopische Hitze auf meinem Kopf. Wie kann das sein? Lebe ich in zwei Welten? Oder habe ich meine Entscheidung schon längst gefällt?
»Woran denkst du, wenn du morgens aufwachst?«, fragte mich gestern ein Freund. Ohne nachzudenken sagte ich: »An Äthiopien.«
Ich denke immer an Äthiopien, ich denke immer an Tadela, Melkamsira, Wubetu und an all die anderen, die meine Zeit dort begleitet haben. Ich komme nicht los, bin gefangen zwischen
Vernunft und Gefühl, zwischen der von Familie und Freunden auferlegten Pflicht, für finanzielle Absicherung zu sorgen, und dem Wissen, dass ich zurück muss, zurück nach Afrika. Werden all diese wunderbaren Menschen, die ich kennenlernen durfte, jemals Schnee auf ihrer Haut spüren? Werden sie jemals das Meer und all die Schönheiten dieser Welt sehen? Werden sie je verstehen, aus welcher Welt ich komme und welch belanglose Probleme mich plagen? Wie könnten sie es verstehen? In einer Welt, in der es so oft um Leben und Tod, um Hunger und Durst, um Malaria und AIDS geht, scheinen meine Sorgen alle so klein. Und vielleicht ist es das, was ich an Äthiopien so liebe: dass das Land die Dinge in die richtige Perspektive rückt.
Ach, Äthiopien. Geliebtes, infernalisches Äthiopien. Land im Chaos, Land im Aufbruch.
Wahrscheinlich sind es gerade die vielen Widersprüche, die mir in dem Land am Horn von Afrika begegnet sind, die mich so faszinieren. Es ist, als mache man einen Zeitsprung in eine längst vergangene Ära. In eine Zeit voller Schlichtheit und Genügsamkeit, aber auch voller Geheimnisse, die sich einem Menschen aus dem Westen erst ganz langsam offenbaren. Gleichzeitig scheint gerade eine neue Ära anzubrechen, in der schicke italienische Restaurants und Cocktailbars neben traditionellen Gasthäusern ihre Pforten öffnen, Internetcafés aus dem Boden schießen und Beyoncé und die Black Eyed Peas Konzerte geben. Widersprüche.
Äthiopien, das allgemein als die »Wiege der Menschheit« gilt, ist auf dem Weg, sich die unschuldigen Kinderschuhe abzustreifen. Es kann sich nicht mehr den Errungenschaften der Moderne entziehen. Sie brechen in einer Art Zeitraffer über Städte wie Addis Abeba, Bahir Dar und Awassa herein, viel zu schnell und unaufhaltsam. Was sich in Europa und den USA in den vergangenen fünfzig Jahren langsam entwickelt hat, überrollt Teile des alten Abessiniens seit wenigen Jahren wie eine Flutwelle. Auf der Strecke bleiben dabei die Armen, die Kranken, die Landarbeiter -
kurz all diejenigen, die die Regierung auf ihrer Rechnung vergessen hat.
Äthiopien lässt mich nicht mehr los, hat mich fest im Griff. Ich spüre eine tiefe Liebe zu diesem Land, und ich weiß, dass ich eines Tages zurückkehren werde. Die Stimme meines Gewissens regt sich und schreit laut und unerbittlich: Du kannst etwas tun! Warum vergeudest du all die kostbare Zeit mit schwermütigen Gedanken? Und wenn ich dann immer noch den Wald vor lauter Bäumen nicht sehe, ruft mir mein Gewissen das staubige kleine Kindergesicht in Erinnerung, das zu mir hochblickt und fragt: »Wirst du uns helfen?«
Der Traum
Vor vielen Jahren hatte ich einen Traum. Es war keine besondere Nacht, es war eine Nacht wie jede andere. Ich kann mich weder an den Monat noch an das Jahr meines Traums erinnern. Aber die Bilder sehe ich noch heute klar vor mir: Ich stehe mit meinem Gepäck in der Hand auf einem weiten Platz. Eine staubige Ebene breitet sich vor mir aus, umgeben von einer sanften hügeligen Landschaft. Auf einer Anhöhe sind kleine runde Strohhütten angesiedelt. Sie sind ärmlich, aber auf ihre eigene Art strahlen sie Würde und Kraft aus. Ich weiß in meinem Traum instinktiv, dass ich mich in Afrika befinde - obwohl ich bis dahin noch nie auf den Schwarzen Kontinent gereist war.
Es riecht nach trockener Erde, die heiße Luft umhüllt mich und duftet nach Neubeginn, nach dem Anfang von etwas Großem. Ich fühle mich zwar noch als Fremde, betrachte meine Umgebung aber bereits als jemand, der hier seinen Platz sucht, weil ich weiß, dass ich für lange Zeit bleiben werde. Auch die Farben meines
Traums sind afrikanisch, dominiert wird er von Ockertönen und sandigem Hellgelb. Die ganze Ebene ist hell, savannenartig. Das Land ist trocken, vertrocknet, außer knorrigen Büschen und Schirmakazien gibt es so gut wie keine Vegetation. Obwohl Menschen um mich herum sind, vor allem spielende Kinder, werde ich kaum beachtet. Ich fühle mich nicht als weißer Eindringling, als Attraktion. In mir weiß ich: Ich habe hier eine Aufgabe zu erfüllen, ich bin geschickt worden, um sie zu erfüllen. Ich bin angekommen.
Lange hatte ich nicht mehr an diesen Traum gedacht, bis ich vor einigen Jahren erstmals nach Afrika flog. Nach Kenia, um genau zu sein. Kenia war in meiner Jugend das Land meiner Lebensträume gewesen, auf Karen Blixens Spuren wollte ich wandeln und Abenteuer erleben - damals wusste ich noch nichts von dem, was die Kolonisation in Afrika und allen südlichen Erdteilen angerichtet hatte.
Als ich am Ende des Urlaubs mit Joseph - einem einheimischen Reiseführer - die Giriama-Dörfer unweit der Touristen- hochburg Malindi besuchte, kam mir mein Traum wieder in den Sinn. Nur wenige Kilometer vom Indischen Ozean entfernt liegen dort im Landesinneren die Ansiedlungen dieses Volksstamms, ein Bild der Armut, der Trostlosigkeit, der Hoffnungslosigkeit. Kaum eine internationale Hilfsorganisation findet ihren Weg in die Dörfer, geschweige denn Touristen, die meist nicht einmal von der Existenz der Giriama wissen, während sie in den Hotels und Luxusresorts am türkisen Ozean Urlaub machen.
Joseph hatte meinen Freund Alessio und mich eingeladen.
»Ich bitte nur sehr wenige Urlauber, diese Tour mit mir zu machen«, hatte er zwei Tage zuvor beim Abendessen gesagt. »Ihr seid zwei Menschen, denen ich diese Seite Kenias gerne zeigen würde. Was haltet ihr davon, in mein Heimatdorf zu fahren? Wir können meinen Minibus nehmen, dann wären wir in etwa drei Stunden dort.«
Wir nickten, neugierig und nicht wissend, was uns erwarten würde.
Am Morgen des »Ausflugs« erwartete uns Joseph in Malindi. Mit dem Van steuerte er geradewegs auf einen Supermarkt zu.
»So, da gehen wir jetzt rein, und ihr kauft einfach, was ihr für richtig haltet. Reis, Mehl, Salz, Zucker oder auch Stifte und Schuhe«, erklärte er auf seine typische trockene Art. »Gebt nur so viel aus, wie ihr entbehren könnt. Aber da, wo wir jetzt hinfahren, fehlt es wirklich an allem.«
Alessio und ich sahen uns fragend an. Wir folgten Joseph in das Geschäft und orientierten uns bei unseren Einkäufen an seinem Beispiel. Dann begannen wir, das Dach des Kleinbusses zu beladen. Wir hatten etwa 20 Kilo Reis erstanden, zudem andere wichtige Grundnahrungsmittel sowie Schulhefte, Kugelschreiber und einige Paare Flipflops für Kinder.
Wenige Minuten später befanden wir uns auf einer Schotterpiste. Weg vom Touristenluxus, hinein ins echte Kenia, von dem nur so wenige Urlauber etwas wissen.
Etwa eine Stunde dauerte die Fahrt bis zu unserem ersten Stopp. Ein Dorf? Eigentlich nicht. Eher eine Ansammlung von mehreren Strohhütten. Ringsherum das pure Nichts. Keine Straßen, keine Schule, keine Läden, kein Lebenszeichen außer dem vereinzelten Kreischen eines Vogels.
»Wo sind wir hier?«, fragte ich.
»Wir sind im ersten Giriama-Dorf angekommen. Die Giriama sind ein ethnischer Volksstamm, der von Lamu bis zur kenianisch-tansanischen Grenze im Süden etwa 30 Kilometer von der Küste entfernt lebt«, erklärte Joseph.
Schon kamen Kinder auf uns zugelaufen, am Körper trugen sie nichts als zerlöcherte Lumpen. Eltern und andere Familien- angehörige, die uns neugierig begutachteten, folgten. Ich hatte in meinem Leben noch nie eine solche Armut gesehen, eine solch trostlose Existenz - und all dies nur eine Autostunde entfernt von den All-Inclusive-Hotels rund um Malindi und Diani Beach.
Da standen wir also mitten im Land der Giriama, umringt von Menschen, die viel zu dünn und deren Gesichter von Fliegen übersät waren. Sie berührten mich zaghaft, befühlten meine blonden Haare.
Wann mag hier wohl zuletzt ein Auto vorbeigekommen sein?, fragte ich mich - und bekam die Antwort gleich präsentiert. Ein knochiger Mann mit grauen Haaren kam aus einer der Hütten und hielt einen weißen Sack mit der Aufschrift »UN« in der Hand. Er war leer. Er war alt. Wie mag das sein, wenn man sich nur von der Hoffnung nährt, dass alle paar Monate ein Wagen der Vereinten Nationen mit Hilfsgütern vorbeikommt?
Ich gab einem der Kinder ein paar Flipflops. Der kleine Junge schaute auf seine Füße mit den leuchtend gelben Plastiksandalen, Tränen liefen ihm über das Gesicht. Er hatte noch nie Schuhe getragen.
Ich lief zum Bus, verkroch mich in die hinterste Ecke und weinte hemmungslos.
Wir wussten damals, dass wir etwas tun müssen. Aber was? Eine Idee musste her, etwas Neues, etwas wirklich Nützliches. Alessio hatte es immer deutlicher gespürt als ich: Als Halb-Äthiopier, der in Italien, der Schweiz und England ausgebildet worden war und als Marketingexperte beruflich erfolgreich gewesen war, fühlte er seit langem eine große Verantwortung seinem Land gegenüber.
Für mich waren es hingegen zunächst mehr das Fernweh und der Wille, in meinem Leben etwas wirklich Sinnvolles zu tun, die mich trieben. Aber da war auch eine immer stärker werdende Liebe zu einem Kontinent, so fremdartig und wild, dass er die Erfüllung aller meiner Sehnsüchte verhieß.
Fernweh in Rom
Dennoch schien mein Traum zu diesem Zeitpunkt unerreichbar. Ich war Auslandskorrespondentin der größten deutschen Nachrichtenagentur in Rom. Ein Traumjob. So etwas wirft man nicht einfach weg. Mit Mitte dreißig hatte ich alles erreicht, was ich als Heranwachsende kaum zu hoffen gewagt hatte und was für viele andere Menschen das ganz große Los bedeutet. Ich lebte in einer der schönsten Städte der Welt, fand berufliche Anerkennung, hatte viele Freunde und konnte mir alles kaufen, was mir gefiel, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken: Designerkleidung, italienische Schuhe, edle Taschen, teure Handys. Ich aß in den besten Restaurants der Stadt und bereiste die halbe Welt - von den Seychellen bis Australien, von Borneo bis Kuba. Manchmal war ich dreimal im Jahr auf verschiedenen Kontinenten. Ich traf berühmte Menschen und begleitete den Papst in seinem Flugzeug auf Reisen. Ich habe mich selbst jahrelang in den Vordergrund gestellt, und es war richtig so.
Aber dann überfiel mich irgendwann eine totale innere Leere. Was jetzt?, fragte ich mich, und die Frage quälte mich monatelang. Sollte es immer so weitergehen? Sollte ich für den Rest meines Lebens jeden Tag die zwar interessante, aber doch immer gleiche Arbeit tun? Und was bedeutete mir der Luxus in meinem Leben überhaupt? Ich war doch die, die nie Komfort gebraucht hatte, die während der Studienzeit und auch in den ersten Jahren danach in WGs gehaust und mit leerem Kühlschrank gelebt hatte.
Rom war schon seit Jahren in meinen Gedanken gewesen, eigentlich schon, seit ich ein Kind war und die »Asterix-und-Obelix«- Hefte verschlungen hatte. So überlegte ich nicht lange, als auf meiner Schule ein Italienischkurs angeboten wurde, und bald nach dem Abitur wusste ich, dass ich die Sprache sowie die Literatur
und Kultur Italiens studieren wollte. Ich schrieb meine Magister- arbeit in der Stadt am Tiber, verbrachte dort Anfang der Neunzigerjahre aufregende sechs Monate und wusste anschließend: Hier will ich leben - koste es, was es wolle.
Gleichzeitig hoffte ich, auch meinen Berufswunsch »Journalistin« verwirklichen zu können. Doch das brauchte seine Zeit. So schlug ich mich ein paar Jahre mit Übersetzungen sowie als Nachhilfe- und Deutschlehrerin durch. Doch irgendwann war es so weit: Ich hatte viele deutsche Freunde der schreibenden Zunft kennengelernt und bereits bei einigen Zeitungen und beim deutschen Radio als Urlaubsvertretung gearbeitet, als mich eines Tages der Pressesprecher der Deutschen Botschaft anrief. Er ließ verlauten, bei der größten Nachrichtenagentur meiner Heimat werde eine Assistentin gesucht. Sofort rief ich an - und bekam die Stelle. Die Zukunft empfing mich in der warmen römischen Frühlingsluft mit offenen Armen. Ich war glücklich, stolz und voller Tatendrang.
Zwei Jahre später wurden meine geheimsten Hoffnungen erfüllt: Ich stieg zur Korrespondentin auf. »Dich muss bei der Geburt eine Fee geküsst haben«, meinte eine Freundin damals schmunzelnd. »Irgendwie fließt bei dir immer alles perfekt zusammen, du scheinst immer zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein!«
Ich war noch glücklicher, noch stolzer, voll unstillbarem Tatendrang.
Was dann geschah, ich kann es nicht wirklich erklären. Ich denke, meine innere Wende kam nach dem Tod Johannes Pauls II. im Jahr 2005. Nicht etwa, weil ich katholisch wäre - im Gegenteil, ich bin protestantisch getaufte Rheinländerin. Es war vielmehr die Ruhe nach dem Sturm, die Zeit nach den vielen journalistisch durchge- arbeiteten Tagen und Nächten, die etwas in mir bewirkte. Der Tod eines Papstes und die Wahl seines Nachfolgers, das ist - so zynisch es auch klingen mag - das größte Ereignis, über das ein Italien-Korrespondent berichten kann. Es ist die Nachricht, über die jeder Journalist schreiben möchte - nicht einmal die Wahl eines ameri- kanischen Präsidenten ist damit vergleichbar. Und wenn es dann wirklich passiert, wenn die Todesnachricht als Eilmeldung über alle Fernsehkanäle flimmert, ist man doch irgendwie nie vorbereitet auf das, was dann kommt: Wochenlanger Stress, in dem das Essen und Trinken, das Schlafen und sogar manchmal das Denken zu kurz kommen. Erst wenn dann wieder Ruhe einkehrt, zieht der Schreiber Bilanz. Bei mir war dieser Moment wie der Fall in ein tiefes Loch.
»Das wird schon wieder, bald lachst du über all deine Zweifel«, sagten meine Freunde, während wir abends durch die verwinkelten Gassen von Trastevere schlenderten und Schokoladeneis schleckten. Sie konnten es nicht verstehen - wie auch? Ich verstand mich ja selbst kaum noch. Ich wusste nur: In mir regte sich die Löwin, das wilde Tier, das ich jahrelang zum Schlafen ver- donnert hatte. Ich sagte ihr, sie solle Ruhe geben, befahl ihr zu schweigen - doch sie wollte nicht hören.
Die Löwin - ist sie nicht die Königin der Savanne, das Symbol Afrikas? Die innere Unruhe in mir, das Gefühl des Getriebenseins, die Rastlosigkeit, die mich im Urlaub in die ganze Welt hinauszog, die ewige Sehnsucht gepaart mit einem tiefen, alles durchdringenden Fernweh, ich hatte dies immer als »die Löwin in mir« bezeichnet. Solange sie ruht, ist alles friedlich. Aber wehe, sie wacht auf. Dann gibt es kein Entkommen, dann muss ich rennen, in dem Tempo, das mir dieses wilde Tier in meiner Seele vorgibt. Ich muss rennen, um mit meinem eigenen Leben Schritt zu halten und um die neuen Ufer zu erreichen, von denen mir die Löwin vorschwärmt.
Und ich wusste instinktiv: Es war Zeit, etwas zurückzugeben für all das Schöne, das mir widerfahren war.
Aber sosehr ich mich in meinen Gedanken verlor und die Möglichkeit zur Veränderung suchte, sowenig fand ich einen Ausweg. Ich fühlte mich festgekettet in Rom, der Ewigen Stadt, die mir so viele Jahre lang so viel gegeben hatte. Mein römischer Traum war aus- geträumt, ich war an seinem Ende angekommen. Ich lebte nicht mehr im Jetzt, sondern immer auf etwas hin, das nie zu kommen schien - oder ich klammerte mich an Vergangenem fest, als das Leben mir noch leicht und sinnvoll erschien. Gleichzeitig lähmte mich eine absolute Trägheit, ich begann, mich selbst für diese innere Stagnation zu hassen. Ich suchte weiterhin die Erfüllung in meiner Arbeit als Journalistin, ohne zu bemerken, dass sie mich nicht retten konnte, weil sie Teil meiner Traurigkeit war.
Wenn sich ein Traum erfüllt, dann muss ein neuer schon bereitstehen - dieses Motto hatte ich mir als Jugendliche zu eigen gemacht. Und jetzt? Ich bin die Heldin der heilenden Vorstellungs- kraft und die Königin der mörderischen Tatenlosigkeit, schrieb ich in den dunkelsten Tagen in mein Tagebuch. Die Löwin in mir grollte, aber ihre Prankenhiebe fassten ins Leere. Sie wollte losrennen, neuen Ufern entgegen, aber ich hielt sie an der Leine.
Ich brauchte lange, um zu verstehen, dass unser Weg oft über viele Umwege zu den so lange gesuchten Antworten führt, als stünde schon alles von Anfang an in einem Buch geschrieben. Nur, dass wir den Weg nicht kennen, uns manchmal verlaufen und lange umherirren, bis sich eine helle, savannenartige Ebene vor uns auf- tut. Schicksal, wenn man so will. Und mein Schicksal hieß: ein Jahr Auszeit, ein Jahr Äthiopien.
Die erste Reise
Vor drei Jahren fuhr ich mit Alessio erstmals nach Äthiopien. Das frühere Abessinien, jenes Land, das die meisten Menschen im Westen vor allem mit Dürren und Hungersnöten in Zusammen- hang bringen. Viele haben wohl noch die Bilder vom Live-Aid- Konzert 1985 in London und Philadelphia in Erinnerung. Damals versuchte Bob Geldof, der vor den Fernsehschirmen versammelten Welt die Katastrophe mit der Musik von über sechzig Mega-Pop- und Rockstars vor Augen zu führen und sammelte letztlich 140 Millionen US-Dollar Spendengelder für die sterbenden Menschen am Horn von Afrika. Hungernde Kinder mit großen, hervortretenden Augen und Mütter, die zusammengekauert vor Strohhütten saßen, Männer mit so dürren Beinen, dass sie sich kaum aufrecht halten konnten - dies war damals der Inbegriff Äthiopiens. Und über zwei Jahrzehnte hat sich daran nicht viel geändert.
Als Alessio mir eine Reise ins Land seiner Vorfahren vorschlug, war ich direkt Feuer und Flamme. Äthiopien schien genau der richtige Ort zu sein, um meinen Tatendrang zu neuem Leben zu erwecken. Denn auch ich hatte noch ebendiese Bilder vor Augen: trockene Ebenen, ausgedörrte Felder, hungernde oder unterer- nährte Menschen, die weit unterhalb der Armutsgrenze ihr Dasein fristeten. Hier ist Hilfe nötig, hier kann man mit der richtigen Idee etwas bewirken, sagte ich mir. Der einzige Wermutstropfen war für mich, dass Äthiopien heute, seit Eritrea 1993 seine Unab- hängigkeit von dem Nachbarstaat erreichen konnte, ein Land ohne Meereszugang ist - und ich liebe Wasser und Ozeane.
Alessio war zu diesem Zeitpunkt selbst noch nie in Äthiopien gewesen. Jedoch hatten seine Mutter und seine Schwestern ihm ausführlich von der Kultur und den Traditionen des ostafrika- nischen Staates erzählt, von der Zeit Kaiser Haile Selassies, vom Prunk und Reichtum vergangener Tage, vom Stolz einer Nation,
die als einzige Afrikas nie kolonisiert worden war - hatten sich die Äthiopier doch der Eroberung durch die Italiener unter Benito Mussolini erfolgreich widersetzt.
Von all dem hatte ich vorher keine Ahnung gehabt. Sicher, der Name Haile Selassie sagte mir etwas und auch der Name der Hauptstadt Addis Abeba. Aber irgendwie war und ist Äthiopien in der westlichen Welt kaum ein Thema - wenn nicht gerade wieder eine folgenschwere Dürre über das Land hereinbricht und während der Abendnachrichten hungernde Kinder und sterbende Viehherden über die TV-Schirme flimmern.
Für Alessio war das anders. Er spürte schon lange das innere Bedürfnis, das Heimatland seiner Mutter zu besuchen. Aber ich möchte erst dorthin fahren, wenn ich eine Idee habe, wie ich dem Land und den Menschen helfen kann, sagte er mir immer wieder. Durch unsere Erfahrungen in Kenia angespornt, begannen wir, eine solche Idee zu erspinnen. Nahrungshilfe, das hatten schon so viele andere versucht, und es hatte nie dauerhaft eine Veränderung gebracht. Landwirtschaftliche Projekte? Die waren zu sehr vom Wetter abhängig und schieden deshalb auch aus. »Hilfe zur Selbst- hilfe« war das einzige Konzept, das uns während unserer wochen- langen Überlegungen sinnvoll erschien. Dies setzte Bildung voraus, die Möglichkeit für Jugendliche aus den ärmsten Familien, etwas zu lernen und sich anschließend selbst etwas aufzubauen im Leben.
Und so begannen wir, eine eigene Hilfsorganisation ins Leben zu rufen, noch bevor wir jemals einen Fuß auf äthiopischen Boden gesetzt hatten.
Unser Konzept war genauso einfach wie genial: Wir beschlossen, Trainingszentren im ganzen Land zu gründen, in denen Jugendliche aus ärmsten Verhältnissen in Unternehmensführung, Computerwissenschaften und Englisch unterrichtet würden. Die einzigen Voraussetzungen: Die Studenten müssten mindestens die zehnte Klasse abgeschlossen haben, zwischen sechzehn und fünfundzwanzig Jahre alt sein und aus Familien mit einem maximalen
Monatseinkommen von 500 Birr (etwa 50 US-Dollar) stammen. Nach eineinhalb Jahren Ausbildung sollten sie mit Hilfe von Managementexperten, Mikrofinanzinstitutionen und privaten Investoren damit beginnen, sich eine eigene Firma aufzubauen.
Dies würde weitere Arbeitsplätze schaffen und zudem einen Kreis schließen, der für das Äthiopien des neuen Jahrtausends von enormer Wichtigkeit war: In Afrika, das wussten wir, stehen Familie und Dorfgemeinschaft im Vordergrund. Unsere Studenten würden sich also - so hofften wir - nicht mit ihrem neuen Wohl- stand nach Europa absetzen, sondern ihre Familien und Bekannten unterstützen. »Social Entrepreneurship« heißt dieses Zauberwort - Unternehmensgründungen mit sozialem Hintergrund. Denn die Rettung kann nur durch die neue Generation erfolgen, nur sie kann nachhaltige Veränderung bringen. Gleichzeitig war es uns aber wichtig, mit unserer Organisation auch den Eltern und den Großeltern zu helfen, indem ihre Kinder für sie sorgten und ihnen ein besseres Leben ermöglichen würden.
Ein halbes Jahr lang planten, recherchierten und diskutierten wir. Als unsere Idee konkrete Formen annahm, kontaktierte Alessio erstmals seine langjährigen Geschäftspartner aus der Computer- und Marketingbranche: große Unternehmen mit viel Geld und den nötigen Mitteln, um soziale Projekte zu unterstützen. Und siehe da - einige von ihnen zeigten sich sofort begeistert von unseren Plänen. Zudem rief Alessio spontan bei einem Freund seiner Mutter in Äthiopien an, um bürokratische Fragen abzuklären. Solomon gab bereitwillig Auskunft und war direkt angetan von der Idee. Er hatte lange in den USA gelebt, sprach perfekt englisch und wollte sich sowieso gerade beruflich verändern. Also sagte der Siebenundfünfzigjährige prompt zu, als Generalmanager für unsere Organisation zu arbeiten.
Mit mehreren Zehntausend Euro Startkapital in der Tasche und fünf Koffern voller Kleider, die unsere Freunde in Italien für
Kinder in Äthiopien gesammelt hatten, machten wir uns schließlich auf zum römischen Flughafen. Ziel: Bole Airport, Addis Abeba.
Nach fünfeinhalb Stunden landeten wir in Äthiopien. Lange Zeit war die Maschine der Ethiopian Airlines zuvor über dem Sudan geschwebt. Es war ein grandioser Anblick: Wüste, rote Wüste, überall, bis hin zum Horizont. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass Teile dieser gewaltigen Weite wahrscheinlich noch nie von einem Menschen betreten worden waren. Die endlosen Sandebenen des Sudan ließen es mich erstmals wieder spüren: Es gibt noch Orte auf der Welt, die nicht restlos erkundet sind. Immer hatte ich starke Frauen aus der Geschichte bewundert und mir gewünscht, in ihrer Zeit gelebt zu haben - Abenteurerinnen und Pionierinnen wie Elly Beinhorn, Amelia Earhart oder Karen Blixen, die das Unmögliche wagten und es nicht bereut haben. Die Dinge sahen, die noch nie eine Frau aus dem Westen gesehen hatte. Frauen, die bereit gewesen wären, für ihre Passion zu sterben - und es, zumindest im Fall von Amelia Earhart, auch taten.
Meine Zeit und meine Heimat Europa bieten wenig Platz für Abenteuer. Alles ist schon erforscht, wissenschaftlich studiert und festgehalten. Die Frauen haben sich ihre Rechte erkämpft und die Billigfluggesellschaften haben die Erde zu einem stets erreichbaren Ort gemacht, in der Grenzen mühelos überquert werden. Meine Zeit ist eine Zeit der Bequemlichkeit, eine Zeit der Medien, der Computer, der unbegrenzten Möglichkeiten. Aber diese Möglichkeiten erfordern kaum noch Mut, es braucht keine Kühnheit, um sich in der Welt von heute zurechtzufinden.
Ich war noch ganz in diesen Gedanken, als sich plötzlich das Landschaftsbild unter uns schlagartig änderte. Wir waren über die unsichtbare Grenze zwischen dem Sudan und Äthiopien geflogen. Von nun an und für die restliche Stunde der Reise reihten sich grüne, braune und sandfarbene Felder aneinander, alle rechteckig, alle gleich. Ab und zu wurde diese von Menschen gemachte
Eintönigkeit von kleineren Bergen unterbrochen, aber auch die waren kahl, fast ohne Baumbewuchs. Ich gestehe es: Ich war ein wenig enttäuscht. Sollte dies das Land meiner bevorstehenden Abenteuer sein? Ackerland?
Aber dann rief ich mir in Erinnerung, dass Äthiopien in seinem nördlichen Teil ein Hochland ist und es wohl deshalb keinen üppig grünen, tropischen Pflanzenwuchs geben konnte. Und ich sagte mir, dass es ja eigentlich ein Segen war, dass die Äthiopier so viel Landwirtschaft betrieben, denn dann musste es auch mit der Nahrungsversorgung bergauf gehen.
Irgendwann umrundeten wir einen weiteren Berg - den Mount Entoto - und dann lag sie vor uns: die Hauptstadt Addis Abeba, die »neue Blume«, wie Kaiser Menelik II. sie getauft hatte, als er sie Ende des 19. Jahrhunderts am Fuße des 3200 Meter hohen Entoto gründete.
Das Flughafengebäude war viel moderner und größer, als ich es mir vorgestellt hatte. Die Beamten bei der Visa-Ausgabe klebten freundlich ein Stück Papier mit seltsamen Schriftzeichen in meinen Pass und hießen mich mit einem Lächeln in ihrem Land willkommen. Und unsere fünf Koffer tuckerten bereits über das Gepäckband, als wir aus der Passkontrolle in den Terminal kamen. In Rom musste ich immer mindestens eine Dreiviertelstunde auf die italienische Langsamkeit schimpfend ausharren, bis ich endlich mein Gepäck in den Händen hielt - ganz zu schweigen von der Tatsache, dass mehr als einmal mein Koffer in London oder Paris statt in der Ewigen Stadt gelandet war, was lange Prozeduren beim »Lost-and-Found«-Schalter zur Folge hatte.
So traten wir in die äthiopische Sonne hinaus. Italien hatten wir bei Nieselregen und 12 Grad verlassen, am Horn von Afrika herrscht im November hingegen Trockenzeit. Ich zog mir den Pullover aus und entdeckte einen nett dreinblickenden Äthiopier, der direkt auf uns zusteuerte.
»Alessio? Carola?«, fragte er.
Es war Solomon. Dieser rundliche Mann mit seiner leicht getönten Brille und dem gewinnenden Lächeln war mir auf den ersten Blick sympathisch. Wir begrüßten uns, als würden wir uns schon ewig kennen, plauderten gleich ganz unbefangen miteinander und fuhren in seinem schwarzen Isuzu-Geländewagen schnur- stracks ins Getümmel der Drei-Millionen-Metropole.
Zwei Dinge spüren Ankömmlinge, die erstmals nach Äthiopien reisen, sofort: Erstens ist die Luft unglaublich weich, was den meisten gleich das Herz für das Land öffnet. Zweitens ist die Luft aber auch unglaublich dünn, was den meisten dann gleich den Atem nimmt. Das spürt man jedoch erst, wenn man eine Treppe hochsteigt oder im Hotelpool schwimmen geht. Addis Abeba liegt auf einer Höhe zwischen 2300 und 2600 Metern - in Skiurlauben in der Schweiz waren die Hänge, über die ich wedelte, meist nicht einmal 1800 Meter hoch. Luftknappheit, Herzrasen und Nasenbluten sind zunächst die Folgen - aber wie ich heute weiß, gewöhnt sich der menschliche Körper in der Regel nach etwa drei Wochen an die Höhe.
Auf den ersten Blick wirkt Addis Abeba wie eine typische Großstadt in einem Entwicklungsland: bunt, laut und konfus. Es stinkt nach Abgasen, die alte, tattrige Autos und Laster in schwarzen Wolken aus dem Auspuff in die Luft schießen, die Häuser auf den Hauptstraßen wirken monoton, überall liegen Menschen in Lumpen am Wegesrand. Was mir sofort auffiel, waren die geradezu vorzeitlichen Gerüste, von denen die im Bau befindlichen Häuserzeilen umgeben waren. Sie bestehen in ganz Äthiopien aus zusammengenagelten, dünnen Baumstämmen, die hoch in die Luft ragen; die Arbeiter kraxeln ohne Absicherung darauf herum.
Ich sog die Eindrücke in mich auf, konnte mich gar nicht sattsehen an den Farben, an den geschäftig umherlaufenden Menschen in ihren traditionellen weißen Gewändern, an den Herden von Ziegen und Schafen, an den Märkten und Verkaufsbuden. Ich war tatsächlich in Äthiopien! Alessio schien noch auf- geregter als ich, er spähte von rechts nach links durch die Seitenfenster des Autos, stellte Solomon unzählige Fragen und wirkte einfach nur glücklich.
Zwei Wochen reisten wir damals durch verschiedene Regionen und konzentrierten uns dabei vor allem auf das nördliche Hochland: die Simien Mountains, Bahir Dar, Gondar-Orte so magisch, spirituell und historisch, dass sie uns nicht mehr losließen. Uns hatte das Äthiopien-Fieber gepackt. Gleichzeitig begannen wir mit der Gründung unserer ersten Businessschule in Bahir Dar. Wir hatten die aufstrebende Kleinstadt dafür auserkoren, weil uns örtliche Politiker gleich Hilfe und Unterstützung zusagten und wir dort in manchen Ortsteilen eine geradezu bestürzende Armut vor- fanden.
»Eigentlich hätten wir als Regionalregierung schon lange auf die gleiche Idee wie ihr kommen müssen«, sagte uns der zuständige Präsident der Region Amhara. »Wir müssen neue Arbeitsplätze schaffen und mittelständische Unternehmen gründen, nur so kann es vorangehen. Ihr tut im Grunde unsere Arbeit - und dafür sind wir sehr dankbar.«
Wir waren froh, und in unserem anfänglichen Übermut dachten wir, dass alles in Äthiopien so reibungslos und ohne große bürokratische Hindernisse vonstattengeht.
Wir sollten uns täuschen.
© 2010 by Blanvalet Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH. Schutzumschlag: © bürosüd , München (CHF: empf. VK Preis)
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Autoren-Porträt von Carola Frentzen
Carola Frentzen wurde 1970 in der Nähe von Aachen geboren. Nach ihrem Studium der Romanistik in Bonn zog sie Mitte der 1990er-Jahre nach Rom, wo sie fast vierzehn Jahre lebte und als Korrespondentin für die Deutsche Presse-Agentur tätig war. Nach vielen Reisen um die halbe Welt engagiert sie sich seit Ende 2006 in Äthiopien und unterstützt mehrere Hilfsorganisationen. Nach einem Sabbatjahr am Horn von Afrika zog sie nach Wien und arbeitete wieder als Korrespondentin. Derzeit lebt Carola Frentzen in Deutschland und Äthiopien.
Bibliographische Angaben
- Autor: Carola Frentzen
- 2011, 384 Seiten, 8 farbige Abbildungen, mit Schwarz-Weiß-Abbildungen, Maße: 14,5 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Blanvalet
- ISBN-10: 3764503807
- ISBN-13: 9783764503802
Rezension zu „Abyssinia “
"Eine bewegende Liebeserklärung an ein faszinierendes Land und seine Menschen."
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