Alentejo Blue
Alentejo Blue von Monica Ali
LESEPROBE
Zuerst dachte er, es wäre eineVogelscheuche. Als er herauskam, um im matten Licht des Morgens seine Blase zuleeren, und dabei wie immer den alten Judasbaum pries, wandte Joao den Kopf undsah die dunkle Gestalt zwischen den Bäumen. Es dauerte etwas, bis er denReißverschluss wieder geschlossen hatte. Seine Finger verhielten sich wiefeindliche Agenten. Sie gaben vor, sein Werkzeug zu sein, arbeiteten jedochinsgeheim gegen ihn. Joao trat unter den bemoosten Ästen hervor und hatte dabeinur einen Gedanken: Vierundachtzig Jahre auf dieser Erde sind eine Ewigkeit. Ergriff nach Ruis Stiefel. Sie berührten fast den Boden. »Mein Freund«, sagte er,»lass mich dir helfen.« Er sammelte Mut, um aufzublicken und in sein Gesicht zusehen. Als es so weit war, flüsterte er mit der kratzigen Stimme eines altenMannes: »Querido, Ruizhino.«
Joao stellte sich auf den Holzblock,den Rui weggetreten hatte, nahm sein Taschenmesser und fing an, das Seil zu durchtrennen. Mit dem freien Armumfasste er Ruis Oberkörper unter der Achsel und spürte, wie das Gewicht sichverlagert, als die Fasern unter der Klinge auseinander sprangen. DieMandelbäume blühten dieses Jahr früh. Auch die Tomaten würden schnell reifenund trügerisch rot werden, aber nach nichts schmecken. Joao nahm Ruisverkrampfte Hand in seine und dachte: Das sind die Dinge, die ich weiß.Es war Zeit, die Saubohnen zu pflanzen. Der Boden, auf dem der Mais gewachsenwar, musste ruhen. Die Oliven würden dieses Jahr hart und klein sein. Er saß imhohen Gras an den Holzblock gelehnt, und Rui lehnte an ihm. Er bewegte RuisKopf, damit er bequemer an seiner Schulter lag. Dann schlang er die Arme umRuis Körper. Zum zweiten Mal hielt er ihn.
Sie waren siebzehn und hungrig, alssie sich in einem Viehwaggon, der nach Osten zu den Weizenfeldern fuhr, kennenlernten. Rui zog ihn wortlos herein, und später sagte er: »Es gibt Arbeit füralle. Habe ich gehört. « Joao nickte, und als die Berge in flaches Landübergingen, das sich wie ein goldenes Versprechen vor ihnen erstreckte, neigteer sich zu ihm hinüber und sagte: »Jeder, der arbeiten will, findet Arbeit.«Sie verlagerten das Gewicht auf den hölzernen Planken und taten so, als würdeihr Hintern nicht schmerzen, und schauten hinaus, sahen weiter, als sie jezuvor gesehen hatten, weiße Dörfer wie Schaum vor dem Blau, Land, das gegen denHimmel brach. Am dritten Tag stiegen sie am Rand einer Kleinstadt aus, und dieKinder, die zu ihnen gerannt kamen, waren genauso heruntergekommen wie JoaosBrüder und Schwestern. Joao blickte zu Rui, aber Rui biss die Zähne zusammenund schwang die Beine über den Rand des Waggons wie die anderen Männer. DieÄlteren wurden zum Korkschälen oder zum Pflügen der Felder geholt, während Joaound Rui mit den Händen in den Taschen stehen blieben. Joao hatte solchenHunger, dass er ihn in den Beinen und Händen und in der Kopfhaut spürte. Siegingen an den armseligen Häusern vorbei - die Frauen standen in den Türen, dieHunde schnüffelten in der Gosse - in die Mitte des Ortes. »Wir bleibenzusammen«, sagte Rui. Er hatte grüne Augen, eine schmale Nase und weiße Haut,als wäre er noch nie in der Sonne gewesen.
»Wenn uns jemand will, muss er unsbeide nehmen«, sagte Joao, als sei er Herr über sein Schicksal. Sie erbettelteneinen halben Laib Brot im Café dafür, dass sie den Boden wischten und denAbfall wegschafften, und schliefen mit offenem Mund auf dem Kopfsteinpflasterder Straße. Als er erwachte, sah Joao als erstes Ruis Gesicht. Den Schmerz inseinem Bauch deutete er als Hunger. Gemeinsam suchten sie im Abfall nachEssbarem, und sie schliefen Seite an Seite. Sie trieben sich mit den anderenMännern herum, die auf Arbeit warteten, und lernten eine Menge: Wie man einpaar Worte zu einer Unterhaltung streckte, wie man an einer Mauer lehnte, wieman spuckte und wie man Gleichgültigkeit zur Schau stellte. Am Ende des Platzesbefand sich ein zweistöckiges Gebäude mit einem vergitterten Fenster imErdgeschoss. Joao hatte noch nie zuvor ein Gefängnis gesehen. Die Häftlingesaßen am Fenster, unterhielten sich mit Freunden oder nahmen Essen vonVerwandten entgegen. Eines Tages versammelten sich ungefähr ein Dutzend Leutedavor. Joao und Rui hatten nichts anderes zu tun. »Er redet von Opfern. Wersoll diese Opfer bringen, meine Freunde? Denkt darüber nach.« Niemand blickte zu dem Häftling. Sie standennur herum und warteten, obwohl es nichts zu warten gab. Der Häftling klammertesich an die Gitterstäbe und drückte das Gesicht dagegen. Seiner Nase gelang dieFlucht. »Salazar«, sagte er, »bringt keine Opfer.«
Alle rührten sich, als hätte dertrockene Wind Angst herangeweht. »Hört mal her«, sagte der Häftling. SeinGesicht war schmal und zusammengekniffen, als hätte er zu oft versucht, esdurch den schmalen Spalt zu quetschen. »Im ganzen Alentejo besitzen vierFamilien drei Viertel des Landes. So war es auch in anderen Ländern, zumBeispiel in Russland. Aber jetzt gehört das russische Land dem russischenVolk.« Keiner sah den anderen ins Gesicht. Es war gefährlich, die Gedankenanderer zu lesen. Joao blickte zu Rui. Rui wusste nicht, was die anderenwussten, oder es war ihm gleichgültig. Er schaute dem Häftling direkt insGesicht. »Das Volk erwirtschaftet den Wohlstand, aber der Wohlstand gehörtnicht dem Volk.« Die Männer nahmen die Hände aus den Taschen, als wollten sieihre Ersparnisse weggeben, bevor sie die Stadt verließen. Der Häftling schobdie Hände zwischen die Gitterstäbe und bewegte sie aus dem Handgelenk auf undab. »Uns ist es verboten, barfuß zu gehen. Salazar hat es verboten.« Der Mannlachte, und sein Lachen war so frei, wie sein Körper gefangen war. »Schaut nur,so müssen wir unsere Füße binden. Solange unsere Füße in Schuhen und Lumpenstecken, müssen unsere Bäuche voll sein.« Ein alter Mann mit krummem Rücken,der den ganzen Tag auf Füße schauen musste, brummte laut und zustimmend. Einjüngerer Mann, der Tränen der Wut wegblinzelte, sagte: »Das stimmt.« DerHäftling verschwand in der dunklen Zelle, als hätte ihn eine unbekannte Kraftzurückgerissen, vielleicht die Dunkelheit selbst. Alle freien Männer stelltenfest, dass sie woanders etwas zu erledigen hatten.
»Rui«, sagte Joao, »wir gehenbesser.« Rui stand da, die Hände in die Hüften gestemmt, und warf den Kopfzurück wie ein Stierkämpfer. »Es ist vorbei«, sagte Joao. Er fasste Rui amEllbogen und zog ihn fort. Später kam ein Mann auf den Platz und winkte Joao.»Willst du arbeiten?« »Ich mache alles«, sagte Joao. »Bitte.« »Komm mit«, sagteder Mann und drehte sich um. »Mein Freund«, sagte Joao und schaute zu Rui, derpfiff und mit der Ferse gegen die Mauer trat. Der Mann ging weiter. »WartenSie«, rief Joao. »Ich komme.« Er blickte auf und sah Ruis Hut auf einem großenStein liegen, in einem Kreis aus milchigem Licht. Er stellte sich vor, wie Rui dort gesessen und den Hutein letztes Mal abgenommen hatte. Joaos Rückgrat war steif, und in seiner Brustschmerzte es. Er veränderte seine Stellung im feuchten Gras und sah, wiekomisch Ruis Beine dalagen. Seine Hose war mit Schmutz gesäumt. Ein Fuß zeigtenach unten, der andere nach oben. Für uns gibt es kein Entspannen, dachte Joao.Er war wie jeden Donnerstag da gewesen, vor der Junta de Freguesia, um Boule zuspielen. Alle waren da: Jose, Manuel, Nelson, Carlos, Abel und die anderen.
Nur Mario war nicht gekommen, weiler sich die Hüfte gebrochen hatte. »Dieser Manuel«, sagte Rui, »bescheißt dochimmer.« »Dieser Rui«, sagte Manuel, »ist ein dummer Esel.« Alles war so wiewährend der letzten achtzehn Jahre. Damals war Rui nach Mamarrosa gekommen, undJoao und Rui waren die jüngsten gewesen. »Carlos«, sagte Abel, »du wirfst wieeine Frau.« »Halt den Mund«, sagte Carlos, »was weißt du schon von Frauen.« Malhadinhawar die beste Art zu reden. Man rollte die Kugel über den Rasen und dieWorte hinterher. Auf diese Weise mussten sie sich nicht ansehen. Anschließendsperrten sie die Kugeln in der Junta ein und gingen ins Café, um etwas zutrinken.»Meine Enkelin will nach Lissabon«, sagte Jose. »Mein Sohn ist vonLondon nach Glasgow gegangen «, sagte Rui. »Meine Tochter«, sagte Carlos,»sagt, dass sie mich rauswirft, wenn ich nachts noch einmal huste. Aber dassagt sie immer.«
Als es Zeit zum Schlafen war, gingJoao mit Nelson, und Rui ging mit Manuel. Manchmal ging Joao mit Manuel.Manchmal ging er mit Jose oder Antonio oder Mario. Aber in all den Jahren warer nie allein mit Rui gegangen. Joao wollte nicht derjenige sein, der Ruis Frauden Hut brachte. Er überlegte, was er tun sollte. Ein Vogel landete auf derKrempe des Huts. Er war golden mit schwarzem Kopf und schwarzen Beinen. Niezuvor hatte Joao so einen Vogel gesehen, und er deutete ihn als Zeichen, denHut zu behalten. Dann fiel es ihm wieder ein. Ruis Frau, Dona Rosa Maria, warnicht letztes Jahr, sondern schon vor zwei Jahren gestorben. Der Tag, an demsie beerdigt wurde, war glühendheiß gewesen. Der vierte Juli: Gedenktag anIsabella von Portugal, Schutzheilige der schwierigen Ehen und der zu UnrechtBeschuldigten. Als sie sich zum zweiten Mal begegneten, waren sie Männer.
Joao ging an der Parade der Grünhemdenauf der Praca Souza Prado vorbei und stieg die Stufen zur Rua Fortunato SimoesDos Santos hinauf. Er war unterwegs zu seiner bevorzugten Kneipe. Oben an derTreppe drehte er sich um und sah, wie ein Junge sich aus der Reihe löste undden rechten Arm zum berüchtigten Gruß hob. Joao betrat die Bar und sah Rui.Seine Haut war dunkler, und seine Nase war nicht länger schmal (vermutlich warsie gebrochen), aber Joao erkannte Rui, weil mit ihm der Schmerz in seinemBauch zurückgekehrt war. Rui redete, zog alle Anwesenden mit ins Gespräch. »Ichsage nur, dass ein Mann, dem zehntausend Hektar Land oder mehr gehören und derzweimal am Tag sechs Gänge isst, ein Leben im Überfluss führt. Ermahnt unsnicht der Öffentliche Mann selbst, unsere Wünsche zu zügeln?« Rui trug einkariertes Hemd, ein fadenscheiniges Jackett und das Haar gefährlich lang: Keinedrei Zentimeter fehlten bis zum Kragen.
»Niemand kann Salazarwidersprechen.« »Aber du redest wie ein ein « - der Mann Rui gegenübersenkte die Stimme - »wie ein Kommunist.« »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedemnach seinen Bedürfnissen. Das behaupten die doch.« Rui winkte ab. »Werhat schon mal so einen Unsinn gehört? Warum sollte ein Mann gemäß seinenFähigkeiten arbeiten? Warum sollte ein Mann gemäß seinen Bedürfnissen versorgtwerden? Stellt euch vor, was passieren würde, wenn die Leute diesen Unsinnernst nehmen würden! Alvaro Cunhal« - er ließ den Namen des Führers derKommunistischen Partei eine Weile in der Luft hängen - »soll für alle Ewigkeitin seiner Zelle verrotten.« Joao wusste, was Rui tat. So wie die anderen sichbewegten und umschauten, wussten sie es ebenfalls. »Wir stehen auf der anderenSeite«, sagte Rui. Er blickte auf, sah Joao und etwas zog über sein Gesicht. »Schwarzhemden und Grünhemden haltenzusammen.« »Entschuldige«, sagte eine kleine Wühlmaus von einem Mann, »aberbeschuldigst du Salazar des Faschismus?« »Beschuldigen?«, sagte Rui. »Ichbeschuldige ihn überhaupt nicht. 1945, als er anordnete, dass alle Fahnen aufHalbmast gesetzt werden zum Zeichen des Respekts für unseren liebenverschiedenen Hitler, habe ich das begrüßt. Wir haben die Deutschenunterstützt, deswegen war es für uns alle natürlich ein trauriger Tag.« »Abernein«, rief der kleine Mann mit bebenden Lippen, »wir haben niemandenunterstützt.« »Oh«, sagte Rui und fuhrsich über die Nase. »Hatte ich vergessen. Aber trotzdem bin ich traurig, wennman mir sagt, dass ich traurig sein soll.«
© Droemer Knaur
Übersetzung: Anette Grube
- Autor: Monica Ali
- 2006, 1, 331 Seiten, Maße: 13 x 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Grube, Anette
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426197448
- ISBN-13: 9783426197448
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