Alice @ Wonderland
Damit setzt ein reger Mail-Verkehr ein.
Ralf Bunzel und Andreas Gaw sind bereits als Autoren von Drehbüchern und Sketchen erfolgreich.
Alice@Wonderland von Ralf Bunzel und Andreas Gaw
LESEPROBE
TEENAGE MUTANT NINJA THORBEN
Es ist Mittwoch, und ich habe frei! Und das Beste an einemfreien Tag ist, dass man ausschlafen kann. Kein Wecker, keine Hektik, keineStaus, kein anderes Bier. Genau dieser blöde Werbespruch geistert mir durch denKopf, als ich um halb sieben aufwache. Eine Stunde, bevor normalerweise derAlarm losgeht. Ich hab heute frei. Keine Hektik, kein anderes Bier. Ich drehemich um, in dem wohligen Gedanken, mal so richtig auszuschlafen. Und das aneinem Mittwoch, wenn das kein Luxus ist. Bis um sieben versuche ich noch,diesen Gedanken zu genießen. Um halb acht bin ich bereits stinksauer und umacht so wach, wie sonst nur nach dem Sex mit meinem ersten Freund. Der hattedie Angewohnheit, bevor wir miteinander schliefen, mindestens drei TassenKaffee zu trinken. Es muss irgendeinen Zusammenhang gegeben haben ... na ja, jedenfallsbin ich hellwach und denke an Sex. An meinem freien Tag. Allein im Bett. Dagibt es zwei Möglichkeiten, aber ich entscheide mich für die andere.
Ich stehe auf und geh erst mal duschen. Das warme Wasser undmein neues Duschgel mit der belebenden Frische von Limonen, in Kombination mitder ph-neutralen Seife, die irgendein Dermatologe jahrelang an sich getestet hat,bringen mir das »Heute ist mein freier Tag«-Gefühl zurück.
Ich beginne also den Tag so, wie es die modernen, lebensbejahenden,aktiven Frauen in der Werbung tun, die sich doch gleichzeitig ihre Weiblichkeitbewahrt und
den inneren Frieden gefunden haben. Ich ziehe mir mein »Wohlfühl-Sweatshirt«an und mache mir einen halbentkoffeinierten Kaffee, den ich aus einerhellgrünen Tasse trinke. Dazu ein Becher Joghurt mit diesen komischen LC-irgendwas-Kulturen,die klingen wie die Relikte ausgestorbener Aliens vom Planeten Danone. So mussein Tag anfangen. Dann klappt's auch mit dem Nachbarn ... Und während ich nochdarüber nachdenke, ob ich große Teile meines Lebens tatsächlich von Werbungbeeinflussen lasse, bringt mich das Telefon auf den Boden der Realität zurück.Ich schrecke hoch. Das Büro. Aber nicht heute. Nicht an meinem freien Tag,nicht mit mir.
»Hier ist der Anschluss von Alice ...« - mein Band geht ran.Darauf kann ich mich verlassen. Wenn ich keinen Bock auf Anrufe habe, geht meinBand ran. Ich wüsste nicht, was in meinem Leben sonst noch so zuverlässig ist wieder AB. Und ich überlege, wie ich ihn dazu kriegen kann, noch andere Dinge fürmich zu übernehmen. An die Haustür gehen, zum Beispiel. Oder einkaufen, odermit Nina zu telefonieren ...
»Hallo, Alice! Hier ist Nina. Ich weiß, dass du da bist. Duhast heute einen freien Tag. Also geh ran!«
Mist. Ich musste wohl geplappert haben. Was bleibt mir alsoanderes übrig. Ich greife zum Hörer und verspiele damit die Chance auf Ruhe undFrieden. Mal wieder ein Buch lesen, eine Gesichtsmaske auflegen und am Nachmittagauf dem Sofa liegen und blöde Talkshows gucken.
»... und du hast echt sonst niemanden erreicht? Was ist mitRuth?«, wimmere ich mit dem letzten Fünkchen Hoffnung ins Telefon.
Vergebens. Nina hat alles versucht, und ich habe die Arschkarte.Ich lasse mich breitschlagen, an diesem Mittwoch, an meinem Mittwoch, anmeinem freien Mittwoch, auf Thorben-Hendrik aufzupassen. Thorben-Hendrik ist sechsJahre alt und Ninas Unfall von einer Absinth-Party, die Markus damalsveranstaltet hat.
»Nix ist besser als Absinth«, hat Markus immer gesagt. Damitlegt man jede flach. Oder man schneidet sich ein Ohr ab. Je nachdem, wie manveranlagt ist. Markus ist das klassische Großmaul. Fünfzig Prozent seinerGeschichten sind komplett erfunden, und die andere Hälfte ist maßlosübertrieben. Dahinter kommt man allerdings erst, wenn man ihn etwas besserkennt. Ansonsten versteht er es äußerst geschickt, sich zu verkaufen. Bei Ninajedenfalls hat das Aufplustern seiner Schwanzfedern damals hervorragendgeklappt. Was Markus übrigens selbst am meisten überrascht hat. Denn obwohlalle seine Kumpels bis heute der festen Überzeugung sind, mit Absinth habeMarkus schon jede Menge Frauen flachgelegt, war Nina tatsächlich die einzige.
Und als Thorben-Hendrik unterwegs war, haben Markus und Ninageheiratet. In Las Vegas. In der Honeymoon-Wedding-Chapel. Ein Chor vonfünfzehn Elvis-Imitatoren hat gesungen, hundert weiße Tauben sind aufgestiegen,und am Abend nach der Hochzeit hat ein Multimillionär Markus eine MillionDollar für eine Nacht mit Nina geboten. Aber Markus hat abgelehnt. Das ist zumindestdie Geschichte, die seine Kumpels bis heute glauben. Und Nina ist schlau genug,alle Wahrheiten in einem Bankschließfach zu deponieren und zu schweigen. Schließlichhat Markus eine Menge Kohle, und man weiß ja nie, wie lange so eine Ehe hält...
Ich habe noch eine halbe Stunde bis Thorben-Hendrik. GenugZeit für eine weitere Tasse Kaffee und einen Blick in die Amica. Der Countdowntickt, und ich will die letzten dreißig ... neunundzwanzig Minuten meinesfreien Tages nutzen.
Ich erfahre, dass man Parfüm auf seinen Nagellack sprühensoll, solange dieser noch feucht ist, und dass die biologische Uhr der Frauen,die heute zwischen dreißig und vierzig sind, langsamer läuft als die derFrauen, die vor zwanzig Jahren zwischen dreißig und vierzig waren. Ich stutze.Mir wird klar, was das für mich bedeutet: Ich muss den Artikel nochmal lesen,um zu verstehen, was damit gemeint ist. Ich nehme an, man wollte darauf hinaus,dass die Frauen in den 70ern wesentlich jünger waren, wenn sie ihr erstes Kindbekamen. Was ja auch Sinn macht, schließlich ist das schon mehr als einVierteljahrhundert her - natürlich waren die da jünger.
Meine Tante zum Beispiel war zwanzig, als sie ihr erstes Kindbekam. Sie musste sich nicht zwischen Karriere und Familie entscheiden. DieseEntscheidung hat ihr der Typ abgenommen, weil er sie geschwängert hat. Der istübrigens heute noch der beste Kumpel meines Onkels. Damals war es ja auch dashöchste Glück für eine Frau, eine Familie zu gründen.
Ich lehne mich, so gut es ohne umzufallen geht, auf dem Küchenstuhlzurück und beginne zu träumen. Ich ertappe mich dabei, wie ich in Gedanken mitmeinen vier Kindern im Garten spiele und mein Mann, in rosa Kittelschürze gekleidet,die Rasenkantenschere repariert. Und ich ertappe mich dabei, wie ich meinenKaffee in die Untertasse fülle und Zuckerwürfel darin eintauche.
Ich entscheide für mich, dass ich noch genug Zeit haben werde,eine Familie zu gründen, nicht aber mich zu frisieren und zu schminken, bisNina ihren Thorben-Hendrik bei mir abliefert.
Sehr zu meinem Erstaunen fällt dem Kleinen beides nicht auf,als die Haustür hinter Nina ins Schloss kracht. Er bemerkt lediglich, dass ich»Scheiß-Öko-Joghurt« esse und dass der Tigerentenjoghurt viel geiler schmeckt.Außerdem könne man ein Mountainbike gewinnen, wenn man in vier Wochen 800Becher davon verputzt. Na ja, denke ich, es sind nur noch knapp vier Stundenbis ein Uhr, dann ist Nina zurück, und ich kann wieder essen, was ich will.
Thorben Hendrik inspiziert meine Wohnung. Zum Glück habe ichnichts, was das Interesse eines Sechsjährigen wecken würde. Abgesehen von denBleikristallschwänen meiner Mutter, die sich aber sicher mit Pattex wieder klebenlassen, wie mir Thorben-Hendrik sachkundig erklärt.
Bevor wir unsere Erfahrungen als Heimwerker vertiefenkönnen, muss der Kleine aufs Klo. Pflichtbewusst, ich bin ja nun schließlichBabysitter, gehe ich mit. Und als er mir die Badezimmertür vor der Nasezuknallt, bin ich um drei Erfahrungen reicher. Erstens: Sechsjährige tragen in derRegel keine Windeln mehr, die man wechseln muss. Zweitens: Ich sollte michvielleicht ein wenig intensiver mit der Materie beschäftigen, wenn ich michdazu entschließen sollte, selbst einmal Kinder zu kriegen. Und drittens:Thorben-Hendrik hat den längsten Schwanz von allen Jungs in der ersten Klasseder Samuel-IsaackGrundschule. Ich sollte also besser nicht mit ins Badezimmerkommen, wenn ich keinen Schock fürs Leben haben wollte, rät er mir. Ganz derVater.
Während der Junge im Bad lautstark sein Geschäft verrichtet,überlege ich, womit man einen Angeber in seinem Alter bei Laune halten kann.Malen Erstklässler? Lesen sie die Vogue? Oder den Hustler? Irgendwo muss ichnoch meinen alten Kuschelhasen haben, dessen Füllung ich damals an eine Ziegeverfüttert hatte und der jetzt mit löcherigen Strumpfhosen ausgestopft ist.Vielleicht ist das die Idee. Ich kann ihm eigentlich einen Stapel Unterwäsche hinlegen,und er ist für den Rest des Tages beschäftigt. Das hat zumindest bisher bei denmeisten Männern geklappt.
»Haste deine Tage, oder was?«, lärmt es aus dem Bad.
Mein Gott, Thorben-Hendrik hat sich meine Badezimmerkommodevorgenommen. Ich hätte nie geglaubt, dass es mir gelänge, ein Türschloss miteinem verbogenen Kleiderbügel zu öffnen, aber in Momenten akuter Lebensgefahrwächst frau über sich hinaus. Und ich kann eine Katastrophe biblischenAusmaßes gerade noch verhindern. (...)
© Fischer Taschenbuch Verlag 2004
- Autoren: Ralf Bunzel , Andreas M. Gaw
- 2004, 285 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596164400
- ISBN-13: 9783596164400
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