Alles Azzurro
Unter deutschen Campern in Italien
Kaum hat Markus in eine Familie von Camping-Fans eingeheiratet, sitzt er auch schon im Auto zu seinem ersten Wohnwagenurlaub in Italien. Am Strand trifft er sie dann alle: notorische Nackensteak-Griller und Gartenzaun-Aufsteller. Wie kann ein Mann das...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Alles Azzurro “
Kaum hat Markus in eine Familie von Camping-Fans eingeheiratet, sitzt er auch schon im Auto zu seinem ersten Wohnwagenurlaub in Italien. Am Strand trifft er sie dann alle: notorische Nackensteak-Griller und Gartenzaun-Aufsteller. Wie kann ein Mann das alles für seine Liebe ertragen? Die Geschichte einer unglaublichen Integrationsleistung.
Klappentext zu „Alles Azzurro “
Kaum hat Markus in eine Familie von Camping-Fans eingeheiratet, sitzt er auch schon im Auto zu seinem ersten Wohnwagenurlaub in Italien -beladen mit Sonnencreme, Dosenbier und noch mehr Vorurteilen. Am Strand trifft er sie alle: notorische Nackensteak-Griller und Gartenzaun-Aufsteller, die in ihren Wohnmobilen Lindenstraße gucken.Wie kann ein Mann das alles für seine Liebe ertragen? Die Geschichte einer unglaublichen Integrationsleistung.
Lese-Probe zu „Alles Azzurro “
Alles Azzurro von Markus GöttingUno
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Der Sonnenaufgang in der Ferne über dem Apennin. Der blühende Oleander, dessen Duft selbst auf der Autostrada Adriatica durch unser geöffnetes Seitenfenster hereingezogen war. Der Blick über den Lago di Varano hinweg auf das glitzernde Mittelmeer. Das war alles in Ordnung, ja sogar sehr schön. Ich ließ mir auch klaglos im Autogrill den Schreck meines Lebens einjagen, als hinter mir an der Kasse ein Plüschäffchen mit einem Mal blechern lachte.
Aber jetzt habe ich die Faxen dicke. Wenn ich schon in die Urlaubs-Hölle muss, dann will ich nicht noch stundenlang ihren bezaubernden Vorhof bewundern, sondern meinem Schicksal furchtlos ins Auge blicken. Und zwar subito.
Lena und ich waren am frühen Abend aufgebrochen, 1200 Kilometer immer Richtung Süden, bis hinunter an »den Sporn des Stiefels«, wie Lena das auf ihre spezielle Art beschrieben hatte. Das Einzige, was mich neben ein paar Dosen Red Bull die Nacht über wach hielt, war das bedrohliche Schnaufen meines betagten bordeauxroten Fiestas, dessen ehemals stolze Metallic- Lackierung im Laufe der Jahre zu einer stumpfen Außenhaut geworden war; so folienhaft matt wie man es von BMX-X6-Modellen kennt, deren Besitzer auch noch einen Haufen Kohle dafür bezahlen.
Ich hatte den Wagen vor zwei Wochen überhaupt erst nach einer ausgedehnten Suche wiedergefunden, nachdem ich ihn im Frühjahr als hoffnungslos defekt eingeschätzt, achtlos in unserem Viertel abgestellt und dann ein paar Monate lang vergessen hatte. So gesehen war es schon eine ziemlich smarte Idee, am frühen Abend aufzubrechen. Stehst du wenigstens nicht eine Ewigkeit im Megastau vor der Mautstelle. Und kannst dich mit deiner abgerockten 54-PS-Gurke im Schutz der Dunkelheit den Brenner hoch von LKWs überholen lassen, ohne das Gesicht zu verlieren.
Meine kleine subversive Hoffnung war ja, dass der Motor irgendwo hinter Bologna mit einem infernalischen Knall verrecken würde und wir dann doch notgedrungen in eines dieser coolen Boutique-Hotels bei Riccione einchecken könnten. Aber mein alter vierrädriger Gefährte ist verdammt zäh. Oder einfach nur Teil einer miesen Verschwörung, die mich auf diesen Trip geführt hat. Allmählich dämmert mir, dass ich dem Schicksal nicht entkommen werde: meinem allerersten Urlaub auf einem Campingplatz.
Als Kind habe ich Ferien bei bayerischen Bauern gemacht und auf dem Ponyhof. Wir sind mit dem Charter-Bomber in mallorquinische Betonburgen gereist, wo man sich schon beim Einchecken entscheiden musste, in welcher Schicht man zu Mittag- und Abendessen gehen wollte. Das alles habe ich geduldig über mich ergehen lassen. Nun also ein Urlaub im Wohnwagen. Das ist eine dermaßen spezielle Herausforderung - da will ich mir erst gar nicht vorstellen, ihr gewachsen zu sein.
Inzwischen geht es bergauf, bergab durch spitze Serpentinen, die dazu führen, dass mein Gesicht die Farbe der Kreidefelsen von Rügen annimmt. Im Prinzip hätte ich mir sogar Rügen eher gefallen lassen als das hier. Seit einer halben Ewigkeit sind wir nicht mehr durch besiedeltes Gebiet gekommen, ganz zu schweigen von einem Dorf oder sonstigen Anzeichen von Zivilisation. Wir fahren durch ein kleines Wäldchen, noch eine Kurve, dann eine lange Gerade. Links unten die Adria, davor schwindelerregende Klippen. »Daaaa! Da vorne, da ist es!«, kreischt Lena in einer irren Mischung aus Euphorie und Hysterie.
Da vorne. Ein paar weiße Häuschen, die sich inmitten des bewaldeten Nichts auf einem ins Meer ragenden Felsen zu ducken scheinen. Andere Häuser sehen so aus, als würden sie wild durcheinandergewürfelt die Klippen hinunterwachsen. Unterhalb des Ortes glaube ich einen kleinen Hafen zu erkennen. Und einen Strand, auf dem verschiedenfarbige Sonnenschirme vermutlich die jeweilige Zone des Campingplatzes markieren. Immerhin: Nach dröhnendem Massentourismus sieht das nicht gerade aus.
Da ist es also. Sepiana.
Objektiv betrachtet ein Fischerdorf in der apulischen Region Gargano, wo sie früher im Winter wahrscheinlich noch am getrockneten Fisch nagten, so arm waren die hier. Mit »früher« meine ich: vor dem Hereinbrechen des Touristen-Tsunami. Für Lena ist es ihr absoluter Sehnsuchtsort. Ihr ganz persönliches Arkadien, über das sie seit ihrer Kindheit Regalwände voller Tagebücher engzeilig vollgeschrieben hat. Verziert mit allerlei Klebebildchen und niedlichen Zeichnungen.
Vermutlich ist dieses Kaff nicht viel mehr als ein von Pubertätserinnerungen befeuerter Mythos. Aber meine Meinung ist in unserer Beziehung nicht besonders oft gefragt. Und wenn Lena doch mal fragt, hört sie der Antwort schon nicht mehr zu.
Sie fummelt jetzt an ihrem iPhone rum, das sie ans Autoradio angeschlossen hat. Eine Posaunen-Fanfare ertönt, die Stimme von Adriano Celentano, der aber augenblicklich von Lena niedergesungen wird: »Cerco l'estate tutto l'anno / e all'improvviso eccola qua. / Lei è partita per le spiagge / e sono solo quassù in città, / sento fischiare sopra i tetti / un aeroplano che se ne va.« Sie holt kurz Luft, bevor sie erst richtig lostrompetet: »Azzurro, / il pomeriggio è troppo azzurro / e lungo per me. / Mi accorgo / di non avere più risorse, / senza di te, / e allora / io quasi quasi prendo il treno / e vengo, vengo da te, / ma il treno dei desideri / nei miei pensieri all'incontrario va.«
Dann knöpft sie wild schunkelnd ihre Bluse auf, reißt sie sich geschmeidig vom Leib, und im Takt von »Azzurro« lässt sie das Teil über ihrem Kopf kreisen wie Fußballfans nach einem Tor ihren Vereinsschal. Nach dem zweiten Refrain landet die Bluse als Stoff- knüll auf der Rückbank.
Il treno dei desideri - wenn das mal keine klassische Papagallo-Poesie ist. »Der Zug der Begierden«, »Ich komme, komme zu dir«. Himmel! Ich meine, ich mag zwar ein notorischer Nörgler sein und alles, aber auch mir geht manchmal ein bisschen das Herz auf, wenn mir aus der Ferne die Antenne auf dem Kitzbüheler Horn einem Leuchtturm gleich den Weg weist. Und ich liebe Lenas Enthusiasmus, er ist absolut umwerfend - im Moment weiß ich nur noch nicht, ob eher auf mitreißende oder abstoßende Weise.
Lena wippt jetzt im radikalen Urlaubsmodus und weißen Feinripp auf dem Beifahrersitz, und ich muss sagen, dass so ein Unterhemd bei Frauen doch erheblich erotischer wirkt als bei Männern. Wenn mich meine Vorurteile nicht enttäuschen, werde ich in den kommenden drei Wochen noch hinreichend Gelegenheit haben, diese Annahme zu überprüfen.
Drei Wochen Urlaub an einem Ort habe ich seit der Schulzeit nicht mehr verbracht, aber vermutlich werde ich ohnehin mindestens eine Woche brauchen, um mich von dieser Anreisetortur zu erholen. Dabei musste ich nicht mal den Wohnwagen zum Campingplatz schleppen. Das, hat Lena jedenfalls versichert, erledigt irgendein apulischer Bauer aus der Umgebung, bei dem die Kiste immer untergestellt wird, wenn niemand sie braucht. Abgesehen davon, dass mein alter Fiesta mit einem Wohnwagen am Haken garantiert sogar von Traktoren überholt werden würde, macht mir allein die Vorstellung Angst, mit so einem Gespann das schmale Sträßchen zum Campingplatz runterzukurven.
Ein Schild mit der Aufschrift »Campeggio« weist nach links, ich biege ab und schalte die nervige Musik aus, kurbel das Fenster bis ultimo runter und genieße, soweit es die konzentrierte Kurverei zulässt, die vogelgezwitscherfreie Stille des Morgens. Keine zwanzig Kurven sind es von der Hauptstraße bis runter zum Wasser, rechts des Weges ein mächtiger Pinienwald und am Ende der Straße zwei Pfähle mit einem gewaltigen Holzbogen, auf dem wie Hohn »Il Grande Paradiso« steht. Der weißgetünchte Rumpf eines abgetakelten Fischerboots unterteilt die Einfahrt in zwei Spuren: für die Ankömmlinge - und jene, die wieder heimfahren. Dürfen oder müssen. Ich bin da noch nicht sicher.
Lena greift von rechts ins Lenkrad und drückt dreimal energisch auf die Hupe. Derweil ich erfolglos versuche, verschämt im Fußraum abzutauchen.
Aus dem Rezeptionskabuff nähert sich ein Mann von Anfang fünfzig in bequemen schwarzen Ledertretern und einer selbstbewusst den Zeitgeist ignorierenden Jeans. Er trägt ein kurzärmeliges Karo-Hemd über seinem gemütlichen Bäuchlein und schlendert mit albatrosartig ausgebreiteten Armen auf unser Auto zu.
»Lena, come stai?«, ruft er, gefolgt von einer Umarmung, die bei der biblischen Rückkehr des verlorenen Sohnes nicht sehr viel herzlicher ausgefallen sein kann. Dann kurzer, prüfender Blick nach rechts zu mir, woraufhin er Lena skeptisch ansieht. »Che cosa fai? Un altro esperimento?«
Du elender süditalienischer Bauerntölpel, denke ich, das mit dem Experiment habe ich verstanden. Also, rein sprachlich jedenfalls. Die Mitteilungsebene allerdings sollte sich mir erst ein paar Tage später erschließen.
Ein veritabler Sturzbach einheimischer Wörter ergießt sich über Lena. In meinem zweiten Lehrbuch habe ich mich tapfer bis lezzione undici vorgekämpft. Das reicht allerdings nicht ansatzweise, um den Bauern-Dialekt der Region Gargano zu verstehen. Für mich klingt der finstere Akzent Apuliens wie Finnisch. Giovanna, meine Lehrerin, ist eine kulturbegeisterte lombardische Edelfrau. Und die Menschen aus dem Süden nennt sie immer nur verächtlich terrone, was so viel heißt wie »Erdfresser«. Mein Problem ist, dass man hier in Apulien offenbar nicht nur Erde frisst, sondern dazu auch noch jede zweite Silbe eines Wortes verschluckt, quasi als Beilage. Ich verstehe niente. »Das ist Markus«, sagt Lena nicht ohne Stolz, »mein Mann. Wir haben vor einem Monat geheiratet.«
Bis vor fünf Jahren war Lena meine Nachbarin. Sie wohnte im Hochparterre und ich in der zweiten Etage. Wir hatten uns eines Tages an der Mülltonne kennengelernt, was als Ort für ein erstes Treffen vielleicht nicht besonders romantisch ist, aber die Romantik kam dann ja noch. Jedenfalls im Rahmen meiner Möglichkeiten. So wurde also aus der schönen Nachbarin meine Gattin. Und inzwischen wohnen wir in der ersten Etage.
»Ah, was für eine tolle Überraschung«, sagt der Empfangschef und wendet sich nun auch mir zu. Große Albatros-Geste: »Ich bin der Massimo.«
Na Donnerwetter, denke ich, der terrone spricht sogar deutsch, wenn auch mit so einem putzigen Roberto- Begnini-Akzent. Und wie ich das mal in Lektion eins von »Allegro Uno« gelernt habe, erwidere ich ein eher holprig artikuliertes piacere - »sehr erfreut«. Wobei ich es eher stöhne, während mir Massimo mit einem fröhlichen Haifischlächeln die Hand zerquetscht.
»Ich hab euch einen wunderschönen Platz reserviert «, sagt Massimo. »Prima fila«, sagt er bedeutsam zu Lena, und während ich noch darüber rätsele, ob das jetzt ein geheimer Code zwischen den beiden ist, dreht sich Lena zu mir und sagt: »Erste Reihe. Meerblick. Da stehen wir fast auf dem Strand. Wie geil!«
Sollte Massimo verheiratet sein, war er seiner Frisur in den letzten drei Jahrzehnten garantiert treuer als seiner Gattin. Den Style kannte ich jedenfalls bisher nur aus Perückenläden, in denen ich zu Fasching gelegentlich herumstöbere. Er steigt jetzt in seine Ape, so eine Art motorisiertes Dreirad von Piaggio, wie es von Don Camillo gefahren wurde. »Kommt mir hinterher! «
Er knattert einen Hügel zum Meer hinunter, vorbei an Wohnwagen und Zelten und an Badeschlappenmenschen mit aufgeblasenen Gummitieren unter dem Arm. Auf einer Freifläche stehen drei Wohnmobile vom Format eines Reisebusses in U-Form zusammen, zu einer Wagenburg ausgerichtet, als erwarteten die Pilgrim Fathers einen Überfall heulender Indianer.
»Und?«, fragt Lena, dabei sieht sie aus, als würde sie platzen vor Euphorie. »Wie gefällt's dir?«
»Frag mich nächste Woche. Ich bin müde, ich bin wehrlos. Ich habe keine Meinung. Ich will das alles nicht.« »Jammerlappen! Pass auf, am Ende willst du gar nicht mehr weg von hier.«
Eine Bar, zwei Tennisplätze, ein kleines Fußballfeld. Fast wie ein Robinson Club, nur im, sagen wir mal, shabby chic. Massimo tuckert auf eine Wohnwagenkolonie zu, die von einem kleinen Holzpfeil als »Zona Dragone« ausgewiesen wird.
»Die stehen hier enger zusammen als in einer Reihenhaussiedlung, da hörst du doch jede Nacht deinen Nachbarn schnarchen.«
»Wenn, dann ist es doch wohl umgekehrt«, zischt Lena. »Die Nachbarn hören dich.«
Touché. In der Tat, die Leute um uns herum werden mich und meine Terror-Nase noch schneller kennenlernen, als ihnen lieb ist. Mit geröteten Augen und tiefen dunklen Rändern darunter werden sie spätestens übermorgen genervt abreisen. Oder aber mich zum Teufel jagen. Beides wäre mir nur recht.
(c) Ullstein TB Verlag
Der Sonnenaufgang in der Ferne über dem Apennin. Der blühende Oleander, dessen Duft selbst auf der Autostrada Adriatica durch unser geöffnetes Seitenfenster hereingezogen war. Der Blick über den Lago di Varano hinweg auf das glitzernde Mittelmeer. Das war alles in Ordnung, ja sogar sehr schön. Ich ließ mir auch klaglos im Autogrill den Schreck meines Lebens einjagen, als hinter mir an der Kasse ein Plüschäffchen mit einem Mal blechern lachte.
Aber jetzt habe ich die Faxen dicke. Wenn ich schon in die Urlaubs-Hölle muss, dann will ich nicht noch stundenlang ihren bezaubernden Vorhof bewundern, sondern meinem Schicksal furchtlos ins Auge blicken. Und zwar subito.
Lena und ich waren am frühen Abend aufgebrochen, 1200 Kilometer immer Richtung Süden, bis hinunter an »den Sporn des Stiefels«, wie Lena das auf ihre spezielle Art beschrieben hatte. Das Einzige, was mich neben ein paar Dosen Red Bull die Nacht über wach hielt, war das bedrohliche Schnaufen meines betagten bordeauxroten Fiestas, dessen ehemals stolze Metallic- Lackierung im Laufe der Jahre zu einer stumpfen Außenhaut geworden war; so folienhaft matt wie man es von BMX-X6-Modellen kennt, deren Besitzer auch noch einen Haufen Kohle dafür bezahlen.
Ich hatte den Wagen vor zwei Wochen überhaupt erst nach einer ausgedehnten Suche wiedergefunden, nachdem ich ihn im Frühjahr als hoffnungslos defekt eingeschätzt, achtlos in unserem Viertel abgestellt und dann ein paar Monate lang vergessen hatte. So gesehen war es schon eine ziemlich smarte Idee, am frühen Abend aufzubrechen. Stehst du wenigstens nicht eine Ewigkeit im Megastau vor der Mautstelle. Und kannst dich mit deiner abgerockten 54-PS-Gurke im Schutz der Dunkelheit den Brenner hoch von LKWs überholen lassen, ohne das Gesicht zu verlieren.
Meine kleine subversive Hoffnung war ja, dass der Motor irgendwo hinter Bologna mit einem infernalischen Knall verrecken würde und wir dann doch notgedrungen in eines dieser coolen Boutique-Hotels bei Riccione einchecken könnten. Aber mein alter vierrädriger Gefährte ist verdammt zäh. Oder einfach nur Teil einer miesen Verschwörung, die mich auf diesen Trip geführt hat. Allmählich dämmert mir, dass ich dem Schicksal nicht entkommen werde: meinem allerersten Urlaub auf einem Campingplatz.
Als Kind habe ich Ferien bei bayerischen Bauern gemacht und auf dem Ponyhof. Wir sind mit dem Charter-Bomber in mallorquinische Betonburgen gereist, wo man sich schon beim Einchecken entscheiden musste, in welcher Schicht man zu Mittag- und Abendessen gehen wollte. Das alles habe ich geduldig über mich ergehen lassen. Nun also ein Urlaub im Wohnwagen. Das ist eine dermaßen spezielle Herausforderung - da will ich mir erst gar nicht vorstellen, ihr gewachsen zu sein.
Inzwischen geht es bergauf, bergab durch spitze Serpentinen, die dazu führen, dass mein Gesicht die Farbe der Kreidefelsen von Rügen annimmt. Im Prinzip hätte ich mir sogar Rügen eher gefallen lassen als das hier. Seit einer halben Ewigkeit sind wir nicht mehr durch besiedeltes Gebiet gekommen, ganz zu schweigen von einem Dorf oder sonstigen Anzeichen von Zivilisation. Wir fahren durch ein kleines Wäldchen, noch eine Kurve, dann eine lange Gerade. Links unten die Adria, davor schwindelerregende Klippen. »Daaaa! Da vorne, da ist es!«, kreischt Lena in einer irren Mischung aus Euphorie und Hysterie.
Da vorne. Ein paar weiße Häuschen, die sich inmitten des bewaldeten Nichts auf einem ins Meer ragenden Felsen zu ducken scheinen. Andere Häuser sehen so aus, als würden sie wild durcheinandergewürfelt die Klippen hinunterwachsen. Unterhalb des Ortes glaube ich einen kleinen Hafen zu erkennen. Und einen Strand, auf dem verschiedenfarbige Sonnenschirme vermutlich die jeweilige Zone des Campingplatzes markieren. Immerhin: Nach dröhnendem Massentourismus sieht das nicht gerade aus.
Da ist es also. Sepiana.
Objektiv betrachtet ein Fischerdorf in der apulischen Region Gargano, wo sie früher im Winter wahrscheinlich noch am getrockneten Fisch nagten, so arm waren die hier. Mit »früher« meine ich: vor dem Hereinbrechen des Touristen-Tsunami. Für Lena ist es ihr absoluter Sehnsuchtsort. Ihr ganz persönliches Arkadien, über das sie seit ihrer Kindheit Regalwände voller Tagebücher engzeilig vollgeschrieben hat. Verziert mit allerlei Klebebildchen und niedlichen Zeichnungen.
Vermutlich ist dieses Kaff nicht viel mehr als ein von Pubertätserinnerungen befeuerter Mythos. Aber meine Meinung ist in unserer Beziehung nicht besonders oft gefragt. Und wenn Lena doch mal fragt, hört sie der Antwort schon nicht mehr zu.
Sie fummelt jetzt an ihrem iPhone rum, das sie ans Autoradio angeschlossen hat. Eine Posaunen-Fanfare ertönt, die Stimme von Adriano Celentano, der aber augenblicklich von Lena niedergesungen wird: »Cerco l'estate tutto l'anno / e all'improvviso eccola qua. / Lei è partita per le spiagge / e sono solo quassù in città, / sento fischiare sopra i tetti / un aeroplano che se ne va.« Sie holt kurz Luft, bevor sie erst richtig lostrompetet: »Azzurro, / il pomeriggio è troppo azzurro / e lungo per me. / Mi accorgo / di non avere più risorse, / senza di te, / e allora / io quasi quasi prendo il treno / e vengo, vengo da te, / ma il treno dei desideri / nei miei pensieri all'incontrario va.«
Dann knöpft sie wild schunkelnd ihre Bluse auf, reißt sie sich geschmeidig vom Leib, und im Takt von »Azzurro« lässt sie das Teil über ihrem Kopf kreisen wie Fußballfans nach einem Tor ihren Vereinsschal. Nach dem zweiten Refrain landet die Bluse als Stoff- knüll auf der Rückbank.
Il treno dei desideri - wenn das mal keine klassische Papagallo-Poesie ist. »Der Zug der Begierden«, »Ich komme, komme zu dir«. Himmel! Ich meine, ich mag zwar ein notorischer Nörgler sein und alles, aber auch mir geht manchmal ein bisschen das Herz auf, wenn mir aus der Ferne die Antenne auf dem Kitzbüheler Horn einem Leuchtturm gleich den Weg weist. Und ich liebe Lenas Enthusiasmus, er ist absolut umwerfend - im Moment weiß ich nur noch nicht, ob eher auf mitreißende oder abstoßende Weise.
Lena wippt jetzt im radikalen Urlaubsmodus und weißen Feinripp auf dem Beifahrersitz, und ich muss sagen, dass so ein Unterhemd bei Frauen doch erheblich erotischer wirkt als bei Männern. Wenn mich meine Vorurteile nicht enttäuschen, werde ich in den kommenden drei Wochen noch hinreichend Gelegenheit haben, diese Annahme zu überprüfen.
Drei Wochen Urlaub an einem Ort habe ich seit der Schulzeit nicht mehr verbracht, aber vermutlich werde ich ohnehin mindestens eine Woche brauchen, um mich von dieser Anreisetortur zu erholen. Dabei musste ich nicht mal den Wohnwagen zum Campingplatz schleppen. Das, hat Lena jedenfalls versichert, erledigt irgendein apulischer Bauer aus der Umgebung, bei dem die Kiste immer untergestellt wird, wenn niemand sie braucht. Abgesehen davon, dass mein alter Fiesta mit einem Wohnwagen am Haken garantiert sogar von Traktoren überholt werden würde, macht mir allein die Vorstellung Angst, mit so einem Gespann das schmale Sträßchen zum Campingplatz runterzukurven.
Ein Schild mit der Aufschrift »Campeggio« weist nach links, ich biege ab und schalte die nervige Musik aus, kurbel das Fenster bis ultimo runter und genieße, soweit es die konzentrierte Kurverei zulässt, die vogelgezwitscherfreie Stille des Morgens. Keine zwanzig Kurven sind es von der Hauptstraße bis runter zum Wasser, rechts des Weges ein mächtiger Pinienwald und am Ende der Straße zwei Pfähle mit einem gewaltigen Holzbogen, auf dem wie Hohn »Il Grande Paradiso« steht. Der weißgetünchte Rumpf eines abgetakelten Fischerboots unterteilt die Einfahrt in zwei Spuren: für die Ankömmlinge - und jene, die wieder heimfahren. Dürfen oder müssen. Ich bin da noch nicht sicher.
Lena greift von rechts ins Lenkrad und drückt dreimal energisch auf die Hupe. Derweil ich erfolglos versuche, verschämt im Fußraum abzutauchen.
Aus dem Rezeptionskabuff nähert sich ein Mann von Anfang fünfzig in bequemen schwarzen Ledertretern und einer selbstbewusst den Zeitgeist ignorierenden Jeans. Er trägt ein kurzärmeliges Karo-Hemd über seinem gemütlichen Bäuchlein und schlendert mit albatrosartig ausgebreiteten Armen auf unser Auto zu.
»Lena, come stai?«, ruft er, gefolgt von einer Umarmung, die bei der biblischen Rückkehr des verlorenen Sohnes nicht sehr viel herzlicher ausgefallen sein kann. Dann kurzer, prüfender Blick nach rechts zu mir, woraufhin er Lena skeptisch ansieht. »Che cosa fai? Un altro esperimento?«
Du elender süditalienischer Bauerntölpel, denke ich, das mit dem Experiment habe ich verstanden. Also, rein sprachlich jedenfalls. Die Mitteilungsebene allerdings sollte sich mir erst ein paar Tage später erschließen.
Ein veritabler Sturzbach einheimischer Wörter ergießt sich über Lena. In meinem zweiten Lehrbuch habe ich mich tapfer bis lezzione undici vorgekämpft. Das reicht allerdings nicht ansatzweise, um den Bauern-Dialekt der Region Gargano zu verstehen. Für mich klingt der finstere Akzent Apuliens wie Finnisch. Giovanna, meine Lehrerin, ist eine kulturbegeisterte lombardische Edelfrau. Und die Menschen aus dem Süden nennt sie immer nur verächtlich terrone, was so viel heißt wie »Erdfresser«. Mein Problem ist, dass man hier in Apulien offenbar nicht nur Erde frisst, sondern dazu auch noch jede zweite Silbe eines Wortes verschluckt, quasi als Beilage. Ich verstehe niente. »Das ist Markus«, sagt Lena nicht ohne Stolz, »mein Mann. Wir haben vor einem Monat geheiratet.«
Bis vor fünf Jahren war Lena meine Nachbarin. Sie wohnte im Hochparterre und ich in der zweiten Etage. Wir hatten uns eines Tages an der Mülltonne kennengelernt, was als Ort für ein erstes Treffen vielleicht nicht besonders romantisch ist, aber die Romantik kam dann ja noch. Jedenfalls im Rahmen meiner Möglichkeiten. So wurde also aus der schönen Nachbarin meine Gattin. Und inzwischen wohnen wir in der ersten Etage.
»Ah, was für eine tolle Überraschung«, sagt der Empfangschef und wendet sich nun auch mir zu. Große Albatros-Geste: »Ich bin der Massimo.«
Na Donnerwetter, denke ich, der terrone spricht sogar deutsch, wenn auch mit so einem putzigen Roberto- Begnini-Akzent. Und wie ich das mal in Lektion eins von »Allegro Uno« gelernt habe, erwidere ich ein eher holprig artikuliertes piacere - »sehr erfreut«. Wobei ich es eher stöhne, während mir Massimo mit einem fröhlichen Haifischlächeln die Hand zerquetscht.
»Ich hab euch einen wunderschönen Platz reserviert «, sagt Massimo. »Prima fila«, sagt er bedeutsam zu Lena, und während ich noch darüber rätsele, ob das jetzt ein geheimer Code zwischen den beiden ist, dreht sich Lena zu mir und sagt: »Erste Reihe. Meerblick. Da stehen wir fast auf dem Strand. Wie geil!«
Sollte Massimo verheiratet sein, war er seiner Frisur in den letzten drei Jahrzehnten garantiert treuer als seiner Gattin. Den Style kannte ich jedenfalls bisher nur aus Perückenläden, in denen ich zu Fasching gelegentlich herumstöbere. Er steigt jetzt in seine Ape, so eine Art motorisiertes Dreirad von Piaggio, wie es von Don Camillo gefahren wurde. »Kommt mir hinterher! «
Er knattert einen Hügel zum Meer hinunter, vorbei an Wohnwagen und Zelten und an Badeschlappenmenschen mit aufgeblasenen Gummitieren unter dem Arm. Auf einer Freifläche stehen drei Wohnmobile vom Format eines Reisebusses in U-Form zusammen, zu einer Wagenburg ausgerichtet, als erwarteten die Pilgrim Fathers einen Überfall heulender Indianer.
»Und?«, fragt Lena, dabei sieht sie aus, als würde sie platzen vor Euphorie. »Wie gefällt's dir?«
»Frag mich nächste Woche. Ich bin müde, ich bin wehrlos. Ich habe keine Meinung. Ich will das alles nicht.« »Jammerlappen! Pass auf, am Ende willst du gar nicht mehr weg von hier.«
Eine Bar, zwei Tennisplätze, ein kleines Fußballfeld. Fast wie ein Robinson Club, nur im, sagen wir mal, shabby chic. Massimo tuckert auf eine Wohnwagenkolonie zu, die von einem kleinen Holzpfeil als »Zona Dragone« ausgewiesen wird.
»Die stehen hier enger zusammen als in einer Reihenhaussiedlung, da hörst du doch jede Nacht deinen Nachbarn schnarchen.«
»Wenn, dann ist es doch wohl umgekehrt«, zischt Lena. »Die Nachbarn hören dich.«
Touché. In der Tat, die Leute um uns herum werden mich und meine Terror-Nase noch schneller kennenlernen, als ihnen lieb ist. Mit geröteten Augen und tiefen dunklen Rändern darunter werden sie spätestens übermorgen genervt abreisen. Oder aber mich zum Teufel jagen. Beides wäre mir nur recht.
(c) Ullstein TB Verlag
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Autoren-Porträt von Markus Götting
Götting, MarkusMarkus Götting, Jahrgang 1971, lebt in München. Nach Stationen bei der Süddeutschen Zeitung, dem SZ-Magazin und dem stern ist er seit 2014 Textchef beim Focus. Seine Bestseller "Nachts im Sägewerk" und "Alles Azzurro" sind beide bei Ullstein erschienen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Markus Götting
- 2012, 7. Aufl., 272 Seiten, Maße: 12,1 x 18,9 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: Ullstein TB
- ISBN-10: 354837431X
- ISBN-13: 9783548374314
- Erscheinungsdatum: 08.06.2012
Rezension zu „Alles Azzurro “
"Perfektes Strandbuch" Bild Zeitung 20120702
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