Alles Zirkus
Roman
Trixi und Walter sind lange verheiratet. Er arbeitet in einer Werbeagentur, sie will Dokumentarfilme fürs Fernsehen machen, die jedoch auf mäßiges Interesse stoßen. "Luxusprobleme!", denkt Walter, denn er trägt nicht nur den harten Alltag auf den Schultern,...
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Produktinformationen zu „Alles Zirkus “
Klappentext zu „Alles Zirkus “
Trixi und Walter sind lange verheiratet. Er arbeitet in einer Werbeagentur, sie will Dokumentarfilme fürs Fernsehen machen, die jedoch auf mäßiges Interesse stoßen. "Luxusprobleme!", denkt Walter, denn er trägt nicht nur den harten Alltag auf den Schultern, sondern bemerkt auch als Einziger, wie die Wirtschaftskrise die Welt in einen Zirkus verwandelt hat. Wie kann er der weltfremden Bildernärrin endlich beibringen, dass uns das Wasser bis zum Halse steht? Mit Sprachwitz und spielerischer Ironie erzählt Lars Brandt die Geschichte eines Paars, das sich zur Wirtschaftskrise noch seine eigene erschafft.
Lese-Probe zu „Alles Zirkus “
Alles Zirkus von Lars BrandtDie Rakete
Leben in der Wand, oder was? Wühlt sich da etwa ein Tier durch die Mauer? Hinter der Tapete raschelt es um die beiden sinnlosen Nagellöcher herum. Jetzt zwischen den Steinen ein Rauschen. Man sieht so einer Wand ja nicht an, was sich in ihr eigentlich abspielt. Auf der anderen Seite steht Trixis Mann. Wie an jedem Morgen ist Walter als erster im Bad. Er besitzt die irritierende Angewohnheit, mit dem Wasserhahn so umzugehen, dass es überall klappert und jault, sie fragt sich, auf welche Weise er das anstellt. Wenn sie sich im Badezimmer aufhält, klebt der Spiegel geräuschlos auf den Kacheln.
Falls sie mit Walter frühstücken will, muss sie jetzt langsam aufstehen. Beim Gang in die Küche hört sie ihn das Rasiermesser auf dem Streichriemen abziehen. Zu Hause in Südtirol ließen sich manche Bauern, die zum Markt in die Stadt kamen, vom Friseur rasieren, und der schärfte sein Messer auf dieselbe Weise, nur leiser. Stefta sagen die Leute im Gadertal zu Nägeln, oder agut, wenn es sich um lange Eisennägel handelt. So viel hat sie behalten. Und Löcher, wie heißen die auf Ladinisch? Sie weiß es nicht mehr. Die beiden hässlichen Punkte drüben in der Wand - sie schreibt Zahnpasta auf einen Zettel.
Vor zwanzig Jahren, als Filmstudentin, fuhr sie ab und zu durch die Alpen heimwärts. Beim Blick aus dem Zugfens ter ließ sie im Kopf die Kamera laufen und drehte einen Film im Stil der alten Wochenschauen - mit flackerndem Licht, der pathetischen Stimme des Kommentators, jagenden Streichern und blechernen Fanfaren. Schwarzwei- ße Bilder von Städten und Bergen, vom Treiben auf den Straßen, in den Orten, auf den Feldern und im Wald. Am Himmel türmten sich dramatisch die Wolken.
Aus dem Badezimmer kommt ein Fluch. Sie blieb in München, als das Studium hinter ihr lag, kam dort wenig später
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in einer kleinen Filmproduktion unter, wo sie für alles zuständig war und vergeblich hoffte, endlich selbst einen Film machen zu können. Wie der auszusehen hätte, wusste sie: Definierte Bilder und Töne, die sich mit eigener Notwendigkeit zu einem neuen Ganzen zusammensetzen und eben dadurch etwas zeigen von der Wirklichkeit. Walter arbeitete zu jener Zeit noch als Ingenieur. Und die Filme, für die er sich besonders interessierte, liefen in Programmkinos. Die wenigen Zuschauer, die dort regelmäßig erschienen und sich ganze Reihen über das polnische Avantgardekino der sechziger Jahre oder den italienischen Neorealismus ansahen, kannten nach einiger Zeit die Gesichter der anderen. Aus der Tiefe des dunklen Kinosaals war manchmal ein Lachen aufgestiegen, an Stellen, wo außer ihr selber niemand lachte. Wenn später das Licht anging, sah sie irgendwo in einer hinteren Reihe lächelnde Augen unter rotem Stoppelhaar und einen hochgeschlagenen Jackettkragen. Einmal war nichts komisch gewesen, aber die geheime Verbindung brauchte diese Brücke nicht mehr, sie hatte seinen Suchscheinwerferblick aufgefangen, dann waren sie zusammen aus dem Kino gegangen und hatten in einer Bar gemerkt, wie sie sich von Minute zu Minute heftiger ineinander verliebten. Trixi hatte daraufhin eine Woche mit Fieber im Bett gelegen.
Als sie wieder auf den Beinen war, sagte er, dass er nur in München bleiben könne, wenn sie als Paar zusammenlebten. Er wusste, was er wollte, und benötigte nicht viele Worte. Es war klar, was mit ihnen geschehen war. Also gaben sie ihre beiden Einzelwohnungen auf und suchten eine größere. Alles in Walters Wesen hatte deutliche Kontur, und ihr gab das ein sicheres Gefühl. Abends holte er sie oft von der Arbeit ab, sie aßen eine Pizza und gingen ins Kino. Auf dem Weg sprach er ab und zu einen Vers von Shakespeare vor sich hin, als wäre der eine englische Schlagerzeile, er konnte die Sonette auswendig. Ab und zu wurde Trixi von einem Thema so gepackt, dass sie sich über einen Film Gedanken machte. Aber man war weit davon entfernt, sie wirklich daran arbeiten zu lassen. Sie hatte Unterkünfte für Teams auf Reisen zu organisieren oder Drehpläne abzustimmen und höchstens die Vorstellungen anderer zu beurteilen, über die diskutiert wurde. Während sie sich also mit ihren Ideen fürs Filmemachen erst richtig beschäftigte, wenn sie die Firma verlassen hatte, ließ Walter alles, was ihn beruflich beschäftigte, konsequent im Büro zurück und trat aus dem einen in den anderen Flügel seiner Existenz. Das Rauschen der Isar drang zu ihnen hoch, wenn er spät das Schlafzimmerfenster öffnete.
In einer dieser Sommernächte über der Isar wurde Trixi durch sein lautes Gelächter wach. Walter war nachmittags von einer Reise in die Tropen zurückgekehrt. Er war am Bau einer Rakete beteiligt gewesen, und seine Firma hatte ihn zum Start nach Südamerika geschickt. Wachgehalten vom Wechsel der Zeitzonen, zufrieden an ihrer Seite liegend, aber trotzdem nicht ganz bei ihr, war er plötzlich vom Motorengetöse auf den Straßen an die Brandung des Atlantiks erinnert worden und hatte zu lachen begonnen. Und gerade dann erzählte er auf einmal aus seiner Techniker- Welt, von der er sonst alles für sich behielt, irgendetwas, das sie nicht verstand: von plumpen Tanks, von einem Fremdenlegionär, vom Urwald, von der Explosion am Himmel. In der nächsten Zeit entdeckte Walter immer mehr Seiten an seinem Beruf, die ihn störten. Einmal kritisierte er betriebliche Abläufe, das andere Mal den unbeholfenen Umgangsstil hochqualifizierter Quadratschädel, wenn sie eine Minute nicht mit jenen Problemen zu tun hatten, die sie so virtuos zu lösen verstanden. Als ihm Mirko Zabel anbot, in seine Werbeagentur einzusteigen - ein Freund, der sich schon lange fragte, ob Walter nicht im falschen Beruf arbeitete -, griff er zu. Überrascht erlebte Trixi, dass Walter seine Existenz als Ingenieur in einem großen Metallwerk ablegte wie einen verschlissenen Mantel. Einige Jahre diente er Zabel als Informationsbeschaffer, Infobroker, wie sie es nannten. Es machte Spaß, Walter recherchierte kreuz und quer und konnte seine analytischen Fähigkeiten darauf verwenden, den Kern jeder Sache herauszuarbeiten, um ihn sauber präpariert auf den Konferenztisch bei München leuchtet (so hieß die Agentur) zu legen. Inzwischen aber waren die besten Textideen oft von ihm. Vor einigen Jahren hatte Mirko Zabel Bayern den Rücken gekehrt und am Oberrhein eine neue Agentur eröffnet, Walter war als Kreativdirektor mitgegangen. Die Firma war nun Zabel und Freunde benannt.
Trixi und Walter besitzen eine große Wohnung. Es herrscht kein Mangel an Platz, nur an Freunden. Für Trixis Arbeit ist es gleich, an welchem Ort sie wohnen. Inzwischen macht sie ihre eigenen Filme. Sie reist viel und sieht sich um. Wo sie abfährt, spielt dabei keine große Rolle. Dass sich Zahnpasta eignet, kleine Löcher in weißen Wänden zu stopfen, hat sie in einer Kölner Galerie beobachtet, wo zum Ausstellungsende eine junge Frau mit Tube in der Hand durch die Räume ging und danach alles wieder aussah wie neu. Vorhin im Bett hat Walter wissen wollen, was sie so komisch finde, und sie hat ihm ein paar Zeilen aus dem Buch vorgelesen: »Offenbar hatte der Zirkus auf seinem Weg nach Fialta eine Vorausabteilung vorgeschickt: Eine Reklameprozession zog vorüber. Die vergoldete Rückwand eines Gefährts entschwand, ein Mann im Burnus führte ein Kamel, vier hintereinander gehende mittelmäßige Indianer trugen an Stangen Plakate, und hinter ihnen saß dank einer Sondererlaubnis der kleine Sohn eines Touristen im Matrosenanzug andächtig auf einem winzigen Pony.« Er hat sie nur gequält angesehen, nichts gesagt und ist aufgestanden. Endlich kommt er aus dem Bad. Während der Kaffee in die Glaskanne tröpfelt, schneidet Trixi rohe Niere auf, die sie Bob auf den Boden stellt. Walter tritt mit der ersten Tasse hinaus auf den kleinen Küchenbalkon. Er hat einen blutgetränkten Fetzen Klopapier auf der Wange. Wie aus Blei gegossen steht er jetzt dort in der grauen Morgenluft, starrt vor sich hin und bietet dem Nebel die Stirn. Da- hinter türmen sich, nur für ihn selbst zu ahnen, die bunten Bausteine einer ungeordneten Welt. Walter nippt am dampfenden Kaffee und geht hinein, gehüllt in einen Pelz aus kalter Luft, der sich schnell auflöst, während er am Tisch sitzt und Trixi zulächelt. Vom Küchenboden steigt beißend der Gestank der Niere auf. Er sagt leise ein paar Worte über die Schwierigkeiten, denen sie infolge der Wirtschaftskrise ausgesetzt sind. Immerhin lebt die Agentur davon, dass es anderen, die etwas anzubieten haben, gutgeht. Er ist nicht enttäuscht, als er merkt, dass Trixi mit ihren eigenen Gedanken anderswo ist. Erzählte er ihr etwas über sein Leben, über das Glück, das ihn durch sie erfüllt, wäre sie nicht so abwesend. Sie träumt vor sich hin - bis ein großer Knall dem ein Ende setzt.
Tatsächlich nimmt Trixi nur einen Teil von dem auf, was er in halbdeutliche Sätze gepackt von sich gibt. Das alles kennt sie nämlich schon. Bitteres Gerede, nichts als verbale Galle - eigene Kraftvergeudung und Behinderung für sie. Ihm allzu sehr zuzuhören kann sie sich gar nicht erlauben, weil niemand hinter ihr steht, der sie aufrichten und in schöpferische Laune zurückversetzen wird, wenn Walter in seine geschniegelte Firma verschwunden ist, die ihm jeden Morgen erst einmal beweist, welchen Erfolg er trotz allem hat. Sie hingegen ist auf sich selbst gestellt. In ihren Gedanken geht es um ganz andere Fragen: Wie kann sie einen Dokumentarfilm über einen Maler drehen, der nicht mehr am Leben ist und den sie deshalb nicht mehr befragen kann? Auf welche Weise lassen sich seine Bilder abfilmen? Und wer ist in der Lage, das zu machen? Trixi trinkt etwas von ihrem grünen Tee und steckt sich eine Clea an. Der Rauch schwebt über dem Tisch. Sie hat keinen Hunger. Bilder fliegen durch ihren Kopf, Männer und Frauen, geometrische Körperteile, gemalt in klaren Farben.
Walter nimmt nichts von alledem wahr, es geht an ihm spurlos vorbei, während er weiter seine apokalyptischen Stimmungsberichte aus dem Innenleben der Weltwirtschaft in die Kaffeetasse haucht. »Dieses Leben ist eine einzige Zumutung, ohne Freunde, immer nur arbeiten, Tanz ums Goldene Kalb, das längst zum Gerippe aus Bimsstein abgemagert ist, du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr mir das alles hier zum Hals heraushängt «, flüstert er nach einiger Zeit unvermittelt, und da sie nur schweigt, setzt er nach: »Druck und Hetzjagd nach Erfolg, bis weit über die Grenze des Erträglichen. Aber du verfügst ja Gott sei Dank über genug pompöses Gerede zwischen zwei Buchdeckeln, an dem du dich erfreuen kannst.«
Hinter all seinen Worten sieht Trixi immer wieder nur, wie ein Rasiermesser durch einen Augapfel gezogen wird. Sie versucht ihre Gedanken auf die Frage zu richten, worum es eigentlich geht auf den Bildern dieses Malers, in den intensivfarbigen Kompositionen, die abstrakte Flächenverhältnisse und stilisierte Körperlichkeit vereinen, samt lustvoll ausgeführten Attributen aus Leder und Schnallen, die man anfassen zu können glaubt.
Walter ist noch nicht am Ziel: »Die Lage, in der ich bin - in der die Welt ist! -, verlangt mir alles ab«, haucht er scharf, »alles, mehr als zu ertragen ist.« Er spricht wie zu sich selbst, als bemühe er sich nach Kräften, seine Frau, die ihm am Frühstückstisch gegenübersitzt, mit allem zu verschonen, was seine Existenz belastet. Plötzlich sieht er ihr in die Augen, lässt den letzten süßen Schluck auf dem Boden der Tasse rotieren und sagt im Tonfall nüchterner Betrachtung: »Die Wochen fliegen vorüber. Das Leben zieht dahin. Rauscht fort. Prasselt auf uns nieder, die Frage ist nur, zu welchem Gully es einen gerade fortspült.«
Wenn er so anfängt, weiß Trixi, noch während er es ausspricht, was nun mit unerbittlicher Konsequenz folgt, so wie ein oben auf der Treppe fallen gelassener Ball niemals auf der zweiten Stufe liegenbleibt. Am Abend, spätestens am nächsten Morgen, ist das Sumpfgas aus seinem Kopf entwichen, sein Gemüt hellt sich auf. All das hat keinen Einfluss auf den Lauf der Welt. Nur der Kalender muss umgeblättert werden, ein weiterer Tag ist dann vorbei.
© Carl Hanser Verlag, München
Als sie wieder auf den Beinen war, sagte er, dass er nur in München bleiben könne, wenn sie als Paar zusammenlebten. Er wusste, was er wollte, und benötigte nicht viele Worte. Es war klar, was mit ihnen geschehen war. Also gaben sie ihre beiden Einzelwohnungen auf und suchten eine größere. Alles in Walters Wesen hatte deutliche Kontur, und ihr gab das ein sicheres Gefühl. Abends holte er sie oft von der Arbeit ab, sie aßen eine Pizza und gingen ins Kino. Auf dem Weg sprach er ab und zu einen Vers von Shakespeare vor sich hin, als wäre der eine englische Schlagerzeile, er konnte die Sonette auswendig. Ab und zu wurde Trixi von einem Thema so gepackt, dass sie sich über einen Film Gedanken machte. Aber man war weit davon entfernt, sie wirklich daran arbeiten zu lassen. Sie hatte Unterkünfte für Teams auf Reisen zu organisieren oder Drehpläne abzustimmen und höchstens die Vorstellungen anderer zu beurteilen, über die diskutiert wurde. Während sie sich also mit ihren Ideen fürs Filmemachen erst richtig beschäftigte, wenn sie die Firma verlassen hatte, ließ Walter alles, was ihn beruflich beschäftigte, konsequent im Büro zurück und trat aus dem einen in den anderen Flügel seiner Existenz. Das Rauschen der Isar drang zu ihnen hoch, wenn er spät das Schlafzimmerfenster öffnete.
In einer dieser Sommernächte über der Isar wurde Trixi durch sein lautes Gelächter wach. Walter war nachmittags von einer Reise in die Tropen zurückgekehrt. Er war am Bau einer Rakete beteiligt gewesen, und seine Firma hatte ihn zum Start nach Südamerika geschickt. Wachgehalten vom Wechsel der Zeitzonen, zufrieden an ihrer Seite liegend, aber trotzdem nicht ganz bei ihr, war er plötzlich vom Motorengetöse auf den Straßen an die Brandung des Atlantiks erinnert worden und hatte zu lachen begonnen. Und gerade dann erzählte er auf einmal aus seiner Techniker- Welt, von der er sonst alles für sich behielt, irgendetwas, das sie nicht verstand: von plumpen Tanks, von einem Fremdenlegionär, vom Urwald, von der Explosion am Himmel. In der nächsten Zeit entdeckte Walter immer mehr Seiten an seinem Beruf, die ihn störten. Einmal kritisierte er betriebliche Abläufe, das andere Mal den unbeholfenen Umgangsstil hochqualifizierter Quadratschädel, wenn sie eine Minute nicht mit jenen Problemen zu tun hatten, die sie so virtuos zu lösen verstanden. Als ihm Mirko Zabel anbot, in seine Werbeagentur einzusteigen - ein Freund, der sich schon lange fragte, ob Walter nicht im falschen Beruf arbeitete -, griff er zu. Überrascht erlebte Trixi, dass Walter seine Existenz als Ingenieur in einem großen Metallwerk ablegte wie einen verschlissenen Mantel. Einige Jahre diente er Zabel als Informationsbeschaffer, Infobroker, wie sie es nannten. Es machte Spaß, Walter recherchierte kreuz und quer und konnte seine analytischen Fähigkeiten darauf verwenden, den Kern jeder Sache herauszuarbeiten, um ihn sauber präpariert auf den Konferenztisch bei München leuchtet (so hieß die Agentur) zu legen. Inzwischen aber waren die besten Textideen oft von ihm. Vor einigen Jahren hatte Mirko Zabel Bayern den Rücken gekehrt und am Oberrhein eine neue Agentur eröffnet, Walter war als Kreativdirektor mitgegangen. Die Firma war nun Zabel und Freunde benannt.
Trixi und Walter besitzen eine große Wohnung. Es herrscht kein Mangel an Platz, nur an Freunden. Für Trixis Arbeit ist es gleich, an welchem Ort sie wohnen. Inzwischen macht sie ihre eigenen Filme. Sie reist viel und sieht sich um. Wo sie abfährt, spielt dabei keine große Rolle. Dass sich Zahnpasta eignet, kleine Löcher in weißen Wänden zu stopfen, hat sie in einer Kölner Galerie beobachtet, wo zum Ausstellungsende eine junge Frau mit Tube in der Hand durch die Räume ging und danach alles wieder aussah wie neu. Vorhin im Bett hat Walter wissen wollen, was sie so komisch finde, und sie hat ihm ein paar Zeilen aus dem Buch vorgelesen: »Offenbar hatte der Zirkus auf seinem Weg nach Fialta eine Vorausabteilung vorgeschickt: Eine Reklameprozession zog vorüber. Die vergoldete Rückwand eines Gefährts entschwand, ein Mann im Burnus führte ein Kamel, vier hintereinander gehende mittelmäßige Indianer trugen an Stangen Plakate, und hinter ihnen saß dank einer Sondererlaubnis der kleine Sohn eines Touristen im Matrosenanzug andächtig auf einem winzigen Pony.« Er hat sie nur gequält angesehen, nichts gesagt und ist aufgestanden. Endlich kommt er aus dem Bad. Während der Kaffee in die Glaskanne tröpfelt, schneidet Trixi rohe Niere auf, die sie Bob auf den Boden stellt. Walter tritt mit der ersten Tasse hinaus auf den kleinen Küchenbalkon. Er hat einen blutgetränkten Fetzen Klopapier auf der Wange. Wie aus Blei gegossen steht er jetzt dort in der grauen Morgenluft, starrt vor sich hin und bietet dem Nebel die Stirn. Da- hinter türmen sich, nur für ihn selbst zu ahnen, die bunten Bausteine einer ungeordneten Welt. Walter nippt am dampfenden Kaffee und geht hinein, gehüllt in einen Pelz aus kalter Luft, der sich schnell auflöst, während er am Tisch sitzt und Trixi zulächelt. Vom Küchenboden steigt beißend der Gestank der Niere auf. Er sagt leise ein paar Worte über die Schwierigkeiten, denen sie infolge der Wirtschaftskrise ausgesetzt sind. Immerhin lebt die Agentur davon, dass es anderen, die etwas anzubieten haben, gutgeht. Er ist nicht enttäuscht, als er merkt, dass Trixi mit ihren eigenen Gedanken anderswo ist. Erzählte er ihr etwas über sein Leben, über das Glück, das ihn durch sie erfüllt, wäre sie nicht so abwesend. Sie träumt vor sich hin - bis ein großer Knall dem ein Ende setzt.
Tatsächlich nimmt Trixi nur einen Teil von dem auf, was er in halbdeutliche Sätze gepackt von sich gibt. Das alles kennt sie nämlich schon. Bitteres Gerede, nichts als verbale Galle - eigene Kraftvergeudung und Behinderung für sie. Ihm allzu sehr zuzuhören kann sie sich gar nicht erlauben, weil niemand hinter ihr steht, der sie aufrichten und in schöpferische Laune zurückversetzen wird, wenn Walter in seine geschniegelte Firma verschwunden ist, die ihm jeden Morgen erst einmal beweist, welchen Erfolg er trotz allem hat. Sie hingegen ist auf sich selbst gestellt. In ihren Gedanken geht es um ganz andere Fragen: Wie kann sie einen Dokumentarfilm über einen Maler drehen, der nicht mehr am Leben ist und den sie deshalb nicht mehr befragen kann? Auf welche Weise lassen sich seine Bilder abfilmen? Und wer ist in der Lage, das zu machen? Trixi trinkt etwas von ihrem grünen Tee und steckt sich eine Clea an. Der Rauch schwebt über dem Tisch. Sie hat keinen Hunger. Bilder fliegen durch ihren Kopf, Männer und Frauen, geometrische Körperteile, gemalt in klaren Farben.
Walter nimmt nichts von alledem wahr, es geht an ihm spurlos vorbei, während er weiter seine apokalyptischen Stimmungsberichte aus dem Innenleben der Weltwirtschaft in die Kaffeetasse haucht. »Dieses Leben ist eine einzige Zumutung, ohne Freunde, immer nur arbeiten, Tanz ums Goldene Kalb, das längst zum Gerippe aus Bimsstein abgemagert ist, du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr mir das alles hier zum Hals heraushängt «, flüstert er nach einiger Zeit unvermittelt, und da sie nur schweigt, setzt er nach: »Druck und Hetzjagd nach Erfolg, bis weit über die Grenze des Erträglichen. Aber du verfügst ja Gott sei Dank über genug pompöses Gerede zwischen zwei Buchdeckeln, an dem du dich erfreuen kannst.«
Hinter all seinen Worten sieht Trixi immer wieder nur, wie ein Rasiermesser durch einen Augapfel gezogen wird. Sie versucht ihre Gedanken auf die Frage zu richten, worum es eigentlich geht auf den Bildern dieses Malers, in den intensivfarbigen Kompositionen, die abstrakte Flächenverhältnisse und stilisierte Körperlichkeit vereinen, samt lustvoll ausgeführten Attributen aus Leder und Schnallen, die man anfassen zu können glaubt.
Walter ist noch nicht am Ziel: »Die Lage, in der ich bin - in der die Welt ist! -, verlangt mir alles ab«, haucht er scharf, »alles, mehr als zu ertragen ist.« Er spricht wie zu sich selbst, als bemühe er sich nach Kräften, seine Frau, die ihm am Frühstückstisch gegenübersitzt, mit allem zu verschonen, was seine Existenz belastet. Plötzlich sieht er ihr in die Augen, lässt den letzten süßen Schluck auf dem Boden der Tasse rotieren und sagt im Tonfall nüchterner Betrachtung: »Die Wochen fliegen vorüber. Das Leben zieht dahin. Rauscht fort. Prasselt auf uns nieder, die Frage ist nur, zu welchem Gully es einen gerade fortspült.«
Wenn er so anfängt, weiß Trixi, noch während er es ausspricht, was nun mit unerbittlicher Konsequenz folgt, so wie ein oben auf der Treppe fallen gelassener Ball niemals auf der zweiten Stufe liegenbleibt. Am Abend, spätestens am nächsten Morgen, ist das Sumpfgas aus seinem Kopf entwichen, sein Gemüt hellt sich auf. All das hat keinen Einfluss auf den Lauf der Welt. Nur der Kalender muss umgeblättert werden, ein weiterer Tag ist dann vorbei.
© Carl Hanser Verlag, München
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Autoren-Porträt von Lars Brandt
Lars Brandt, 1951 in Berlin geboren, lebt in Bonn. Er ist Filmemacher, bildender Künstler und Autor. 2001 erschien H.C. Artmann - Ein Gespräch, 2006 folgte im Hanser Verlag Andenken, 2008 der Roman Gold und Silber und 2012 Alles Zirkus.
Bibliographische Angaben
- Autor: Lars Brandt
- 2012, 224 Seiten, Maße: 13,7 x 20,9 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: HANSER
- ISBN-10: 3446238506
- ISBN-13: 9783446238503
- Erscheinungsdatum: 06.02.2012
Rezension zu „Alles Zirkus “
"Doch der Roman ist nicht trübsinnig, sondern lebt von feinem Humor und scharfen Beobachtungen - ein wirklich lesenswertes, etwas anderes Krisenbuch." Regina Krieger, Handelsblatt, 10.02.12"Wie sich Gereiztheiten, kleine Ärgernisse und Unterstellungen zu einem Berg wechselseitiger Vorwürfe auftürmen ..., das zeigt dieser fein gearbeitete Roman auf unterhaltsame Weise." Meike Fessmann, Süddeutsche Zeitung, 14.02.12
"Brandt beweist seine Klasse, indem er dies (die Handlung) mit leichter Hand inszeniert und gleichzeitig einen Hauch von Künstlichkeit darüberlegt..." Tilman Spreckelsen, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 11.03.12
"Es sind die Kleinigkeiten, die Genauigkeiten, die Nebensätze, die dieses Buch so besonders machen. Manche Passagen liest man zweimal, weil sie so schön und voll sind." Lea Thies, Augsburger Allgemeine, 10.03.12
"Die kühle, exakt notierte Chronologie eines schleichenden Untergangs" Stern, 15/2012
"Gerade durch den aktuellen wirtschaftlichen Bezug gelingt Brandt in "Alles Zirkus" ein spannender Blick auf immerwährende Themen der Selbstreflexion und des Hinterfragens." Benjamin Leidenberger, Schwäbische Post, 24.05.12
"Ein sprachsensibles Psychogramm der Krisen-Verunsicherung." Westfalenpost, 25.05.12
Kommentar zu "Alles Zirkus"
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