Am Strand
Ian McEwan ist bekannt für seinen unaufdringlichen, psychologischen Blick auf die Dinge. Präzise und mit kühler Distanz schildert er diese missglückte Hochzeitsnacht, nach der nichts mehr ist, wie es war. »Am Strand« ist kein Sittengemälde einer vergangenen Epoche, sondern die Tragikomödie zweier Liebender, die sich so nahe sind, aber nicht zueinander kommen können.
»Faszinierend, verstörend, zwingend!« (Times Literary Supplement)
Ian McEwan, geboren 1948 in Hampshire, erhielt zahlreiche Auszeichnungen und viele seiner Romane wurden verfilmt. McEwans Bestseller »Abbitte« gilt heute schon als Klassiker der Weltliteratur.
Am Strand von Ian McEwan
LESEPROBE
Eins
Sie warenjung, gebildet und in ihrer Hochzeitsnacht beide noch unerfahren, auch lebtensie in einer Zeit, in der Gespräche über sexuelle Probleme schlicht unmöglichwaren. Einfach sind sie nie. In der Hochzeitssuite eines georgianischenLandhaushotels setzte sich das Brautpaar zum Abendessen an den Tisch. Nebenansah man durch die offene Tür ein ziemlich schmales Himmelbett, dessen Überwurfso makellos weiß und so erstaunlich glatt gestrichen war, als hätte ihn nieeine Menschenhand berührt. Edward erwähnte mit keinem Wort, daßer zum ersten Mal in einem Hotel übernachtete, wohingegen Florence, die ihrenVater als Kind auf vielen Reisen begleitet hatte, als Dame von Welt geltenkonnte. Auf den ersten Blick schienen sie beide gehobener Stimmung zu sein.Ihre Hochzeit in der Kirche St. Mary in Oxford war reibungslos verlaufen, derGottesdienst erbaulich gewesen, der Empfang vergnügt,der Abschied von Studien- und Schulfreunden fröhlich und turbulent. Anders alsbefürchtet, hatten sich die Eltern von Florence nicht herablassend gegenüberEdwards Eltern benommen, und Edwards Mutter war auch nicht aus der Rollegefallen, hatte sogar den Anlaß der Feier nichtvöllig vergessen. In einem kleinen Auto, das der Mutter von Florence gehörte,waren die Frischvermählten davongefahren und am frühen Abend im Hotel an derKüste von Dorset angekommen, das Wetter ließ sich zwar weder den Umständenangemessen noch ideal für Mitte Juli nennen, war aber ganz passabel: Es regnetenicht, doch fand Florence es auch nicht warm genug, um auf der Terrasse vor demHaus zu essen, was sie eigentlich gern getan hätten. Edward war andererAnsicht, aber viel zu rücksichtsvoll, als daß er auchnur daran gedacht hätte, ihr zu widersprechen, schon gar nicht an diesem Abend.
Also aßen sie aufihrem Zimmer - die Glastür einen Spalt geöffnet, so daßsie auf den Balkon sehen konnten, auf den Ärmelkanal und den endlosenKieselstrand von Chesil Beach. Von einem Servierwagenim Flur bedienten sie zwei junge Männer im Smoking, bei deren Kommen und Gehendurch die Hochzeitssuite die gebohnerten Eichendielen in der Stille komischknarrten. Der stolze, fürsorgliche Bräutigam aber achtete eifersüchtig darauf, daß die Bewegungen und Mienen der Bediensteten nur ja keineBelustigung verrieten. Er hätte nicht das leiseste Kichern geduldet. Doch dieBurschen aus dem nahe gelegenen Dorf bedienten sie mit gebeugtem Rücken undverschlossenem Gesicht; ihr Benehmen wirkte zaghaft, und ihre Hände zitterten,wenn sie etwas auf dem gestärkten Leinentischtuch abstellten. Sie waren selbstnervös.
In der Geschichte derenglischen Kochkunst war dies nicht gerade eine ruhmreiche Zeit, doch bis aufBesucher aus dem Ausland störte sich damals niemand daran. Und wie seinerzeitso viele Festessen begann auch dieses Dinner mit je einem Stück Melone,verziert von einer einzigen Cocktailkirsche. Im Kerzenlicht derWarmhalteplatten warteten auf silbernen Tellern bereits seit längerem gebrateneRindfleischscheiben in einer Mehlschwitze, dazu gab es weichgekochtesGemüse und bläulich schimmernde Kartoffeln. Der Weißwein kam aus Frankreich,woher genau, war nicht zu erkennen, da das Etikett einzig eine pfeilschnelleSchwalbe zierte. Einen Rotwein zu bestellen wäre Edward nicht in den Sinngekommen.
Während nun Edward und Florencesehnsüchtig darauf warteten, daß die Kellner sieallein ließen, wandten sie sich auf ihren Stühlen dem Ausblick zu undbetrachteten den breiten, moosigen Rasenstreifen mit der dahinterliegendenWildnis blühender Bäume und Büsche, die sich an die steile Küstenböschungklammerten. Sie konnten einige schlammige Stufen erkennen, einen Pfad, gesäumtvon in die Höhe geschossenen Gewächsen, die wie gigantischer Rhabarber oderRiesenkohl aussahen und deren Stengel sich unter demGewicht dunkler, dickadriger Blätter beugten. Inganzer Pracht breitete sich der Garten vor ihnen aus, sinnlich, beinahetropisch, eine üppige Fülle in dem grauen, weichen Licht vor dem hauchzartenDunstschleier über dem Meer, das in stetigem Wechsel von Angriff und Rückzugwie leiser Donner grollte und dann wieder über die Kiesel zischelte. Nach demEssen wollten sie ihr festes Schuhwerk anziehen und auf der berühmten Landzungevon Chesil Beach zwischen dem offenen Meer und derFleet-Lagune spazierengehen.Sollten sie den Wein bis dahin noch nicht ausgetrunken haben, würden sie ihnmitnehmen und sich wie verwegene Seeräuber gelegentlich einen Schluck aus derFlasche gönnen.
Sie hatten so vielePläne, hochfliegende Pläne für die neblig verhangeneZukunft, vielfältig ineinander verwoben wie die Sommerflora an der Küste vonDorset - und ebenso schön: wo und wie sie leben wollten, wer ihre engstenFreunde sein würden, seine Stelle in der Firma ihres Vaters, ihre musikalischeKarriere und was sie mit dem Geld anfangen würden, das Florence von ihrem Vatergeschenkt bekommen hatte, aber auch, warum sie nicht wie andere Leute seinwollten, innerlich jedenfalls nicht. Zu jener Zeit - sie würde später in diesemlegendären Jahrzehnt zu Ende gehen - empfand man Jungsein noch als Bürde, alsein Kainsmal der Bedeutungslosigkeit, einen leicht peinlichen Zustand, der mitder Hochzeit ein Ende fand. Einander beinahe fremd standen sie in nochungewohnter Zweisamkeit vor einem Höhepunkt ihres Lebens, froh, daß ihr neuer Status versprach, sie von ihrer ewigen Jugendzu erlösen - Edward und Florence, endlich frei! Dabei gehörte die Kindheit zuden Themen, über die sie sich gern unterhielten, doch drehten sich ihreGespräche weniger um deren Freuden als um den Nebel komischer Mißverständnisse, aus dem sie nun aufgetaucht waren, dieüberholten Erziehungsmethoden und die vielen Irrtümer ihrer Eltern, die sieihnen nun vergeben konnten.
Von ihrer neuen Höheherab hatten sie eine klare Sicht, doch konnten sie einander gewisse sichwiderstreitende Empfindungen nicht beschreiben: Beide fürchteten auf je eigeneWeise jenen Moment nach dem Abendessen, in dem ihre neugewonneneReife auf die Probe gestellt werden sollte und sie sich voreinander vollständigentkleiden würden, um gemeinsam ins Himmelbett zu steigen. Seit mehr als einemJahr war Edward von dem Gedanken daran wie benommen, daßder empfindlichste Teil seiner selbst an einem bestimmten Tag im Juli für einegewisse Zeit, und sei sie noch so kurz, in der natürlichen Höhlung dieserfröhlichen, liebenswerten und so außerordentlich intelligenten Frau weilenwürde. Die Frage, wie dies ohne Enttäuschungen oder Peinlichkeiten zubewerkstelligen war, ließ ihm keine Ruhe. Dabei rührten seine Bedenken voreiner möglichen Übererregung, dem, was jemand einmal »zu früh kommen« genannthatte, von einem einzigen unglückseligen Vorfall her. Schon der bloße Gedankedaran verfolgte ihn, doch so große Angst er auch vor dem Versagen hatte, seinVerlangen nach Glückseligkeit, nach dem Ende aller Zweifel, war weit größer.
Die Sorgen vonFlorence wogen schwerer, so schwer, daß sie auf demWeg von Oxford nach Dorset immer wieder kurz davor gewesen war, all ihren Mutzusammenzuraffen und sich Edward anzuvertrauen. Doch was sie beunruhigte, ließsich nicht in Worte fassen; sie konnte es sich selbst kaum verständlich machen.Während Edward bloß an der üblichen Nervosität vor der ersten Nacht litt,plagte Florence eine tiefsitzende Furcht, einhilfloser Widerwille so heftig wie die Seekrankheit. Eine Zeitlang- während allder Monate, in denen sie voller Vorfreude ihre Hochzeit planten - gelang esihr, diesen Schatten über ihrem Glück zu ignorieren, doch sooft sie sich inGedanken jener engen Umarmung näherte - wie sie es lieber nannte -, zog sichihr der Magen zusammen, und sie spürte Brechreiz in sich aufsteigen. In einemfortschrittlichen, modernen, für angehende Bräute angeblich hilfreichen, infröhlichem Ton verfaßten Handbuch mit vielenAusrufezeichen und numerierten Illustrationen war sieauf Übelkeit erregende Worte und Wendungen gestoßen: Schleimhaut etwa oder das bösartig glitzernde Wort Penisspitze. Andere Ausdrückebeleidigten ihre Intelligenz, vor allem jene, bei denen es ums Eindringen ging:Kurz bevor er in sie eindringt ...oder nun endlich dringt er in sie einund erlöst läßtsie, gleich nachdem er in sie eingedrungen ist ... Wurde von ihr etwaerwartet, daß sie sich in dieser Nacht für Edward inein Portal verwandelte, eine Art Vorhalle, durch die er Einzug hielt? Vor allemein Wort schien ihr nichts als Schmerz zu verheißen: Penetration, ein Wort, als ob jemand Fleisch mit einem Messerzerteilte.
In optimistischerenMomenten redete sie sich ein, sie leide bloß an einer ausgeprägten Form vonÜberempfindlichkeit, die sich gewiß bald legte.Allerdings ließ allein der Gedanke an Edwards unter dem erigierten Penis - noch so ein abscheulicher Ausdruck - baumelndeHoden ihre Oberlippe zittern; und schon die bloße Vorstellung, »da unten« vonjemandem angefaßt zu werden, und sei es von dem Mann,den sie liebte, fand sie ebenso widerwärtig wie etwa den Gedanken an eineAugenoperation. Babys aber waren von ihrer Überempfindlichkeit ausgenommen. Siehatte Kinder gern, hatte sich gelegentlich auch schon um die kleinen Jungenihrer Kusine gekümmert und durchaus Gefallen an ihrer Aufgabe gefunden. Eswürde ihr sicherlich gefallen, von Edward schwanger zu sein, und zumindesttheoretisch hatte sie auch keine Angst vor der Geburt. Wenn sie doch bloß wiedie Jungfrau Maria durch ein Wunder in diesen anschwellenden Leibeszustandversetzt werden könnte.
Florence vermutete, daß mit ihr irgend etwasgrundsätzlich nicht stimmte, daß sie schon immeranders gewesen war und daß diese Andersartigkeit nunzutage trat. Ihr Problem war größer, sinnierte sie, es reichte tiefer alsunmittelbarer, physischer Ekel; ihr ganzes Sein rebellierte bei dem Gedanken annackte Haut und körperliche Liebe; es war ein Angriff auf ihre Person, ihreninnersten Seelenfrieden. Sie wollte einfach nicht, daßin sie »eingedrungen«, daß sie »penetriert« wurde.Sex mit Edward konnte nicht der Gipfel ihrer Freuden, sondern nur der Preissein, den sie zahlen mußte.
Sie hätte längst mitihm reden müssen, das wußte sie, schon als er ihr denAntrag machte und noch vor dem Besuch beim freundlichen Pfarrer mit der sanftenStimme und vor den Essen bei ihren jeweiligen Eltern, auch lang ehe dieHochzeitsgäste eingeladen, die Geschenklisten zusammengestellt und bei einemWarenhaus hinterlegt, das große Zelt sowie der Fotograf bestellt und all dieübrigen nicht mehr rückgängig zu machenden Vorkehrungen getroffen worden waren.Aber was hätte sie schon sagen, welche Worte wählen können, da sie sich dasProblem doch nicht einmal selbst zu erklären wußte?Außerdem liebte sie Edward, zwar nicht mit jener heißen, schwülen Leidenschaft,von der sie gelesen hatte, doch tief und innig, manchmal wie eine Tochter, dannwieder fast mütterlich. Sie hielt ihn gern umschlungen, und es gefiel ihr,seine kräftigen Arme um ihre Schultern zu spüren und von ihm geküßt zu werden, auch wenn sie seine Zunge in ihrem Mundnicht mochte, was sie ihm übrigens wortlos zu verstehen gegeben hatte. Siefand, er war einzigartig, anders als alle Männer, die sie kannte. Für den Fall,daß er in einem Wartezimmer sitzen oder in einerSchlange anstehen mußte, hatte er in seinerJackentasche stets ein Taschenbuch dabei, meist eines über Geschichte. Was erlas, unterstrich er mit einem Bleistiftstummel. Er war fast der einzige Mannaus ihrer Bekanntschaft, der nicht rauchte. Nie paßtenseine Socken zusammen. Und er besaß nur einen einzigen Schlips, schmal,gestrickt, dunkelblau, den er nur umtat, wenn er ein weißes Hemd anhatte. Siemochte seinen wachen Verstand, seine Zuvorkommenheit,den leicht ländlichen Akzent sowie seinen kräftigen Händedruck, und sie mochtees, wenn er im Gespräch abschweifte und sie auf verblüffende Umwege lockte.Wenn sie redete und er sie dabei mit seinen sanften braunen Augen ansah, fühltesie sich wie in einer lichten Wolke der Liebe geborgen. Folglich zweifelte sieim Alter von zweiundzwanzig Jahren auch nicht daran, daßsie den Rest ihres Lebens mit Edward Mayhewverbringen würde. Wie hätte sie es da riskieren können, ihn zu verlieren?
Es gab niemanden, mitdem sie reden konnte. Ruth, ihre Schwester, war zu jung und ihre zweifelloswundervolle Mutter viel zu intellektuell, zu spröde, ein altmodischerBlaustrumpf. Wenn Violet mit einem intimen Problem konfrontiert wurde,flüchtete sie sich in ihre Dozentenrolle, gebrauchte zunehmend längere Worteund verwies auf Bücher, die man ihrer Meinung nach gelesen haben sollte. Erstwenn sie die knifflige Angelegenheit damit für geregelt hielt, gestattete siesich bisweilen ein freundliches Wort, wenn auch selten, und meist war manhinterher auch nicht klüger als vorher. Bei ihren Freundinnen im Musikkollegund an der Universität stellte sich Florence das gegenteilige Problem: Sieliebten es, sich endlos über Intimes auszulassen, und schwelgten in ihrenSchwierigkeiten. Außerdem kannten sie sich viel zu gut und bombardierteneinander geradezu mit Anrufen und Briefen. Doch auch wenn sie ihren Freundinnenkein Geheimnis anvertrauen konnte, machte sie ihnen dasnicht zum Vorwurf, sie gehörte ja selbst zur Clique und hätte sich selbst auchnichts anvertraut. Sie war allein mit einem Problem, für das sie keine Lösungkannte, doch vielleicht half ihr das Handbuch weiter. Dessen grellroter Einbandzeigte ein lächelndes, Händchen haltendes Strichmännchenpaar mit kugelrundenAugen, eine weiße Kreidezeichnung, so naiv gemalt wie von einem unschuldigenKind.
© Diogenes Verlag
Übersetzung: BernhardRobben
- Autor: Ian McEwan
- 2007, 1, 206 Seiten, Leinen, Deutsch
- Übersetzung: Robben, Bernhard
- Verlag: Diogenes
- ISBN-10: 3257066074
- ISBN-13: 9783257066074
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