Amelie und die Sturmzeit von Valfleur
Amélie d' Emprenvil ist eine schöne, lebenshungrige junge Frau. Doch die Revolution bricht in die Idylle ihres Landschlosses Valfleur ein und raubt Amélie alle Menschen, die sie liebt - ihre Eltern und ihren Ehemann. In...
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Weltbild Ausgabe
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Produktinformationen zu „Amelie und die Sturmzeit von Valfleur “
Amélie d' Emprenvil ist eine schöne, lebenshungrige junge Frau. Doch die Revolution bricht in die Idylle ihres Landschlosses Valfleur ein und raubt Amélie alle Menschen, die sie liebt - ihre Eltern und ihren Ehemann. In größter Gefahr rettet sie Fabre d'Eglantine. An seiner Seite kämpft sie nun um ihr Glück.
Lese-Probe zu „Amelie und die Sturmzeit von Valfleur “
Amélie und die Sturmzeit von Valfleur von Nora BergerCopyright © 2012 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Mädchenjahre
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Valfleur - Sommer 1787
»Amélie... Amélie!« Die hohe, in der heißen Mittagsglut gedämpft klingende Stimme durchtönte weich die Luft, in der jedes Geräusch verstummt war. Sogar die Vögel hatten vor Hitze ermattet unter den Bäumen die Flügel sinken lassen.
Mit raschen Schritten und suchendem Blick eilte eine schmale Gestalt über den Kiesweg, der sich zwischen Büschen und Bäumen durchschlängelte. Das blasse Gesicht der jungen Frau, umrahmt von dichtem, braunem, zu einem Knoten geschlungenen Haar, wandte sich besorgt nach rechts und nach links; ihr Blick versuchte, durch die Brombeersträucher zu dringen, und ging aufmerksam über die blühenden Rosenstöcke und duftenden Jasminsträucher hinweg. In dem dichten Gewirr verfing sich ihr Rock immer wieder an einem der Sträucher; dann befreite sie sich mit kleinen, ärgerlichen Ausrufen vorsichtig von den Hindernissen. Der Park, der das Schloss von Valfleur umgab, war zwar wohl gepflegt, aber in seiner augenscheinlichen Wildnis entsprach er ganz und gar nicht der Mode seiner Zeit, die einer geordneten Sanftheit und symmetrischen Übersichtlichkeit den Vorzug gab.
Erleichtert trat die junge Frau endlich aus den Sträuchern heraus auf die schattige Allee, die an dieser Stelle einen kleinen Teich einfasste. Aus dessen Mitte ergoss sich das Wasser über terrassenförmige Steinschalen kaskadenförmig hinab. Vom Brunnen aus konnte man am Ende der fächerförmigen, leicht ansteigenden Wege das helle Schlossgebäude erkennen. Die breiten Türme stammten aus dem 14. Jahrhundert und bildeten mit den Anbauten aus anderen Epochen ein reizvolles Ensemble. Errichtet auf der höchsten Erhebung des Anwesens, bot sich dem Auge ein zauberhafter Blick über das malerische Tal. Die pappelgesäumte Allee führte zu den Feldern und in das kleine Dorf, dessen steiler Backsteinkirchturm sich über die wenigen Häuser reckte.
»Amélie... so antworte doch!«, rief die Gouvernante erneut und ließ sich erschöpft von Hitze und Anstrengung auf einem Stein nieder. Dann tauchte sie ihr Taschentuch in das kühle Nass und presste es an die Stirn. Es war wirklich keine einfache Aufgabe, die Kinder des Barons d'Emprenvil zu beaufsichtigen. »Amélie...« Der letzte Ton erstarb in einem Seufzer. Mademoiselle Dernier wusste sehr wohl, dass das widerspenstige Mädchen sich irgendwo hinter einem Strauch versteckt hielt, um sie ein wenig zu necken. Für einige Augenblicke ließ sie versonnen das Handgelenk von dem kühlen, rinnenden Wasser umspielen, ehe sie sich langsam erhob, um zum Schloss zurückzugehen. Es war sinnlos, weiter nach Amélie zu suchen, wahrscheinlich beobachtete sie das kleine Biest und amüsierte sich auf ihre Kosten. Nun gut, man würde sich ohne sie zum Essen setzen - mochte Madame d'Emprenvil das Unmögliche fertigbringen und ihre Tochter zum Gehorsam erziehen.
In der Lauheit des friedlich scheinenden Sommertags war nichts zu spüren von der Missernte, dem Hunger des vergangenen Jahres, der die Bauern revoltieren ließ. Das Land war seit Ludwig XV. hoffnungslos verschuldet, und das veraltete Finanzsystem bot keinerlei Aussicht auf Besserung.
Als der Finanzminister Necker bei einer öffentlichen Bilanz offengelegt hatte, dass der Hofstaat des amtierenden Königs Ludwig XVI. jährlich 62 Millionen Livres verschlang, hatten die geknechteten, von Abgaben erdrückten Bürger zum ersten Mal öffentlich protestiert. Seitdem gärte es im Lande, die Preise stiegen, aber die Löhne reichten nicht mehr zum Leben. Die Bauern, denen auch noch das Letzte genommen wurde, schielten auf die Besitztümer der Adeligen, die auf ihre alten Rechte pochten.
Doch an diesem Tag trübte in Valfleur kein Misston die scheinbar friedliche Stille des viel zu trockenen Sommers. Im Schloss, dem Sommersitz des Barons Charles d'Emprenvil, Rat im Parlament von Paris, und seiner Familie ging das Leben seinen Gang wie eh und je. Amélie beobachtete, wie Mademoiselle Dernier im Schloss verschwand. Dann dehnte und streckte sie sich und klappte das Buch zu, in das sie sich den ganzen Vormittag über vertieft hatte. Es war eines jener erotischen Werke der Zeit, die man im hintersten Winkel der Bibliothek verschämt vor unliebsamen Lesern verbarg. Doch das junge Mädchen, eine Leseratte, brannte darauf, das Leben in all seinen Facetten kennenzulernen, und fühlte sich gerade von dieser Art Lektüre magisch angezogen. Um ganz ungestört zu sein, hatte sie sich an ihrem Lieblingsplatz, einer von blühenden Sträuchern nahezu überwachsenen Lichtung verkrochen.
Immer wieder legte sie das Buch beiseite und beobachtete versonnen das Leben der Insekten; eine Ameise, die geschäftig umherkrabbelte, einen Käfer, der sich emsig mit dem Bau einer Höhle abmühte, und die Bienen, die an den süß duftenden Blüten sogen. Ach, wie herrlich war es, im Sommer diese Freiheit zu genießen, statt bei trüben Lehrstunden in der Stube zu sitzen. Das Knurren ihres Magens erinnerte sie an das Mittagessen, das sie gerade dabei war zu versäumen.
Sie erhob sich, schüttelte ihr langes, kastanienbraunes Haar, in dem helle Reflexe spielten, zurück und strich das weiße Baumwollkleid glatt. Das Buch verbarg sie unter ihrem Rockbund, dann bog sie die Zweige auseinander, die hinter ihr zusammenschlugen, und trat auf den Kiesweg, der zum Schloss führte.
Amélie gelang es, ungesehen ins Haus zu schlüpfen und das verbotene Buch unauffällig an seinen Platz in der Bibliothek zu stellen. Mit gespielter Gelassenheit, den schnellen Atem mit einer unschuldigen Miene überspielend, trat sie ins Esszimmer, in dem die Familie sich zum Mittagessen versammelt hatte. Man nahm kaum Notiz von ihr, nur Mademoiselle Dernier, die Gouvernante, sah sie überrascht an, während sie dem kleinen Christoph in seinem Babystühlchen einen Löffel Suppe einflößte.
»Wo hast du denn gesteckt, Amélie? Ich habe dich überall gesucht. Du warst wie vom Erdboden verschluckt.« Das Mädchen lächelte ihr komplizenhaft zu und wandte sich an ihre Mutter. »Entschuldige Mama, ich habe über dem Lesen die Zeit ganz vergessen...«
Laura d'Emprenvil warf ihr einen zerstreuten, missbilligenden Blick zu. »Wie siehst du nur wieder aus! Wie eine zerzauste Straßenkatze. Wo, um Himmels willen, treibst du dich eigentlich immer herum, statt dass du deine Klavierübungen machst oder dich mit anderen nützlichen Dingen beschäftigst...«
»Ja, Mama«, murmelte Amélie. Während ihre Gedanken in andere Richtungen gingen, floss die leise Stimme ihrer Mutter an ihrem Ohr vorüber: »...nicht einmal kannst du pünktlich zu den Mahlzeiten erscheinen, wo du weißt, dass gerade heute...« »Ja, Mama«, wiederholte Amélie und begann, hastig die Suppe zu löffeln. Laura schüttelte den Kopf und tupfte sich mit der Serviette die Lippen ab. Selbst an diesem heißen Sommertag strahlte sie die perfekte, kühle Schönheit einer Porzellanpuppe aus. Ihr elfenbeinfarbener Teint und die dunklen, unergründlichen Augen unter zart geschwungenen Brauen bildeten einen reizvollen Kontrast zu der roten Haarfülle, die im Nacken zu einem Chignon geschlungen war. Ihr Dekolleté umgab ein Kranz von weißen Seidenrosen, und das weiße Chiffonkleid schmeichelte ihrer zierlichen Figur, der man die vier Kinder nicht ansah.
»Patrick, bitte!«, rügte sie ihren ältesten Sohn, der unter dem Tisch seiner vierzehnjährigen Schwester Isabelle einen Fußtritt verpasste, weil sie ihm den Rest des Kirschsafts weggetrunken hatte. Isabelle schrie leise auf, rieb sich den Knöchel und setzte dann ihre Märtyrerinnenmiene auf. Sie war ein überschlankes Mädchen mit anämischem Teint, blassgrauen Augen und aschblonden Haaren, die ihr bis über den Rücken reichten. Christoph schrie aus Leibeskräften und spuckte den Pudding aus, weil er lieber nach dem glitzernden Kristall eines Glases greifen wollte. Die Gouvernante, seit einigen Jahren in der Familie d'Emprenvil, nahm ihn aus seinem Stühlchen und versuchte, ihn zu beruhigen. Sie stammte mütterlicherseits aus einer verarmten Landadelfamilie. Zunächst hatte sie die Rolle einer Erzieherin als unabwendbaren Zwang empfunden, doch mit der Zeit gewann sie ihre Aufgabe lieb, sodass sie nunmehr ganz darin aufging. Mademoiselle Dernier war von schlichtem, wenngleich nicht unschönem Äußeren. Sie verzichtete auf jede Art Schnörkel und Schmuck und entsprach mit ihrem blassen Teint, den großen, dunklen Augen und der ausgeprägten Nase eher dem klassizistischen Schönheitsideal.
»Amélie«, begann Laura erneut mit vorwurfsvollem Blick, »du bist alt genug, um zu wissen, was sich gehört, aber du führst dich auf, als seiest du ...« Ihr spitzer Aufschrei galt Christoph, der es fertiggebracht hatte, die Sauciere umzustoßen, deren Inhalt sich dunkel über die weiße Tischdecke ergoss. Entzückt tunkte er den Zeigefinger hinein und begann, ein hübsches Muster darauf zu malen. Mademoiselle Dernier, deren Kleid ebenfalls ruiniert war, hielt seine kleine Hand fest, und Christoph, seines schönen Spiels beraubt, schrie aus Leibeskräften.
Amélie, die froh war, der gewohnten Strafpredigt entronnen zu sein, widmete sich mit gutem Appetit ihrem Huhn in Zitronensauce. Aus der Küche roch sie schon das Schokoladensoufflé, ihre Lieblingsspeise, die sie keinesfalls versäumen wollte. »Ist Papa nicht da?«, fragte sie mit vollem Mund, als auch schon die Tür aufgerissen wurde und im hereinflutenden Sonnenlicht der Hausherr, Baron d'Emprenvil, eintrat.
Im offenen weißen Hemd, in Reitstiefeln und mit vom Wind zerzausten Haaren, die er ohne Perücke im Nacken zusammengebunden trug, durchquerte er mit wenigen Schritten den Raum. Augenblicklich nahm er der Gouvernante den schreienden Christoph aus den Armen, schwenkte ihn stürmisch in der Luft und drückte ihm schmatzende Küsse auf die roten Bäckchen. »Habt ihr mir noch etwas übrig gelassen?«, fragte er, noch ganz außer Atem, und umarmte seine Frau flüchtig. »Beinahe hätte ich es nicht mehr geschafft! «
Lauras Blick war eine einzige Anklage, doch sie hielt sich zurück. »Du bist spät zum Essen, mein Lieber, ich wollte gerade abräumen lassen.«
»Ich weiß«, seufzte d'Emprenvil mit gespielter Zerknirschung und warf ihr einen zärtlichen Blick zu, »aber es war mir unmöglich, eher zu kommen; ich hoffe, du entschuldigst mich.« Er kitzelte den Kleinen, bis der vor Vergnügen quietschte, setzte ihn dann wieder auf den Schoß der Gouvernante und erkundigte sich mit kumpelhaftem Augenzwinkern bei ihr: »Na, was hat der kleine Quälgeist denn heute wieder angestellt? Ich hoffe, er hat Sie nicht allzu sehr tyrannisiert!« Seine letzten Worte waren schon halb über die Schulter gesprochen; der Braten und die Wahl des Weines erforderten seine ganze Aufmerksamkeit.
Das scheue Lächeln, das Mademoiselle ihm sandte, ging ins Leere. Hastig senkte sie die Augen und beschäftigte sich mit dem Kleinen, in der Hoffnung, dass die Glut, die ihr heiß ins Gesicht gestiegen war und auf ihren Wangen brannte, unauffällig verblassen würde. Doch die Verwirrung, die sie immer verspürte, sobald der Hausherr ihr seine Aufmerksamkeit schenkte, ging in den Fragen und dem Lachen der Kinder unter, die ihren allzu oft abwesenden Vater voll Begeisterung begrüßten. Und wie immer, wenn er wie ein frischer Windstoß hereingeweht wurde, war er bester Laune und wusste allerlei zu erzählen, während er lachend und plaudernd den Speisen und dem Wein zusprach. »...und stellt euch vor, als ich Jean, dem neuen Gärtnergehilfen, die Sense wegnahm, um ihm zu zeigen, wie man im Rhythmus von oben nach unten mäht, kam doch mit einem Mal dieser aufgeblasene de Platier mit seinem Wagen vorbeigefahren, ein Spitzentuch vor dem Mund wegen der Landluft, mit wackelndem Hut und gekleidet wie zum Hofball. Sein Gesicht verzog sich nicht schlecht, als ich ihm meinen Gruß zurief, so...« Er machte eine drollige Grimasse, worüber die ganze Familie in Lachen ausbrach. Jeder wusste, dass Graf Eugen de Platier, der sich auf seinem Gut Pélissier nicht den kleinen Finger schmutzig machte, es nicht verstand, dass Charles d'Emprenvil, Magistrat des Parlaments von Paris, hin und wieder eine Sense in die Hand nahm und wie ein Knecht seine Wiese mähte.
Die Miene des achtzehnjährigen Patrick blieb angesichts des Lachens der anderen ernst, er betrachtete mit blasiertem Ausdruck die angeschmutzte Hose, das zerknitterte Hemd und die ausladenden Gesten, mit denen der Vater seine Erzählung untermalte. Seine Mundwinkel zogen sich verächtlich nach unten, und er fühlte sich so unendlich verschieden von ihm, von seiner nachlässigen Kleidung, seinen Manieren und seiner derben Sprache. Wie recht doch de Platier hatte, mit dessen Sohn Auguste er befreundet war, wenn er sich vom Pöbel distanzierte!
»Papa«, Amélie schluckte schnell den letzten Löffel ihres Soufflés hinunter, »reiten wir heute Nachmittag gemeinsam aus?«
»Heute nicht, meine Süße«, sagte d'Emprenvil bedauernd und fuhr sich durch die dichten schwarzen Locken. »In Paris verlangt man nach mir. Im Parlament kann man doch nicht ohne mich tagen.« Er lachte, und seine blauen, eindringlichen Augen zwinkerten ihr schelmisch zu. Amélie, die ihren Schmollmund aufgesetzt hatte, murrte:
»Du hast es mir aber schon so lange versprochen!«
»Reite doch mit Patrick, er kann dich begleiten, nicht wahr, mein Junge?«
»Da wüsste ich aber etwas Besseres«, antwortete Patrick mit einem arroganten Seitenblick auf seine Schwester und fügte dann hastig hinzu: »Ich würde lieber mit dir nach Paris fahren. Ich ersticke hier auf dem Land. Alles ist so gewöhnlich - so langweilig und ordinär! Nimm mich doch mit, nur dies eine Mal! Ich werde dir auch ganz sicher nicht lästig fallen! «
Der Baron blickte seinen Sohn erstaunt an. »Aber Patrick, sei vernünftig, du weißt doch, dass es jetzt nicht geht. Ich fahre schließlich nicht zum Vergnügen nach Paris.« »Ich auch nicht!« Die Stimme Patricks, die schon einen tiefen, männlichen Klang hatte, drohte in der Erregung zu kippen. »Ich will einfach wissen, was in Paris vor sich geht! Wir verschlafen hier unser Leben und tun, als ob nichts sei, während in Wirklichkeit große Veränderungen bevorstehen und alles drunter und drüber geht. Du meinst wohl, ich sei zu jung und zu dumm... aber nur weil ich Rousseau und Voltaire lese, bin ich keineswegs wirklichkeitsfremd, ich kann ihre Schwächen wohl erkennen...«
»Mein Lieber«, unterbrach der Baron ihn in ernstem Ton. Wenn man sie beide so dasitzen sah, bemerkte man die auffallenden Ähnlichkeiten zwischen Vater und Sohn: das gleiche, fast griechische Profil, der schön geschnittene Mund mit einem ungeduldigen Zug darum und sogar die in die Stirn fallende, widerspenstige Locke, die Patrick in seiner Eitelkeit mit Pasten und Salben in Form zu halten versuchte. »Ich verstehe dich natürlich. Ein anderes Mal bin ich gerne bereit ... aber jetzt ist es zu unsicher, und außerdem werde ich für dich gar keine Zeit haben. Ich brauche Voltaire nicht, um zu wissen, dass unser Staat vor dem Bankrott steht. Und das Schlimme ist, dass der König glaubt, die Adeligen seien in der Lage, alle seine Schulden zu finanzieren. Doch was rede ich... das führt alles zu weit. Ich bin wirklich in Eile, und es muss dir vorerst genügen, dass du einfach nicht mitkommen kannst. Ich werde dir bei meiner Rückkehr alles erklären, aber heute... heute ist es unmöglich. « Er hielt inne, als hätte er bereits zu viel gesagt, doch nach einem Blick in Patricks finstere und unzufriedene Miene fuhr er fort: »Sieh mich nicht so vorwurfsvoll an, Junge! Nur so viel, es geht darum, dass das Parlament gezwungen werden soll, Steueredikte zu genehmigen, die uns alle in den Ruin führen. Das muss ich mit allen Kräften zu verhindern suchen! Ich werde dich ein anderes Mal mitnehmen. Aber mach nicht solch ein Gesicht!« Seine Stimme war laut geworden, ärgerlich, und er schlug mit der Hand auf den Tisch.
Patrick beugte sich vor, seine Augen glommen wütend, und sein Gesicht wurde bleich. »Ein anderes Mal... das muss dir genügen - die Zeiten sind unsicher... ich habe keine Zeit«, äffte er den Vater nach, »das sagst du immer. Aber wieso störe ich dich ständig? Du denkst, nur du allein kannst etwas bewirken, seiest sogar fähig, den Lauf der Geschichte zu beeinflussen! Glaubst du, ich bin noch ein kleines Kind, das man mit Ausreden abspeist? Warum kann ich dich nicht begleiten, wie Auguste, wenn sein Vater in die Hauptstadt fährt? Meinst du, ich bin zu dumm, die Probleme zu erkennen, die in unserem Lande gären?« Patrick beugte sich vor und stieß mit dem Ellbogen sein Glas Wein um. »Aber vielleicht hast du etwas zu verbergen«, sagte er herausfordernd. »Glaubst du, ich merke nicht, was du in Paris vorhast? Dass du gegen den König opponierst, ist kein Geheimnis für mich! Du sträubst dich doch gegen wichtige Reformen und hetzt andere auf. Du denkst doch nur an deine eigenen Vorteile... « »Jetzt reicht es aber!«, schrie d'Emprenvil, der mit zornig gerötetem Gesicht aufgesprungen war. »Schweig! Ich verbiete dir, von Sachen zu sprechen, von denen du nicht das Geringste verstehst.« Er tat ein paar Schritte auf seinen Sohn zu, und es sah so aus, als wollte er ihn am Kragen packen. Patrick erhob sich langsam, und Vater und Sohn standen sich Auge in Auge gegenüber wie zwei Feinde, wütend der eine, bleich und voll aufgestauter Gefühle der andere.
Am Tisch war eine lähmende Stille eingetreten, und Laura sah erstaunt auf ihren Sohn, das einstmals so friedfertige Kind. Verwundert fragte sie sich, wie dieser junge Mann, der ihr mit einem Mal wie ein fremdes Wesen aus einer anderen Welt vorkam, sich so verändern konnte, wann er so widerspenstig und laut geworden war.
Der Baron holte tief Luft und fasste sich als Erster, sich zur Ruhe zwingend: »Schluss jetzt, mein Sohn! Diesen Ton kann ich nicht dulden! Eines Tages wirst du meinen Platz im Parlament einnehmen. Aber bis dahin musst du noch viel reifer und erwachsener werden. Jetzt treffe ich noch die Entscheidungen - aber, wenn du willst, werden wir in einer ruhigen Stunde über alles reden, und dann erkläre ich dir meinen Standpunkt. Ich wusste ja nicht, dass du... dass du dich plötzlich für Politik interessierst. Du warst immer so gleichgültig ... aber du hast recht, du bist wirklich kein Kind mehr! Ein anderes Mal...« Patrick unterbrach ihn heftig: »Ein anderes Mal! Ja, das habe ich jetzt schon zu oft gehört. Wann reden wir einmal über mich, über meine Zukunft? Immer weichst du mir aus. Und ein anderes Mal geht es wieder nicht, weil Mama einen Gesellschaftsabend gibt oder du andere wichtige Dinge zu erledigen hast, bei denen ich doch nur störe. Lass mich jetzt mitfahren oder erkläre mir auf der Stelle, warum es nicht geht!« Der Baron schwankte, gerade an diesem Tag konnte er Patrick nicht gebrauchen, er würde seine Pläne gründlich durchkreuzen. Sollte er sich dieser lächerlichen Auseinandersetzung entziehen, indem er mit Entschlossenheit den Raum verließ, oder war es besser, ihm zu erklären, warum er ihn unmöglich mitnehmen konnte? Er atmete noch einmal tief durch und rückte seinen Stuhl näher an den seines Sohnes, ehe er sich wieder setzte. »Deine Zukunft ist gesichert, das weißt du! Das ist ein ganz anderes Kapitel. Aber hüte dich, noch einmal zu sagen, dass ich irgendjemanden aufhetze! Es ist wahr, dass ich es als Parlamentsmitglied einfach nicht zulassen kann, dass die Steuer- und Finanzgesetze durch Leute bestimmt werden, die darin nur ihren eigenen Vorteil sehen. Das Gleiche gilt für die Handlungsfreiheit der Polizei. Es ist nun einmal so, dass der König sich nicht genügend mit diesen Problemen beschäftigt. Er ist ein guter Mann, aber schwach, schlecht beraten, was weiß ich...
Jedenfalls steht er unter dem Einfluss seiner verschwenderischen Frau und zu vieler Höflinge. Eine Besteuerung, die nur die Amtsträger zahlen sollen, wird uns viele Nachteile bringen.
Und sie wird das Loch der Staatskasse auch nicht stopfen - aber uns in den Ruin treiben. Ich nehme das Risiko auf mich, eine falsche Entscheidung zu boykottieren, begreifst du das?«
»Du wirst daran auch nichts ändern können«, widersprach Patrick trotzig, »es wird dich nur deinen Kopf kosten, wenn du nicht aufpasst!«
Der Baron sah in das vor Leidenschaft glühende Antlitz seines Sohnes und tupfte sich die Schweißperlen von der Stirn.
Es war sinnlos, Patrick wollte ihn nicht verstehen; er suchte, ganz wie er in seiner Jugend, Auseinandersetzung und Widerspruch; aber gerade dazu war er nicht in der richtigen Stimmung.
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Valfleur - Sommer 1787
»Amélie... Amélie!« Die hohe, in der heißen Mittagsglut gedämpft klingende Stimme durchtönte weich die Luft, in der jedes Geräusch verstummt war. Sogar die Vögel hatten vor Hitze ermattet unter den Bäumen die Flügel sinken lassen.
Mit raschen Schritten und suchendem Blick eilte eine schmale Gestalt über den Kiesweg, der sich zwischen Büschen und Bäumen durchschlängelte. Das blasse Gesicht der jungen Frau, umrahmt von dichtem, braunem, zu einem Knoten geschlungenen Haar, wandte sich besorgt nach rechts und nach links; ihr Blick versuchte, durch die Brombeersträucher zu dringen, und ging aufmerksam über die blühenden Rosenstöcke und duftenden Jasminsträucher hinweg. In dem dichten Gewirr verfing sich ihr Rock immer wieder an einem der Sträucher; dann befreite sie sich mit kleinen, ärgerlichen Ausrufen vorsichtig von den Hindernissen. Der Park, der das Schloss von Valfleur umgab, war zwar wohl gepflegt, aber in seiner augenscheinlichen Wildnis entsprach er ganz und gar nicht der Mode seiner Zeit, die einer geordneten Sanftheit und symmetrischen Übersichtlichkeit den Vorzug gab.
Erleichtert trat die junge Frau endlich aus den Sträuchern heraus auf die schattige Allee, die an dieser Stelle einen kleinen Teich einfasste. Aus dessen Mitte ergoss sich das Wasser über terrassenförmige Steinschalen kaskadenförmig hinab. Vom Brunnen aus konnte man am Ende der fächerförmigen, leicht ansteigenden Wege das helle Schlossgebäude erkennen. Die breiten Türme stammten aus dem 14. Jahrhundert und bildeten mit den Anbauten aus anderen Epochen ein reizvolles Ensemble. Errichtet auf der höchsten Erhebung des Anwesens, bot sich dem Auge ein zauberhafter Blick über das malerische Tal. Die pappelgesäumte Allee führte zu den Feldern und in das kleine Dorf, dessen steiler Backsteinkirchturm sich über die wenigen Häuser reckte.
»Amélie... so antworte doch!«, rief die Gouvernante erneut und ließ sich erschöpft von Hitze und Anstrengung auf einem Stein nieder. Dann tauchte sie ihr Taschentuch in das kühle Nass und presste es an die Stirn. Es war wirklich keine einfache Aufgabe, die Kinder des Barons d'Emprenvil zu beaufsichtigen. »Amélie...« Der letzte Ton erstarb in einem Seufzer. Mademoiselle Dernier wusste sehr wohl, dass das widerspenstige Mädchen sich irgendwo hinter einem Strauch versteckt hielt, um sie ein wenig zu necken. Für einige Augenblicke ließ sie versonnen das Handgelenk von dem kühlen, rinnenden Wasser umspielen, ehe sie sich langsam erhob, um zum Schloss zurückzugehen. Es war sinnlos, weiter nach Amélie zu suchen, wahrscheinlich beobachtete sie das kleine Biest und amüsierte sich auf ihre Kosten. Nun gut, man würde sich ohne sie zum Essen setzen - mochte Madame d'Emprenvil das Unmögliche fertigbringen und ihre Tochter zum Gehorsam erziehen.
In der Lauheit des friedlich scheinenden Sommertags war nichts zu spüren von der Missernte, dem Hunger des vergangenen Jahres, der die Bauern revoltieren ließ. Das Land war seit Ludwig XV. hoffnungslos verschuldet, und das veraltete Finanzsystem bot keinerlei Aussicht auf Besserung.
Als der Finanzminister Necker bei einer öffentlichen Bilanz offengelegt hatte, dass der Hofstaat des amtierenden Königs Ludwig XVI. jährlich 62 Millionen Livres verschlang, hatten die geknechteten, von Abgaben erdrückten Bürger zum ersten Mal öffentlich protestiert. Seitdem gärte es im Lande, die Preise stiegen, aber die Löhne reichten nicht mehr zum Leben. Die Bauern, denen auch noch das Letzte genommen wurde, schielten auf die Besitztümer der Adeligen, die auf ihre alten Rechte pochten.
Doch an diesem Tag trübte in Valfleur kein Misston die scheinbar friedliche Stille des viel zu trockenen Sommers. Im Schloss, dem Sommersitz des Barons Charles d'Emprenvil, Rat im Parlament von Paris, und seiner Familie ging das Leben seinen Gang wie eh und je. Amélie beobachtete, wie Mademoiselle Dernier im Schloss verschwand. Dann dehnte und streckte sie sich und klappte das Buch zu, in das sie sich den ganzen Vormittag über vertieft hatte. Es war eines jener erotischen Werke der Zeit, die man im hintersten Winkel der Bibliothek verschämt vor unliebsamen Lesern verbarg. Doch das junge Mädchen, eine Leseratte, brannte darauf, das Leben in all seinen Facetten kennenzulernen, und fühlte sich gerade von dieser Art Lektüre magisch angezogen. Um ganz ungestört zu sein, hatte sie sich an ihrem Lieblingsplatz, einer von blühenden Sträuchern nahezu überwachsenen Lichtung verkrochen.
Immer wieder legte sie das Buch beiseite und beobachtete versonnen das Leben der Insekten; eine Ameise, die geschäftig umherkrabbelte, einen Käfer, der sich emsig mit dem Bau einer Höhle abmühte, und die Bienen, die an den süß duftenden Blüten sogen. Ach, wie herrlich war es, im Sommer diese Freiheit zu genießen, statt bei trüben Lehrstunden in der Stube zu sitzen. Das Knurren ihres Magens erinnerte sie an das Mittagessen, das sie gerade dabei war zu versäumen.
Sie erhob sich, schüttelte ihr langes, kastanienbraunes Haar, in dem helle Reflexe spielten, zurück und strich das weiße Baumwollkleid glatt. Das Buch verbarg sie unter ihrem Rockbund, dann bog sie die Zweige auseinander, die hinter ihr zusammenschlugen, und trat auf den Kiesweg, der zum Schloss führte.
Amélie gelang es, ungesehen ins Haus zu schlüpfen und das verbotene Buch unauffällig an seinen Platz in der Bibliothek zu stellen. Mit gespielter Gelassenheit, den schnellen Atem mit einer unschuldigen Miene überspielend, trat sie ins Esszimmer, in dem die Familie sich zum Mittagessen versammelt hatte. Man nahm kaum Notiz von ihr, nur Mademoiselle Dernier, die Gouvernante, sah sie überrascht an, während sie dem kleinen Christoph in seinem Babystühlchen einen Löffel Suppe einflößte.
»Wo hast du denn gesteckt, Amélie? Ich habe dich überall gesucht. Du warst wie vom Erdboden verschluckt.« Das Mädchen lächelte ihr komplizenhaft zu und wandte sich an ihre Mutter. »Entschuldige Mama, ich habe über dem Lesen die Zeit ganz vergessen...«
Laura d'Emprenvil warf ihr einen zerstreuten, missbilligenden Blick zu. »Wie siehst du nur wieder aus! Wie eine zerzauste Straßenkatze. Wo, um Himmels willen, treibst du dich eigentlich immer herum, statt dass du deine Klavierübungen machst oder dich mit anderen nützlichen Dingen beschäftigst...«
»Ja, Mama«, murmelte Amélie. Während ihre Gedanken in andere Richtungen gingen, floss die leise Stimme ihrer Mutter an ihrem Ohr vorüber: »...nicht einmal kannst du pünktlich zu den Mahlzeiten erscheinen, wo du weißt, dass gerade heute...« »Ja, Mama«, wiederholte Amélie und begann, hastig die Suppe zu löffeln. Laura schüttelte den Kopf und tupfte sich mit der Serviette die Lippen ab. Selbst an diesem heißen Sommertag strahlte sie die perfekte, kühle Schönheit einer Porzellanpuppe aus. Ihr elfenbeinfarbener Teint und die dunklen, unergründlichen Augen unter zart geschwungenen Brauen bildeten einen reizvollen Kontrast zu der roten Haarfülle, die im Nacken zu einem Chignon geschlungen war. Ihr Dekolleté umgab ein Kranz von weißen Seidenrosen, und das weiße Chiffonkleid schmeichelte ihrer zierlichen Figur, der man die vier Kinder nicht ansah.
»Patrick, bitte!«, rügte sie ihren ältesten Sohn, der unter dem Tisch seiner vierzehnjährigen Schwester Isabelle einen Fußtritt verpasste, weil sie ihm den Rest des Kirschsafts weggetrunken hatte. Isabelle schrie leise auf, rieb sich den Knöchel und setzte dann ihre Märtyrerinnenmiene auf. Sie war ein überschlankes Mädchen mit anämischem Teint, blassgrauen Augen und aschblonden Haaren, die ihr bis über den Rücken reichten. Christoph schrie aus Leibeskräften und spuckte den Pudding aus, weil er lieber nach dem glitzernden Kristall eines Glases greifen wollte. Die Gouvernante, seit einigen Jahren in der Familie d'Emprenvil, nahm ihn aus seinem Stühlchen und versuchte, ihn zu beruhigen. Sie stammte mütterlicherseits aus einer verarmten Landadelfamilie. Zunächst hatte sie die Rolle einer Erzieherin als unabwendbaren Zwang empfunden, doch mit der Zeit gewann sie ihre Aufgabe lieb, sodass sie nunmehr ganz darin aufging. Mademoiselle Dernier war von schlichtem, wenngleich nicht unschönem Äußeren. Sie verzichtete auf jede Art Schnörkel und Schmuck und entsprach mit ihrem blassen Teint, den großen, dunklen Augen und der ausgeprägten Nase eher dem klassizistischen Schönheitsideal.
»Amélie«, begann Laura erneut mit vorwurfsvollem Blick, »du bist alt genug, um zu wissen, was sich gehört, aber du führst dich auf, als seiest du ...« Ihr spitzer Aufschrei galt Christoph, der es fertiggebracht hatte, die Sauciere umzustoßen, deren Inhalt sich dunkel über die weiße Tischdecke ergoss. Entzückt tunkte er den Zeigefinger hinein und begann, ein hübsches Muster darauf zu malen. Mademoiselle Dernier, deren Kleid ebenfalls ruiniert war, hielt seine kleine Hand fest, und Christoph, seines schönen Spiels beraubt, schrie aus Leibeskräften.
Amélie, die froh war, der gewohnten Strafpredigt entronnen zu sein, widmete sich mit gutem Appetit ihrem Huhn in Zitronensauce. Aus der Küche roch sie schon das Schokoladensoufflé, ihre Lieblingsspeise, die sie keinesfalls versäumen wollte. »Ist Papa nicht da?«, fragte sie mit vollem Mund, als auch schon die Tür aufgerissen wurde und im hereinflutenden Sonnenlicht der Hausherr, Baron d'Emprenvil, eintrat.
Im offenen weißen Hemd, in Reitstiefeln und mit vom Wind zerzausten Haaren, die er ohne Perücke im Nacken zusammengebunden trug, durchquerte er mit wenigen Schritten den Raum. Augenblicklich nahm er der Gouvernante den schreienden Christoph aus den Armen, schwenkte ihn stürmisch in der Luft und drückte ihm schmatzende Küsse auf die roten Bäckchen. »Habt ihr mir noch etwas übrig gelassen?«, fragte er, noch ganz außer Atem, und umarmte seine Frau flüchtig. »Beinahe hätte ich es nicht mehr geschafft! «
Lauras Blick war eine einzige Anklage, doch sie hielt sich zurück. »Du bist spät zum Essen, mein Lieber, ich wollte gerade abräumen lassen.«
»Ich weiß«, seufzte d'Emprenvil mit gespielter Zerknirschung und warf ihr einen zärtlichen Blick zu, »aber es war mir unmöglich, eher zu kommen; ich hoffe, du entschuldigst mich.« Er kitzelte den Kleinen, bis der vor Vergnügen quietschte, setzte ihn dann wieder auf den Schoß der Gouvernante und erkundigte sich mit kumpelhaftem Augenzwinkern bei ihr: »Na, was hat der kleine Quälgeist denn heute wieder angestellt? Ich hoffe, er hat Sie nicht allzu sehr tyrannisiert!« Seine letzten Worte waren schon halb über die Schulter gesprochen; der Braten und die Wahl des Weines erforderten seine ganze Aufmerksamkeit.
Das scheue Lächeln, das Mademoiselle ihm sandte, ging ins Leere. Hastig senkte sie die Augen und beschäftigte sich mit dem Kleinen, in der Hoffnung, dass die Glut, die ihr heiß ins Gesicht gestiegen war und auf ihren Wangen brannte, unauffällig verblassen würde. Doch die Verwirrung, die sie immer verspürte, sobald der Hausherr ihr seine Aufmerksamkeit schenkte, ging in den Fragen und dem Lachen der Kinder unter, die ihren allzu oft abwesenden Vater voll Begeisterung begrüßten. Und wie immer, wenn er wie ein frischer Windstoß hereingeweht wurde, war er bester Laune und wusste allerlei zu erzählen, während er lachend und plaudernd den Speisen und dem Wein zusprach. »...und stellt euch vor, als ich Jean, dem neuen Gärtnergehilfen, die Sense wegnahm, um ihm zu zeigen, wie man im Rhythmus von oben nach unten mäht, kam doch mit einem Mal dieser aufgeblasene de Platier mit seinem Wagen vorbeigefahren, ein Spitzentuch vor dem Mund wegen der Landluft, mit wackelndem Hut und gekleidet wie zum Hofball. Sein Gesicht verzog sich nicht schlecht, als ich ihm meinen Gruß zurief, so...« Er machte eine drollige Grimasse, worüber die ganze Familie in Lachen ausbrach. Jeder wusste, dass Graf Eugen de Platier, der sich auf seinem Gut Pélissier nicht den kleinen Finger schmutzig machte, es nicht verstand, dass Charles d'Emprenvil, Magistrat des Parlaments von Paris, hin und wieder eine Sense in die Hand nahm und wie ein Knecht seine Wiese mähte.
Die Miene des achtzehnjährigen Patrick blieb angesichts des Lachens der anderen ernst, er betrachtete mit blasiertem Ausdruck die angeschmutzte Hose, das zerknitterte Hemd und die ausladenden Gesten, mit denen der Vater seine Erzählung untermalte. Seine Mundwinkel zogen sich verächtlich nach unten, und er fühlte sich so unendlich verschieden von ihm, von seiner nachlässigen Kleidung, seinen Manieren und seiner derben Sprache. Wie recht doch de Platier hatte, mit dessen Sohn Auguste er befreundet war, wenn er sich vom Pöbel distanzierte!
»Papa«, Amélie schluckte schnell den letzten Löffel ihres Soufflés hinunter, »reiten wir heute Nachmittag gemeinsam aus?«
»Heute nicht, meine Süße«, sagte d'Emprenvil bedauernd und fuhr sich durch die dichten schwarzen Locken. »In Paris verlangt man nach mir. Im Parlament kann man doch nicht ohne mich tagen.« Er lachte, und seine blauen, eindringlichen Augen zwinkerten ihr schelmisch zu. Amélie, die ihren Schmollmund aufgesetzt hatte, murrte:
»Du hast es mir aber schon so lange versprochen!«
»Reite doch mit Patrick, er kann dich begleiten, nicht wahr, mein Junge?«
»Da wüsste ich aber etwas Besseres«, antwortete Patrick mit einem arroganten Seitenblick auf seine Schwester und fügte dann hastig hinzu: »Ich würde lieber mit dir nach Paris fahren. Ich ersticke hier auf dem Land. Alles ist so gewöhnlich - so langweilig und ordinär! Nimm mich doch mit, nur dies eine Mal! Ich werde dir auch ganz sicher nicht lästig fallen! «
Der Baron blickte seinen Sohn erstaunt an. »Aber Patrick, sei vernünftig, du weißt doch, dass es jetzt nicht geht. Ich fahre schließlich nicht zum Vergnügen nach Paris.« »Ich auch nicht!« Die Stimme Patricks, die schon einen tiefen, männlichen Klang hatte, drohte in der Erregung zu kippen. »Ich will einfach wissen, was in Paris vor sich geht! Wir verschlafen hier unser Leben und tun, als ob nichts sei, während in Wirklichkeit große Veränderungen bevorstehen und alles drunter und drüber geht. Du meinst wohl, ich sei zu jung und zu dumm... aber nur weil ich Rousseau und Voltaire lese, bin ich keineswegs wirklichkeitsfremd, ich kann ihre Schwächen wohl erkennen...«
»Mein Lieber«, unterbrach der Baron ihn in ernstem Ton. Wenn man sie beide so dasitzen sah, bemerkte man die auffallenden Ähnlichkeiten zwischen Vater und Sohn: das gleiche, fast griechische Profil, der schön geschnittene Mund mit einem ungeduldigen Zug darum und sogar die in die Stirn fallende, widerspenstige Locke, die Patrick in seiner Eitelkeit mit Pasten und Salben in Form zu halten versuchte. »Ich verstehe dich natürlich. Ein anderes Mal bin ich gerne bereit ... aber jetzt ist es zu unsicher, und außerdem werde ich für dich gar keine Zeit haben. Ich brauche Voltaire nicht, um zu wissen, dass unser Staat vor dem Bankrott steht. Und das Schlimme ist, dass der König glaubt, die Adeligen seien in der Lage, alle seine Schulden zu finanzieren. Doch was rede ich... das führt alles zu weit. Ich bin wirklich in Eile, und es muss dir vorerst genügen, dass du einfach nicht mitkommen kannst. Ich werde dir bei meiner Rückkehr alles erklären, aber heute... heute ist es unmöglich. « Er hielt inne, als hätte er bereits zu viel gesagt, doch nach einem Blick in Patricks finstere und unzufriedene Miene fuhr er fort: »Sieh mich nicht so vorwurfsvoll an, Junge! Nur so viel, es geht darum, dass das Parlament gezwungen werden soll, Steueredikte zu genehmigen, die uns alle in den Ruin führen. Das muss ich mit allen Kräften zu verhindern suchen! Ich werde dich ein anderes Mal mitnehmen. Aber mach nicht solch ein Gesicht!« Seine Stimme war laut geworden, ärgerlich, und er schlug mit der Hand auf den Tisch.
Patrick beugte sich vor, seine Augen glommen wütend, und sein Gesicht wurde bleich. »Ein anderes Mal... das muss dir genügen - die Zeiten sind unsicher... ich habe keine Zeit«, äffte er den Vater nach, »das sagst du immer. Aber wieso störe ich dich ständig? Du denkst, nur du allein kannst etwas bewirken, seiest sogar fähig, den Lauf der Geschichte zu beeinflussen! Glaubst du, ich bin noch ein kleines Kind, das man mit Ausreden abspeist? Warum kann ich dich nicht begleiten, wie Auguste, wenn sein Vater in die Hauptstadt fährt? Meinst du, ich bin zu dumm, die Probleme zu erkennen, die in unserem Lande gären?« Patrick beugte sich vor und stieß mit dem Ellbogen sein Glas Wein um. »Aber vielleicht hast du etwas zu verbergen«, sagte er herausfordernd. »Glaubst du, ich merke nicht, was du in Paris vorhast? Dass du gegen den König opponierst, ist kein Geheimnis für mich! Du sträubst dich doch gegen wichtige Reformen und hetzt andere auf. Du denkst doch nur an deine eigenen Vorteile... « »Jetzt reicht es aber!«, schrie d'Emprenvil, der mit zornig gerötetem Gesicht aufgesprungen war. »Schweig! Ich verbiete dir, von Sachen zu sprechen, von denen du nicht das Geringste verstehst.« Er tat ein paar Schritte auf seinen Sohn zu, und es sah so aus, als wollte er ihn am Kragen packen. Patrick erhob sich langsam, und Vater und Sohn standen sich Auge in Auge gegenüber wie zwei Feinde, wütend der eine, bleich und voll aufgestauter Gefühle der andere.
Am Tisch war eine lähmende Stille eingetreten, und Laura sah erstaunt auf ihren Sohn, das einstmals so friedfertige Kind. Verwundert fragte sie sich, wie dieser junge Mann, der ihr mit einem Mal wie ein fremdes Wesen aus einer anderen Welt vorkam, sich so verändern konnte, wann er so widerspenstig und laut geworden war.
Der Baron holte tief Luft und fasste sich als Erster, sich zur Ruhe zwingend: »Schluss jetzt, mein Sohn! Diesen Ton kann ich nicht dulden! Eines Tages wirst du meinen Platz im Parlament einnehmen. Aber bis dahin musst du noch viel reifer und erwachsener werden. Jetzt treffe ich noch die Entscheidungen - aber, wenn du willst, werden wir in einer ruhigen Stunde über alles reden, und dann erkläre ich dir meinen Standpunkt. Ich wusste ja nicht, dass du... dass du dich plötzlich für Politik interessierst. Du warst immer so gleichgültig ... aber du hast recht, du bist wirklich kein Kind mehr! Ein anderes Mal...« Patrick unterbrach ihn heftig: »Ein anderes Mal! Ja, das habe ich jetzt schon zu oft gehört. Wann reden wir einmal über mich, über meine Zukunft? Immer weichst du mir aus. Und ein anderes Mal geht es wieder nicht, weil Mama einen Gesellschaftsabend gibt oder du andere wichtige Dinge zu erledigen hast, bei denen ich doch nur störe. Lass mich jetzt mitfahren oder erkläre mir auf der Stelle, warum es nicht geht!« Der Baron schwankte, gerade an diesem Tag konnte er Patrick nicht gebrauchen, er würde seine Pläne gründlich durchkreuzen. Sollte er sich dieser lächerlichen Auseinandersetzung entziehen, indem er mit Entschlossenheit den Raum verließ, oder war es besser, ihm zu erklären, warum er ihn unmöglich mitnehmen konnte? Er atmete noch einmal tief durch und rückte seinen Stuhl näher an den seines Sohnes, ehe er sich wieder setzte. »Deine Zukunft ist gesichert, das weißt du! Das ist ein ganz anderes Kapitel. Aber hüte dich, noch einmal zu sagen, dass ich irgendjemanden aufhetze! Es ist wahr, dass ich es als Parlamentsmitglied einfach nicht zulassen kann, dass die Steuer- und Finanzgesetze durch Leute bestimmt werden, die darin nur ihren eigenen Vorteil sehen. Das Gleiche gilt für die Handlungsfreiheit der Polizei. Es ist nun einmal so, dass der König sich nicht genügend mit diesen Problemen beschäftigt. Er ist ein guter Mann, aber schwach, schlecht beraten, was weiß ich...
Jedenfalls steht er unter dem Einfluss seiner verschwenderischen Frau und zu vieler Höflinge. Eine Besteuerung, die nur die Amtsträger zahlen sollen, wird uns viele Nachteile bringen.
Und sie wird das Loch der Staatskasse auch nicht stopfen - aber uns in den Ruin treiben. Ich nehme das Risiko auf mich, eine falsche Entscheidung zu boykottieren, begreifst du das?«
»Du wirst daran auch nichts ändern können«, widersprach Patrick trotzig, »es wird dich nur deinen Kopf kosten, wenn du nicht aufpasst!«
Der Baron sah in das vor Leidenschaft glühende Antlitz seines Sohnes und tupfte sich die Schweißperlen von der Stirn.
Es war sinnlos, Patrick wollte ihn nicht verstehen; er suchte, ganz wie er in seiner Jugend, Auseinandersetzung und Widerspruch; aber gerade dazu war er nicht in der richtigen Stimmung.
... weniger
Autoren-Porträt von Nora Berger
Nora Berger lebte einige Jahre in Paris und studierte an der Sorbonne Literatur und Philosophie. In dieser Zeit hatte sie Gelegenheit, an den Originalschauplätzen der Revolution zu recherchieren und sich mit dem französischen Lebensgefühl zu identifizieren. Heute lebt sie mit ihrem Mann in Traunstein.
Bibliographische Angaben
- Autor: Nora Berger
- 2012, 1, 592 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863651960
- ISBN-13: 9783863651961
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