Amokspiel
Kriminalpsychologin Ira Samin wird zu einem Geiseldrama in einem Radiosender gerufen. Dort treibt ein Amokläufer ein makabres Spiel: Er entscheidet mit wahllosen Telefonanrufen über Leben oder Tod. Seine Forderung: Er will seine Verlobte sehen....
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Produktinformationen zu „Amokspiel “
Kriminalpsychologin Ira Samin wird zu einem Geiseldrama in einem Radiosender gerufen. Dort treibt ein Amokläufer ein makabres Spiel: Er entscheidet mit wahllosen Telefonanrufen über Leben oder Tod. Seine Forderung: Er will seine Verlobte sehen. Doch die ist seit einem halben Jahr tot.
Lese-Probe zu „Amokspiel “
Amokspiel von Sebastian Fitzek 1 .Salzig. Der Lauf der Pistole in ihrem Mund schmeckte unerwartet salzig.
Komisch, dachte sie. Ich bin früher nie auf die Idee gekommen, mir einmal meine Dienstwaffe in den Mund zu stecken. Nicht mal zum Spaß.
Nachdem die Sache mit Sara passiert war, hatte sie oft darüber nachgedacht, bei einem Einsatz einfach loszulaufen und ihre Deckung preiszugeben. Einmal war sie ohne Schutzweste, völlig ungesichert auf einen Amokläufer zumarschiert. Aber noch nie hatte sie sich ihren Revolver zwischen die Lippen gesteckt und wie ein kleines Kind daran genuckelt, während ihr rechter Zeigefinger zitternd auf dem Abzug lag.
... mehr
Nun, dann war heute eben die Premiere. Hier und jetzt in ihrer verdreckten Kreuzberger Wohnküche in der Katzbachstraße. Sie hatte den ganzen Morgen den Fußboden mit alten Zeitungen abgedeckt, so, als ob sie renovieren wollte. In Wahrheit wusste sie, welche Sauerei eine Kugel anrichten konnte, die einem den Schädel zerschmettert und Knochen, Blut sowie Teile des Gehirns in einem vierzehn Quadratmeter großen Raum verteilt. Wahrscheinlich würden sie für die Spurensuche sogar jemanden schicken, den sie kannte. Tom Brauner oder Martin Maria Hellwig vielleicht, mit dem sie vor Jahren auf der Polizeischule gewesen war. Egal. Für die Wände besaß Ira keine Kraft mehr. Außerdem waren ihr die Zeitungsseiten ausgegangen, und eine Plastikplane besaß sie nicht. Also saß sie jetzt im Reitersitz auf dem wackligen Holzstuhl mit dem Rücken zur Spüle. Die laminierte Schrankwand und die Metallspüle konnten nach der Spurensicherung leicht mit einem Schlauch abgespritzt werden. Und viel zu sichern gab es sowieso nicht. Alle Kollegen konnten sich an drei Fingern abzählen, warum sie heute einen Schlussstrich zog. Der Fall war eindeutig. Nach dem, was ihr passiert war, würde niemand ernsthaft auf die Idee kommen, hier läge ein Verbrechen vor. Daher machte sie sich gar nicht erst die Mühe, einen Abschiedsbrief zu schreiben. Sie kannte auch niemanden, der Wert darauf legen würde, ihn zu lesen. Der einzige Mensch, den sie noch liebte, wusste ohnehin besser Bescheid als alle anderen und hatte das im letzten Jahr überdeutlich zum Ausdruck gebracht. Durch Schweigen. Seit der Tragödie wollte ihre jüngste Tochter sie weder sehen, sprechen noch hören. Katharina ignorierte Iras Anrufe, ließ ihre Briefe zurückgehen und würde wahrscheinlich die Straßenseite wechseln, wenn sie ihrer Mutter begegnete.
Und ich könnte es dir nicht einmal verübeln, dachte Ira. Nach dem, was ich getan habe.
Sie öffnete die Augen und sah sich um. Da es eine offene amerikanische Küche war, konnte sie von ihrem Platz aus das gesamte Wohnzimmer überblicken. Würden die warmen Sonnenstrahlen des Frühlings nicht so unsagbar fröhlich auf die ungeputzten Fensterscheiben knallen, hätte sie sogar noch einen Blick auf den Balkon und den dahinter liegenden Viktoriapark werfen können. Hitler, schoss es Ira Samin durch den Kopf, als ihre Augen im Wohnzimmer an ihrer kleinen Bücherwand hängen blieben. Sie hatte während der Ausbildung bei der Hamburger Polizei ihre Doktorarbeit über den Diktator geschrieben. »Die psychologische Manipulation der M assen«. Wenn der Irre eine Sache richtig gemacht hat, dachte sie, dann seine Selbsthinrichtung im Führerbunker. Er hatte sich ebenfalls in den Mund geschossen. Doch aus Angst, dabei etwas falsch zu machen und den Alliierten am Ende als Krüppel in die Hände zu fallen, biss er kurz vor dem Todesschuss noch auf eine Zyankalikapsel.
Vielleicht sollte ich es genauso anstellen? Ira zögerte. Aber es war nicht das Zögern einer Selbstmörderin, die eigentlich bloß einen Hilferuf an ihre Umwelt richtet. Ganz im Gegenteil. Ira wollte auf Nummer sicher gehen. Und ein ausreichender Vorrat an Giftkapseln lag ja griffbereit in dem Gefrierfach ihres Kühlschranks. Digoxin, hochkonzentriert. Sie hatte den Beutel bei dem wichtigsten Einsatz ihres Lebens neben der Badewanne gefunden und niemals in der Asservatenkammer abgegeben. Aus gutem Grund. Andererseits, Ira schob den Lauf im Mund fast bis an die Würgegrenze vor und hielt ihn völlig zentriert. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich mir nur den Kiefer zerstöre und die Kugel an den lebenswichtigen Adern vorbei durch irrelevante Teile des Gehirns jage?
Klein. Sehr klein. Aber nicht völlig ausgeschlossen!
Erst vor zehn Tagen hatte man an einer Ampel im Tiergarten einem Mitglied der Hells Angels in den Kopf geschossen. Der Mann sollte schon im nächsten Monat aus dem Krankenhaus entlassen werden.
Die Wahrscheinlichkeit aber, dass sich so etwas wiederholte, war ...Peng!
Ira erschrak so heftig durch den plötzlich einsetzenden Krach, dass sie sich mit der Waffe den Gaumen blutig schabte. Verdammt. Sie zog den Lauf wieder aus ihrem Mund.
Es war kurz vor halb acht, und sie hatte den idiotischen Radiowecker vergessen, der jeden Tag um diese Uhrzeit lautstark losschlug. Im Augenblick heulte sich eine junge Frau die Augen aus dem Kopf, weil sie bei einem dieser bescheuerten Radiospiele verloren hatte. Ira legte ihre Waffe auf den Küchentisch und schlurfte träge in ihr abgedunkeltes Schlafzimmer, aus dem das Gejammer bis in die Küche drang:
»... wir haben Sie per Zufall aus dem Telefonbuch ausgewählt, und Ihnen würden jetzt fünfzigtausend Euro gehören, wenn Sie sich mit der Kohle-Parole gemeldet hätten, Marina.«
»Hab ich doch — >Ich höre 101Punkt5 und jetzt her mit dem Zaster<.«
»Zu spät. Sie haben leider zuerst Ihren Namen gesagt. Die Kohle-Parole muss aber sofort nach dem Abheben kommen, und deshalb ...«
Ira zog entnervt den Stecker aus der Wand. Wenn sie sich schon umbringen wollte, dann sicherlich nicht unter dem hysterischen Gekreische einer verzweifelten Bürokauffrau, die gerade einen Hauptgewinn verspielt hatte.
Ira setzte sich auf das ungemachte Bett und starrte in ihren geöffneten Kleiderschrank, in dem es aussah wie in einer halb gefüllten Waschmaschine. Irgendwann hatte sie beschlossen, die durchgebrochene Kleiderstange nicht mehr auszutauschen.So ein Mist!
Sie war noch nie eine gute Organisatorin gewesen. Nicht, wenn es um ihr eigenes Leben ging. Und erst recht nicht bei ihrem eigenen Tod. Als sie heute Morgen aufgewacht war, auf dem gekachelten Fußboden, direkt neben der Kloschüssel, da wusste sie, dass es jetzt so weit war. Dass sie nicht mehr konnte. Nicht mehr wollte. Dabei ging es ihr weniger um das Aufwachen als um den ewig gleichen Traum, der sie seit einem Jahr heimsuchte. Den, in dem sie immer wieder die gleiche Treppe hinaufging. Auf jeder Stufe lag ein Zettel. Nur nicht auf der letzten. Wieso nicht?
Ira stellte fest, dass sie beim Nachdenken die Luft angehalten hatte, und atmete schwer aus. Nachdem das kreischende Radio verstummt war, kamen ihr die Nebengeräusche in der Wohnung jetzt doppelt so laut vor. Das gluckernde Brummen ihres Kühlschranks drang von der Küche bis ins Schlafzimmer. Für einen Moment hörte es sich an, als ob sich das altersschwache Gerät an seiner eigenen Kühlflüssigkeit verschluckte.
Wenn das mal kein Zeichen ist.
Ira stand auf.
Also schön. Dann eben die Tabletten.
Aber die wollte sie nicht mit dem billigen Wodka von der Tankstelle hinunterspülen. Das Letzte, was sie im Leben genoss, sollte ein Gesöff sein, das sie wegen des Geschmacks und nicht nur wegen seiner Wirkung in sich reinkippte. Eine Cola light. Am besten die neue mit Zitronengeschmack.
Genau. Das war eine gute Henkersmahlzeit. Eine Cola light Lemon und eine Überdosis Digoxin zum Nachtisch. Sie ging in den Flur, griff sich ihre Haustürschlüssel und warf einen Blick in den großen Wandspiegel, an dessen linker oberer Ecke bereits die Beschichtung vom Glas abblätterte.
Schlimm, wie du aussiehst, dachte sie. Heruntergekommen. Wie eine ungekämmte Allergikerin, deren Augen vom Heuschnupfen feuerrot und aufgequollen sind.
Egal. Sie wollte keinen Schönheitspreis mehr gewinnen. Nicht heute. Nicht an ihrem letzten Tag.
Sie nahm ihre abgewetzte schwarze Lederjacke vom Haken, die sie früher so gerne zu engen Jeans getragen hatte. Wenn man sie genau ansah, konnte man trotz der tiefen dunklen Augenringe erahnen, dass sie einmal für den Jahreskalender der Polizei hatte posieren dürfen. Damals, in einem anderen Leben. Als ihre Fingernägel noch gefeilt und die hohen Wangenknochen dezent geschminkt waren. Heute versteckte sie ihre Füße in halbhohen Leinen-Turnschuhen und die schlanken Beine in einer blassgrünen, ausgeleierten Cargo-Hose. Sie ging schon seit Monaten nicht mehr zum Friseur, aber ihr langes, schwarzes Haar wies noch keine einzige graue Strähne auf, und die geraden Zähne waren schneeweiß, trotz der unzähligen Tassen schwarzen Kaffees, die sie täglich in sich reinkippte. Überhaupt hatte ihre Arbeit als Kriminalpsychologin, bei der sie als Verhandlerin einige der gefährlichsten SEK-Einsätze der Republik durchgestanden hatte, nur wenig äußerlich sichtbare Schäden nach sich gezogen. Ihre einzige Narbe verlief kaum sichtbar knapp zehn Zentimeter unter ihrem Bauchnabel. Kaiserschnitt. Sie verdankte sie ihrer Tochter Sara. Ihrer Erstgeborenen.
Vielleicht war es auch ihr Glück, dass Ira nie mit dem Rauchen angefangen hatte und sich deshalb eine faltenfreie Haut bewahrte. Oder ihr Pech, weil sie stattdessen der Ersatzdroge Alkohol verfallen war.
Doch damit ist jetzt Schluss, dachte sie sarkastisch. Mein Mentor wäre stolz auf mich. Ab sofort werde ich keinen Schluck mehr trinken und es sogar durchhalten. Denn jetzt gibt es nur noch Cola light. Vielleicht sogar mit Zitrone, wenn Hakan dieses Getränk führt.
Sie ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen und atmete den typischen Geruch von Reinigungsmitteln, Straßenstaub und Küchendüften ein, den Berliner Altbau-Treppenhäuser regelmäßig verströmen. Ähnlich intensiv wie das Gemisch aus Dreck, Zigarettenqualm und Schmieröl, der einem aus U-Bahnhöfen entgegenschlägt.
Das werde ich vermissen, dachte Ira. Viel ist es nicht, aber die Gerüche werden mir fehlen.
Sie hatte keine Angst. Nicht vor dem Tod. Eher, dass es danach doch noch nicht vorbei sein könnte. Dass die Schmerzen nicht aufhörten, weil das Bild ihrer toten Tochter sie auch nach dem letzten Herzschlag noch verfolgte.
Das Bild von Sara.
Ira ignorierte ihren überquellenden Aluminiumbriefkasten im Hausflur und trat fröstelnd in die warme Frühlingssonne. Sie zog ihr Portemonnaie hervor, nahm das letzte Geld heraus und warf die Brieftasche in einen offenen Baucontainer am Straßenrand. Mitsamt Ausweis, Führerschein, Kreditkarten und dem Fahrzeugschein für ihren altersschwachen Alfa. In wenigen Minuten würde sie das alles nicht mehr benötigen.
Genehmigt Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Copyright der Originalausgabe 2007 by Knaur Taschenbuch.
Und ich könnte es dir nicht einmal verübeln, dachte Ira. Nach dem, was ich getan habe.
Sie öffnete die Augen und sah sich um. Da es eine offene amerikanische Küche war, konnte sie von ihrem Platz aus das gesamte Wohnzimmer überblicken. Würden die warmen Sonnenstrahlen des Frühlings nicht so unsagbar fröhlich auf die ungeputzten Fensterscheiben knallen, hätte sie sogar noch einen Blick auf den Balkon und den dahinter liegenden Viktoriapark werfen können. Hitler, schoss es Ira Samin durch den Kopf, als ihre Augen im Wohnzimmer an ihrer kleinen Bücherwand hängen blieben. Sie hatte während der Ausbildung bei der Hamburger Polizei ihre Doktorarbeit über den Diktator geschrieben. »Die psychologische Manipulation der M assen«. Wenn der Irre eine Sache richtig gemacht hat, dachte sie, dann seine Selbsthinrichtung im Führerbunker. Er hatte sich ebenfalls in den Mund geschossen. Doch aus Angst, dabei etwas falsch zu machen und den Alliierten am Ende als Krüppel in die Hände zu fallen, biss er kurz vor dem Todesschuss noch auf eine Zyankalikapsel.
Vielleicht sollte ich es genauso anstellen? Ira zögerte. Aber es war nicht das Zögern einer Selbstmörderin, die eigentlich bloß einen Hilferuf an ihre Umwelt richtet. Ganz im Gegenteil. Ira wollte auf Nummer sicher gehen. Und ein ausreichender Vorrat an Giftkapseln lag ja griffbereit in dem Gefrierfach ihres Kühlschranks. Digoxin, hochkonzentriert. Sie hatte den Beutel bei dem wichtigsten Einsatz ihres Lebens neben der Badewanne gefunden und niemals in der Asservatenkammer abgegeben. Aus gutem Grund. Andererseits, Ira schob den Lauf im Mund fast bis an die Würgegrenze vor und hielt ihn völlig zentriert. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich mir nur den Kiefer zerstöre und die Kugel an den lebenswichtigen Adern vorbei durch irrelevante Teile des Gehirns jage?
Klein. Sehr klein. Aber nicht völlig ausgeschlossen!
Erst vor zehn Tagen hatte man an einer Ampel im Tiergarten einem Mitglied der Hells Angels in den Kopf geschossen. Der Mann sollte schon im nächsten Monat aus dem Krankenhaus entlassen werden.
Die Wahrscheinlichkeit aber, dass sich so etwas wiederholte, war ...Peng!
Ira erschrak so heftig durch den plötzlich einsetzenden Krach, dass sie sich mit der Waffe den Gaumen blutig schabte. Verdammt. Sie zog den Lauf wieder aus ihrem Mund.
Es war kurz vor halb acht, und sie hatte den idiotischen Radiowecker vergessen, der jeden Tag um diese Uhrzeit lautstark losschlug. Im Augenblick heulte sich eine junge Frau die Augen aus dem Kopf, weil sie bei einem dieser bescheuerten Radiospiele verloren hatte. Ira legte ihre Waffe auf den Küchentisch und schlurfte träge in ihr abgedunkeltes Schlafzimmer, aus dem das Gejammer bis in die Küche drang:
»... wir haben Sie per Zufall aus dem Telefonbuch ausgewählt, und Ihnen würden jetzt fünfzigtausend Euro gehören, wenn Sie sich mit der Kohle-Parole gemeldet hätten, Marina.«
»Hab ich doch — >Ich höre 101Punkt5 und jetzt her mit dem Zaster<.«
»Zu spät. Sie haben leider zuerst Ihren Namen gesagt. Die Kohle-Parole muss aber sofort nach dem Abheben kommen, und deshalb ...«
Ira zog entnervt den Stecker aus der Wand. Wenn sie sich schon umbringen wollte, dann sicherlich nicht unter dem hysterischen Gekreische einer verzweifelten Bürokauffrau, die gerade einen Hauptgewinn verspielt hatte.
Ira setzte sich auf das ungemachte Bett und starrte in ihren geöffneten Kleiderschrank, in dem es aussah wie in einer halb gefüllten Waschmaschine. Irgendwann hatte sie beschlossen, die durchgebrochene Kleiderstange nicht mehr auszutauschen.So ein Mist!
Sie war noch nie eine gute Organisatorin gewesen. Nicht, wenn es um ihr eigenes Leben ging. Und erst recht nicht bei ihrem eigenen Tod. Als sie heute Morgen aufgewacht war, auf dem gekachelten Fußboden, direkt neben der Kloschüssel, da wusste sie, dass es jetzt so weit war. Dass sie nicht mehr konnte. Nicht mehr wollte. Dabei ging es ihr weniger um das Aufwachen als um den ewig gleichen Traum, der sie seit einem Jahr heimsuchte. Den, in dem sie immer wieder die gleiche Treppe hinaufging. Auf jeder Stufe lag ein Zettel. Nur nicht auf der letzten. Wieso nicht?
Ira stellte fest, dass sie beim Nachdenken die Luft angehalten hatte, und atmete schwer aus. Nachdem das kreischende Radio verstummt war, kamen ihr die Nebengeräusche in der Wohnung jetzt doppelt so laut vor. Das gluckernde Brummen ihres Kühlschranks drang von der Küche bis ins Schlafzimmer. Für einen Moment hörte es sich an, als ob sich das altersschwache Gerät an seiner eigenen Kühlflüssigkeit verschluckte.
Wenn das mal kein Zeichen ist.
Ira stand auf.
Also schön. Dann eben die Tabletten.
Aber die wollte sie nicht mit dem billigen Wodka von der Tankstelle hinunterspülen. Das Letzte, was sie im Leben genoss, sollte ein Gesöff sein, das sie wegen des Geschmacks und nicht nur wegen seiner Wirkung in sich reinkippte. Eine Cola light. Am besten die neue mit Zitronengeschmack.
Genau. Das war eine gute Henkersmahlzeit. Eine Cola light Lemon und eine Überdosis Digoxin zum Nachtisch. Sie ging in den Flur, griff sich ihre Haustürschlüssel und warf einen Blick in den großen Wandspiegel, an dessen linker oberer Ecke bereits die Beschichtung vom Glas abblätterte.
Schlimm, wie du aussiehst, dachte sie. Heruntergekommen. Wie eine ungekämmte Allergikerin, deren Augen vom Heuschnupfen feuerrot und aufgequollen sind.
Egal. Sie wollte keinen Schönheitspreis mehr gewinnen. Nicht heute. Nicht an ihrem letzten Tag.
Sie nahm ihre abgewetzte schwarze Lederjacke vom Haken, die sie früher so gerne zu engen Jeans getragen hatte. Wenn man sie genau ansah, konnte man trotz der tiefen dunklen Augenringe erahnen, dass sie einmal für den Jahreskalender der Polizei hatte posieren dürfen. Damals, in einem anderen Leben. Als ihre Fingernägel noch gefeilt und die hohen Wangenknochen dezent geschminkt waren. Heute versteckte sie ihre Füße in halbhohen Leinen-Turnschuhen und die schlanken Beine in einer blassgrünen, ausgeleierten Cargo-Hose. Sie ging schon seit Monaten nicht mehr zum Friseur, aber ihr langes, schwarzes Haar wies noch keine einzige graue Strähne auf, und die geraden Zähne waren schneeweiß, trotz der unzähligen Tassen schwarzen Kaffees, die sie täglich in sich reinkippte. Überhaupt hatte ihre Arbeit als Kriminalpsychologin, bei der sie als Verhandlerin einige der gefährlichsten SEK-Einsätze der Republik durchgestanden hatte, nur wenig äußerlich sichtbare Schäden nach sich gezogen. Ihre einzige Narbe verlief kaum sichtbar knapp zehn Zentimeter unter ihrem Bauchnabel. Kaiserschnitt. Sie verdankte sie ihrer Tochter Sara. Ihrer Erstgeborenen.
Vielleicht war es auch ihr Glück, dass Ira nie mit dem Rauchen angefangen hatte und sich deshalb eine faltenfreie Haut bewahrte. Oder ihr Pech, weil sie stattdessen der Ersatzdroge Alkohol verfallen war.
Doch damit ist jetzt Schluss, dachte sie sarkastisch. Mein Mentor wäre stolz auf mich. Ab sofort werde ich keinen Schluck mehr trinken und es sogar durchhalten. Denn jetzt gibt es nur noch Cola light. Vielleicht sogar mit Zitrone, wenn Hakan dieses Getränk führt.
Sie ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen und atmete den typischen Geruch von Reinigungsmitteln, Straßenstaub und Küchendüften ein, den Berliner Altbau-Treppenhäuser regelmäßig verströmen. Ähnlich intensiv wie das Gemisch aus Dreck, Zigarettenqualm und Schmieröl, der einem aus U-Bahnhöfen entgegenschlägt.
Das werde ich vermissen, dachte Ira. Viel ist es nicht, aber die Gerüche werden mir fehlen.
Sie hatte keine Angst. Nicht vor dem Tod. Eher, dass es danach doch noch nicht vorbei sein könnte. Dass die Schmerzen nicht aufhörten, weil das Bild ihrer toten Tochter sie auch nach dem letzten Herzschlag noch verfolgte.
Das Bild von Sara.
Ira ignorierte ihren überquellenden Aluminiumbriefkasten im Hausflur und trat fröstelnd in die warme Frühlingssonne. Sie zog ihr Portemonnaie hervor, nahm das letzte Geld heraus und warf die Brieftasche in einen offenen Baucontainer am Straßenrand. Mitsamt Ausweis, Führerschein, Kreditkarten und dem Fahrzeugschein für ihren altersschwachen Alfa. In wenigen Minuten würde sie das alles nicht mehr benötigen.
Genehmigt Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Copyright der Originalausgabe 2007 by Knaur Taschenbuch.
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Autoren-Porträt von Sebastian Fitzek
Sebastian Fitzek wurde 1971 in Berlin geboren, wo er heute als Journalist und Autor für zahlreiche Hörfunkstationen und TV-Sender tätig ist. Gleich sein erster Psychothriller "Die Therapie" eroberte die Taschenbuch-Bestsellerliste und begeisterte Kritiker wie Leser gleichermaßen. Mit den darauf folgenden Bestsellern "Amokspiel" und "Das Kind" festigte er seinen Ruf als neuer deutscher Star des Psychothrillers.
Bibliographische Angaben
- Autor: Sebastian Fitzek
- 2010, 1, 430 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3828989888
- ISBN-13: 9783828989887
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