An der Hand meiner Schwester
Deutschland 1945: Bärbel wird von ihrer Mutter nach Thüringen zu ihrer Schwester Eva geschickt. Eines Tages brechen die Mädchen auf zurück zur Mutter. Vor den beiden liegt ein qualvoller Weg nach Hamburg.
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Deutschland 1945: Bärbel wird von ihrer Mutter nach Thüringen zu ihrer Schwester Eva geschickt. Eines Tages brechen die Mädchen auf zurück zur Mutter. Vor den beiden liegt ein qualvoller Weg nach Hamburg.
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An der Hand meiner Schwester von Bärbel Probert-WrightProlog
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Ich presste mich so flach auf den harten Boden, wie ich konnte. »Stell dich tot«, hatte meine Schwester gesagt, und ich befolgte ihre Anweisung. Mein rechtes Bein war verdreht, und der Schmerz begann durch meinen ganzen Körper zu wandern. Ich hatte blaue Flecken, Schürfwunden und stand unter Schock, die Kälte des Bodens kroch in meine Knochen. Doch der Feind durfte mich nicht entdecken, das würde den Tod bedeuten.
Ich hörte Granaten heulen und mit einem dumpfen Krachen über mir in den Berg einschlagen, und manchmal das Ächzen der Bäume, die durch eine Explosion entwurzelt wurden.
Ein wütendes Trommelfeuer war die Antwort.
Nach etlichen Salven war es endlich still. Ich wagte kaum zu atmen.
Dann hörte ich, wie Zweige knackten und eine Stimme neben mir sagte: »Komm, Kleine, aufstehen! Du schaffst es.«
Eine große Hand fasste die meine, zwei Augen blitzten mich unter einem dunklen, lockigen Haarschopf aufmunternd an, und ich wurde von dem Soldaten, der mich bereits in den Schutz der Bäume geschleppt hatte, wieder auf die Beine gezogen.
Er machte eine kurze Pause, lächelte verschmitzt und sagte: »So, da müssen wir jetzt wieder rauf, damit dir nichts passiert.« Seit seine derbe Hand meine umschloss, hatte ich das Gefühl, mir könne nichts mehr geschehen.
Auf Wildwechseln kletterten wir durch das Unterholz den Berg hinauf. Auf einer Lichtung kurz vor der Anhöhe wartete Eva auf uns. Sie hatte hinter einem Holzstapel Deckung gefunden, und als sie uns kommen sah, stürzte sie aus ihrem Versteck, nahm mich in die Arme und drückte mich fest an sich. Dann zupfte sie die Blätter und Holzsplitter von meiner Kleidung und band mein rotweißes Kopftuch über meinen hübschen Zöpfen neu.
»Ich dachte schon, ich hätte dich verloren«, schluchzte sie vor Erleichterung.
Vorwort
Der Zweite Weltkrieg riss Millionen von Familien auseinander, und niemand, der in dieser Zeit lebte, blieb davon verschont. Ich war damals ein kleines Mädchen, das wohlbehütet und beschützt vor den grauenhaften Ereignissen, die Europa verwüsteten, in einer fürsorglichen Familie heranwuchs, und bis kurz vor Kriegsende, als Deutschland vor dem Zusammenbruch stand und seine Niederlage und Besetzung absehbar waren, hatte ich keine Ahnung, was dieser Krieg wirklich bedeutete.
Dann konnte mich die Liebe meiner Familie nicht mehr schützen. Mit meiner neunzehnjährigen Schwester Eva wurde ich in den Mahlstrom geworfen. Auf der Suche nach unserer geliebten Mutter und ohne Nachricht über den Verbleib unseres an der Front vermissten Vaters waren wir auf der Flucht durch Deutschland, durchquerten Schlachtfelder, sahen um uns Menschen sterben, flüchteten¬ vor Geschützfeuer, schliefen auf dem Boden und hungerten. Ich sah Dinge, die ein Kind niemals sehen sollte.
Aber in all meinen Gedanken an diese finstere Zeit ist die Erinnerung an die überwältigende Freundlichkeit, an die unglaubliche Selbstlosigkeit, Großzügigkeit und Opferbereitschaft der Menschen auf beiden Seiten doch am stärksten.
Innerhalb weniger Monate durchlebte ich in meiner kindlichen Unschuld die Erfahrungen eines ganzen Menschenlebens. Es sollte Jahre dauern, bis ich ganz verstanden hatte, was um mich herum geschehen war. Und erst dann konnte ich den Mut und die Selbstlosigkeit meiner Schwester Eva in vollem Umfang begreifen.
Eva ist inzwischen gestorben. Ich bin mir nicht sicher, ob sie, wenn sie noch lebte, damit einverstanden wäre, dass dieses Buch sie in den Mittelpunkt rückt: Zeitlebens hat sie nicht viel Aufhebens um sich gemacht, sie war warmherzig und kümmerte sich aufopferungsvoll um andere. Ich möchte ihr keinen Heiligenschein verpassen - sie war eine sehr vergnügte, lebenslustige Person mit einem feinen Sinn für Humor, und sie wusste sich zu amüsieren. Was sie tat, hielt sie für selbstverständlich. Zu helfen war ihr ein natürliches Bedürfnis. Sie liebte mich, also beschützte sie mich und kümmerte sich um mich. Mehr kann ein Kind sich nicht wünschen.
Die Geschehnisse in diesen wenigen Monaten sind mir immer gegenwärtig, aber je älter ich werde und je gemächlicher mein Leben voranschreitet, umso öfter denke ich an sie, umso näher fühle ich mich dieser Zeit.
Während ich schreibe, sitzt meine Enkelin Amy-Lou neben mir am Tisch und malt ein Bild in ihrem Malbuch aus. Gleich wird sie den Kopf heben und mich bitten, mit ihr zum Teich zu gehen und die Enten zu füttern.
Amy-Lou ist sieben, so alt wie ich damals war, als die Dinge geschahen, von denen diese Geschichte berichtet. Wenn ich ihr niedliches Köpfchen betrachte, mit dem sie so ernsthaft und konzentriert über ihrem Malbuch sitzt, dann hoffe ich, dass sie niemals so harte Zeiten wird durchmachen müssen wie ich damals. Ich könnte es nicht ertragen, sie in eine Welt hineinwachsen zu sehen, in der solche Dinge geschehen.
Und doch gibt es, wenn man sich auf der Welt umsieht, viele Gegenden, in denen Kinder leiden und noch mehr zu erleiden haben, als ich es tat. Es zerreißt mir das Herz, wenn ich an die Kleinen denke, an Kinder wie meine Enkelin, die Terror und Hunger ausgesetzt sind.
Dennoch bereue ich nicht, was ich durchgemacht habe. Jung wie ich war, formte es meinen Charakter, gab mir die Entschlossenheit, den Dingen auf den Grund zu gehen. In gewisser Weise hat es mich auch erkennen lassen, was uns allen heute viel zu selbstverständlich erscheint: welche Macht der Liebe innewohnt. Die Liebe zu unserer Mutter gab uns auf unserer Irrfahrt immer wieder Kraft, und Evas Liebe schützte und umsorgte mich.
Mein Buch ist ein Zeugnis dieser Liebe.
EINE BEHÜTETE HAMBURGER KINDHEIT
Zwei Wochen nach meinem zweiten Geburtstag brach die bittere, düstere und niederschmetternde Zeit des Zweiten Weltkriegs über Europa herein. Ich war ein Dreikäsehoch und begriff von alledem nichts, ich hatte ein behagliches Zuhause in einem wohlhabenden, bürgerlichen Stadtteil von Hamburg. Für ein Kind in diesem Alter sind Liebe, Wärme und Nahrung die wichtigsten Zutaten zum Glück. Ich besaß alle drei im Überfluss.
Ungeachtet des Weltgeschehens erlebte ich eine idyllische Kindheit, bis 1943 meine geliebte Schwester Ruth starb.
Ihr Tod hatte nichts mit dem Krieg zu tun. Sie starb ganz plötzlich und tragisch im Alter von neunzehn Jahren an Diphtherie. Zuvor war meine Welt völlig sorglos gewesen, in unserem Leben ging alles seinen gewohnten Gang. Das Glück ist viel schwieriger zu beschreiben als das Elend, aber ich möchte es versuchen, denn die Unschuld und Unbeschwertheit dieser frühen Tage ließ uns die Schrecken der letzten Kriegsjahre nur noch stärker verspüren.
Bald sollte unsere heile Welt ein für alle Mal zertrümmert sein, doch in meinen ersten Lebensjahren war noch alles vollkommen.
Wir bewohnten eine geräumige Wohnung im dritten Stockwerk an der Wandsbeker Chaussee, einer bekannten Hauptstraße in Hamburg, die von eindrucksvollen Mietshäusern wie dem unseren gesäumt wurde. Unsere Wohnung hatte einen langen, breiten Korridor, groß genug, um eine Schaukel für mich aufzuhängen und um Rollschuh zu fahren, und einen Balkon zur Hauptstraße hinaus. In einer meiner frühesten Erinnerungen sitze ich mit einer großen Schüssel Stachelbeeren auf dem Balkon. Ich bin vier Jahre alt und darf meiner Mutter helfen. Mit einem stumpfen Messer putze und schnipple ich die Beeren. Der Balkon unter uns war mit einer Markise überspannt, und als mir versehentlich eine Beere aus der Schale hüpfte, fiel sie auf die Markise herab und sprang mit einem »ping, ping, ping« über den straffen Markisenstoff. Was für ein wunderbares Geräusch!, dachte ich, und schon sprang eine zweite Beere über den Schüssel-rand. Es dauerte nicht lange, dann hatte ich eine Stachelbeere nach der anderen einen Stock tiefer befördert, nur um ihren Aufprall zu hören. Als meine Mutter es bemerkte, war sie ärgerlich.
»Was hast du dir nur dabei gedacht, mein Schatz? Das war sehr ungezogen!«, schimpfte sie. Richtig böse konnte sie mir allerdings nicht sein, ich wusste, dass sie den Vorfall eher lustig fand. Nie wieder, sagte sie, würde sie mir eine Schüssel Stachelbeeren mit auf den Balkon geben, und von dem Tag an musste ich zum Stachelbeerenputzen in der Wohnung sitzen.
Ich war viel jünger als meine beiden Schwestern. Ruth war vierzehn, als ich zur Welt kam, Eva zwölf. Für mich war es, als hätte ich drei Mütter, denn alle behüteten mich sehr. Ich wurde nicht mit Geschenken verwöhnt und man verlangte stets, dass ich freundlich war und mich gut benahm. Doch die Aufmerksamkeit und die Zuwendung, die ich erhielt, waren wundervoll, und in der Wohnung schien sich tatsächlich alles um mich zu drehen. Meine Familie nannte mich Puppe oder Kleine.
Als kleines Mädchen tänzelte ich ständig auf Zehenspitzen durch die Wohnung und sang. Ich besuchte einen Kindergarten, den eine fürsorgliche Dame leitete, wir lernten Lieder, erfanden immer neue Rollenspiele und beschäftigten uns mit einfachen Basteleien. Wir unternahmen Ausflüge, spazierten unter Aufsicht in Zweierreihen, einander an der Hand haltend, den breiten Fußweg am Kanal entlang. Wir übten kleine Theaterstücke ein, einmal spielte ich eine Schneeflocke, ein andermal ein Kaninchen. Zum Muttertag bastelte ich einen leuchtend bunten Papierstrauß für meine Mutti.
Begleitet von meiner Familie besuchte ich einen Sportverein in unserem Viertel, wo kleine Kinder besondere Vergünstigungen erhielten und ich mit meiner besten Freundin Inge spielte. Sie hatte eine Zwillingsschwester, und beide gingen in denselben Kindergarten wie ich.
Inzwischen war der Krieg voll im Gange, doch ich wusste nichts davon. Die Schreckenszenen, die sich weit entfernt in anderen Ländern abspielten, als deutsche Armeen durch Europa marschierten, hatten keine Auswirkungen auf meine Welt. Meine liebevolle Familie umhegte und schützte mich. Welche Sorgen und Ängste ihnen der Krieg auch bereitete, sie hielten es vor mir verborgen. Ich ahnte nichts.
Als ich geboren wurde, war mein Vater, Waldemar oder Waldi, wie ihn meine Mutter nannte, bereits vierzig, zu alt, um als Soldat zu den Waffen gerufen zu werden - zumindest zu Beginn des Krieges. Er hatte im Ersten Weltkrieg gedient, war über dem Kanal in einem Flugzeug abgeschossen worden und hatte eine verkrüppelte Hand und andere bleibende Verletzungen davongetragen. Wegen seines Alters, seiner Dienstbescheinigung, seiner Kriegsverletzungen und aufgrund der Tatsache, dass er in einem kriegswichtigen Betrieb arbeitete, konnte er bei uns zu Hause bleiben. Er bekleidete eine leitende Stellung bei der Eisenbahn, seine Aufgabe war es, Anschläge auf das Schienennetz und auf Züge zu verhindern.
In den ersten Kriegsjahren wurde er manchmal zur Arbeit ins »Warthegau« abkommandiert. Nach dem Ersten Weltkrieg war das »Warthegau« Polen zuerkannt und von Polen besiedelt worden, von denen die meisten nach dem deutschen Überfall von 1939 nach Südpolen evakuiert wurden. Ihre Höfe und Arbeitsstellen übernahmen Deutsche. Die Polen, die bereits vor dem Ersten Weltkrieg dort gelebt hatten, konnten größtenteils bleiben, doch nun arbeiteten sie für Deutsche. Mein Vater hatte den Auftrag, den Schmuggel zu unterbinden, der dort grassierte. Obwohl er weit weg von uns arbeitete, konnte er regelmäßig nach Hamburg reisen, und ich war gewohnt, dass er zu Hause war.
Während seiner Abwesenheit lebte mein Vater zur Miete in einer Wohnung in Posen (heute: Poznan), und wenn er nicht zu Besuch nach Hamburg kam, fuhren wir manchmal zu ihm und verbrachten einige Zeit dort. Meist reiste ich mit meiner Mutter allein, denn ich ging noch nicht zur Schule und hatte keine Verpflichtungen. Manchmal schlossen sich uns Eva und Ruth an und verbrachten ein Wochenende mit der Familie; dann gingen wir spazieren, spielten im Park oder sammelten Walderdbeeren.
Eine Sache, die mir bei unseren Aufenthalten bei meinem Vater besonders gefiel, waren die Besuche bei den Sundermanns. Sie waren mit meinem Vater befreundet und lebten in einem Gutshaus auf dem Land in der Nähe von Jarotschin, wo sie Landwirtschaft betrieben. Man fuhr die schwungvolle Zufahrt zu dem beeindruckenden Haus hinauf und parkte neben dem davor liegenden Springbrunnen. Die Sundermann-Familie - Onkel Hermann und Tante Frieda - eilte uns zur Begrüßung entgegen, dann gingen die Männer entweder zur Jagd oder man trank gemeinsam Tee und unterhielt sich. Ich spielte unterdessen mit den Kindern Heinz und Fritz, der eine ein Jahr älter, der andere ein Jahr jünger als ich. Wir waren dicke Freunde, wir tobten herum und hatten Spaß, während die Erwachsenen Karten spielten.
Das Anwesen war groß, und mein »Onkel« musste jeden Tag seine Runde machen, um die Feldarbeit zu beaufsichtigen. Er tat dies in einem zünftigen zweirädrigen Gespann, und zu meiner großen Freude durfte ich ihn manchmal begleiten. Wir holperten geschwind über hügelige Felder, und ich hatte immer ein wenig Angst, ich könnte herausfallen, obgleich ich es nie jemandem gestand, da man mich sonst nicht mehr mitgelassen hätte. Auf dem Gut gab es einige Pferde, die ich sehr groß und ein wenig unheimlich fand, aber wunderschön waren sie dennoch.
In der Nähe des Gutshauses lag ein See. Regelmäßig ruderten wir mit Picknickkörben beladen zum anderen Ufer hinüber und spielten dort zusammen. Die Gutsleute züchteten Tauben. Das große Taubenhaus, das wie ein Miniaturwohnhaus gebaut war, hatte es mir besonders angetan. Ich hätte den bunten Vögeln mit dem irisierenden Federkleid stundenlang zusehen können, wie sie in den kleinen Türen ein- und ausstolzierten. Wenn man klein ist, beeindrucken einen die merkwürdigsten Dinge und man vergisst sie nie: Bei den Sundermanns sah ich zum ersten Mal ein Plumpsklo. Ich war fasziniert! Die Toiletten, die ich kannte, hatten einen Absatz in der Toilettenschüssel, doch beim Plumpsklo fällt alles direkt ins Loch, sodass man das Wasser platschen hört, was mich enorm beeindruckte. Es waren unbeschwerte Tage. Ich pendelte zwischen meinem behaglichen Leben in Hamburg und dem Abenteuer des Landlebens und der Natur im Warthegau hin und her und war rundum glücklich.
...
Übersetzung: Dr. Holger Fock und Sabine Müller
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2006 by
Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Ich presste mich so flach auf den harten Boden, wie ich konnte. »Stell dich tot«, hatte meine Schwester gesagt, und ich befolgte ihre Anweisung. Mein rechtes Bein war verdreht, und der Schmerz begann durch meinen ganzen Körper zu wandern. Ich hatte blaue Flecken, Schürfwunden und stand unter Schock, die Kälte des Bodens kroch in meine Knochen. Doch der Feind durfte mich nicht entdecken, das würde den Tod bedeuten.
Ich hörte Granaten heulen und mit einem dumpfen Krachen über mir in den Berg einschlagen, und manchmal das Ächzen der Bäume, die durch eine Explosion entwurzelt wurden.
Ein wütendes Trommelfeuer war die Antwort.
Nach etlichen Salven war es endlich still. Ich wagte kaum zu atmen.
Dann hörte ich, wie Zweige knackten und eine Stimme neben mir sagte: »Komm, Kleine, aufstehen! Du schaffst es.«
Eine große Hand fasste die meine, zwei Augen blitzten mich unter einem dunklen, lockigen Haarschopf aufmunternd an, und ich wurde von dem Soldaten, der mich bereits in den Schutz der Bäume geschleppt hatte, wieder auf die Beine gezogen.
Er machte eine kurze Pause, lächelte verschmitzt und sagte: »So, da müssen wir jetzt wieder rauf, damit dir nichts passiert.« Seit seine derbe Hand meine umschloss, hatte ich das Gefühl, mir könne nichts mehr geschehen.
Auf Wildwechseln kletterten wir durch das Unterholz den Berg hinauf. Auf einer Lichtung kurz vor der Anhöhe wartete Eva auf uns. Sie hatte hinter einem Holzstapel Deckung gefunden, und als sie uns kommen sah, stürzte sie aus ihrem Versteck, nahm mich in die Arme und drückte mich fest an sich. Dann zupfte sie die Blätter und Holzsplitter von meiner Kleidung und band mein rotweißes Kopftuch über meinen hübschen Zöpfen neu.
»Ich dachte schon, ich hätte dich verloren«, schluchzte sie vor Erleichterung.
Vorwort
Der Zweite Weltkrieg riss Millionen von Familien auseinander, und niemand, der in dieser Zeit lebte, blieb davon verschont. Ich war damals ein kleines Mädchen, das wohlbehütet und beschützt vor den grauenhaften Ereignissen, die Europa verwüsteten, in einer fürsorglichen Familie heranwuchs, und bis kurz vor Kriegsende, als Deutschland vor dem Zusammenbruch stand und seine Niederlage und Besetzung absehbar waren, hatte ich keine Ahnung, was dieser Krieg wirklich bedeutete.
Dann konnte mich die Liebe meiner Familie nicht mehr schützen. Mit meiner neunzehnjährigen Schwester Eva wurde ich in den Mahlstrom geworfen. Auf der Suche nach unserer geliebten Mutter und ohne Nachricht über den Verbleib unseres an der Front vermissten Vaters waren wir auf der Flucht durch Deutschland, durchquerten Schlachtfelder, sahen um uns Menschen sterben, flüchteten¬ vor Geschützfeuer, schliefen auf dem Boden und hungerten. Ich sah Dinge, die ein Kind niemals sehen sollte.
Aber in all meinen Gedanken an diese finstere Zeit ist die Erinnerung an die überwältigende Freundlichkeit, an die unglaubliche Selbstlosigkeit, Großzügigkeit und Opferbereitschaft der Menschen auf beiden Seiten doch am stärksten.
Innerhalb weniger Monate durchlebte ich in meiner kindlichen Unschuld die Erfahrungen eines ganzen Menschenlebens. Es sollte Jahre dauern, bis ich ganz verstanden hatte, was um mich herum geschehen war. Und erst dann konnte ich den Mut und die Selbstlosigkeit meiner Schwester Eva in vollem Umfang begreifen.
Eva ist inzwischen gestorben. Ich bin mir nicht sicher, ob sie, wenn sie noch lebte, damit einverstanden wäre, dass dieses Buch sie in den Mittelpunkt rückt: Zeitlebens hat sie nicht viel Aufhebens um sich gemacht, sie war warmherzig und kümmerte sich aufopferungsvoll um andere. Ich möchte ihr keinen Heiligenschein verpassen - sie war eine sehr vergnügte, lebenslustige Person mit einem feinen Sinn für Humor, und sie wusste sich zu amüsieren. Was sie tat, hielt sie für selbstverständlich. Zu helfen war ihr ein natürliches Bedürfnis. Sie liebte mich, also beschützte sie mich und kümmerte sich um mich. Mehr kann ein Kind sich nicht wünschen.
Die Geschehnisse in diesen wenigen Monaten sind mir immer gegenwärtig, aber je älter ich werde und je gemächlicher mein Leben voranschreitet, umso öfter denke ich an sie, umso näher fühle ich mich dieser Zeit.
Während ich schreibe, sitzt meine Enkelin Amy-Lou neben mir am Tisch und malt ein Bild in ihrem Malbuch aus. Gleich wird sie den Kopf heben und mich bitten, mit ihr zum Teich zu gehen und die Enten zu füttern.
Amy-Lou ist sieben, so alt wie ich damals war, als die Dinge geschahen, von denen diese Geschichte berichtet. Wenn ich ihr niedliches Köpfchen betrachte, mit dem sie so ernsthaft und konzentriert über ihrem Malbuch sitzt, dann hoffe ich, dass sie niemals so harte Zeiten wird durchmachen müssen wie ich damals. Ich könnte es nicht ertragen, sie in eine Welt hineinwachsen zu sehen, in der solche Dinge geschehen.
Und doch gibt es, wenn man sich auf der Welt umsieht, viele Gegenden, in denen Kinder leiden und noch mehr zu erleiden haben, als ich es tat. Es zerreißt mir das Herz, wenn ich an die Kleinen denke, an Kinder wie meine Enkelin, die Terror und Hunger ausgesetzt sind.
Dennoch bereue ich nicht, was ich durchgemacht habe. Jung wie ich war, formte es meinen Charakter, gab mir die Entschlossenheit, den Dingen auf den Grund zu gehen. In gewisser Weise hat es mich auch erkennen lassen, was uns allen heute viel zu selbstverständlich erscheint: welche Macht der Liebe innewohnt. Die Liebe zu unserer Mutter gab uns auf unserer Irrfahrt immer wieder Kraft, und Evas Liebe schützte und umsorgte mich.
Mein Buch ist ein Zeugnis dieser Liebe.
EINE BEHÜTETE HAMBURGER KINDHEIT
Zwei Wochen nach meinem zweiten Geburtstag brach die bittere, düstere und niederschmetternde Zeit des Zweiten Weltkriegs über Europa herein. Ich war ein Dreikäsehoch und begriff von alledem nichts, ich hatte ein behagliches Zuhause in einem wohlhabenden, bürgerlichen Stadtteil von Hamburg. Für ein Kind in diesem Alter sind Liebe, Wärme und Nahrung die wichtigsten Zutaten zum Glück. Ich besaß alle drei im Überfluss.
Ungeachtet des Weltgeschehens erlebte ich eine idyllische Kindheit, bis 1943 meine geliebte Schwester Ruth starb.
Ihr Tod hatte nichts mit dem Krieg zu tun. Sie starb ganz plötzlich und tragisch im Alter von neunzehn Jahren an Diphtherie. Zuvor war meine Welt völlig sorglos gewesen, in unserem Leben ging alles seinen gewohnten Gang. Das Glück ist viel schwieriger zu beschreiben als das Elend, aber ich möchte es versuchen, denn die Unschuld und Unbeschwertheit dieser frühen Tage ließ uns die Schrecken der letzten Kriegsjahre nur noch stärker verspüren.
Bald sollte unsere heile Welt ein für alle Mal zertrümmert sein, doch in meinen ersten Lebensjahren war noch alles vollkommen.
Wir bewohnten eine geräumige Wohnung im dritten Stockwerk an der Wandsbeker Chaussee, einer bekannten Hauptstraße in Hamburg, die von eindrucksvollen Mietshäusern wie dem unseren gesäumt wurde. Unsere Wohnung hatte einen langen, breiten Korridor, groß genug, um eine Schaukel für mich aufzuhängen und um Rollschuh zu fahren, und einen Balkon zur Hauptstraße hinaus. In einer meiner frühesten Erinnerungen sitze ich mit einer großen Schüssel Stachelbeeren auf dem Balkon. Ich bin vier Jahre alt und darf meiner Mutter helfen. Mit einem stumpfen Messer putze und schnipple ich die Beeren. Der Balkon unter uns war mit einer Markise überspannt, und als mir versehentlich eine Beere aus der Schale hüpfte, fiel sie auf die Markise herab und sprang mit einem »ping, ping, ping« über den straffen Markisenstoff. Was für ein wunderbares Geräusch!, dachte ich, und schon sprang eine zweite Beere über den Schüssel-rand. Es dauerte nicht lange, dann hatte ich eine Stachelbeere nach der anderen einen Stock tiefer befördert, nur um ihren Aufprall zu hören. Als meine Mutter es bemerkte, war sie ärgerlich.
»Was hast du dir nur dabei gedacht, mein Schatz? Das war sehr ungezogen!«, schimpfte sie. Richtig böse konnte sie mir allerdings nicht sein, ich wusste, dass sie den Vorfall eher lustig fand. Nie wieder, sagte sie, würde sie mir eine Schüssel Stachelbeeren mit auf den Balkon geben, und von dem Tag an musste ich zum Stachelbeerenputzen in der Wohnung sitzen.
Ich war viel jünger als meine beiden Schwestern. Ruth war vierzehn, als ich zur Welt kam, Eva zwölf. Für mich war es, als hätte ich drei Mütter, denn alle behüteten mich sehr. Ich wurde nicht mit Geschenken verwöhnt und man verlangte stets, dass ich freundlich war und mich gut benahm. Doch die Aufmerksamkeit und die Zuwendung, die ich erhielt, waren wundervoll, und in der Wohnung schien sich tatsächlich alles um mich zu drehen. Meine Familie nannte mich Puppe oder Kleine.
Als kleines Mädchen tänzelte ich ständig auf Zehenspitzen durch die Wohnung und sang. Ich besuchte einen Kindergarten, den eine fürsorgliche Dame leitete, wir lernten Lieder, erfanden immer neue Rollenspiele und beschäftigten uns mit einfachen Basteleien. Wir unternahmen Ausflüge, spazierten unter Aufsicht in Zweierreihen, einander an der Hand haltend, den breiten Fußweg am Kanal entlang. Wir übten kleine Theaterstücke ein, einmal spielte ich eine Schneeflocke, ein andermal ein Kaninchen. Zum Muttertag bastelte ich einen leuchtend bunten Papierstrauß für meine Mutti.
Begleitet von meiner Familie besuchte ich einen Sportverein in unserem Viertel, wo kleine Kinder besondere Vergünstigungen erhielten und ich mit meiner besten Freundin Inge spielte. Sie hatte eine Zwillingsschwester, und beide gingen in denselben Kindergarten wie ich.
Inzwischen war der Krieg voll im Gange, doch ich wusste nichts davon. Die Schreckenszenen, die sich weit entfernt in anderen Ländern abspielten, als deutsche Armeen durch Europa marschierten, hatten keine Auswirkungen auf meine Welt. Meine liebevolle Familie umhegte und schützte mich. Welche Sorgen und Ängste ihnen der Krieg auch bereitete, sie hielten es vor mir verborgen. Ich ahnte nichts.
Als ich geboren wurde, war mein Vater, Waldemar oder Waldi, wie ihn meine Mutter nannte, bereits vierzig, zu alt, um als Soldat zu den Waffen gerufen zu werden - zumindest zu Beginn des Krieges. Er hatte im Ersten Weltkrieg gedient, war über dem Kanal in einem Flugzeug abgeschossen worden und hatte eine verkrüppelte Hand und andere bleibende Verletzungen davongetragen. Wegen seines Alters, seiner Dienstbescheinigung, seiner Kriegsverletzungen und aufgrund der Tatsache, dass er in einem kriegswichtigen Betrieb arbeitete, konnte er bei uns zu Hause bleiben. Er bekleidete eine leitende Stellung bei der Eisenbahn, seine Aufgabe war es, Anschläge auf das Schienennetz und auf Züge zu verhindern.
In den ersten Kriegsjahren wurde er manchmal zur Arbeit ins »Warthegau« abkommandiert. Nach dem Ersten Weltkrieg war das »Warthegau« Polen zuerkannt und von Polen besiedelt worden, von denen die meisten nach dem deutschen Überfall von 1939 nach Südpolen evakuiert wurden. Ihre Höfe und Arbeitsstellen übernahmen Deutsche. Die Polen, die bereits vor dem Ersten Weltkrieg dort gelebt hatten, konnten größtenteils bleiben, doch nun arbeiteten sie für Deutsche. Mein Vater hatte den Auftrag, den Schmuggel zu unterbinden, der dort grassierte. Obwohl er weit weg von uns arbeitete, konnte er regelmäßig nach Hamburg reisen, und ich war gewohnt, dass er zu Hause war.
Während seiner Abwesenheit lebte mein Vater zur Miete in einer Wohnung in Posen (heute: Poznan), und wenn er nicht zu Besuch nach Hamburg kam, fuhren wir manchmal zu ihm und verbrachten einige Zeit dort. Meist reiste ich mit meiner Mutter allein, denn ich ging noch nicht zur Schule und hatte keine Verpflichtungen. Manchmal schlossen sich uns Eva und Ruth an und verbrachten ein Wochenende mit der Familie; dann gingen wir spazieren, spielten im Park oder sammelten Walderdbeeren.
Eine Sache, die mir bei unseren Aufenthalten bei meinem Vater besonders gefiel, waren die Besuche bei den Sundermanns. Sie waren mit meinem Vater befreundet und lebten in einem Gutshaus auf dem Land in der Nähe von Jarotschin, wo sie Landwirtschaft betrieben. Man fuhr die schwungvolle Zufahrt zu dem beeindruckenden Haus hinauf und parkte neben dem davor liegenden Springbrunnen. Die Sundermann-Familie - Onkel Hermann und Tante Frieda - eilte uns zur Begrüßung entgegen, dann gingen die Männer entweder zur Jagd oder man trank gemeinsam Tee und unterhielt sich. Ich spielte unterdessen mit den Kindern Heinz und Fritz, der eine ein Jahr älter, der andere ein Jahr jünger als ich. Wir waren dicke Freunde, wir tobten herum und hatten Spaß, während die Erwachsenen Karten spielten.
Das Anwesen war groß, und mein »Onkel« musste jeden Tag seine Runde machen, um die Feldarbeit zu beaufsichtigen. Er tat dies in einem zünftigen zweirädrigen Gespann, und zu meiner großen Freude durfte ich ihn manchmal begleiten. Wir holperten geschwind über hügelige Felder, und ich hatte immer ein wenig Angst, ich könnte herausfallen, obgleich ich es nie jemandem gestand, da man mich sonst nicht mehr mitgelassen hätte. Auf dem Gut gab es einige Pferde, die ich sehr groß und ein wenig unheimlich fand, aber wunderschön waren sie dennoch.
In der Nähe des Gutshauses lag ein See. Regelmäßig ruderten wir mit Picknickkörben beladen zum anderen Ufer hinüber und spielten dort zusammen. Die Gutsleute züchteten Tauben. Das große Taubenhaus, das wie ein Miniaturwohnhaus gebaut war, hatte es mir besonders angetan. Ich hätte den bunten Vögeln mit dem irisierenden Federkleid stundenlang zusehen können, wie sie in den kleinen Türen ein- und ausstolzierten. Wenn man klein ist, beeindrucken einen die merkwürdigsten Dinge und man vergisst sie nie: Bei den Sundermanns sah ich zum ersten Mal ein Plumpsklo. Ich war fasziniert! Die Toiletten, die ich kannte, hatten einen Absatz in der Toilettenschüssel, doch beim Plumpsklo fällt alles direkt ins Loch, sodass man das Wasser platschen hört, was mich enorm beeindruckte. Es waren unbeschwerte Tage. Ich pendelte zwischen meinem behaglichen Leben in Hamburg und dem Abenteuer des Landlebens und der Natur im Warthegau hin und her und war rundum glücklich.
...
Übersetzung: Dr. Holger Fock und Sabine Müller
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2006 by
Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von Bärbel Probert-Wright
Bärbel Probert-Wright, vor dem Zweiten Weltkrieg in Hamburg geboren, ging 1945 mit ihrer großen Schwester quer durch Deutschland. Später studierte sie in London und Genf und ließ sich dann in England nieder. Heute lebt sie mit ihrem britischen Mann in der Nähe von London. Nach Evas Tod fand sie deren Kriegstagebuch und beschloss, ihre Geschichte zu erzählen. Die Erlebnisse der beiden Mädchen fesselten in England das Fernsehpublikum, ihr Buch wurde über Nacht zum Bestseller.
Bibliographische Angaben
- Autor: Bärbel Probert-Wright
- 2012, 1, 368 Seiten, teilweise Schwarz-Weiß-Abbildungen, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863651669
- ISBN-13: 9783863651664
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