Angelique, 3 Bände
"Die junge Marquise", "Hochzeit wider Willen" und "Am Hof des Königs"
Die junge Marquise:
Frankreich 1646. Angélique, die Tochter des verarmten Barons Armand de Sancé, wächst auf dem Schloss ihres Vaters zu einer schönen, selbstbewussten jungen Frau heran. Doch die finanziellen...
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Produktinformationen zu „Angelique, 3 Bände “
Die junge Marquise:
Frankreich 1646. Angélique, die Tochter des verarmten Barons Armand de Sancé, wächst auf dem Schloss ihres Vaters zu einer schönen, selbstbewussten jungen Frau heran. Doch die finanziellen Nöte liefern den Baron seinem Gläubiger aus. Und dieser fordert einen Preis - Angélique.
Hochzeit wider Willen:
Angélique wird mit dem von Narben entstellten, aber unermesslich reichen Grafen Joffrey de Peyrac vermählt. Ihr anfängliches Entsetzen weicht bald tiefer Liebe und Hochachtung. Doch dem Paar ist nur eine kurze Zeit des Glücks beschieden, denn höfische Intrigen holen Joffrey ein. Wird Angélique ihren Mann vor seinen mächtigen Widersachern beschützen können?
Am Hof des Königs:
Angélique und ihr geliebter Joffrey haben mächtige Männer gegen sich aufgebracht. Diese sorgen dafür, dass Joffrey wegen angeblicher Ketzerei und Gotteslästerung in den berüchtigten Kerker der Bastille geworfen wird. Angélique setzt all ihre Hoffnung auf die Hilfe des Königs - und ahnt nicht, dass die Verschwörer genau damit rechnen.
"Angélique ist die unerschrockene, leidenschaftliche und stets bezaubernde Heldin der erfolgreichsten historischen Romanreihe, die jemals geschrieben wurde."
DAILY HERALD
Lese-Probe zu „Angelique, 3 Bände “
Angelique - Die junge Marquise von Anne GolonKapitel 1
1646
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Nounou«, fragte Angélique, »warum hat Gilles de Retz so viele kleine Kinder umgebracht?«
»Für den Satan, mein Kind. Gilles de Retz, der Menschenfresser von Machecoul, wollte der mächtigste Herr seiner Zeit sein. In seinem Schloss stand alles voller Destillierkolben, Phiolen und großen Kesseln mit roter Brühe, aus denen abscheuliche Dämpfe aufstiegen. Der Teufel verlangte als Opfergabe das Herz eines kleinen Kindes. Damit begannen die Verbrechen. Und die verzweifelten Mütter deuteten mit dem Finger auf den schwarzen Turm von Machecoul, um den ständig Raben kreisten, weil so viele Leichen unschuldiger Kinder in den Verliesen lagen.«
»Hat er die alle gefressen?«, fragte Angéliques jüngere Schwester Madelon mit zitternder Stimme.
»Nicht alle, das hätte er gar nicht geschafft«, antwortete die Amme.
Sie beugte sich über den Kessel, in dem Speck und Kohl vor sich hin köchelten, und rührte eine Weile schweigend in der Suppe. Hortense, Angélique und Madelon, die drei Töchter des Barons de Sancé de Monteloup, warteten, den Löffel neben ihren Suppenschalen erhoben, gespannt darauf, dass sie weitererzählte.
»Er tat Schlimmeres«, fuhr die Amme mit bitterer Stimme schließlich fort. »Zuerst ließ er das verschreckte, laut nach seiner Mutter rufende arme Ding zu sich bringen, während er selbst auf einem Bett lag und sich an seiner Angst weidete. Dann befahl er, das Kind an einer Art Halterung an der Wand aufzuhängen, die ihm die Brust und den Hals zuschnürte, sodass es kaum noch Luft bekam. Das Kind wehrte sich wie ein aufgehängtes Hühnchen, seine Schreie erstarben, die Augen traten ihm aus den Höhlen, es lief blau an. Und im großen Saal hörte man bloß das Lachen der grausamen Männer und das Stöhnen des kleinen Opfers. Dann ließ Gilles de Retz es wieder abnehmen. Er hob das Kleine auf seinen Schoß, drückte den Kopf des armen Engelchens an seine Brust und beruhigte es mit sanfter Stimme.
›Das war doch gar nicht so schlimm‹, sagte er. Sie hätten nur ein wenig Spaß haben wollen, aber jetzt wäre alles vorbei. Das Kind würde bunte Zuckermandeln bekommen, ein schönes Federbett und einen seidenen Anzug wie ein kleiner Page. Das Kind beruhigte sich. Freude glomm in seinen tränennassen Augen auf. Und in diesem Moment stieß ihm der Herr mit aller Kraft seinen Dolch in den Hals. Aber das Allerfurchtbarste geschah, wenn er junge Mädchen entführte.«
»Was machte er denn mit ihnen?«, fragte Hortense.
Da mischte sich der alte Guillaume ein, der neben dem Kamin saß und eine Tabakkarotte rieb.
»Seid doch still, verrückte Alte!«, brummte er in seinen gelblichen Bart. »Bei Eurem albernen Geschwätz wird sogar einem alten Soldaten wie mir ganz anders.«
Hitzig schwang die dralle Fantine Lozier zu ihm herum.
»Albernes Geschwätz ...? Man merkt, dass Ihr nicht aus dem Poitou stammt, Guillaume Lützen, ganz gewiss nicht. Geht nur hoch Richtung Nantes, dann seht Ihr schon bald das verfluchte Schloss von Machecoul. Es ist jetzt zweihundert Jahre her, seit die Verbrechen begangen wurden, und die Menschen bekreuzigen sich immer noch, wenn sie in seine Nähe kommen. Aber Ihr seid ja nicht von hier, Ihr wisst nichts über die Ahnen dieser Gegend.«
»Schöne Ahnen, wenn sie alle so sind wie Euer Gilles de Retz! «
»Gilles de Retz war ein so großer Sünder, dass kein Landstrich außer dem Poitou sich rühmen kann, je einen solchen Verbrecher gekannt zu haben! Und als er starb, nachdem er in Nantes vor Gericht gestellt und verurteilt worden war, und dabei seine Sünden bekannte und Gott um Verzeihung anflehte, da legten all die Mütter, deren Kinder er gequält und gefressen hatte, Trauerkleidung an.«
»Das ist ja allerhand!«, rief der alte Guillaume.
»Ja, so sind wir hier im Poitou. Groß in der Sünde und groß im Vergeben!«
Unwirsch rückte die Amme ein paar Töpfe auf dem Tisch zurecht und küsste ungestüm den kleinen Denis.
»Sicher«, fuhr sie fort, »ich bin nicht lange zur Schule gegangen, aber ich kenne den Unterschied zwischen Ammenmärchen und Geschichten aus vergangenen Zeiten. Gilles de Retz hat wirklich gelebt. Vielleicht irrt seine Seele immer noch in der Nähe von Machecoul herum, aber sein Körper ist hier in dieser Erde verfault. Darum darf man auch nicht so leichfertig über ihn reden wie über die Feen und Kobolde, die um die großen, aufrecht stehenden Steine in den Feldern herumstreifen. Obschon man auch über diese bösen Geister nicht allzu sehr spotten sollte ... «
»Und was ist mit Gespenstern, Nounou, darf man über die spotten?«, wollte Angélique wissen.
»Besser nicht, Liebes. Gespenster sind zwar nicht böse, aber die meisten von ihnen sind traurig und verletzbar, und warum sollte man die Qualen dieser armen Geschöpfe durch Spott noch vergrößern?«
»Wieso weint denn die alte Dame, die hier im Schloss spukt?«
»Wer weiß? Als ich sie vor sechs Jahren zwischen dem alten Gardesaal und dem großen Flur zum letzten Mal gesehen habe, da hat sie nicht mehr geweint, glaube ich. Vielleicht wegen der Gebete, die euer Großvater für sie in der Kapelle hat sprechen lassen.«
»Ich habe ihre Schritte auf der Turmtreppe gehört«, behauptete Babette, die Dienerin.
»Das war bestimmt eine Ratte. Die alte Dame von Monteloup ist sehr diskret und will niemanden stören. Vielleicht war sie ja blind, weil sie immer eine Hand vorstreckt. Oder sie sucht etwas. Manchmal tritt sie an die Betten der Kinder, wenn sie schlafen, und streicht ihnen übers Gesicht.«
Fantines Stimme wurde leiser, düsterer.
»Vielleicht sucht sie ja nach einem toten Kind.«
»Gute Frau, Eure Fantasie ist grausiger als der Anblick einer Leichengrube«, protestierte der alte Guillaume erneut. »Mag ja sein, dass Euer Seigneur de Retz ein großer Mann gewesen ist und Ihr es nach zweihundert Jahren als eine Ehre betrachtet, seine Landsmännin zu sein ... und womöglich ist auch die alte Dame von Monteloup eine höchst ehrenwerte Frau, aber ich sage Euch, es ist nicht gut, diese Herzchen hier in Angst und Schrecken zu versetzen, sodass sie vor lauter Furcht vergessen, ihre kleinen Mägen zu füllen.«
»Ach, Euch steht es gut an, den Empfindsamen zu spielen, Ihr unverschämter Soldat, Ihr gottloser Kriegsknecht! Wie viele Mägen solcher Herzchen habt Ihr denn mit Eurer Pike durchbohrt, als Ihr dem Kaiser von Österreich auf den Schlachtfeldern in Deutschland, dem Elsass und der Picardie gedient habt? Wie viele Hütten habt Ihr angezündet, nachdem Ihr die Tür hinter der ganzen Familie zugeschlagen hattet, damit sie darin verbrennen? Habt Ihr nie Bauern aufgeknüpft? So viele, dass die Äste unter ihrem Gewicht brachen? Und habt Ihr etwa keine Frauen und Mädchen geschändet, dass sie vor Scham zugrunde gingen?«
»Wie alle anderen auch, gute Frau, wie alle anderen auch. So ist nun mal das Soldatenleben. So ist der Krieg. Aber das Leben dieser kleinen Mädchen hier besteht aus Spielen und fröhlichen Geschichten.«
»Bis zu dem Tag, an dem Soldaten und Raubgesindel wie ein Heuschreckenschwarm übers Land kommen. Dann wird es ein Leben sein voller Soldaten, Krieg, Elend und Angst ... «
Verbittert öffnete die Amme einen großen Steinguttopf mit Hasenpastete und bestrich damit Brote, die sie ringsum verteilte, ohne dabei den alten Guillaume zu vergessen.
»Ich, Fantine Lozier, ich will euch etwas erzählen, meine Kinder ... hört gut zu. «
Hortense, Angélique und Madelon, die ihr kleines Wortgefecht genutzt hatten, um ihre Suppenschalen zu leeren, hoben erneut den Kopf, und Gontran, ihr zehnjähriger Bruder, verließ die dunkle Ecke, in der er bis dahin geschmollt hatte, und kam näher. Jetzt war die Stunde des Krieges und der Plünderungen, der alten Haudegen und der Räuber, umhüllt von rotem Feuerschein, Schwerterklirren und den Schreien der Frauen...
»Guillaume Lützen, kennt Ihr meinen Sohn, den Fuhrknecht unseres Herrn, des Barons de Sancé de Monteloup, hier im Schloss?«
»Den kenne ich, ein sehr hübscher Junge.«
»Nun denn! Alles, was ich Euch über seinen Vater sagen kann, ist, dass er zu den Truppen seiner Exzellenz des Kardinals Richelieu gehörte, als dieser sich auf den Weg nach La Rochelle machte, um die Protestanten auszurotten. Ich war keine Hugenottin, und ich hatte immer zur Jungfrau Maria gebetet, dass ich bis zu meiner Hochzeit unschuldig bleiben möge. Aber nachdem die Truppen unseres allerchristlichsten Königs Ludwig XIII. durch unsere Gegend gezogen waren, war das Mindeste, was man sagen konnte, dass ich keine Jungfrau mehr war. Und ich habe meinen Sohn Jean-la-Cuirasse genannt zur Erinnerung an all diese Teufel, von denen einer sein Vater ist und deren mit Nägeln beschlagene Kürasse das einzige Hemd zerrissen haben, das ich damals besaß.
Und was die Räuber und Banditen angeht, die der Hunger so oft auf die Straßen getrieben hat, da könnte ich Euch eine ganze Nacht lang wach halten und Euch erzählen, was sie im Stroh mit mir angestellt haben, während sie die Füße meines Mannes ins Herdfeuer hielten, damit er ihnen verriet, wo er sein Geld versteckt hatte. Und ich dachte bei dem Geruch noch, sie würden das Schwein braten.«
Daraufhin brach Fantine in Gelächter aus und schenkte sich einen Apfeltresterwein ein, um ihre Zunge anzufeuchten, die vom vielen Reden ganz trocken geworden war.
So begann das Leben von Angélique de Sancé de Monteloup im Zeichen des Menschenfressers, der Gespenster und der Räuber.
Sie alle riefen Fantine Lozier bei ihrem beruhigenden Kosenamen Nounou. Man mochte sich fragen, wo denn die Kinder von Fantine Lozier steckten, während sie selbst der Baronin de Sancé bei ihren zahlreichen Sprösslingen zur Hand ging, für die diese keine Milch hatte ... Wahrscheinlich ebenfalls in der großen Küche, in der es von Geschichten summte und aus riesigen Kesseln nach köstlichen Suppen und Schmortöpfen duftete.
Und wo war dieser Mann, »ihr« Mann, dessen Füße so oft von den Räubern gebraten worden waren? Vielleicht auch in den Wirtschaftsgebäuden des Schlosses, wo ein paar Stallburschen die Pferde versorgten, Wasser und Holz heranschleppten und die Ställe des herrschaftlichen Anwesens ausmisteten.
In den Adern der Amme floss ein wenig von dem maurischen Blut, das die arabischen Eroberer, die Sarazenen, im achten Jahrhundert bis an die Grenzen des Poitou gebracht hatten.
Angélique war mit dieser Milch der Leidenschaft und Träume aufgezogen worden, in der der alte Geist ihrer Provinz verdichtet war, ein Land der Sümpfe und Wälder, offen wie eine Bucht zu den lauen Winden des Ozeans hin.
So hatte sie eine bunt gemischte Welt der Dramen und Märchen aufgesogen. Sie hatte Gefallen daran gefunden, und es hatte sie gegen die Angst gefeit. Mitleidig betrachtete sie die zitternde kleine Madelon oder ihre ältere Schwester Hortense, die mit verkniffener Miene dasaß, obwohl sie darauf brannte, die Amme zu fragen, was die Räuber denn im Stroh mit ihr angestellt hatten.
Die siebenjährige Angélique ahnte ziemlich genau, was in der Scheune passiert war. Oft genug hatte sie die Kuh zum Stier oder die Ziege zum Bock geführt. Und ihr Freund, der junge Hirte Nicolas, hatte ihr erklärt, dass Männer und Frauen es genauso machten, um Kleine zu bekommen. So war die Amme zu Jean-la-Cuirasse gekommen. Was Angélique jedoch verwirrte, war die Tatsache, dass die Amme von diesen Dingen manchmal in sehnsüchtigem, manchmal in verzücktem, manchmal aber auch in aufrichtig entsetztem Ton sprach. Doch man brauchte die Amme mit ihrem Schweigen und ihren Zornesausbrüchen gar nicht zu verstehen. Es genügte, dass sie da war, breit und wogend, mit ihren mächtigen Armen und dem unter dem Barchentkleid weit geöffneten Korb ihres Schoßes, in dem sie einen aufnahm wie ein kleines Vögelchen, um einem ein Wiegenlied zu singen oder von Gilles de Retz zu erzählen.
Einfacher war da der alte Guillaume Lützen, der mit langsamer Stimme und einem holprigen Akzent sprach. Es hieß, er sei Schweizer oder Deutscher. Vor einiger Zeit war er hinkend und barfuß über die Römerstraße gekommen. Er hatte am Schloss von Monteloup angeklopft und um eine Schale Milch gebeten. Seitdem war er geblieben, packte überall mit an, reparierte und werkelte herum. Der Baron de Sancé ließ ihn Briefe zu befreundeten Nachbarn bringen oder den Steuereinnehmer in Empfang nehmen, wenn dieser kam, um die Abgaben einzutreiben. Dann hörte der alte Guillaume den Einnehmer geduldig an, ehe er ihm in seinem Schweizer Bergdialekt oder hessischen Bauernplatt antwortete und sein Gegenüber entmutigt wieder abzog.
Auch er hatte seine Geschichten, mit denen er die Kinder verzauberte. Doch es war eher die Rückkehr des Sommers, die seine Erzählungen hervorbrachte, denn in der schönen Jahreszeit führen die Soldaten Krieg. Dann verlassen die hohen Generäle die Königshöfe, wo sie getanzt und das gute Leben genossen haben, und kehren zu ihren Armeen zurück, die aus ihren Winterquartieren kommen. Man wusste nie, gegen welchen Feind man in die Schlacht ziehen würde.
Lützen deutete nach Osten, in die Richtung der aufgehenden Sonne. Er erzählte von einem unbekannten Gebilde: den Kaiserlichen. Dahinter gab es einen Kaiser wie zu Zeiten der Römer, und noch weiter dahinter kamen die Türken. Er hatte einen Krieg erlebt, der sommers wie winters geführt wurde, und dieser Krieg dauerte immer noch an. Manche Landstriche waren so verwüstet, dass es dort inzwischen mehr Wölfe als Menschen gab. Er war lange gelaufen, bis er endlich ein Land gefunden hatte, in dem kein Krieg mehr herrschte.
Kam er von den Schlachtfeldern des Nordens oder denen des Ostens? Und durch welchen Zufall schien dieser fremde Söldner aus der Bretagne herabzukommen, als man ihn das erste Mal sah? Man wusste von ihm nur, dass er unter dem Feldherrn Wallenstein in Lützen gekämpft hatte und ihm die Ehre beschieden gewesen war, den Wanst des dicken, glanzvollen Schwedenkönigs Gustav Adolf zu durchbohren, als dieser sich während der Schlacht im Nebel verirrt hatte und auf die österreichischen Pikeniere gestoßen war.
Auf dem Speicher, wo er lebte, funkelten zwischen Spinnweben sein alter Brustharnisch und der Helm in der Sonne, aus dem er immer noch seinen warmen Wein trank und manchmal auch seine Suppe aß. Mit seiner riesigen Pike, die dreimal so hoch war wie er selbst, schlug er im Herbst die Nüsse herunter. Aber mehr als alles andere beneidete ihn Angélique um seine kleine intarsiengeschmückte Tabakreibe aus Schildpatt, die er seine grivoise nannte nach Art der deutschen Soldaten in französischen Diensten, die selbst als grivois bezeichnet wurden.
In der großen Schlossküche öffneten sich den ganzen Abend hindurch die Türen. Hinaus in die Dunkelheit, aus der, umweht von strengem Stallgeruch, Knechte, Mägde und der Fuhrknecht Jean-la-Cuirasse hereinkamen, der ebenso schweigsam war wie seine Mutter redselig. Und auch die Hunde schlüpften herein: die beiden Windhunde Mars und Marjolaine und die bis zu den Augen verdreckten Bassets.
Aus dem Inneren des Schlosses hingegen kam die aufgeweckte Nanette, die sich in den Aufgaben eines Kammermädchens übte, in der Hoffnung, genügend gute Manieren zu lernen, um irgendwann ihre armen Herrschaften verlassen und ein paar Meilen entfernt beim Marquis du Plessis-Bellière in Dienst treten zu können. Auch die beiden Kleinmägde, denen das wirre Haar in die Augen hing, liefen ein und aus, um Holz in den großen Saal und Wasser in die Schlafzimmer zu bringen. Schließlich erschien die Baronin mit ihrem sanften, von der Landluft und den zahlreichen Niederkünften welk gewordenen Gesicht. Sie trug ein Kleid aus grauer Serge und ein schwarzwollenes Kopftuch, denn im großen Saal, wo sie zwischen dem Großvater und den beiden alten Tanten saß, war es feuchter als in der Küche.
Sie wollte wissen, ob der Kräutertee für den Baron bald fertig sei und ob das Kleine brav getrunken habe. Im Vorübergehen streichelte sie die Wange von Angélique, die schon halb eingeschlafen war und deren langes goldbraunes Haar über den Tisch gebreitet im Feuerschein funkelte.
»Es wird Zeit, ins Bett zu gehen, meine Mädchen. Pulchérie bringt euch nach oben.«
Und Pulchérie, eine der alten Tanten, kam gehorsam herein. Da sie mangels Mitgift weder einen Ehemann noch ein Kloster gefunden hatte, das bereit gewesen wäre, sie aufzunehmen, hatte sie die Rolle einer Gouvernante für ihre Nichten übernommen, und weil sie sich nützlich machte, statt den lieben langen Tag zu jammern und über ihrer Stickerei zu sitzen, behandelte man sie mit leiser Herablassung und weniger fürsorglich als die zweite Tante, die dicke Jeanne.
Pulchérie sammelte ihre Nichten um sich. Die Dienstmägde würden die Kleineren ins Bett bringen, und Gontran, der Junge ohne Hauslehrer, würde sich auf seinen Strohsack unterm Dach zurückziehen, wann es ihm beliebte.
Hortense, Angélique und Madelon folgten der mageren Tante in den großen Saal des Schlosses, wo es dem Feuer und drei Talgkerzen kaum gelang, die Schatten zu zerstreuen, die sich im Laufe der Jahrhunderte unter dem hohen mittelalterlichen Gewölbe angesammelt hatten. Einige vor die Mauern gehängte Wandteppiche versuchten, diese vor der Feuchtigkeit zu schützen, aber sie waren so alt und zerfressen, dass man von den Szenen, die darauf abgebildet waren, nichts mehr erkennen konnte außer den verstörten Augen fahler Gestalten, die einen vorwurfsvoll anblickten.
Die kleinen Mädchen verneigten sich vor ihrem Großvater. Er saß in seinem schwarzen, mit schäbigem Pelz besetzten weiten Umhang vor dem Feuer. Aber seine weißen Hände auf dem Knauf des Gehstocks waren königlich. Er trug einen breitkrempigen schwarzen Filzhut, und sein nach dem Vorbild des alten Königs Heinrich IV. rechteckig gestutzter Bart ruhte auf einer kleinen steifen Halskrause, die Hortense im Stillen furchtbar altmodisch fand.
Dann eine zweite Verneigung vor Tante Jeanne, deren schmollend verzogene Lippen nicht zu lächeln geruhten, und schon waren sie auf der großen Steintreppe, wo es so feucht war wie in einer Höhle. Die Schlafräume waren im Winter eisig, dafür aber im Sommer angenehm kühl. Man betrat sie nur, um sich hinzulegen. Das Bett der drei kleinen Mädchen thronte wie ein Monument in der Ecke eines ausgeplünderten Zimmers, dessen gesamtes Mobiliar über die vergangenen Generationen hinweg verkauft worden war. Der im Winter mit Stroh bedeckte Steinfußboden war an vielen Stellen gebrochen. Ins Bett gelangte man über eine dreistufige Trittleiter. Nachdem die drei Töchter des Barons de Sancé de Monteloup ihre Nachtjacken und -hauben angezogen und Gott kniend für seine Wohltaten gedankt hatten, kletterten sie hinauf zu ihrem kuscheligen Feder bett und schlüpften unter die löchrigen Decken. Sofort suchte Angélique nach dem Loch im Laken, das zu dem in der Decke passte, steckte ihren rosigen Fuß hindurch und wackelte mit den Zehen, um Madelon zum Lachen zu bringen.
Die Kleine zitterte nach Nounous Geschichten stets schlimmer als ein Hase. Hortense genauso, aber sie verriet es den anderen nicht, denn sie war die Älteste. Nur Angélique genoss diese Angst mit einer schwelgerischen Freude. Das Leben bestand aus Geheimnissen und Entdeckungen. Sie hörten die Mäuse das Holz anknabbern und die Eulen und Fledermäuse mit schrillen Rufen in den Dachstühlen der beiden Türme herum flattern. Sie hörten die Bassets in den Höfen jaulen und ein Maultier, das von der Weide kam, um sich am Fuß der Mauern den Grind abzuscheuern.
Manchmal hörten sie in Schneenächten auch das Heulen der Wölfe, die aus dem wilden Forst von Monteloup in die bewohnten Gegenden herunterkamen. Und zuweilen drangen ab den ersten Frühlingsnächten die Lieder der Bauern aus dem Dorf herüber, wo sie im Mondschein einen Rigaudon tanzten ...
Übersetzung: Nathalie Lemmens
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Nounou«, fragte Angélique, »warum hat Gilles de Retz so viele kleine Kinder umgebracht?«
»Für den Satan, mein Kind. Gilles de Retz, der Menschenfresser von Machecoul, wollte der mächtigste Herr seiner Zeit sein. In seinem Schloss stand alles voller Destillierkolben, Phiolen und großen Kesseln mit roter Brühe, aus denen abscheuliche Dämpfe aufstiegen. Der Teufel verlangte als Opfergabe das Herz eines kleinen Kindes. Damit begannen die Verbrechen. Und die verzweifelten Mütter deuteten mit dem Finger auf den schwarzen Turm von Machecoul, um den ständig Raben kreisten, weil so viele Leichen unschuldiger Kinder in den Verliesen lagen.«
»Hat er die alle gefressen?«, fragte Angéliques jüngere Schwester Madelon mit zitternder Stimme.
»Nicht alle, das hätte er gar nicht geschafft«, antwortete die Amme.
Sie beugte sich über den Kessel, in dem Speck und Kohl vor sich hin köchelten, und rührte eine Weile schweigend in der Suppe. Hortense, Angélique und Madelon, die drei Töchter des Barons de Sancé de Monteloup, warteten, den Löffel neben ihren Suppenschalen erhoben, gespannt darauf, dass sie weitererzählte.
»Er tat Schlimmeres«, fuhr die Amme mit bitterer Stimme schließlich fort. »Zuerst ließ er das verschreckte, laut nach seiner Mutter rufende arme Ding zu sich bringen, während er selbst auf einem Bett lag und sich an seiner Angst weidete. Dann befahl er, das Kind an einer Art Halterung an der Wand aufzuhängen, die ihm die Brust und den Hals zuschnürte, sodass es kaum noch Luft bekam. Das Kind wehrte sich wie ein aufgehängtes Hühnchen, seine Schreie erstarben, die Augen traten ihm aus den Höhlen, es lief blau an. Und im großen Saal hörte man bloß das Lachen der grausamen Männer und das Stöhnen des kleinen Opfers. Dann ließ Gilles de Retz es wieder abnehmen. Er hob das Kleine auf seinen Schoß, drückte den Kopf des armen Engelchens an seine Brust und beruhigte es mit sanfter Stimme.
›Das war doch gar nicht so schlimm‹, sagte er. Sie hätten nur ein wenig Spaß haben wollen, aber jetzt wäre alles vorbei. Das Kind würde bunte Zuckermandeln bekommen, ein schönes Federbett und einen seidenen Anzug wie ein kleiner Page. Das Kind beruhigte sich. Freude glomm in seinen tränennassen Augen auf. Und in diesem Moment stieß ihm der Herr mit aller Kraft seinen Dolch in den Hals. Aber das Allerfurchtbarste geschah, wenn er junge Mädchen entführte.«
»Was machte er denn mit ihnen?«, fragte Hortense.
Da mischte sich der alte Guillaume ein, der neben dem Kamin saß und eine Tabakkarotte rieb.
»Seid doch still, verrückte Alte!«, brummte er in seinen gelblichen Bart. »Bei Eurem albernen Geschwätz wird sogar einem alten Soldaten wie mir ganz anders.«
Hitzig schwang die dralle Fantine Lozier zu ihm herum.
»Albernes Geschwätz ...? Man merkt, dass Ihr nicht aus dem Poitou stammt, Guillaume Lützen, ganz gewiss nicht. Geht nur hoch Richtung Nantes, dann seht Ihr schon bald das verfluchte Schloss von Machecoul. Es ist jetzt zweihundert Jahre her, seit die Verbrechen begangen wurden, und die Menschen bekreuzigen sich immer noch, wenn sie in seine Nähe kommen. Aber Ihr seid ja nicht von hier, Ihr wisst nichts über die Ahnen dieser Gegend.«
»Schöne Ahnen, wenn sie alle so sind wie Euer Gilles de Retz! «
»Gilles de Retz war ein so großer Sünder, dass kein Landstrich außer dem Poitou sich rühmen kann, je einen solchen Verbrecher gekannt zu haben! Und als er starb, nachdem er in Nantes vor Gericht gestellt und verurteilt worden war, und dabei seine Sünden bekannte und Gott um Verzeihung anflehte, da legten all die Mütter, deren Kinder er gequält und gefressen hatte, Trauerkleidung an.«
»Das ist ja allerhand!«, rief der alte Guillaume.
»Ja, so sind wir hier im Poitou. Groß in der Sünde und groß im Vergeben!«
Unwirsch rückte die Amme ein paar Töpfe auf dem Tisch zurecht und küsste ungestüm den kleinen Denis.
»Sicher«, fuhr sie fort, »ich bin nicht lange zur Schule gegangen, aber ich kenne den Unterschied zwischen Ammenmärchen und Geschichten aus vergangenen Zeiten. Gilles de Retz hat wirklich gelebt. Vielleicht irrt seine Seele immer noch in der Nähe von Machecoul herum, aber sein Körper ist hier in dieser Erde verfault. Darum darf man auch nicht so leichfertig über ihn reden wie über die Feen und Kobolde, die um die großen, aufrecht stehenden Steine in den Feldern herumstreifen. Obschon man auch über diese bösen Geister nicht allzu sehr spotten sollte ... «
»Und was ist mit Gespenstern, Nounou, darf man über die spotten?«, wollte Angélique wissen.
»Besser nicht, Liebes. Gespenster sind zwar nicht böse, aber die meisten von ihnen sind traurig und verletzbar, und warum sollte man die Qualen dieser armen Geschöpfe durch Spott noch vergrößern?«
»Wieso weint denn die alte Dame, die hier im Schloss spukt?«
»Wer weiß? Als ich sie vor sechs Jahren zwischen dem alten Gardesaal und dem großen Flur zum letzten Mal gesehen habe, da hat sie nicht mehr geweint, glaube ich. Vielleicht wegen der Gebete, die euer Großvater für sie in der Kapelle hat sprechen lassen.«
»Ich habe ihre Schritte auf der Turmtreppe gehört«, behauptete Babette, die Dienerin.
»Das war bestimmt eine Ratte. Die alte Dame von Monteloup ist sehr diskret und will niemanden stören. Vielleicht war sie ja blind, weil sie immer eine Hand vorstreckt. Oder sie sucht etwas. Manchmal tritt sie an die Betten der Kinder, wenn sie schlafen, und streicht ihnen übers Gesicht.«
Fantines Stimme wurde leiser, düsterer.
»Vielleicht sucht sie ja nach einem toten Kind.«
»Gute Frau, Eure Fantasie ist grausiger als der Anblick einer Leichengrube«, protestierte der alte Guillaume erneut. »Mag ja sein, dass Euer Seigneur de Retz ein großer Mann gewesen ist und Ihr es nach zweihundert Jahren als eine Ehre betrachtet, seine Landsmännin zu sein ... und womöglich ist auch die alte Dame von Monteloup eine höchst ehrenwerte Frau, aber ich sage Euch, es ist nicht gut, diese Herzchen hier in Angst und Schrecken zu versetzen, sodass sie vor lauter Furcht vergessen, ihre kleinen Mägen zu füllen.«
»Ach, Euch steht es gut an, den Empfindsamen zu spielen, Ihr unverschämter Soldat, Ihr gottloser Kriegsknecht! Wie viele Mägen solcher Herzchen habt Ihr denn mit Eurer Pike durchbohrt, als Ihr dem Kaiser von Österreich auf den Schlachtfeldern in Deutschland, dem Elsass und der Picardie gedient habt? Wie viele Hütten habt Ihr angezündet, nachdem Ihr die Tür hinter der ganzen Familie zugeschlagen hattet, damit sie darin verbrennen? Habt Ihr nie Bauern aufgeknüpft? So viele, dass die Äste unter ihrem Gewicht brachen? Und habt Ihr etwa keine Frauen und Mädchen geschändet, dass sie vor Scham zugrunde gingen?«
»Wie alle anderen auch, gute Frau, wie alle anderen auch. So ist nun mal das Soldatenleben. So ist der Krieg. Aber das Leben dieser kleinen Mädchen hier besteht aus Spielen und fröhlichen Geschichten.«
»Bis zu dem Tag, an dem Soldaten und Raubgesindel wie ein Heuschreckenschwarm übers Land kommen. Dann wird es ein Leben sein voller Soldaten, Krieg, Elend und Angst ... «
Verbittert öffnete die Amme einen großen Steinguttopf mit Hasenpastete und bestrich damit Brote, die sie ringsum verteilte, ohne dabei den alten Guillaume zu vergessen.
»Ich, Fantine Lozier, ich will euch etwas erzählen, meine Kinder ... hört gut zu. «
Hortense, Angélique und Madelon, die ihr kleines Wortgefecht genutzt hatten, um ihre Suppenschalen zu leeren, hoben erneut den Kopf, und Gontran, ihr zehnjähriger Bruder, verließ die dunkle Ecke, in der er bis dahin geschmollt hatte, und kam näher. Jetzt war die Stunde des Krieges und der Plünderungen, der alten Haudegen und der Räuber, umhüllt von rotem Feuerschein, Schwerterklirren und den Schreien der Frauen...
»Guillaume Lützen, kennt Ihr meinen Sohn, den Fuhrknecht unseres Herrn, des Barons de Sancé de Monteloup, hier im Schloss?«
»Den kenne ich, ein sehr hübscher Junge.«
»Nun denn! Alles, was ich Euch über seinen Vater sagen kann, ist, dass er zu den Truppen seiner Exzellenz des Kardinals Richelieu gehörte, als dieser sich auf den Weg nach La Rochelle machte, um die Protestanten auszurotten. Ich war keine Hugenottin, und ich hatte immer zur Jungfrau Maria gebetet, dass ich bis zu meiner Hochzeit unschuldig bleiben möge. Aber nachdem die Truppen unseres allerchristlichsten Königs Ludwig XIII. durch unsere Gegend gezogen waren, war das Mindeste, was man sagen konnte, dass ich keine Jungfrau mehr war. Und ich habe meinen Sohn Jean-la-Cuirasse genannt zur Erinnerung an all diese Teufel, von denen einer sein Vater ist und deren mit Nägeln beschlagene Kürasse das einzige Hemd zerrissen haben, das ich damals besaß.
Und was die Räuber und Banditen angeht, die der Hunger so oft auf die Straßen getrieben hat, da könnte ich Euch eine ganze Nacht lang wach halten und Euch erzählen, was sie im Stroh mit mir angestellt haben, während sie die Füße meines Mannes ins Herdfeuer hielten, damit er ihnen verriet, wo er sein Geld versteckt hatte. Und ich dachte bei dem Geruch noch, sie würden das Schwein braten.«
Daraufhin brach Fantine in Gelächter aus und schenkte sich einen Apfeltresterwein ein, um ihre Zunge anzufeuchten, die vom vielen Reden ganz trocken geworden war.
So begann das Leben von Angélique de Sancé de Monteloup im Zeichen des Menschenfressers, der Gespenster und der Räuber.
Sie alle riefen Fantine Lozier bei ihrem beruhigenden Kosenamen Nounou. Man mochte sich fragen, wo denn die Kinder von Fantine Lozier steckten, während sie selbst der Baronin de Sancé bei ihren zahlreichen Sprösslingen zur Hand ging, für die diese keine Milch hatte ... Wahrscheinlich ebenfalls in der großen Küche, in der es von Geschichten summte und aus riesigen Kesseln nach köstlichen Suppen und Schmortöpfen duftete.
Und wo war dieser Mann, »ihr« Mann, dessen Füße so oft von den Räubern gebraten worden waren? Vielleicht auch in den Wirtschaftsgebäuden des Schlosses, wo ein paar Stallburschen die Pferde versorgten, Wasser und Holz heranschleppten und die Ställe des herrschaftlichen Anwesens ausmisteten.
In den Adern der Amme floss ein wenig von dem maurischen Blut, das die arabischen Eroberer, die Sarazenen, im achten Jahrhundert bis an die Grenzen des Poitou gebracht hatten.
Angélique war mit dieser Milch der Leidenschaft und Träume aufgezogen worden, in der der alte Geist ihrer Provinz verdichtet war, ein Land der Sümpfe und Wälder, offen wie eine Bucht zu den lauen Winden des Ozeans hin.
So hatte sie eine bunt gemischte Welt der Dramen und Märchen aufgesogen. Sie hatte Gefallen daran gefunden, und es hatte sie gegen die Angst gefeit. Mitleidig betrachtete sie die zitternde kleine Madelon oder ihre ältere Schwester Hortense, die mit verkniffener Miene dasaß, obwohl sie darauf brannte, die Amme zu fragen, was die Räuber denn im Stroh mit ihr angestellt hatten.
Die siebenjährige Angélique ahnte ziemlich genau, was in der Scheune passiert war. Oft genug hatte sie die Kuh zum Stier oder die Ziege zum Bock geführt. Und ihr Freund, der junge Hirte Nicolas, hatte ihr erklärt, dass Männer und Frauen es genauso machten, um Kleine zu bekommen. So war die Amme zu Jean-la-Cuirasse gekommen. Was Angélique jedoch verwirrte, war die Tatsache, dass die Amme von diesen Dingen manchmal in sehnsüchtigem, manchmal in verzücktem, manchmal aber auch in aufrichtig entsetztem Ton sprach. Doch man brauchte die Amme mit ihrem Schweigen und ihren Zornesausbrüchen gar nicht zu verstehen. Es genügte, dass sie da war, breit und wogend, mit ihren mächtigen Armen und dem unter dem Barchentkleid weit geöffneten Korb ihres Schoßes, in dem sie einen aufnahm wie ein kleines Vögelchen, um einem ein Wiegenlied zu singen oder von Gilles de Retz zu erzählen.
Einfacher war da der alte Guillaume Lützen, der mit langsamer Stimme und einem holprigen Akzent sprach. Es hieß, er sei Schweizer oder Deutscher. Vor einiger Zeit war er hinkend und barfuß über die Römerstraße gekommen. Er hatte am Schloss von Monteloup angeklopft und um eine Schale Milch gebeten. Seitdem war er geblieben, packte überall mit an, reparierte und werkelte herum. Der Baron de Sancé ließ ihn Briefe zu befreundeten Nachbarn bringen oder den Steuereinnehmer in Empfang nehmen, wenn dieser kam, um die Abgaben einzutreiben. Dann hörte der alte Guillaume den Einnehmer geduldig an, ehe er ihm in seinem Schweizer Bergdialekt oder hessischen Bauernplatt antwortete und sein Gegenüber entmutigt wieder abzog.
Auch er hatte seine Geschichten, mit denen er die Kinder verzauberte. Doch es war eher die Rückkehr des Sommers, die seine Erzählungen hervorbrachte, denn in der schönen Jahreszeit führen die Soldaten Krieg. Dann verlassen die hohen Generäle die Königshöfe, wo sie getanzt und das gute Leben genossen haben, und kehren zu ihren Armeen zurück, die aus ihren Winterquartieren kommen. Man wusste nie, gegen welchen Feind man in die Schlacht ziehen würde.
Lützen deutete nach Osten, in die Richtung der aufgehenden Sonne. Er erzählte von einem unbekannten Gebilde: den Kaiserlichen. Dahinter gab es einen Kaiser wie zu Zeiten der Römer, und noch weiter dahinter kamen die Türken. Er hatte einen Krieg erlebt, der sommers wie winters geführt wurde, und dieser Krieg dauerte immer noch an. Manche Landstriche waren so verwüstet, dass es dort inzwischen mehr Wölfe als Menschen gab. Er war lange gelaufen, bis er endlich ein Land gefunden hatte, in dem kein Krieg mehr herrschte.
Kam er von den Schlachtfeldern des Nordens oder denen des Ostens? Und durch welchen Zufall schien dieser fremde Söldner aus der Bretagne herabzukommen, als man ihn das erste Mal sah? Man wusste von ihm nur, dass er unter dem Feldherrn Wallenstein in Lützen gekämpft hatte und ihm die Ehre beschieden gewesen war, den Wanst des dicken, glanzvollen Schwedenkönigs Gustav Adolf zu durchbohren, als dieser sich während der Schlacht im Nebel verirrt hatte und auf die österreichischen Pikeniere gestoßen war.
Auf dem Speicher, wo er lebte, funkelten zwischen Spinnweben sein alter Brustharnisch und der Helm in der Sonne, aus dem er immer noch seinen warmen Wein trank und manchmal auch seine Suppe aß. Mit seiner riesigen Pike, die dreimal so hoch war wie er selbst, schlug er im Herbst die Nüsse herunter. Aber mehr als alles andere beneidete ihn Angélique um seine kleine intarsiengeschmückte Tabakreibe aus Schildpatt, die er seine grivoise nannte nach Art der deutschen Soldaten in französischen Diensten, die selbst als grivois bezeichnet wurden.
In der großen Schlossküche öffneten sich den ganzen Abend hindurch die Türen. Hinaus in die Dunkelheit, aus der, umweht von strengem Stallgeruch, Knechte, Mägde und der Fuhrknecht Jean-la-Cuirasse hereinkamen, der ebenso schweigsam war wie seine Mutter redselig. Und auch die Hunde schlüpften herein: die beiden Windhunde Mars und Marjolaine und die bis zu den Augen verdreckten Bassets.
Aus dem Inneren des Schlosses hingegen kam die aufgeweckte Nanette, die sich in den Aufgaben eines Kammermädchens übte, in der Hoffnung, genügend gute Manieren zu lernen, um irgendwann ihre armen Herrschaften verlassen und ein paar Meilen entfernt beim Marquis du Plessis-Bellière in Dienst treten zu können. Auch die beiden Kleinmägde, denen das wirre Haar in die Augen hing, liefen ein und aus, um Holz in den großen Saal und Wasser in die Schlafzimmer zu bringen. Schließlich erschien die Baronin mit ihrem sanften, von der Landluft und den zahlreichen Niederkünften welk gewordenen Gesicht. Sie trug ein Kleid aus grauer Serge und ein schwarzwollenes Kopftuch, denn im großen Saal, wo sie zwischen dem Großvater und den beiden alten Tanten saß, war es feuchter als in der Küche.
Sie wollte wissen, ob der Kräutertee für den Baron bald fertig sei und ob das Kleine brav getrunken habe. Im Vorübergehen streichelte sie die Wange von Angélique, die schon halb eingeschlafen war und deren langes goldbraunes Haar über den Tisch gebreitet im Feuerschein funkelte.
»Es wird Zeit, ins Bett zu gehen, meine Mädchen. Pulchérie bringt euch nach oben.«
Und Pulchérie, eine der alten Tanten, kam gehorsam herein. Da sie mangels Mitgift weder einen Ehemann noch ein Kloster gefunden hatte, das bereit gewesen wäre, sie aufzunehmen, hatte sie die Rolle einer Gouvernante für ihre Nichten übernommen, und weil sie sich nützlich machte, statt den lieben langen Tag zu jammern und über ihrer Stickerei zu sitzen, behandelte man sie mit leiser Herablassung und weniger fürsorglich als die zweite Tante, die dicke Jeanne.
Pulchérie sammelte ihre Nichten um sich. Die Dienstmägde würden die Kleineren ins Bett bringen, und Gontran, der Junge ohne Hauslehrer, würde sich auf seinen Strohsack unterm Dach zurückziehen, wann es ihm beliebte.
Hortense, Angélique und Madelon folgten der mageren Tante in den großen Saal des Schlosses, wo es dem Feuer und drei Talgkerzen kaum gelang, die Schatten zu zerstreuen, die sich im Laufe der Jahrhunderte unter dem hohen mittelalterlichen Gewölbe angesammelt hatten. Einige vor die Mauern gehängte Wandteppiche versuchten, diese vor der Feuchtigkeit zu schützen, aber sie waren so alt und zerfressen, dass man von den Szenen, die darauf abgebildet waren, nichts mehr erkennen konnte außer den verstörten Augen fahler Gestalten, die einen vorwurfsvoll anblickten.
Die kleinen Mädchen verneigten sich vor ihrem Großvater. Er saß in seinem schwarzen, mit schäbigem Pelz besetzten weiten Umhang vor dem Feuer. Aber seine weißen Hände auf dem Knauf des Gehstocks waren königlich. Er trug einen breitkrempigen schwarzen Filzhut, und sein nach dem Vorbild des alten Königs Heinrich IV. rechteckig gestutzter Bart ruhte auf einer kleinen steifen Halskrause, die Hortense im Stillen furchtbar altmodisch fand.
Dann eine zweite Verneigung vor Tante Jeanne, deren schmollend verzogene Lippen nicht zu lächeln geruhten, und schon waren sie auf der großen Steintreppe, wo es so feucht war wie in einer Höhle. Die Schlafräume waren im Winter eisig, dafür aber im Sommer angenehm kühl. Man betrat sie nur, um sich hinzulegen. Das Bett der drei kleinen Mädchen thronte wie ein Monument in der Ecke eines ausgeplünderten Zimmers, dessen gesamtes Mobiliar über die vergangenen Generationen hinweg verkauft worden war. Der im Winter mit Stroh bedeckte Steinfußboden war an vielen Stellen gebrochen. Ins Bett gelangte man über eine dreistufige Trittleiter. Nachdem die drei Töchter des Barons de Sancé de Monteloup ihre Nachtjacken und -hauben angezogen und Gott kniend für seine Wohltaten gedankt hatten, kletterten sie hinauf zu ihrem kuscheligen Feder bett und schlüpften unter die löchrigen Decken. Sofort suchte Angélique nach dem Loch im Laken, das zu dem in der Decke passte, steckte ihren rosigen Fuß hindurch und wackelte mit den Zehen, um Madelon zum Lachen zu bringen.
Die Kleine zitterte nach Nounous Geschichten stets schlimmer als ein Hase. Hortense genauso, aber sie verriet es den anderen nicht, denn sie war die Älteste. Nur Angélique genoss diese Angst mit einer schwelgerischen Freude. Das Leben bestand aus Geheimnissen und Entdeckungen. Sie hörten die Mäuse das Holz anknabbern und die Eulen und Fledermäuse mit schrillen Rufen in den Dachstühlen der beiden Türme herum flattern. Sie hörten die Bassets in den Höfen jaulen und ein Maultier, das von der Weide kam, um sich am Fuß der Mauern den Grind abzuscheuern.
Manchmal hörten sie in Schneenächten auch das Heulen der Wölfe, die aus dem wilden Forst von Monteloup in die bewohnten Gegenden herunterkamen. Und zuweilen drangen ab den ersten Frühlingsnächten die Lieder der Bauern aus dem Dorf herüber, wo sie im Mondschein einen Rigaudon tanzten ...
Übersetzung: Nathalie Lemmens
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von Anne Golon
Anne Golon, geboren 1921 unter dem Namen Simone Changeux, musste, kaum zwanzig Jahre alt, vor der einmarschierenden deutschen Armee aus Paris flüchten. Sie schlug sich bis Spanien durch. Unter Pseudonym schrieb sie nach dem Krieg für verschiedene Zeitschriften. Zu Recherchezwecken reiste sie in den Kongo und lernte dort ihren späteren Mann Serge kennen, einen russischen Aristokraten, der sein Land während der Revolution verlassen musste. Sie kehrten nach Frankreich zurück und begannen gemeinsam Bücher zu verfassen, die jedoch kein Erfolg wurden. Dann reifte in Anne Golon die Idee zu einem historischen Roman über eine Frau zur Zeit Ludwigs XIV. 1952 entstand die Idee zu Angélique, 1956 erschien der erste Band als Weltpremiere in Deutschland. Mit einer Gesamtauflage von 150 Millionen Exemplaren wurde die Serie zu einem der größten Bucherfolge des 20. Jahrhunderts. Nach einem jahrzehntelangen Rechtsstreit hat Anne Golon jetzt alle Rechte an ihren Romanen zurückerhalten und veröffentlicht diese nun endlich ungekürzt. Sie lebt heute in Lausanne.
Bibliographische Angaben
- Autor: Anne Golon
- 1098 Seiten, Maße: 12,3 x 18,7 cm, Gebunden
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863651154
- ISBN-13: 9783863651152
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