Anni Lechner, 3er-Package
"Die Berghebamme", "Neues Glück im Kreiental" und "Hotel Edelweiß"
Liebe und Drama vor der Kulisse der bayerischen Alpen: Drei junge Frauen kämpfen in drei Heimatromanen von Anni Lechner um ihr Glück. ...
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Produktinformationen zu „Anni Lechner, 3er-Package “
Liebe und Drama vor der Kulisse der bayerischen Alpen: Drei junge Frauen kämpfen in drei Heimatromanen von Anni Lechner um ihr Glück.
- Die Berghebamme: Kathrin ist jung, schön, selbstbewusst und kommt aus der Stadt. Wird sich die neue Berghebamme in dem idyllischen oberbayerischen Dorf behaupten können und ihr persönliches Glück finden?
- Neues Glück im Kreiental: Von ihrem Verlobten verlassen, flüchtet Christine zu ihrer Tante in die Berge. Kann sie je wieder glücklich werden?
- Hotel Edelweiß
Lese-Probe zu „Anni Lechner, 3er-Package “
Die Berghebamme von Anni Lechner 1
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Kathrin ließ den Wagen auf den Parkplatz rollen und hielt an. Hier, kurz unterhalb der Passhöhe, bot sich ihr ein unvergleichlicher Blick auf das Wolzental und die umliegenden Berge, aus denen der schneebedeckte Gipfel des Wolzensteins herausragte. Doch nicht der bei Alpinisten belieb te Berg lenkte ihre Aufmerksamkeit auf sich, sondern das Dorf, das aus dem grünen Tal mit seinen roten Dächern zu ihr heraufgrüßte.
Wolzental zählte nicht gerade zu den Zentren dieses Landstrichs, denn von Miesbach aus musste man fast vierzig Kilometer fahren, um es zu erreichen. In München hatte Toni sich immer darüber mokiert, dass man, um in seinen Heimatort zu gelangen, bis ans Ende der Welt fahren müsse und noch ein Stück darüber hinaus.
Ganz so abgelegen erschien Kathrin die Gegend nicht. Die Straße befand sich in einem guten Zustand, und das Dorf bestand aus mehreren Dutzend Häusern, die sich um eine wuchtige Kirche scharten. Die Kuppel des Kirchturms musste erst vor Kurzem erneuert worden sein, denn ihr Kupferbeschlag glänzte in der Sonne wie pures Gold. Kathrin atmete tief durch, als ihr Blick auf das kleine Haus etwas seitlich vor der Kirche fiel. Seit jeher wurde es das Doktorhäusel genannt, und nun würde es ihre neue Heimat werden.
Obwohl es sie drängte weiterzufahren, trat Kathrin noch ein Stück nach vorn und blickte tiefer in das Tal hinein. Etliche große Bauernhöfe gruppierten sich um das Kerndorf wie Monde um einen Planeten. Viel Holz war verbaut worden, genau wie bei den Häusern im Ort, von denen die meisten ein holzverkleidetes Obergeschoss hatten und einen an der Vorderseite entlanglaufenden Balkon, dessen Blumenfülle bis hierherauf leuchtete. Etwas oberhalb des Dorfes glänzten weiße Wohnwagen im Sonnenlicht. Dort lag der Campingplatz von Wolzental, der, wie Toni erzählt hatte, sommers wie winters fest in holländischer Hand war.
Kathrin lenkte ihren Blick wieder auf das Doktorhäusel und atmete tief ein. Würde sie in Wolzental das finden, was sie sich erhoffte?, fragte sie sich etwas unsicher.
Dann aber schüttelte sie den Kopf. Sollte Toni ruhig über seine Heimat spotten - sie war des Lärms und des Gestanks der Großstadt überdrüssig und ertrug auch den Stress im Krankenhaus nicht mehr, in dem sie als Hebamme auf der Entbindungsstation gearbeitet hatte. Das war kein Leben mehr gewesen mit den vielen Über stunden, einer übellaunigen Vorgesetzten, die nicht müde wurde, sie darauf hinzuweisen, dass sie für ihre Stelle überqualifiziert sei, und neidischen Kolleginnen, denen ihr gutes Verhältnis zum Stationsarzt ein Dorn im Auge gewesen war.
Dabei war das Verhältnis zwischen ihr und Anton Bruckner, dem gut aussehenden Arzt, nur freundschaftlicher Natur gewesen. Toni, wie er von seinen Freunden genannt wurde, schätzte ihr Engagement, und über der gemeinsamen Arbeit waren sie Freunde geworden. Kathrin seufzte ein wenig, denn an ihr lag es gewiss nicht, wenn nicht mehr daraus geworden war. Doch Toni war bereits gebunden und würde noch in diesem Jahr die einzige Tochter eines Privatklinikbesitzers heiraten. Damit würde sich sein Lebensmittelpunkt in den Norden Deutschlands verlagern. Diesem Umstand hatte sie es zu verdanken, dass sie in Wolzental ein gemachtes Nest vorfand, denn Toni vermietete ihr das Wohnhaus seiner vor mehreren Jahren verstorbenen Eltern, und das zu einem wahren Freundschaftspreis.
»Also - worauf warte ich noch?«, sprach Kathrin sich Mut zu und kehrte zu ihrem Auto zurück.
Sie musste ein wenig warten, ehe sie auf die Straße einbiegen konnte, denn ausgerechnet in diesem Moment tuckerte ein Lastwagen heran, der eine lange schwarze Rauchfahne aus seinem Auspuff hinter sich herzog.
Da Kathrin nicht dieser Qualmwolke folgen wollte, wartete sie noch ein wenig und warf einen letzten Blick über das Tal. Kühe grasten auf den Wiesen, und direkt unterhalb des Aussichtspunkts entdeckte Kathrin ein paar Jungtiere, die mit akrobatischem Geschick unter dem elektrischen Weidezaun hindurchschlüpften und sich auf den Weg zur Nachbarweide machten, deren Gras ihnen wohl verlockender erschien.
Über der kleinen Begebenheit mit den Tieren war der Lkw talwärts entschwunden, und Kathrin setzte ihren Wagen in Bewegung. Während sie die Serpentinen in Angriff nahm, entdeckte sie weiter unten den Lastwagen und konnte ausreichend Abstand halten, um nicht von dessen Abgasen belästigt zu werden. Kurz hinter dem Eingang des Tales bog das Gefährt ab und hielt auf einen der Bauernhöfe zu. Kathrin trat auf das Gaspedal und erreichte bald darauf das Dorf. Es sah alles noch genauso aus wie bei ihrem ersten Besuch vor ein paar Wochen, bei dem Toni ihr das Haus gezeigt hatte. Der Vorschlag, hier ein neues Leben zu beginnen, war, wenn sie es recht bedachte, sogar von ihm gekommen. Da nach dem Tod seines Vaters kein neuer Arzt Interesse zeigte, die kleine Landpraxis zu übernehmen, und die Einheimischen nicht wegen jeder Kleinigkeit nach Rottach-Egern oder gar Miesbach fahren wollten, würde eine Frau mit ihren Kenntnissen dringend gebraucht werden.
Kathrin war stolz auf das, was sie, trotz des harten Dienstes in der Klinik, erreicht hatte. Sie war nicht nur ausgebildete Krankenschwester und Hebamme, sondern hatte auch eine Ausbildung als Heilpraktikerin absolviert.
Hier in Wolzental würde sie für ihre Arbeit endlich nicht mehr überqualifi ziert sein. Sie kicherte bei dem Gedanken an den alten Drachen von Oberschwester, dem sie endlich entkommen war, und hätte darüber beinahe die Abzweigung zum Doktorhäusel verpasst. Im letzten Moment bog sie von der Straße ab und stellte den Wagen auf dem kleinen Parkplatz ab.
Sie war noch nicht richtig ausgestiegen, da ging beim gegenüberliegenden Haus die Tür auf, und eine pummelige Frau mittleren Alters in einer geblümten Kittelschürze schoss heraus.
»Hallo Sie, das geht fei net. Das ist kein öffentlicher Parkplatz. Der ist drüben bei der Kirche!«
Im ersten Augenblick war Kathrin verdattert, dann aber erinnerte sie sich an die Frau und trat lächelnd auf sie zu.
»Grüß Gott, Frau Leistner. Wir haben uns schon vor zwei Monaten gesehen, als ich mit Herrn Dr. Bruckner hier war.«
Die Stirn der Nachbarin glättete sich, und sie streckte Kathrin die Hand entgegen. »Ah, das Fräulein, das das Haus hüten will, solang unser junger Herr Doktor fort ist. Wie geht's denn dem Toni? Ich hoff e, gut!«
»Wenn man es genau nimmt, ausgezeichnet. Er lässt Sie herzlich grüßen.« Was ein wenig gefl unkert war, denn Toni hatte kein einziges Wort in dieser Richtung verloren, doch Kathrin wollte der Frau eine Freude machen. Prompt strahlte deren Gesicht auf, und sie bat Kathrin, mit ins Haus zu kommen.
»Ein Tasserl Kaffee werden Sie gewiss nicht abschlagen. Ich hab auch einen Stachelbeerkuchen gebacken. Der Toni hat ihn allweil so gern gegessen, als er noch daheim war. Aber das ist schon eine Zeit her. Er dürfte sich ruhig ein bisserl öfters sehen lassen. Die Leut wollen ja wissen, wie's dem jungen Doktor geht.«
Silvia Leistner seufzte, ehe sie die Kaff eemaschine einschaltete und ihrem Gast ein riesiges Stück Stachelbeerkuchen abschnitt.
Kathrin war nicht unbedingt eine Freundin dieser säuerlichen Früchte, freute sich aber, so herzlich empfangen zu werden. Außerdem schmeckte der Kuchen, wie sie nach dem ersten Bissen merkte, tatsächlich ausgezeichnet. »Hervorragend! So was kriegt man in der Stadt net«, sagte sie. Silvias rundliches Gesicht glühte noch mehr. »Was ich koch, schmeckt allweil. Das sagt auch mein Mann.«
Kathrin glaubte ihr gern, denn sie konnte sich entfernt an Sebastian Leistner erinnern. Seine Figur war der seiner Frau ebenbürtig. Der Schlankheitswahn, der in der Stadt wütete, schien in diese Gegend noch keinen Einzug gehalten zu haben.
Während Silvia einige Begebenheiten aus Tonis Jugend erzählte, in denen der stets beherrschte Herr Doktor sich in einen fröhlichen Lausbuben zurückverwandelte, sah Kathrin sich ein wenig in der Wohnküche um. Für städtische Verhältnisse war sie riesig. Die modernen Geräte waren mit hellen Holzblenden versehen und passten sehr gut zu der rustikalen Eckbank, dem wuchtigen Tisch und den Stühlen, die stabil genug aussahen, um noch schwergewichtigere Leute als Silvia und Sebastian Leistner zu tragen. In der Ecke über der Bank hingen ein großes Kruzifi x, das mit Palmkätzchen geschmückt war, sowie Bilder von Christus und der Jungfrau Maria.
»Gemütlich haben Sie es«, sagte sie, als Silvias Redestrom etwas verebbte.
»Gefällt's Ihnen?« Die Gastgeberin lächelte geschmeichelt und stellte dann die Frage, die ihr schon lange auf der Zunge lag.
»Wann kommt er denn nach, der Toni?«
»Wie - nach?«, fragte Kathrin mit verständnislosem Blick.
»Sie sind doch so etwas wie seine Sprechstundenhilfe, und wie ich gehört hab, soll auch die Praxis wieder aufgemacht werden. Zeit wird's, denn seit dem Toni sein Vater gestorben ist, haben wir allweil nach Rottach-Egern oder gar Miesbach fahren müssen, wenn wir zum Doktor wollten. Aber das ist ja Gott sei Dank bald vorbei.«
Silvia Leistner hörte sich so hoffnungsvoll an, dass es Kathrin leidtat, sie enttäuschen zu müssen. »Ich glaube, da haben Sie etwas missverstanden. Der Toni, ich meine, der Doktor Bruckner, kommt net nach Wolzental zurück. Er hat mir sein Haus samt der Praxis vermietet.«
»Aber Sie sind doch keine Doktorin! Da hätt ich mich schon arg verhören müssen, als der Toni Sie mir letztens vorgestellt hat.«
»Ich bin auch keine Ärztin«, sagte Kathrin. »Ich bin Heilpraktikerin und Hebamme. Der Toni meint, dass jemand wie ich im Dorf dringend gebraucht wird.«
Silvia Leistner schüttelte den Kopf. »Wir brauchen einen Doktor. Gut, gegen eine Hebamme wär auch nix einzuwenden. Die Störzenhoferin ist nimmer die Jüngste, und wenn im Winter Schnee liegt, kommt sie kaum noch herum. Aber ein Doktor wär wichtiger.«
»Damit kann ich leider net dienen.«
Kathrin ärgerte sich ein wenig über die Sturheit, mit der Silvia auf ihrem Standpunkt beharrte. Sie hatte nun einmal nicht studiert, sondern sich ihre Kenntnisse in Abendkursen nach der Arbeit angeeignet. Aber sie war stolz auf das Erreichte. Für dieses Bergnest würde es wohl genügen. Beinahe hätte sie den letzten Gedanken laut ausgesprochen, schluckte ihn jedoch hinunter, um Silvia nicht zu kränken.
»Na ja, er wird schon noch kommen, der Toni. Er weiß ja, dass wir ihn brauchen.« Silvia sah, dass Kathrins Tasse leer war, und goss rasch Kaffee nach. »Magst du noch ein Stückerl Kuchen?«, fragte sie.
Kathrin schüttelte den Kopf. »Nein danke, zu viel von den süßen Sachen darf ich net essen, auch wenn dein Kuchen ausgezeichnet schmeckt.«
»Du meinst, damit du net bald so ausschaust wie ich.« Silvia schmunzelte ein wenig über Kathrins Zurückhaltung, denn ihrem Sebastian gefiel ihre Figur, und sie fühlte sich rundum wohl so, wie sie war.
»Nein, so habe ich das net gemeint.« Kathrin überlegte, ob sie sich nicht doch noch ein Stück Kuchen erlauben sollte, denn sie hatte nichts zu Mittag gegessen. Dann fi el ihr Blick jedoch auf einen großen Kastenwagen, der auf der Straße hielt und dann langsam zum Doktorhäusel abbog. »Mein Gott, der Umzugswagen ist da! Dabei wollte ich vorher noch einiges im Haus erledigen.«
Kathrin sprang auf und lief in Richtung Tür. Doch obwohl sie um etliches schlanker war als Silvia, kam diese ihr zuvor.
»Ich helfe dir, dann kriegen wir das schon hin!«
»Das wär lieb von dir!«
Kathrin wusste nicht, was sie ohne die tatkräftige Frau gemacht hätte. Silvia lotste den Fahrer des Lastwagens geschickt bis vor den Eingang zum Doktorhaus, sodass sie keine großen Umwege in Kauf nehmen mussten. Sie besaß auch einen Schlüssel für das Haus und ersparte Kathrin damit eine lange Suche, da ihr eigener Schlüssel irgendwo in einer Tasche des Gepäcks lag, das sie im Kofferraum verstaut hatte.
»Ich muss wirklich noch net ganz wach gewesen sein, sonst hätte ich den Schlüssel gleich eingesteckt«, sagte sie mit einem entschuldigenden Lächeln zu Silvia.
»Keine Ursache. Es geht auch so. Und jetzt bringen wir erst einmal das Kanapee ins Haus. Willst du's im Wohnzimmer haben? Da stehen aber noch die Möbel vom Toni seinen Eltern, und die sind noch gut.«
Kathrin spürte, dass ihre neu gewonnene Freundin jede Veränderung im Haus als Sakrileg auffassen würde, und seufzte. Viele Möbel besaß sie zwar nicht, denn in München hatte sie in einem kleinen Appartement gewohnt, trotzdem hätte sie am Abend gern auf ihrer eigenen Couch gesessen. Sie wagte aber nicht, diesen Wunsch zu äußern, sondern ließ es zu, dass ihre eigenen Möbel erst einmal auf den Speicher getragen wurden. Anders war es jedoch mit den Gegenständen, die sie für ihre beruflichen Zwecke besorgt hatte. Die wurden trotz Silvias skeptischer Miene in die Praxisräume gebracht und dort abgestellt.
»Also, das hätten wir«, erklärte der Jüngere der beiden Umzugsmänner in sächsischem Tonfall, nachdem alles ins Haus geschafft worden war.
»Es war eine ganz schöne Rackerei, das ganze Zeug auf den Speicher zu schleppen«, setzte sein Kollege hinzu.
Kathrin begriff , dass die beiden ein hübsches Trinkgeld herausschlagen wollten, und zückte die Börse. Ein Schein wanderte zu den beiden Männern hinüber. Diese bedankten sich und wollten sich wieder auf den Weg machen. Doch Silvia kam ihnen zuvor, indem sie ihnen ein ordentliches Vesper anbot. Nach ihrer Erfahrung machte Arbeit Hunger und Durst, und so ging sie rasch in ihr Haus hinüber und kam mit einer kräftigen Brotzeit und zwei Flaschen Bier wieder zurück. »So, wohl bekomm's!« Mit diesen Worten stellte sie das Tablett auf den Tisch in der Küche des Doktorhäusels, die etwas altmodischer eingerichtet war als ihre eigene. Die Männer sahen auf die Würste und den Schinken, dann auf ihre Armbanduhren und wechselten einen beredten Blick.
»Also, ein paar Minuten haben wir schon Zeit«, sagte der Sachse und setzte sich.
Sein Kollege nahm ebenfalls Platz und öffnete die Bierflasche. »Auf Ihr Wohl! Gesegneten Einzug wünsch ich.« Er setzte die Flasche an die Lippen und hörte nicht eher zu trinken auf, bis sie fast leer war.
»Ich kann noch eine Halbe bringen«, bot Silvia an.
»Lieber net, wegen dem Fahren meine ich«, wehrte der Mann ab, dann dämmerte es ihm, dass sein Kollege chauffieren konnte, und nickte. »Wenn's Ihnen nichts ausmacht. Der Erich kriegt aber keine mehr. Wir haben unterwegs auf der anderen Autobahnseite eine Polizeikontrolle gesehen, und da wollen wir nichts riskieren.«
»Du könntest dich ja auch ein wenig zurückhalten.« Der junge Sachse war von der Entscheidung seines Kollegen nicht begeistert, kam aber gegen dessen Dickfelligkeit nicht an. Er rächte sich, indem er sich eine ordentliche Portion Schinken auf sein Brot lud und ihn genussvoll kauend verspeiste.
»Der schmeckt schon ganz anders als das Zeug, das man in der Stadt kaufen kann.«
Kathrin konnte sehen, was für eine Delikatesse die Brotzeit für die beiden Männer sein musste, denn mit ihrem Gehalt mussten sie in München sicherlich knapsen und konnten sich Schinken allenfalls als Sonderangebot leisten.
»Das Rauchfleisch ist vom Haslinger. Das ist der Hof dort drüben.« Silvia wies durch das Fenster auf einen großen Bauernhof mit drei Gebäuden; das Wohnhaus stammte, so schätzte Kathrin, aus dem neunzehnten Jahrhundert. Das Erdgeschoss war aus Bruchsteinen gemauert, darauf saß ein Obergeschoss aus schweren Holzbalken mit einem geschnitzten Balkon, der von Hängegeranien überquoll.
»Ein schöner Hof«, sagte Kathrin. »Der würde ein hübsches Motiv für eine Ansichtskarte abgeben.«
»Das ist er auch gewesen«, erklärte Silvia. »Der Haslingerhof ist etwas Besonderes. Der Prinzregent Luitpold ist dort sogar drei Mal abgestiegen, als er bei uns im Wolzental auf die Jagd gegangen ist. Damals war aber noch net der Benedikt der Bauer, sondern der Großvater von seinem Großvater. Der hat auch Benedikt geheißen.«
Nach diesem Ausflug in die lokale Historie bekam Silvia selbst Hunger und belegte sich ein Wurstbrot.
Kathrins Magen knurrte missgünstig, doch sie wollte sich nicht unaufgefordert bedienen. Silvia nahm ihr die Entscheidung ab, indem sie ihr kurzerhand ebenfalls ein Wurstbrot zurechtmachte.
»Zu schlank ist ungesund«, meinte sie augenzwinkernd. »Vergelt's Gott.«
Kathrin nahm das Brot bereitwillig entgegen und biss herzhaft hinein. Dabei dachte sie, dass ihr Aufenthalt in Wolzental zwar etwas ungewöhnlich, aber nicht unangenehm begonnen hatte. Eines war ihr aber bereits auf Anhieb klar geworden: Ihrer tatkräftigen Nachbarin würde sie so leicht nicht entkommen.
2
Etwas oberhalb des Haslingerhofes lag Martin Axenböcks Anwesen. Im Gegensatz zu seinem Nachbarn konnte es nicht mit einer Postkartenidylle aufwarten, denn Stall und Scheune waren nach einem Brand erst vor wenigen Jahren mit wenig Rücksicht auf die hiesige Bautradition neu errichtet worden. Nur das Wohnhaus wirkte ähnlich alt wie das des Haslingers, doch zierten im Gegensatz zu diesem nur ein paar halb verdorrte Geranienstöcke den Balkon. Obwohl Martin Axenböck mit seinen sechzig Jahren zu den erfahrenen Landwirten zählte, konnte er es im Wolzental an Ansehen nicht mit seinem um die Hälfte jüngeren Nachbarn Benedikt Haslinger aufnehmen. Dem Unterschied im Ansehen entsprach in etwa auch die Ertragskraft beider Höfe. Während Haslingers Kühe einen Ehrenpreis nach dem anderen einheimsten und sein Einkommen von Jahr zu Jahr stieg, krebste Axenböck herum und hatte in der letzten Zeit bereits mehrfach Notverkäufe tätigen müssen. Inzwischen ging es bei ihm jedoch wieder etwas aufwärts, und nicht wenige im Wolzental hielten dies für das Verdienst der jungen Magd, die im vorletzten Frühjahr bei ihm angefangen hatte. Sie hieß Magdalena, wurde aber von allen nur Leni gerufen.
An diesem Abend war sie mit Peter, dem Bauernsohn, im Stall und molk die Kühe. Peter hielt sich dabei bewusst am anderen Ende des Stalles auf und wagte es kaum, Leni einen Blick zuzuwerfen. Die junge Frau merkte es und kniff die Lippen zusammen. Sie sah nach, ob das Euter der Kuh, der sie das Melkgeschirr angelegt hatte, allmählich leer war, zupfte es dann von den Zitzen und legte es der nächsten Kuh an. Danach blieben ihr einige Augenblicke Zeit, und die nutzte sie.
Peter zuckte zusammen, als Lenis Schatten plötzlich über ihn fiel, und ließ beinahe seine Melkmaschine fallen. Er fasste sich aber schnell wieder und wies mit dem Kinn nach vorn. »Du solltest bei der Saffi bleiben, Leni. Du weißt doch, dass sie die Melkkanne gern umschmeißt. Dann sind mindestens fünfzehn Liter Milch beim Teufel.«
»Hast du mit deinem Vater geredet?« Noch während sie die Frage stellte, erkannte Leni an Peters Miene, dass er es nicht getan hatte.
»Du hast es mir versprochen. Und es drängt allmählich.«
Ihre Stimme klang enttäuscht, denn sie hätte von dem jungen Mann etwas mehr Mut erwartet. Sie betrachtete ihn seufzend und fühlte, dass ihr Herz noch immer für ihn schlug. Er war eine gute Handspanne größer als sie, ziemlich kräftig gebaut, und sein Gesicht war für einen Mann beinahe zu hübsch. Leni hätte ihn sich etwas männlicher gewünscht, doch bei einem Vater wie Martin Axenböck, der seinen Sohn nicht besser behandelte als einen Dienstboten, hatte Peter kein Selbstvertrauen entwickeln können.
Jetzt zog er den Kopf zwischen die Schultern und stierte die Kuh an, die er gerade molk. Doch so leicht ließ Leni sich nicht abschütteln.
»Du musst mit deinem Vater reden! Wir müssen bald heiraten, verstehst du?«
»Ich versteh gar nichts. Außerdem glaub ich, dass die Saffi ihr Melkgeschirr gleich herunterschlägt.«
Peters Versuch, Leni abzuwimmeln, schlug fehl, denn die junge Frau kümmerte sich nicht um die unruhig werdende Kuh. Sie fasste ihn bei den Schultern und zog ihn zu sich herum.
»Wir müssen heiraten. Ich glaub nämlich, ich krieg ein Kind!«
Im ersten Augenblick erschrak Peter, lachte dann aber abfällig auf. »Du glaubst es! Also bist du dir net sicher.«
»Sicher sein kann ich mir erst, wenn ich beim Frauenarzt war. Aber dafür brauch ich einen Tag Urlaub, und den gibt mir dein Vater net. Ich hab ihn nämlich letzte Woche gefragt.«
Lenis Enttäuschung stieg. Sie hatte für diese Nachricht ja nicht gerade Freudenrufe von Peter erwartet, aber wenigstens Verständnis. Schließlich war sie ja nicht wie die Jungfrau zum Kind gekommen, sondern er hatte seinen Teil dazu beigetragen. Wütend, weil er sich wieder abwenden wollte, stemmte sie die Hände in die Hüften und funkelte ihn an. »Wir waren uns doch einig, dass wir bald heiraten werden!«
»Sacklzement, musst du denn schon wieder damit anfangen? «, fuhr der junge Mann auf.
»Ja, ich muss! Ich will verheiratet sein, bevor die Leut meinen Bauch sehen.«
»Ich hab doch gesagt, dass ich vorher mit meinem Vater reden muss.«
Peter wand sich wie ein Wurm und fragte sich gleichzeitig, wie er nur so dumm gewesen sein konnte, Leni die Ehe zu versprechen.
Das waren die paar Mal auf dem Heustock wirklich nicht wert gewesen. Er vergaß dabei ganz, wie sehr er sie bedrängt hatte, ihn zu erhören, doch ohne eine offizielle Verlobung hatte sie nicht einwilligen wollen. Schließlich war es ihm dann doch gelungen, sie herumzubringen, aber erst, nachdem er ihr hoch und heilig versprochen hatte, umgehend mit seinem Vater zu reden. Das lag schon ein paar Monate zurück, und er hatte gehofft, Leni würde es vergessen oder wenigstens Ruhe geben. Daran, dass sie schwanger werden könnte, hatte er keinen Gedanken verschwendet. Seine Verblüffung wich der Wut.
»Warum hast du net die Pille nehmen können wie jedes vernünftige andere Madl auch?«
»Weil ich auch dafür in die Stadt hätt fahren müssen. Aber die Zeit hast du mir net gelassen«, biss Leni zurück.
Peter fuhr herum. »Du wirst doch net sagen wollen, dass es gleich beim ersten Mal passiert ist.«
»Doch, das ist es. Ich hab nachgerechnet.«
Peters Vater war damals in die Stadt gefahren und hatte die alte Vroni mitgenommen, die trotz ihrer fast siebzig Jahre noch immer auf dem Axenböckhof als Haushälterin arbeitete. Leni und Peter waren allein auf dem Hof geblieben. Da sie etwas früher mit der ihnen aufgetragenen Arbeit fertig geworden waren, hatte Peter die Gelegenheit beim Schopf gepackt. Lenis Miene verfinsterte sich, als sie an all die Schwüre dachte, mit denen er hoch und heilig versprochen hatte, sie zu heiraten. Da sie noch immer zögerte, hatte er sie gewaltsam ins Heu gedrückt. Es war nur deshalb keine Vergewaltigung geworden, weil sie sich ihm nach anfänglichem Widerstand dann doch freiwillig hingegeben hatte.
Da Peter nichts sagte, sondern nur auf seinen Lippen herumkaute, wurde es Leni zu dumm. »Wenn du net mit deinem Vater redest, werd ich's tun.«
Peter zuckte wie unter einem Hieb zusammen. »Bist du närrisch? Der Vater dreht durch, wenn er das erfährt.«
»Irgendwann muss er's erfahren. Außerdem wird er's bald sehen«, gab Leni scharf zurück und strich sich über die Taille.
Peter stand mit hängenden Armen vor ihr und überlegte verzweifelt, wie er sich aus dieser Klemme befreien konnte. Leni war ein hübsches Mädchen und fleißig dazu, doch das zählte bei seinem Vater nicht. Die Schwiegertochter, die einmal auf dem Hof Einzug halten würde, musste vor allem reich sein, und da haperte es bei Leni ganz gewaltig. Peter wollte sich die Reaktion seines Vaters gar nicht erst ausmalen, wenn er ihm eröffnen würde, Leni heiraten zu wollen. Er kannte die junge Magd inzwischen aber gut genug, um zu wissen, dass sie durchaus imstande war, seinen Vater über dessen bevorstehenden Großvaterfreuden in Kenntnis zu setzen. Daher musste er vorsichtig sein mit dem, was er nun zu ihr sagte.
»Schatzerl, natürlich werde ich mit meinem Vater reden. Aber das muss zu einer Zeit sein, wo er gut aufgelegt ist. Derzeit ist er ja kaum ansprechbar. Wenn ich jetzt zu ihm komm, fährt er mir glatt übers Maul und verbietet mir ein für alle Mal, dich zu heiraten.«
»Bist du ein erwachsenes Mannsbild oder ein kleiner Bub?«, entfuhr es Leni.
Peter fühlte sich in seiner männlichen Ehre angegriffen und plusterte sich auf. »Natürlich könnte ich dich auch gegen den Willen meines Vaters heiraten, aber das hätt keinen Taug. Es geht schließlich auch um den Hof.«
Das Argument leuchtete Leni ein. Sie kannte den Bauern und wusste, dass dieser sehr harsch reagierte, wenn ihm etwas nicht passte. Bis jetzt hatte sie sich noch keinen Gedanken gemacht, was er zu der ganzen Sache sagen würde, und begriff , dass sie vielleicht etwas zu blauäugig auf Peters Liebesschwüre hereingefallen war. Doch das Malheur war nun einmal geschehen, und daher musste Peter zu ihr stehen, mochte sein Vater zornig werden oder nicht.
»Ich will, dass alles seine Richtigkeit hat! Dein Vater muss es erfahren, damit unser Kind ehelich zur Welt kommt.«
»Das will ich ja auch«, versicherte ihr Peter, nur um sie zu beruhigen. »Aber wir müssen noch ein, zwei Monate warten, bis wir wieder ein paar Stück Vieh verkauft haben. Wenn die gutes Geld bringen, ist der Vater auch wieder besser gelaunt.«
Leni wollte ihm gern glauben, allerdings hatte Peter ihr in den letzten Wochen schon so oft versprochen, mit seinem Vater zu reden, dass sie ihre Skepsis nicht so einfach beiseiteschieben konnte. »Ist das nicht wieder eine Ausrede? «, fragte sie bitter.
»Nein, gewiss net. Von mir aus kannst es sogar schriftlich haben!« Es war Peter nur so herausgerutscht, doch Leni nickte unwillkürlich.
»Also gut. Ich lass dir noch ein bisserl Zeit. Aber dafür schreibst du mir auf, dass du mich heiraten wirst. Eines sag ich dir: Solltest du mir dann wieder mit Ausreden kommen, geh ich mit dem Schrieb zu deinem Vater, verstanden? «
Für einige Augenblicke standen sich die beiden jungen Menschen, die sich bis vor Kurzem noch so nahe gewesen waren, beinahe wie Feinde gegenüber. Peter bedauerte sein übereiltes Versprechen augenblicklich, doch gleichzeitig jagte der Gedanke, vor seinem Vater Farbe bekennen zu müssen, ihm eine Heidenangst ein. Gab er Leni das verlangte Papier, erhandelte er sich damit eine Galgenfrist, innerhalb derer ihm ein Ausweg einfallen konnte. Vielleicht konnte er seinen Vater sogar dazu bringen, sich mit Leni als Jungbäuerin abzufinden. Er musterte sie kurz und fand, dass sie auch in Bluse und Latzhose eine gute Figur machte. Sie war eine Frau, die das Blut eines Mannes in Wallung bringen konnte, und er wollte nur ungern auf die Schäferstündchen mit ihr verzichten.
»Treffen wir uns heut Nacht wieder?«, fragte er mit gepresster Stimme.
Leni sah ihn an und sagte sich, dass sie die Gedankenwelt der Männer wohl nie begreifen würde. Eben noch hatte Peter gewirkt, als wünsche er sie ans andere Ende der Welt, und nun tat er, als wäre zwischen ihnen wieder alles in bester Ordnung. Müde von dem Streit und der Aufregung schüttelte sie den Kopf.
»Ich glaub, es ist besser, wenn wir eine Zeit lang damit aufhören. Ich möcht zuerst einmal schauen, wie es mit meiner Schwangerschaft geht, außerdem will ich, dass du vorher mit deinem Vater sprichst. Sonst hab ich kein gutes Gefühl dabei.«
Peter funkelte sie aus zusammengekniffenen Augen an. »Du, erpressen lass ich mich von dir net! Es gibt auch noch andere Madln, die sich nicht so zieren wie du.«
Damit wandte er Leni brüsk den Rücken zu und verließ den Stall. Er sah nicht mehr die Tränen, die der jungen Magd über die Wangen liefen. Leni hatte jedoch keine Zeit, sich ihrer Verzweiflung hinzugeben, denn der Saffi dauerte das Melken inzwischen zu lange, und sie stieß mit einem gezielten Hieb das Melkgeschirr um. Leni musste sich daher sputen, um zu verhindern, dass sich die frisch gemolkene Milch über den Stallboden ergoss.
3
Kathrin wurde von einem vielstimmigen Vogelkonzert geweckt und blieb noch ein paar Minuten mit geschlossenen Augen liegen, um den gefiederten Sängern zu lauschen. In München war sie höchstens vom Straßenlärm aus ihren Träumen gerissen geworden. Manchmal hatte er sie so sehr gestört, dass sie selbst nach langen und anstrengenden Nachtschichten nicht einschlafen konnte. Sie kannte Krankenschwestern, denen es ebenso ergangen war und die nur mit Medikamenten die nötige Bettschwere erreichten. Soweit wollte Kathrin es nicht kommen lassen, sondern hatte sich lieber für einen Weg entschieden, der mehr Ruhe und Ausgeglichenheit verhieß. Sie war aber ehrlich genug, um zuzugeben, dass sie den entscheidenden Schritt ohne Toni Bruckners Unterstützung nicht geschafft hätte. Wie immer hatte er sich als ein guter Freund erwiesen. Wieder einmal zwang sie sich dazu, das leichte Ziehen in ihrer Brust zu übergehen, das sie quälte, wenn sie an ihn dachte. Seine Welt war nicht die ihre. Er würde seine Nicole heiraten und nach Norddeutschland ziehen. An sie oder dieses schöne Bergtal würde er wohl nur noch selten zurückdenken, um sie im Lauf der Zeit dann ganz zu vergessen.
Der Gedanke schmerzte und überlagerte die süßen Melodien der Vögel. Schließlich lachte Kathrin über sich selbst, denn sie war nicht in dieses Tal gekommen, um sich vor der Welt zu verkriechen und einer unerfüllten Liebe nachzutrauern, sondern um beruflich auf eigenen Beinen zu stehen.
Als Erstes überlegte sie, wie sie den Tag beginnen sollte. Sie sah kurz durchs Fenster und fand, dass es draußen einfach zu schön war, um im Haus zu bleiben und Wohnung und Praxis einzurichten. Es gab etliche Wanderwege im Wolzental, und sie hatte sich schon lange auf eine zünftige Bergwanderung gefreut. In Gesellschaft wäre es gewiss lustiger, doch andererseits konnte sie, wenn sie allein ging, in Ruhe über alles nachdenken und Pläne schmieden.
Plötzlich mischten sich andere Töne in den Gesang der Vögel. Im Erdgeschoss schrillte eine Eieruhr, und sie hörte das Klappern von Geschirr.
Kathrin schoss so schnell wie selten zuvor aus dem Bett und eilte nach unten. Als sie mit noch vom Schlafen wirren Haaren und im Nachthemd in die Küche stürmte, goss dort Silvia Leistner gerade heißes Wasser in eine Kanne. Bei Kathrins Eintreten drehte sie sich um und lachte sie verschmitzt an.
»Ich hab mir gedacht, dass du am ersten Tag ein bisserl länger schlafen wirst, und bin herübergekommen, um das Frühstück vorzubereiten. Du weißt ja, Landluft macht Hunger! «
Kathrin starrte die Frau kopfschüttelnd an. Eine so enge Beziehung zu Nachbarn war sie aus München nicht gewöhnt. Die Mieter in ihrem Wohnblock hatten laufend gewechselt, und wenn man sich in Flur oder Aufzug traf, hörte sie höchstens einmal einen gemurmelten Gruß. Den einzigen engeren Kontakt hatte sie vor einigen Jahren mit einer älteren Dame geschlossen, für die sie öfter einkaufte. Schichtdienst, Überstunden und die Konzentration auf ihre berufliche Weiterbildung verhinderten aber, dass die Beziehung enger wurde. Vor zwei Jahren war die alte Dame in ein Altersheim umgezogen, und sie verloren sich aus den Augen.
»Die Großstadt entfremdet die Menschen voneinander«, entfuhr es ihr unbewusst.
Silvia sah sie verwundert an. »Was hast du gesagt?«
»Bloß ein Gedankensprung. Nichts Wichtiges!« Kathrin wischte den Gedanken an die Stadt mit einer Handbewegung beiseite und blickte auf den Tisch, den ihre Nachbarin bereits für zwei gedeckt hatte. »Ich glaub, ich muss mich beeilen. Sonst wird der Kaffee kalt.«
»Ich hab Rotbuschtee für uns gekocht, und zwar den mit Vanillegeschmack. Gestern hast du nämlich gesagt, dass du den gern magst. Mein Sebastian trinkt ihn net, darum mach ich ihn daheim selten. Aber für uns zwei kommt er jetzt gerade recht.«
»Oh, danke.« Kathrin bemühte sich, nicht zu enttäuscht zu klingen. Sie mochte Rotbuschtee zwar recht gern, aber eben nur am Nachmittag oder Abend nach Arbeitsschluss und kurz vor dem Zubettgehen. In der Früh aber trank sie lieber Kaffee, um den Kreislauf in Schwung zu bringen. Dann aber dachte sie daran, dass sie sich ja nicht mehr wie früher abhetzen musste, um noch rechtzeitig in die Klinik zu kommen, sondern sich endlich Zeit lassen konnte. »Ich bin gleich wieder da, Silvia. Mach du dir's derweil bequem. «
Mit diesen Worten huschte Kathrin davon und schlüpfte in das ein wenig altmodisch, aber zweckmäßig eingerichtete Badezimmer. Da sie keinen übertriebenen Schnickschnack mochte, war sie im Nu geduscht und angezogen.
Als sie nach kurzer Zeit mit einem schwingenden Batikrock und einer hellen Bluse, das mahagonifarbene Haar frisch gewaschen und geföhnt, wieder in der Küche erschien, starrte Kathrin ihr verblüff t entgegen. Kathrin hatte sogar noch Zeit gefunden, ein wenig getönte Hautcreme aufzutragen. Ihre Fingernägel waren allerdings nicht lackiert, wie Silvia mit einem raschen Blick erkannte. Alles in allem bot Kathrin einen reizvollen Anblick, und Silvia, die beim gestrigen Gespräch herausgefunden hatte, dass ihre neue Nachbarin bald ihren dreißigsten Geburtstag feiern würde, fragte sich, weshalb sie noch immer alleinstehend war. Das musste wohl mit der Großstadt zusammenhängen.
Im Wolzental würden die jungen Männer ihre neue Freundin gewiss nicht übersehen. Silvia überlegte, wer aus ihrer Bekanntschaft für Kathrin infrage käme, doch aus den zahlreichen imaginären Bewerbern kristallisierte sich kein direkter Favorit heraus. Vom Alter her wäre Benedikt Haslinger ein Kandidat, doch der war Großbauer und brauchte eine Frau, die wusste, wo bei einer Kuh hinten und vorn war. Die anderen Männer um die dreißig waren entweder verheiratet oder eingefleischte Junggesellen, die man, wie ihr Ehemann Sebastian zu sagen pflegte, nicht einmal mit einer Kalaschnikow vor den Traualtar bringen würde.
Als Silvia merkte, dass sie Kathrin schon eine geraume Zeit stumm angesehen hatte, begrüßte sie sie mit einem Lachen. »Gut schaust du aus! Da werden unsere Burschen Augen machen. Schad, dass alle feschen jungen Männer bereits verheiratet sind. Aber wir finden schon noch einen Kandidaten, der zu dir passt.«
Kathrin begriff , dass ihre Bekanntschaft mit Silvia noch ziemlich viel Langmut von ihr verlangen würde. So persönlich und direkt waren ihre weiblichen Bekannten, die sie in der Stadt gehabt hatte, nie geworden. »Ich bin aber net zum Heiraten ins Wolzental gekommen, sondern zum Arbeiten «, antwortete sie lächelnd und setzte sich an den Tisch. »Schön hast du das gemacht. Aber vernachlässigst du nicht deinen Haushalt daheim?«
Silvia schnaubte beleidigt. »Also, damit werde ich noch allweil fertig. Der Sebastian ist schon zur Arbeit, und da hab ich ein Stünderl Zeit, um dir zu helfen.«
Irgendwie fühlte Kathrin sich von ihrer Nachbarin überfahren, gleichzeitig freute sie sich aber, jemand gefunden zu haben, mit dem sie reden konnte. Bereits am Tag zuvor hatte Silvia ihr mehr über die Bewohner des Wolzentals erzählt, als sie selbst in einem ganzen Jahr in Erfahrung hätte bringen können. Sie wusste jetzt, welche Frauen schwanger waren, welche sich dringend und bisher vergeblich ein Kind wünschten, und wusste auch um die Beschwerden, mit denen einige Wolzentalerinnen bei früheren Schwangerschaften kämpfen mussten. Allesamt Informationen, die Kathrin nützlich sein konnten. Aus einem Impuls heraus ergriff Kathrin Silvias Hand.
»Danke schön!«
»Wofür?«, fragte diese erstaunt. »Das bisserl Wurst und Käs ist wirklich net der Rede wert.«
»Stimmt, ich hab gestern ja ganz vergessen einzukaufen. « Kathrin senkte beschämt den Kopf und bot ihrer Nachbarin abermals eine Gelegenheit, sich hilfsbereit zu zeigen.
»Also, wenn du etwas brauchst: Ich muss heut sowieso zum Kramer. Da kann ich dir gern etwas mitbringen.
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Kathrin ließ den Wagen auf den Parkplatz rollen und hielt an. Hier, kurz unterhalb der Passhöhe, bot sich ihr ein unvergleichlicher Blick auf das Wolzental und die umliegenden Berge, aus denen der schneebedeckte Gipfel des Wolzensteins herausragte. Doch nicht der bei Alpinisten belieb te Berg lenkte ihre Aufmerksamkeit auf sich, sondern das Dorf, das aus dem grünen Tal mit seinen roten Dächern zu ihr heraufgrüßte.
Wolzental zählte nicht gerade zu den Zentren dieses Landstrichs, denn von Miesbach aus musste man fast vierzig Kilometer fahren, um es zu erreichen. In München hatte Toni sich immer darüber mokiert, dass man, um in seinen Heimatort zu gelangen, bis ans Ende der Welt fahren müsse und noch ein Stück darüber hinaus.
Ganz so abgelegen erschien Kathrin die Gegend nicht. Die Straße befand sich in einem guten Zustand, und das Dorf bestand aus mehreren Dutzend Häusern, die sich um eine wuchtige Kirche scharten. Die Kuppel des Kirchturms musste erst vor Kurzem erneuert worden sein, denn ihr Kupferbeschlag glänzte in der Sonne wie pures Gold. Kathrin atmete tief durch, als ihr Blick auf das kleine Haus etwas seitlich vor der Kirche fiel. Seit jeher wurde es das Doktorhäusel genannt, und nun würde es ihre neue Heimat werden.
Obwohl es sie drängte weiterzufahren, trat Kathrin noch ein Stück nach vorn und blickte tiefer in das Tal hinein. Etliche große Bauernhöfe gruppierten sich um das Kerndorf wie Monde um einen Planeten. Viel Holz war verbaut worden, genau wie bei den Häusern im Ort, von denen die meisten ein holzverkleidetes Obergeschoss hatten und einen an der Vorderseite entlanglaufenden Balkon, dessen Blumenfülle bis hierherauf leuchtete. Etwas oberhalb des Dorfes glänzten weiße Wohnwagen im Sonnenlicht. Dort lag der Campingplatz von Wolzental, der, wie Toni erzählt hatte, sommers wie winters fest in holländischer Hand war.
Kathrin lenkte ihren Blick wieder auf das Doktorhäusel und atmete tief ein. Würde sie in Wolzental das finden, was sie sich erhoffte?, fragte sie sich etwas unsicher.
Dann aber schüttelte sie den Kopf. Sollte Toni ruhig über seine Heimat spotten - sie war des Lärms und des Gestanks der Großstadt überdrüssig und ertrug auch den Stress im Krankenhaus nicht mehr, in dem sie als Hebamme auf der Entbindungsstation gearbeitet hatte. Das war kein Leben mehr gewesen mit den vielen Über stunden, einer übellaunigen Vorgesetzten, die nicht müde wurde, sie darauf hinzuweisen, dass sie für ihre Stelle überqualifiziert sei, und neidischen Kolleginnen, denen ihr gutes Verhältnis zum Stationsarzt ein Dorn im Auge gewesen war.
Dabei war das Verhältnis zwischen ihr und Anton Bruckner, dem gut aussehenden Arzt, nur freundschaftlicher Natur gewesen. Toni, wie er von seinen Freunden genannt wurde, schätzte ihr Engagement, und über der gemeinsamen Arbeit waren sie Freunde geworden. Kathrin seufzte ein wenig, denn an ihr lag es gewiss nicht, wenn nicht mehr daraus geworden war. Doch Toni war bereits gebunden und würde noch in diesem Jahr die einzige Tochter eines Privatklinikbesitzers heiraten. Damit würde sich sein Lebensmittelpunkt in den Norden Deutschlands verlagern. Diesem Umstand hatte sie es zu verdanken, dass sie in Wolzental ein gemachtes Nest vorfand, denn Toni vermietete ihr das Wohnhaus seiner vor mehreren Jahren verstorbenen Eltern, und das zu einem wahren Freundschaftspreis.
»Also - worauf warte ich noch?«, sprach Kathrin sich Mut zu und kehrte zu ihrem Auto zurück.
Sie musste ein wenig warten, ehe sie auf die Straße einbiegen konnte, denn ausgerechnet in diesem Moment tuckerte ein Lastwagen heran, der eine lange schwarze Rauchfahne aus seinem Auspuff hinter sich herzog.
Da Kathrin nicht dieser Qualmwolke folgen wollte, wartete sie noch ein wenig und warf einen letzten Blick über das Tal. Kühe grasten auf den Wiesen, und direkt unterhalb des Aussichtspunkts entdeckte Kathrin ein paar Jungtiere, die mit akrobatischem Geschick unter dem elektrischen Weidezaun hindurchschlüpften und sich auf den Weg zur Nachbarweide machten, deren Gras ihnen wohl verlockender erschien.
Über der kleinen Begebenheit mit den Tieren war der Lkw talwärts entschwunden, und Kathrin setzte ihren Wagen in Bewegung. Während sie die Serpentinen in Angriff nahm, entdeckte sie weiter unten den Lastwagen und konnte ausreichend Abstand halten, um nicht von dessen Abgasen belästigt zu werden. Kurz hinter dem Eingang des Tales bog das Gefährt ab und hielt auf einen der Bauernhöfe zu. Kathrin trat auf das Gaspedal und erreichte bald darauf das Dorf. Es sah alles noch genauso aus wie bei ihrem ersten Besuch vor ein paar Wochen, bei dem Toni ihr das Haus gezeigt hatte. Der Vorschlag, hier ein neues Leben zu beginnen, war, wenn sie es recht bedachte, sogar von ihm gekommen. Da nach dem Tod seines Vaters kein neuer Arzt Interesse zeigte, die kleine Landpraxis zu übernehmen, und die Einheimischen nicht wegen jeder Kleinigkeit nach Rottach-Egern oder gar Miesbach fahren wollten, würde eine Frau mit ihren Kenntnissen dringend gebraucht werden.
Kathrin war stolz auf das, was sie, trotz des harten Dienstes in der Klinik, erreicht hatte. Sie war nicht nur ausgebildete Krankenschwester und Hebamme, sondern hatte auch eine Ausbildung als Heilpraktikerin absolviert.
Hier in Wolzental würde sie für ihre Arbeit endlich nicht mehr überqualifi ziert sein. Sie kicherte bei dem Gedanken an den alten Drachen von Oberschwester, dem sie endlich entkommen war, und hätte darüber beinahe die Abzweigung zum Doktorhäusel verpasst. Im letzten Moment bog sie von der Straße ab und stellte den Wagen auf dem kleinen Parkplatz ab.
Sie war noch nicht richtig ausgestiegen, da ging beim gegenüberliegenden Haus die Tür auf, und eine pummelige Frau mittleren Alters in einer geblümten Kittelschürze schoss heraus.
»Hallo Sie, das geht fei net. Das ist kein öffentlicher Parkplatz. Der ist drüben bei der Kirche!«
Im ersten Augenblick war Kathrin verdattert, dann aber erinnerte sie sich an die Frau und trat lächelnd auf sie zu.
»Grüß Gott, Frau Leistner. Wir haben uns schon vor zwei Monaten gesehen, als ich mit Herrn Dr. Bruckner hier war.«
Die Stirn der Nachbarin glättete sich, und sie streckte Kathrin die Hand entgegen. »Ah, das Fräulein, das das Haus hüten will, solang unser junger Herr Doktor fort ist. Wie geht's denn dem Toni? Ich hoff e, gut!«
»Wenn man es genau nimmt, ausgezeichnet. Er lässt Sie herzlich grüßen.« Was ein wenig gefl unkert war, denn Toni hatte kein einziges Wort in dieser Richtung verloren, doch Kathrin wollte der Frau eine Freude machen. Prompt strahlte deren Gesicht auf, und sie bat Kathrin, mit ins Haus zu kommen.
»Ein Tasserl Kaffee werden Sie gewiss nicht abschlagen. Ich hab auch einen Stachelbeerkuchen gebacken. Der Toni hat ihn allweil so gern gegessen, als er noch daheim war. Aber das ist schon eine Zeit her. Er dürfte sich ruhig ein bisserl öfters sehen lassen. Die Leut wollen ja wissen, wie's dem jungen Doktor geht.«
Silvia Leistner seufzte, ehe sie die Kaff eemaschine einschaltete und ihrem Gast ein riesiges Stück Stachelbeerkuchen abschnitt.
Kathrin war nicht unbedingt eine Freundin dieser säuerlichen Früchte, freute sich aber, so herzlich empfangen zu werden. Außerdem schmeckte der Kuchen, wie sie nach dem ersten Bissen merkte, tatsächlich ausgezeichnet. »Hervorragend! So was kriegt man in der Stadt net«, sagte sie. Silvias rundliches Gesicht glühte noch mehr. »Was ich koch, schmeckt allweil. Das sagt auch mein Mann.«
Kathrin glaubte ihr gern, denn sie konnte sich entfernt an Sebastian Leistner erinnern. Seine Figur war der seiner Frau ebenbürtig. Der Schlankheitswahn, der in der Stadt wütete, schien in diese Gegend noch keinen Einzug gehalten zu haben.
Während Silvia einige Begebenheiten aus Tonis Jugend erzählte, in denen der stets beherrschte Herr Doktor sich in einen fröhlichen Lausbuben zurückverwandelte, sah Kathrin sich ein wenig in der Wohnküche um. Für städtische Verhältnisse war sie riesig. Die modernen Geräte waren mit hellen Holzblenden versehen und passten sehr gut zu der rustikalen Eckbank, dem wuchtigen Tisch und den Stühlen, die stabil genug aussahen, um noch schwergewichtigere Leute als Silvia und Sebastian Leistner zu tragen. In der Ecke über der Bank hingen ein großes Kruzifi x, das mit Palmkätzchen geschmückt war, sowie Bilder von Christus und der Jungfrau Maria.
»Gemütlich haben Sie es«, sagte sie, als Silvias Redestrom etwas verebbte.
»Gefällt's Ihnen?« Die Gastgeberin lächelte geschmeichelt und stellte dann die Frage, die ihr schon lange auf der Zunge lag.
»Wann kommt er denn nach, der Toni?«
»Wie - nach?«, fragte Kathrin mit verständnislosem Blick.
»Sie sind doch so etwas wie seine Sprechstundenhilfe, und wie ich gehört hab, soll auch die Praxis wieder aufgemacht werden. Zeit wird's, denn seit dem Toni sein Vater gestorben ist, haben wir allweil nach Rottach-Egern oder gar Miesbach fahren müssen, wenn wir zum Doktor wollten. Aber das ist ja Gott sei Dank bald vorbei.«
Silvia Leistner hörte sich so hoffnungsvoll an, dass es Kathrin leidtat, sie enttäuschen zu müssen. »Ich glaube, da haben Sie etwas missverstanden. Der Toni, ich meine, der Doktor Bruckner, kommt net nach Wolzental zurück. Er hat mir sein Haus samt der Praxis vermietet.«
»Aber Sie sind doch keine Doktorin! Da hätt ich mich schon arg verhören müssen, als der Toni Sie mir letztens vorgestellt hat.«
»Ich bin auch keine Ärztin«, sagte Kathrin. »Ich bin Heilpraktikerin und Hebamme. Der Toni meint, dass jemand wie ich im Dorf dringend gebraucht wird.«
Silvia Leistner schüttelte den Kopf. »Wir brauchen einen Doktor. Gut, gegen eine Hebamme wär auch nix einzuwenden. Die Störzenhoferin ist nimmer die Jüngste, und wenn im Winter Schnee liegt, kommt sie kaum noch herum. Aber ein Doktor wär wichtiger.«
»Damit kann ich leider net dienen.«
Kathrin ärgerte sich ein wenig über die Sturheit, mit der Silvia auf ihrem Standpunkt beharrte. Sie hatte nun einmal nicht studiert, sondern sich ihre Kenntnisse in Abendkursen nach der Arbeit angeeignet. Aber sie war stolz auf das Erreichte. Für dieses Bergnest würde es wohl genügen. Beinahe hätte sie den letzten Gedanken laut ausgesprochen, schluckte ihn jedoch hinunter, um Silvia nicht zu kränken.
»Na ja, er wird schon noch kommen, der Toni. Er weiß ja, dass wir ihn brauchen.« Silvia sah, dass Kathrins Tasse leer war, und goss rasch Kaffee nach. »Magst du noch ein Stückerl Kuchen?«, fragte sie.
Kathrin schüttelte den Kopf. »Nein danke, zu viel von den süßen Sachen darf ich net essen, auch wenn dein Kuchen ausgezeichnet schmeckt.«
»Du meinst, damit du net bald so ausschaust wie ich.« Silvia schmunzelte ein wenig über Kathrins Zurückhaltung, denn ihrem Sebastian gefiel ihre Figur, und sie fühlte sich rundum wohl so, wie sie war.
»Nein, so habe ich das net gemeint.« Kathrin überlegte, ob sie sich nicht doch noch ein Stück Kuchen erlauben sollte, denn sie hatte nichts zu Mittag gegessen. Dann fi el ihr Blick jedoch auf einen großen Kastenwagen, der auf der Straße hielt und dann langsam zum Doktorhäusel abbog. »Mein Gott, der Umzugswagen ist da! Dabei wollte ich vorher noch einiges im Haus erledigen.«
Kathrin sprang auf und lief in Richtung Tür. Doch obwohl sie um etliches schlanker war als Silvia, kam diese ihr zuvor.
»Ich helfe dir, dann kriegen wir das schon hin!«
»Das wär lieb von dir!«
Kathrin wusste nicht, was sie ohne die tatkräftige Frau gemacht hätte. Silvia lotste den Fahrer des Lastwagens geschickt bis vor den Eingang zum Doktorhaus, sodass sie keine großen Umwege in Kauf nehmen mussten. Sie besaß auch einen Schlüssel für das Haus und ersparte Kathrin damit eine lange Suche, da ihr eigener Schlüssel irgendwo in einer Tasche des Gepäcks lag, das sie im Kofferraum verstaut hatte.
»Ich muss wirklich noch net ganz wach gewesen sein, sonst hätte ich den Schlüssel gleich eingesteckt«, sagte sie mit einem entschuldigenden Lächeln zu Silvia.
»Keine Ursache. Es geht auch so. Und jetzt bringen wir erst einmal das Kanapee ins Haus. Willst du's im Wohnzimmer haben? Da stehen aber noch die Möbel vom Toni seinen Eltern, und die sind noch gut.«
Kathrin spürte, dass ihre neu gewonnene Freundin jede Veränderung im Haus als Sakrileg auffassen würde, und seufzte. Viele Möbel besaß sie zwar nicht, denn in München hatte sie in einem kleinen Appartement gewohnt, trotzdem hätte sie am Abend gern auf ihrer eigenen Couch gesessen. Sie wagte aber nicht, diesen Wunsch zu äußern, sondern ließ es zu, dass ihre eigenen Möbel erst einmal auf den Speicher getragen wurden. Anders war es jedoch mit den Gegenständen, die sie für ihre beruflichen Zwecke besorgt hatte. Die wurden trotz Silvias skeptischer Miene in die Praxisräume gebracht und dort abgestellt.
»Also, das hätten wir«, erklärte der Jüngere der beiden Umzugsmänner in sächsischem Tonfall, nachdem alles ins Haus geschafft worden war.
»Es war eine ganz schöne Rackerei, das ganze Zeug auf den Speicher zu schleppen«, setzte sein Kollege hinzu.
Kathrin begriff , dass die beiden ein hübsches Trinkgeld herausschlagen wollten, und zückte die Börse. Ein Schein wanderte zu den beiden Männern hinüber. Diese bedankten sich und wollten sich wieder auf den Weg machen. Doch Silvia kam ihnen zuvor, indem sie ihnen ein ordentliches Vesper anbot. Nach ihrer Erfahrung machte Arbeit Hunger und Durst, und so ging sie rasch in ihr Haus hinüber und kam mit einer kräftigen Brotzeit und zwei Flaschen Bier wieder zurück. »So, wohl bekomm's!« Mit diesen Worten stellte sie das Tablett auf den Tisch in der Küche des Doktorhäusels, die etwas altmodischer eingerichtet war als ihre eigene. Die Männer sahen auf die Würste und den Schinken, dann auf ihre Armbanduhren und wechselten einen beredten Blick.
»Also, ein paar Minuten haben wir schon Zeit«, sagte der Sachse und setzte sich.
Sein Kollege nahm ebenfalls Platz und öffnete die Bierflasche. »Auf Ihr Wohl! Gesegneten Einzug wünsch ich.« Er setzte die Flasche an die Lippen und hörte nicht eher zu trinken auf, bis sie fast leer war.
»Ich kann noch eine Halbe bringen«, bot Silvia an.
»Lieber net, wegen dem Fahren meine ich«, wehrte der Mann ab, dann dämmerte es ihm, dass sein Kollege chauffieren konnte, und nickte. »Wenn's Ihnen nichts ausmacht. Der Erich kriegt aber keine mehr. Wir haben unterwegs auf der anderen Autobahnseite eine Polizeikontrolle gesehen, und da wollen wir nichts riskieren.«
»Du könntest dich ja auch ein wenig zurückhalten.« Der junge Sachse war von der Entscheidung seines Kollegen nicht begeistert, kam aber gegen dessen Dickfelligkeit nicht an. Er rächte sich, indem er sich eine ordentliche Portion Schinken auf sein Brot lud und ihn genussvoll kauend verspeiste.
»Der schmeckt schon ganz anders als das Zeug, das man in der Stadt kaufen kann.«
Kathrin konnte sehen, was für eine Delikatesse die Brotzeit für die beiden Männer sein musste, denn mit ihrem Gehalt mussten sie in München sicherlich knapsen und konnten sich Schinken allenfalls als Sonderangebot leisten.
»Das Rauchfleisch ist vom Haslinger. Das ist der Hof dort drüben.« Silvia wies durch das Fenster auf einen großen Bauernhof mit drei Gebäuden; das Wohnhaus stammte, so schätzte Kathrin, aus dem neunzehnten Jahrhundert. Das Erdgeschoss war aus Bruchsteinen gemauert, darauf saß ein Obergeschoss aus schweren Holzbalken mit einem geschnitzten Balkon, der von Hängegeranien überquoll.
»Ein schöner Hof«, sagte Kathrin. »Der würde ein hübsches Motiv für eine Ansichtskarte abgeben.«
»Das ist er auch gewesen«, erklärte Silvia. »Der Haslingerhof ist etwas Besonderes. Der Prinzregent Luitpold ist dort sogar drei Mal abgestiegen, als er bei uns im Wolzental auf die Jagd gegangen ist. Damals war aber noch net der Benedikt der Bauer, sondern der Großvater von seinem Großvater. Der hat auch Benedikt geheißen.«
Nach diesem Ausflug in die lokale Historie bekam Silvia selbst Hunger und belegte sich ein Wurstbrot.
Kathrins Magen knurrte missgünstig, doch sie wollte sich nicht unaufgefordert bedienen. Silvia nahm ihr die Entscheidung ab, indem sie ihr kurzerhand ebenfalls ein Wurstbrot zurechtmachte.
»Zu schlank ist ungesund«, meinte sie augenzwinkernd. »Vergelt's Gott.«
Kathrin nahm das Brot bereitwillig entgegen und biss herzhaft hinein. Dabei dachte sie, dass ihr Aufenthalt in Wolzental zwar etwas ungewöhnlich, aber nicht unangenehm begonnen hatte. Eines war ihr aber bereits auf Anhieb klar geworden: Ihrer tatkräftigen Nachbarin würde sie so leicht nicht entkommen.
2
Etwas oberhalb des Haslingerhofes lag Martin Axenböcks Anwesen. Im Gegensatz zu seinem Nachbarn konnte es nicht mit einer Postkartenidylle aufwarten, denn Stall und Scheune waren nach einem Brand erst vor wenigen Jahren mit wenig Rücksicht auf die hiesige Bautradition neu errichtet worden. Nur das Wohnhaus wirkte ähnlich alt wie das des Haslingers, doch zierten im Gegensatz zu diesem nur ein paar halb verdorrte Geranienstöcke den Balkon. Obwohl Martin Axenböck mit seinen sechzig Jahren zu den erfahrenen Landwirten zählte, konnte er es im Wolzental an Ansehen nicht mit seinem um die Hälfte jüngeren Nachbarn Benedikt Haslinger aufnehmen. Dem Unterschied im Ansehen entsprach in etwa auch die Ertragskraft beider Höfe. Während Haslingers Kühe einen Ehrenpreis nach dem anderen einheimsten und sein Einkommen von Jahr zu Jahr stieg, krebste Axenböck herum und hatte in der letzten Zeit bereits mehrfach Notverkäufe tätigen müssen. Inzwischen ging es bei ihm jedoch wieder etwas aufwärts, und nicht wenige im Wolzental hielten dies für das Verdienst der jungen Magd, die im vorletzten Frühjahr bei ihm angefangen hatte. Sie hieß Magdalena, wurde aber von allen nur Leni gerufen.
An diesem Abend war sie mit Peter, dem Bauernsohn, im Stall und molk die Kühe. Peter hielt sich dabei bewusst am anderen Ende des Stalles auf und wagte es kaum, Leni einen Blick zuzuwerfen. Die junge Frau merkte es und kniff die Lippen zusammen. Sie sah nach, ob das Euter der Kuh, der sie das Melkgeschirr angelegt hatte, allmählich leer war, zupfte es dann von den Zitzen und legte es der nächsten Kuh an. Danach blieben ihr einige Augenblicke Zeit, und die nutzte sie.
Peter zuckte zusammen, als Lenis Schatten plötzlich über ihn fiel, und ließ beinahe seine Melkmaschine fallen. Er fasste sich aber schnell wieder und wies mit dem Kinn nach vorn. »Du solltest bei der Saffi bleiben, Leni. Du weißt doch, dass sie die Melkkanne gern umschmeißt. Dann sind mindestens fünfzehn Liter Milch beim Teufel.«
»Hast du mit deinem Vater geredet?« Noch während sie die Frage stellte, erkannte Leni an Peters Miene, dass er es nicht getan hatte.
»Du hast es mir versprochen. Und es drängt allmählich.«
Ihre Stimme klang enttäuscht, denn sie hätte von dem jungen Mann etwas mehr Mut erwartet. Sie betrachtete ihn seufzend und fühlte, dass ihr Herz noch immer für ihn schlug. Er war eine gute Handspanne größer als sie, ziemlich kräftig gebaut, und sein Gesicht war für einen Mann beinahe zu hübsch. Leni hätte ihn sich etwas männlicher gewünscht, doch bei einem Vater wie Martin Axenböck, der seinen Sohn nicht besser behandelte als einen Dienstboten, hatte Peter kein Selbstvertrauen entwickeln können.
Jetzt zog er den Kopf zwischen die Schultern und stierte die Kuh an, die er gerade molk. Doch so leicht ließ Leni sich nicht abschütteln.
»Du musst mit deinem Vater reden! Wir müssen bald heiraten, verstehst du?«
»Ich versteh gar nichts. Außerdem glaub ich, dass die Saffi ihr Melkgeschirr gleich herunterschlägt.«
Peters Versuch, Leni abzuwimmeln, schlug fehl, denn die junge Frau kümmerte sich nicht um die unruhig werdende Kuh. Sie fasste ihn bei den Schultern und zog ihn zu sich herum.
»Wir müssen heiraten. Ich glaub nämlich, ich krieg ein Kind!«
Im ersten Augenblick erschrak Peter, lachte dann aber abfällig auf. »Du glaubst es! Also bist du dir net sicher.«
»Sicher sein kann ich mir erst, wenn ich beim Frauenarzt war. Aber dafür brauch ich einen Tag Urlaub, und den gibt mir dein Vater net. Ich hab ihn nämlich letzte Woche gefragt.«
Lenis Enttäuschung stieg. Sie hatte für diese Nachricht ja nicht gerade Freudenrufe von Peter erwartet, aber wenigstens Verständnis. Schließlich war sie ja nicht wie die Jungfrau zum Kind gekommen, sondern er hatte seinen Teil dazu beigetragen. Wütend, weil er sich wieder abwenden wollte, stemmte sie die Hände in die Hüften und funkelte ihn an. »Wir waren uns doch einig, dass wir bald heiraten werden!«
»Sacklzement, musst du denn schon wieder damit anfangen? «, fuhr der junge Mann auf.
»Ja, ich muss! Ich will verheiratet sein, bevor die Leut meinen Bauch sehen.«
»Ich hab doch gesagt, dass ich vorher mit meinem Vater reden muss.«
Peter wand sich wie ein Wurm und fragte sich gleichzeitig, wie er nur so dumm gewesen sein konnte, Leni die Ehe zu versprechen.
Das waren die paar Mal auf dem Heustock wirklich nicht wert gewesen. Er vergaß dabei ganz, wie sehr er sie bedrängt hatte, ihn zu erhören, doch ohne eine offizielle Verlobung hatte sie nicht einwilligen wollen. Schließlich war es ihm dann doch gelungen, sie herumzubringen, aber erst, nachdem er ihr hoch und heilig versprochen hatte, umgehend mit seinem Vater zu reden. Das lag schon ein paar Monate zurück, und er hatte gehofft, Leni würde es vergessen oder wenigstens Ruhe geben. Daran, dass sie schwanger werden könnte, hatte er keinen Gedanken verschwendet. Seine Verblüffung wich der Wut.
»Warum hast du net die Pille nehmen können wie jedes vernünftige andere Madl auch?«
»Weil ich auch dafür in die Stadt hätt fahren müssen. Aber die Zeit hast du mir net gelassen«, biss Leni zurück.
Peter fuhr herum. »Du wirst doch net sagen wollen, dass es gleich beim ersten Mal passiert ist.«
»Doch, das ist es. Ich hab nachgerechnet.«
Peters Vater war damals in die Stadt gefahren und hatte die alte Vroni mitgenommen, die trotz ihrer fast siebzig Jahre noch immer auf dem Axenböckhof als Haushälterin arbeitete. Leni und Peter waren allein auf dem Hof geblieben. Da sie etwas früher mit der ihnen aufgetragenen Arbeit fertig geworden waren, hatte Peter die Gelegenheit beim Schopf gepackt. Lenis Miene verfinsterte sich, als sie an all die Schwüre dachte, mit denen er hoch und heilig versprochen hatte, sie zu heiraten. Da sie noch immer zögerte, hatte er sie gewaltsam ins Heu gedrückt. Es war nur deshalb keine Vergewaltigung geworden, weil sie sich ihm nach anfänglichem Widerstand dann doch freiwillig hingegeben hatte.
Da Peter nichts sagte, sondern nur auf seinen Lippen herumkaute, wurde es Leni zu dumm. »Wenn du net mit deinem Vater redest, werd ich's tun.«
Peter zuckte wie unter einem Hieb zusammen. »Bist du närrisch? Der Vater dreht durch, wenn er das erfährt.«
»Irgendwann muss er's erfahren. Außerdem wird er's bald sehen«, gab Leni scharf zurück und strich sich über die Taille.
Peter stand mit hängenden Armen vor ihr und überlegte verzweifelt, wie er sich aus dieser Klemme befreien konnte. Leni war ein hübsches Mädchen und fleißig dazu, doch das zählte bei seinem Vater nicht. Die Schwiegertochter, die einmal auf dem Hof Einzug halten würde, musste vor allem reich sein, und da haperte es bei Leni ganz gewaltig. Peter wollte sich die Reaktion seines Vaters gar nicht erst ausmalen, wenn er ihm eröffnen würde, Leni heiraten zu wollen. Er kannte die junge Magd inzwischen aber gut genug, um zu wissen, dass sie durchaus imstande war, seinen Vater über dessen bevorstehenden Großvaterfreuden in Kenntnis zu setzen. Daher musste er vorsichtig sein mit dem, was er nun zu ihr sagte.
»Schatzerl, natürlich werde ich mit meinem Vater reden. Aber das muss zu einer Zeit sein, wo er gut aufgelegt ist. Derzeit ist er ja kaum ansprechbar. Wenn ich jetzt zu ihm komm, fährt er mir glatt übers Maul und verbietet mir ein für alle Mal, dich zu heiraten.«
»Bist du ein erwachsenes Mannsbild oder ein kleiner Bub?«, entfuhr es Leni.
Peter fühlte sich in seiner männlichen Ehre angegriffen und plusterte sich auf. »Natürlich könnte ich dich auch gegen den Willen meines Vaters heiraten, aber das hätt keinen Taug. Es geht schließlich auch um den Hof.«
Das Argument leuchtete Leni ein. Sie kannte den Bauern und wusste, dass dieser sehr harsch reagierte, wenn ihm etwas nicht passte. Bis jetzt hatte sie sich noch keinen Gedanken gemacht, was er zu der ganzen Sache sagen würde, und begriff , dass sie vielleicht etwas zu blauäugig auf Peters Liebesschwüre hereingefallen war. Doch das Malheur war nun einmal geschehen, und daher musste Peter zu ihr stehen, mochte sein Vater zornig werden oder nicht.
»Ich will, dass alles seine Richtigkeit hat! Dein Vater muss es erfahren, damit unser Kind ehelich zur Welt kommt.«
»Das will ich ja auch«, versicherte ihr Peter, nur um sie zu beruhigen. »Aber wir müssen noch ein, zwei Monate warten, bis wir wieder ein paar Stück Vieh verkauft haben. Wenn die gutes Geld bringen, ist der Vater auch wieder besser gelaunt.«
Leni wollte ihm gern glauben, allerdings hatte Peter ihr in den letzten Wochen schon so oft versprochen, mit seinem Vater zu reden, dass sie ihre Skepsis nicht so einfach beiseiteschieben konnte. »Ist das nicht wieder eine Ausrede? «, fragte sie bitter.
»Nein, gewiss net. Von mir aus kannst es sogar schriftlich haben!« Es war Peter nur so herausgerutscht, doch Leni nickte unwillkürlich.
»Also gut. Ich lass dir noch ein bisserl Zeit. Aber dafür schreibst du mir auf, dass du mich heiraten wirst. Eines sag ich dir: Solltest du mir dann wieder mit Ausreden kommen, geh ich mit dem Schrieb zu deinem Vater, verstanden? «
Für einige Augenblicke standen sich die beiden jungen Menschen, die sich bis vor Kurzem noch so nahe gewesen waren, beinahe wie Feinde gegenüber. Peter bedauerte sein übereiltes Versprechen augenblicklich, doch gleichzeitig jagte der Gedanke, vor seinem Vater Farbe bekennen zu müssen, ihm eine Heidenangst ein. Gab er Leni das verlangte Papier, erhandelte er sich damit eine Galgenfrist, innerhalb derer ihm ein Ausweg einfallen konnte. Vielleicht konnte er seinen Vater sogar dazu bringen, sich mit Leni als Jungbäuerin abzufinden. Er musterte sie kurz und fand, dass sie auch in Bluse und Latzhose eine gute Figur machte. Sie war eine Frau, die das Blut eines Mannes in Wallung bringen konnte, und er wollte nur ungern auf die Schäferstündchen mit ihr verzichten.
»Treffen wir uns heut Nacht wieder?«, fragte er mit gepresster Stimme.
Leni sah ihn an und sagte sich, dass sie die Gedankenwelt der Männer wohl nie begreifen würde. Eben noch hatte Peter gewirkt, als wünsche er sie ans andere Ende der Welt, und nun tat er, als wäre zwischen ihnen wieder alles in bester Ordnung. Müde von dem Streit und der Aufregung schüttelte sie den Kopf.
»Ich glaub, es ist besser, wenn wir eine Zeit lang damit aufhören. Ich möcht zuerst einmal schauen, wie es mit meiner Schwangerschaft geht, außerdem will ich, dass du vorher mit deinem Vater sprichst. Sonst hab ich kein gutes Gefühl dabei.«
Peter funkelte sie aus zusammengekniffenen Augen an. »Du, erpressen lass ich mich von dir net! Es gibt auch noch andere Madln, die sich nicht so zieren wie du.«
Damit wandte er Leni brüsk den Rücken zu und verließ den Stall. Er sah nicht mehr die Tränen, die der jungen Magd über die Wangen liefen. Leni hatte jedoch keine Zeit, sich ihrer Verzweiflung hinzugeben, denn der Saffi dauerte das Melken inzwischen zu lange, und sie stieß mit einem gezielten Hieb das Melkgeschirr um. Leni musste sich daher sputen, um zu verhindern, dass sich die frisch gemolkene Milch über den Stallboden ergoss.
3
Kathrin wurde von einem vielstimmigen Vogelkonzert geweckt und blieb noch ein paar Minuten mit geschlossenen Augen liegen, um den gefiederten Sängern zu lauschen. In München war sie höchstens vom Straßenlärm aus ihren Träumen gerissen geworden. Manchmal hatte er sie so sehr gestört, dass sie selbst nach langen und anstrengenden Nachtschichten nicht einschlafen konnte. Sie kannte Krankenschwestern, denen es ebenso ergangen war und die nur mit Medikamenten die nötige Bettschwere erreichten. Soweit wollte Kathrin es nicht kommen lassen, sondern hatte sich lieber für einen Weg entschieden, der mehr Ruhe und Ausgeglichenheit verhieß. Sie war aber ehrlich genug, um zuzugeben, dass sie den entscheidenden Schritt ohne Toni Bruckners Unterstützung nicht geschafft hätte. Wie immer hatte er sich als ein guter Freund erwiesen. Wieder einmal zwang sie sich dazu, das leichte Ziehen in ihrer Brust zu übergehen, das sie quälte, wenn sie an ihn dachte. Seine Welt war nicht die ihre. Er würde seine Nicole heiraten und nach Norddeutschland ziehen. An sie oder dieses schöne Bergtal würde er wohl nur noch selten zurückdenken, um sie im Lauf der Zeit dann ganz zu vergessen.
Der Gedanke schmerzte und überlagerte die süßen Melodien der Vögel. Schließlich lachte Kathrin über sich selbst, denn sie war nicht in dieses Tal gekommen, um sich vor der Welt zu verkriechen und einer unerfüllten Liebe nachzutrauern, sondern um beruflich auf eigenen Beinen zu stehen.
Als Erstes überlegte sie, wie sie den Tag beginnen sollte. Sie sah kurz durchs Fenster und fand, dass es draußen einfach zu schön war, um im Haus zu bleiben und Wohnung und Praxis einzurichten. Es gab etliche Wanderwege im Wolzental, und sie hatte sich schon lange auf eine zünftige Bergwanderung gefreut. In Gesellschaft wäre es gewiss lustiger, doch andererseits konnte sie, wenn sie allein ging, in Ruhe über alles nachdenken und Pläne schmieden.
Plötzlich mischten sich andere Töne in den Gesang der Vögel. Im Erdgeschoss schrillte eine Eieruhr, und sie hörte das Klappern von Geschirr.
Kathrin schoss so schnell wie selten zuvor aus dem Bett und eilte nach unten. Als sie mit noch vom Schlafen wirren Haaren und im Nachthemd in die Küche stürmte, goss dort Silvia Leistner gerade heißes Wasser in eine Kanne. Bei Kathrins Eintreten drehte sie sich um und lachte sie verschmitzt an.
»Ich hab mir gedacht, dass du am ersten Tag ein bisserl länger schlafen wirst, und bin herübergekommen, um das Frühstück vorzubereiten. Du weißt ja, Landluft macht Hunger! «
Kathrin starrte die Frau kopfschüttelnd an. Eine so enge Beziehung zu Nachbarn war sie aus München nicht gewöhnt. Die Mieter in ihrem Wohnblock hatten laufend gewechselt, und wenn man sich in Flur oder Aufzug traf, hörte sie höchstens einmal einen gemurmelten Gruß. Den einzigen engeren Kontakt hatte sie vor einigen Jahren mit einer älteren Dame geschlossen, für die sie öfter einkaufte. Schichtdienst, Überstunden und die Konzentration auf ihre berufliche Weiterbildung verhinderten aber, dass die Beziehung enger wurde. Vor zwei Jahren war die alte Dame in ein Altersheim umgezogen, und sie verloren sich aus den Augen.
»Die Großstadt entfremdet die Menschen voneinander«, entfuhr es ihr unbewusst.
Silvia sah sie verwundert an. »Was hast du gesagt?«
»Bloß ein Gedankensprung. Nichts Wichtiges!« Kathrin wischte den Gedanken an die Stadt mit einer Handbewegung beiseite und blickte auf den Tisch, den ihre Nachbarin bereits für zwei gedeckt hatte. »Ich glaub, ich muss mich beeilen. Sonst wird der Kaffee kalt.«
»Ich hab Rotbuschtee für uns gekocht, und zwar den mit Vanillegeschmack. Gestern hast du nämlich gesagt, dass du den gern magst. Mein Sebastian trinkt ihn net, darum mach ich ihn daheim selten. Aber für uns zwei kommt er jetzt gerade recht.«
»Oh, danke.« Kathrin bemühte sich, nicht zu enttäuscht zu klingen. Sie mochte Rotbuschtee zwar recht gern, aber eben nur am Nachmittag oder Abend nach Arbeitsschluss und kurz vor dem Zubettgehen. In der Früh aber trank sie lieber Kaffee, um den Kreislauf in Schwung zu bringen. Dann aber dachte sie daran, dass sie sich ja nicht mehr wie früher abhetzen musste, um noch rechtzeitig in die Klinik zu kommen, sondern sich endlich Zeit lassen konnte. »Ich bin gleich wieder da, Silvia. Mach du dir's derweil bequem. «
Mit diesen Worten huschte Kathrin davon und schlüpfte in das ein wenig altmodisch, aber zweckmäßig eingerichtete Badezimmer. Da sie keinen übertriebenen Schnickschnack mochte, war sie im Nu geduscht und angezogen.
Als sie nach kurzer Zeit mit einem schwingenden Batikrock und einer hellen Bluse, das mahagonifarbene Haar frisch gewaschen und geföhnt, wieder in der Küche erschien, starrte Kathrin ihr verblüff t entgegen. Kathrin hatte sogar noch Zeit gefunden, ein wenig getönte Hautcreme aufzutragen. Ihre Fingernägel waren allerdings nicht lackiert, wie Silvia mit einem raschen Blick erkannte. Alles in allem bot Kathrin einen reizvollen Anblick, und Silvia, die beim gestrigen Gespräch herausgefunden hatte, dass ihre neue Nachbarin bald ihren dreißigsten Geburtstag feiern würde, fragte sich, weshalb sie noch immer alleinstehend war. Das musste wohl mit der Großstadt zusammenhängen.
Im Wolzental würden die jungen Männer ihre neue Freundin gewiss nicht übersehen. Silvia überlegte, wer aus ihrer Bekanntschaft für Kathrin infrage käme, doch aus den zahlreichen imaginären Bewerbern kristallisierte sich kein direkter Favorit heraus. Vom Alter her wäre Benedikt Haslinger ein Kandidat, doch der war Großbauer und brauchte eine Frau, die wusste, wo bei einer Kuh hinten und vorn war. Die anderen Männer um die dreißig waren entweder verheiratet oder eingefleischte Junggesellen, die man, wie ihr Ehemann Sebastian zu sagen pflegte, nicht einmal mit einer Kalaschnikow vor den Traualtar bringen würde.
Als Silvia merkte, dass sie Kathrin schon eine geraume Zeit stumm angesehen hatte, begrüßte sie sie mit einem Lachen. »Gut schaust du aus! Da werden unsere Burschen Augen machen. Schad, dass alle feschen jungen Männer bereits verheiratet sind. Aber wir finden schon noch einen Kandidaten, der zu dir passt.«
Kathrin begriff , dass ihre Bekanntschaft mit Silvia noch ziemlich viel Langmut von ihr verlangen würde. So persönlich und direkt waren ihre weiblichen Bekannten, die sie in der Stadt gehabt hatte, nie geworden. »Ich bin aber net zum Heiraten ins Wolzental gekommen, sondern zum Arbeiten «, antwortete sie lächelnd und setzte sich an den Tisch. »Schön hast du das gemacht. Aber vernachlässigst du nicht deinen Haushalt daheim?«
Silvia schnaubte beleidigt. »Also, damit werde ich noch allweil fertig. Der Sebastian ist schon zur Arbeit, und da hab ich ein Stünderl Zeit, um dir zu helfen.«
Irgendwie fühlte Kathrin sich von ihrer Nachbarin überfahren, gleichzeitig freute sie sich aber, jemand gefunden zu haben, mit dem sie reden konnte. Bereits am Tag zuvor hatte Silvia ihr mehr über die Bewohner des Wolzentals erzählt, als sie selbst in einem ganzen Jahr in Erfahrung hätte bringen können. Sie wusste jetzt, welche Frauen schwanger waren, welche sich dringend und bisher vergeblich ein Kind wünschten, und wusste auch um die Beschwerden, mit denen einige Wolzentalerinnen bei früheren Schwangerschaften kämpfen mussten. Allesamt Informationen, die Kathrin nützlich sein konnten. Aus einem Impuls heraus ergriff Kathrin Silvias Hand.
»Danke schön!«
»Wofür?«, fragte diese erstaunt. »Das bisserl Wurst und Käs ist wirklich net der Rede wert.«
»Stimmt, ich hab gestern ja ganz vergessen einzukaufen. « Kathrin senkte beschämt den Kopf und bot ihrer Nachbarin abermals eine Gelegenheit, sich hilfsbereit zu zeigen.
»Also, wenn du etwas brauchst: Ich muss heut sowieso zum Kramer. Da kann ich dir gern etwas mitbringen.
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Autoren-Porträt von Anni Lechner
Anni Lechner wuchs in einem kleinen Dorf in Oberbayern auf und arbeitete bis zu ihrer Heirat auf einem Bauernhof. Auch später kehrte sie immer wieder zu ihren Verwandten zurück, um auszuhelfen, wenn Not am Mann war. Inzwischen lebt sie mit ihrem Mann am Stadtrand von München, besucht aber regelmäßig ihre Nichte, die den heimatlichen Hof übernommen hat. Dort sammelt sie die vielen kleinen Anekdoten des Dorflebens, die in ihren Romanen so lebendig Gestalt annehmen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Anni Lechner
- 1104 Seiten, Maße: 13 x 19,1 cm, Gebunden
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863654463
- ISBN-13: 9783863654467
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