Aquagene
Thriller. Originalausgabe
Was braucht der Mensch, um im Wasser zu überleben?
Das rasante Abschmelzen der grönländischen Gletscher führt zu einer Überflutung der europäischen Küsten. Zugleich beginnt ein Wettrennen um die Bodenschätze der...
Das rasante Abschmelzen der grönländischen Gletscher führt zu einer Überflutung der europäischen Küsten. Zugleich beginnt ein Wettrennen um die Bodenschätze der...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Aquagene “
Was braucht der Mensch, um im Wasser zu überleben?
Das rasante Abschmelzen der grönländischen Gletscher führt zu einer Überflutung der europäischen Küsten. Zugleich beginnt ein Wettrennen um die Bodenschätze der Arktis. Als die Umweltaktivistin Jenna Resch unschuldig ins Fadenkreuz von Antiterrorfahndern gerät, gelingt ihr in letzter Sekunde die Flucht nach Grönland. Doch dort herrscht bereits Krieg: Die Inuit kämpfen gegen die Erdölindustrie.
Das rasante Abschmelzen der grönländischen Gletscher führt zu einer Überflutung der europäischen Küsten. Zugleich beginnt ein Wettrennen um die Bodenschätze der Arktis. Als die Umweltaktivistin Jenna Resch unschuldig ins Fadenkreuz von Antiterrorfahndern gerät, gelingt ihr in letzter Sekunde die Flucht nach Grönland. Doch dort herrscht bereits Krieg: Die Inuit kämpfen gegen die Erdölindustrie.
Klappentext zu „Aquagene “
Was braucht der Mensch, um im Wasser zu überleben?Das rasante Abschmelzen der grönländischen Gletscher führt zu einer Überflutung der europäischen Küsten. Zugleich beginnt ein Wettrennen um die Bodenschätze der Arktis. Als die Umweltaktivistin Jenna Resch unschuldig ins Fadenkreuz von Antiterrorfahndern gerät, gelingt ihr in letzter Sekunde die Flucht nach Grönland. Doch dort herrscht bereits Krieg: Die Inuit kämpfen gegen die Erdölindustrie.
Lese-Probe zu „Aquagene “
Aquagene von Cord HagenDarstellung der Entwicklungsreihe des Frosches zum Menschen aus dem
Jahre 1832. Quelle: C. F. Meisner: De amphibiorum quorundam papillis
glandulisque femorabilus, Basel, Schweighauser, 1832.
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Qui vivra, verra.
Die Zukunft wird es zeigen.
- FRANZÖSISCHES SPRICHWORT
Kulusuk, Ostgrönland, März 1982
»Alarm! Los, los, alle Mann raus aus den Kojen! Wir haben eine
Situation!«
Die verzerrte Stimme aus den Deckenlautsprechern passte so
gar nicht zu Reynar Frithjof, dem Chef der Rettungszentrale des
Heliports Kulusuk, der an diesem Abend direkt an einer
Schlechtwetterfront lag.
Schon als der leuchtende Punkt der immer tiefer fliegenden
Cessna von den Radarschirmen verschwand, wusste Frithjof, der
ruhige Abend bei Rentiergulasch und herbem »Viking«-Bier war
fürs Erste gelaufen. Trotz vager Angaben über die Absturzstelle -
sie lag dicht vor der Küste in grönländischen Hoheitsgewässern -,
hatte er sich entschieden, sofort einen Heli zu schicken.
»Der Pilot hat ein SOS absetzen können«, meldete Brynjar,
der wachhabende Offizier, »bei der Wassertemperatur ist es allerdings
fraglich, ob es Überlebende gibt.«
... mehr
»Das werden wir sehen«, sagte Frithjof. Es war ohnehin seine
Aufgabe, bis zuletzt an die Rettung der Verunglückten zu glauben,
aber diesmal kam noch etwas dazu: Die Maschine gehörte
einem gewissen Paulino Hernando Pesceros, seines Zeichens Ölbaron,
Großaktionär und neuerdings auch Regierungsberater.
Der gebürtige Kolumbianer gehörte zu den als »unabkömmlich«
eingestuften Personen des dänischen Königreichs. Frithjof war
geradezu in der Pflicht, denn der Milliardär und seine Familie
waren persönlich an Bord des Unglücksvogels gewesen.
»So ein Mist ...« Das Gewitter, das sich draußen zusammengebraut
hatte, drückte seine hässliche, von Blitzen vernarbte
Visage gegen die Panzerglasscheibe und vergegenwärtigte dem
Rettungschef, dass er diesmal seine besten Männer aufbieten
musste.
»Verdammt, Reynar, das ist ein Fall für die Küstenwache! Die
sollen ein Boot schicken und die Leute aus dem Wasser fischen!«
Wenn man vom Teufel spricht, dachte Frithjof. Der Mann, der
in diesem Moment in die Einsatzzentrale polterte, hörte auf den
Namen Sig Bendikson. Er hatte den klassischen Werdegang
eines Helipiloten durchlaufen - erst Mechanikerlehre, dann
Helikoptermonteur bei der Luftwaffe, ein Job, der es ihm später
ermöglicht hatte, die Pilotenlaufbahn einzuschlagen. Inzwischen
galt er als Ass des Luftrettungsdienstes und »größter Hubschrauberpilot
« Skandinaviens - ein spitzfindiger Nörgler am Boden,
doch einmal in der Luft unschlagbar, wenn es darum ging, Menschenleben
zu retten. So wie damals - Frithjof erinnerte sich -
an der Südspitze Grönlands, als Bendikson seine Maschine über
einen eingenebelten Gletscher dirigiert und dann - wegen beschlagener
Scheiben - halb aus dem Fenster hängend, Proviant
und Verbandszeug abgeworfen hatte. Auch dass er einmal dreißig
Schiffbrüchige in einer leckenden Rettungsinsel am Seil in den
Hafen eingeschleppt hatte, war Frithjof noch lebhaft in Erinnerung
geblieben.
»Nun, halt mal die Luft an«, knurrte Frithjof. »Glaubst du,
ich würde dich da rausjagen, wenn ich eine Wahl hätte? Wo der
Vogel abgestürzt ist, wimmelt es von Klippen ... Das Skagerrak
ist ein Dreck dagegen! Du bist meine einzige Chance. Tut mir
leid, alter Schwede.«
»Und mir erst!« Bendikson raufte sich seine grauen Stoppel-
haare, aber dann marschierte er ab, ganz so wie es Frithjof von
ihm gewohnt war.
Ein Expresslift bracht Bendikson aus der Tiefe des Berges hinauf
zur Landplattform des Heliports. Im Hangar, der wie eine würfelförmige
Festung an der Steilküste klebte, war der Copter, ein
nagelneuer US-Coast-Guard-»HH 65A«, schon betankt und
startklar. Sein frisch eingewachster Rumpf funkelte im Licht der
Scheinwerfer. Zwei AVCO-Lycoming-Triebwerke mit jeweils siebenhundertunddreißig
Pferdestärken verliehen dem auch »Polar-
Heli« genannten Hubschrauber die nötige Kraft, auch bei orkanartigem
Wetter zu fliegen. Der Weg über die beleuchtete fünf
mal fünf Meter messende Plattform erschien Bendikson diesmal
länger als sonst. Ohne zu grüßen, schwang er sich in den Sitz,
schnallte sich an.
»Vergesst mir die Wärmflaschen nicht«, war das Einzige, was
er sagte, und Gunnar Steinkehl, der Flughelfer nickte. Auch die
Thermodecken gehörten zum Vorbereitungsmaterial auf der
Liste, die er täglich gewissenhaft checkte. Sollte es ihnen gelingen,
Menschen aus Seenot zu bergen, dann war die Wiederbelebung
durch Wärme die Medizin, die sofort anschlug, um den
Kreislauf zu stabilisieren. Als Piloten brauchte man Flughelfer
wie Gunnar, die an alles dachten und im Laufe ihrer Dienstzeit
ein fast kybernetisches Verhältnis mit der Maschine eingingen.
Sie verbreiteten das Gefühl von Sicherheit. Nicht zuletzt saßen
sie im selben »fliegenden Boot«, das sie in Technikkursen immer
wieder auseinandergenommen und zusammengesetzt hatten.
Der junge Blondschopf neben Gunnar hieß Enok Jensen, er
war Marine-Rettungstaucher, doch was echte Einsätze anbelangte
noch ein unbeschriebenes Blatt. Beim Winschen hatte er sich
schon ein paar Mal bewährt, doch dieser Einsatz war seine Feuertaufe,
und er machte einen etwas in sich gekehrten Eindruck.
Der vierte an Bord hieß mit vollem Namen Hanak Amaalik
Innunguaq, doch wurde er von allen - wegen seiner Neigung zu
Alleingängen - spöttisch Han Solo genannt. Er kauerte in seinem
Kaltwasseranzug hinter Gunnar auf dem Rettungsmaterial, den
Notfallsack und sein Schwimmbrett zwischen die Beine geklemmt.
Han war ein gebürtiger Inuit, der seinen Weg aus
einem kleinen Dorf namens Brandeliteqilaq in die westliche Zivilisation
gemacht hatte. Seine bärenhafte Statur trat in dem
hautengen Anzug deutlich hervor. Zu seinem Phlegma gehörte
die typische Gutmütigkeit der Inuit, vermischt mit einer Prise
schwarzen Humors. Abgesehen von seinem Job hatte er nur ein
einziges Hobby - die Robbenjagd , die sein Clan, die kukiit inui
oder Claw People, bereits seit über zweihundert Jahren in Ostgrönland
betrieb. Ein einziges Mal war Bendikson einer Ein ladung
von Han gefolgt und dabei Zeuge eines Tupilak-Rituals
der Jäger geworden. Das Christentum hatte auf Grönland schon
lange verspielt, selbst in Nuuk, der Hauptstadt, war man längst
wieder zur alten naturheidnischen Religion zurückgekehrt. Besonders
die Jüngeren beteten wieder zu dem Mondgott Igaluk,
der diejenigen, die ein sinnvolles Leben gelebt hatten, ins Qudlivun,
dem Paradies der Eskimos, heimführen würde. Er war
auch der Gott der Liebe, der Gott der Lampenlöschspiele.
Han gehörte zu einem anderen Kult, einem Kult, der die Seegöttin
Sedna wie die Heilige Jungfrau Maria verehrte. Die Zeremonie,
der Bendikson beiwohnen sollte, hatte sich auf dem offenen
Eis abgespielt, an einem großen Luftloch, in dem die See
schmatzte und gurgelte. Ein Schamane versuchte die froschmäulige,
gefräßige Göttin vom Meeresgrund an die Oberfläche
zu locken, in dem er - Robbengekröse mit einer Kelle aus einem
Plastikeimer schöpfend - in einen monotonen Singsang verfiel.
Wie der Wirt einer Pinte Bendikson später erklärte, hatte Sedna
ungezügelten Appetit auf Fleisch, ja, dem Mythos zufolge hatte
sie gar versucht, die eigenen Eltern zu fressen. Die Anhänger der
Göttin mochten daher ihr Fleisch gerne roh.
Bendikson hatte damals nur den toleranten Schweden gespielt.
Seine Meinung über Eskimos war ohnehin gründlich
gefestigt: Männer, die sich mit einem Nasenkuss begrüßen und
ihre Frauen tauschen, können keine allzu schlechten Kerle sein.
»Was für ein Sturm ...« Während der Pilot die Instrumente
checkte, stieß Gunnar Steinkehl Han unsanft in die Rippen.
»Was sagt unser Inuit dazu?«
Han griff nach dem merkwürdigen Amulett, das er immer
über seinem Schutzanzug trug und das ihn angeblich vor den
bösen Geistern, den Ilisitsoqs oder Angakoqs, schützte.
»Entweder ist Sedna sehr wütend, oder sie gebiert gerade ein
Kind.«
»Sie gebiert ein Kind?« Jensen hob den Kopf. »Du meinst, wir
erleben gerade so was wie 'ne schwere Geburt?«
»Ja. Unsere Leute sagen, das Meer hat die Wehen.«
»Lieber Himmel.« Jensen liebte es, Han aus der Reserve zu
locken. »Auf den Wechselbalg bin ich gespannt! Ist bestimmt
genauso gestört wie seine Mutter!«
»Sedna ist nicht gestört«, sagte Han. »Sie wurde verärgert.«
Und mit einem maskenhaftes Grinsen: »Vergesst nicht, die Erde
ist zu mehr als zwei Dritteln von Wasser bedeckt. Der blaue
Planet ist ein Wasserplanet. In einem Mythos der Inuit heißt es:
Ich bin das Wasser. Ich werde kommen, wenn es an der Zeit ist, um
euch zu holen. Denn ihr seid meine Kinder ...«
»He, die Geschichte kannte ich noch gar nicht«, fuhr Gunnar
dazwischen, »richtig gruselig.« Hans Geistergeschichten waren
bei den Männern beliebt, zumindest im trockenen, gut beheizten
Mannschaftsquartier. »Richtig gruselig. Aber was soll das
heißen? Dass eine neue Sintflut droht, oder was?«
»Aap, aap1 ...« Han begann wie ein grönländischer Buddha zu
grinsen. »Du wirst diese Prophezeiung auch in anderen Mythen
finden. Wir haben die Erde nicht von unseren Kindern, sondern
vom Wasser geborgt. Eines Tages wird die große Sassuma arnaa2
kommen und ihr Eigentum zurückfordern.«
»Verstehe.« Jensen nickte mit gespieltem Ernst. »Nur, was ist
mit uns? Ich meine, die Menschen leben nun mal auf dem
Land, oder nicht? Wir sind keine Frösche, die sich's aussuchen
können ...«
Han zuckte die Achseln. »Es wäre aber besser für sie. Glaubt
mir, wir alle werden bald nasse Füße bekommen.«
Gunnar öffnete den Mund, als wolle er etwas Passendes aushusten,
aber seine Stimme wurde von den startenden Turbinen
übertönt.
Danach war alles Routine: Sobald die Triebwerkinstrumente
im grünen Bereich pendelten, erhöhte Bendikson die Leistung,
wartete, bis sich die Drehzahl der Turbinen stabilisiert hatte, und
hob ab.
1 Inukitut (Sprache der Inuit): Ja, ja.
2 Ein anderer Name für Sedna.
Die Lichter des Heliports kippten seitlich weg, sie waren
plötzlich allein.
In der Kabine war von dem Wind nichts zu merken. Der
Rotor eines Hubschraubers gleicht einer wirbelnden Schere, die
thermische und dynamische Windstöße zerschneidet. So gleitet
der größte Teil der Aufwinde zwischen den Rotorblättern hindurch,
ohne direkte Einwirkung auf die Maschine.
Vor dem Dunkelviolett des Himmels türmten sich hohe
Quellwolken auf. Noch immer schraubte sich der Rotor in die
Höhe, und Bendikson holte tief Luft, wie er es immer tat, wenn
er Frithjof seine Position meldete.
Inzwischen herrschte völlige Dunkelheit. Die Männer waren von
Finsternis umschlossen. Nur wenn ein Blitz aufzuckte, waren der
Horizont und das Meer für Sekundenbruchteile zu sehen. Ein
Hexenkessel brodelte über dem Meer, die Luft flimmerte und
ließ sie die starken vertikalen Luftströmungen mit bloßem Auge
erkennen.
Unter anderen Umständen hätte sich Bendikson vielleicht an
den entfesselten Elementen erfreut, doch das Unwetter lag leider
genau auf Kurs. Selbst wenn sein Schrauber gegenüber Luftströmungen
viel weniger empfindlich war als ein Flugzeug mit Tragflächen,
konnte ein Auf- oder Fallwind dieser Stärke schnell
schlimme Folgen haben. Zumindest so dicht über dem Meer.
Um seine Angst zu bekämpfen, zählte sich Bendikson die Vorteile
dieser komplizierten Maschine gegenüber einem Starrflügler
auf. Man denke nur an die Probleme der Reduktion und des
Getriebes: Verminderung der dreitausendzweihundert Umdrehungen
in der Minute des Motors auf dreihundertzwanzig Umdrehungen
des Hauptrotors durch das Planetengetriebe, dann
die Übertragung einer nach Verminderung höchst stabilen
Drehbewegung auf den Heckrotor unter einem Winkel von
neunzig Grad und einer Achsenführung über ungefähr zehn Rollen.
Ein wahres Wunderwerk der Technik! Dauernde Kontrolle
und gute Schmierung waren notwendig. Sollte sich nur ein einziges
Lager festfressen, käme es unweigerlich zur Katastrophe.
Die Beleuchtung der Instrumente und der Widerschein der
Positionslichter in den Plexiglasscheiben blendeten ihn. Er warf
einen Blick über die Schulter.
»Haltet die Augen auf, ja?«
Alle nickten, doch das war leichter gesagt als getan. Dicke
Tropfen platschten an die Scheibe der Kanzel, rannen nach allen
Seiten davon, um vom Fahrtwind fortgerissen zu werden. Da sie
Licht reflektierten, zauberten sie eine leuchtende Korona auf
die »Guillotine«, wie Piloten die sich drehenden Rotorblätter
nennen.
»Kannst du niedriger gehen?«, fragte Jensen.
»Noch niedriger?« Ein plötzlicher Windstoß hatte den Helikopter
nach unten gedrückt, so dass für einen Augenblick die
dunkle, aufgewühlte See wie eine schwankende Gebirgslandschaft
in bedrohliche Nähe kam.
»Festhalten!« Bendikson riss den Steuerknüppel in letzter
Sekunde hoch.
Bisher hatte er es mit einem starken, gleichmäßigen Sturm zu
tun gehabt. Jetzt stolperte sein Heli von einem Luftloch ins
nächste. Die Maschine sackte ab, fiel in einen rabenschwarzen
Schacht, stieg wieder auf. Bendikson rauschte es in den Ohren.
Dann hatte sich der Heli wieder gefangen, bis sie über den
Kamm der nächsten Luftwelle sausten.
»Du bist ja ganz grün im Gesicht«, sagte Han.
»Kümmere dich um deinen eigenen Kram!«, zischte Jensen.
»Hab 'ne lange Nacht gehabt, das ist alles.«
Erst packte der Regen nach dem Plexiglas der Kanzel, dann der
Hagel. Regen mag ja gehen, aber Hagel? Das Getöse der prasselnden
Körner war so gewaltig, dass es das Motorengeräusch
übertönte. Jensen hielt sich die Ohren zu, selbst Gunnar
schluckte, wie er es sonst nur tat, um den Überdruck in seinen
Gehörgängen auszugleichen.
»Gottverdammt, wofür riskieren wir unser Leben? Wenn sie
abgestürzt sind, dann sind sie längst Tango-Oskar-Tango. Wir
sollten den Einsatz abbrechen!«
»Geht leider nicht.« Bendikson sah hinaus. In der uferlosen,
tobenden See erschien das weiße, harte Licht der Blitze doppelt
so grell.
»Es ist scheint sich um das Flugzeug eines wichtigen Menschen
zu handeln.«
»Und?«, fragte Han. »Er wird genauso ersaufen wie jeder andere
Mensch.«
»Trotzdem müssen wir ich ihn suchen.«
»Weißt du, was wir müssen?«, jaulte Jensen. »Hier heil wieder
rauskommen, Mann, heil wieder rauskommen.«
»Mach halblang.« Bendiksons Gesicht glühte dämonisch im
roten Schein der Instrumentenbeleuchtung. »Sollten wir diesen
Einsatz überleben, dann werde ich Frithjof gehörig den Marsch
blasen. Um Gottes willen, seht euch das an!«
Es war kein gewöhnlicher Sturm, es war ein schweres Unwetter,
das über dem Meer tobte. Wahre Feuergarben schossen aus
den Wolken heraus.
Selten hatte er aus seinem Cockpit derart bedrohlich wirkende
Wolkenburgen gesehen. Weit und ausgedehnt schienen sie,
schwarz-violett und unheimlich, durchbohrt vom grellen Flackern
der Blitze.
»Festhalten, Jungs!«
Jetzt waren sie schon mitten drin in der schwarzen Masse. Der
Orkan prallte an die Metallwände der Kabine, als wolle er sie
eindrücken, er riss am Heckruder, dass der Steuerknüppel in
Bendiksons Hand vibrierte. Er hatte in diesem Moment nicht
mehr zu steuern, sondern schwere körperliche Arbeit zu leisten.
Immer wieder entglitt ihm der Heli und er musste sich bemühen
ihn aufzufangen - ein Kunststück, denn der Steuerknüppel
begann sich mit irrwitziger Geschwindigkeit zu drehen.
»So was hab ich noch nie gesehen!«, brüllte Jensen. »Das ist ja
Wahnsinn!«
»Sei froh«, brüllte der Pilot zurück, »dass du überhaupt noch
was siehst.«
In so einer pechschwarzen Suppe ist ein Hubschrauberpilot
hilfloser als ein Autofahrer, der mit hundertfünfzig Stundenkilometern
in eine Nebelwand fährt. Es gibt weder oben noch unten
und ohne Blindfluginstrumente war man geliefert. Funkfeuer,
Radar und Kontakt zum Flugverkehrsleiter waren unerlässlich,
um die nächsten Minuten zu überleben, oder dieser verflixte Sea
Hawk-Infrarotsensor, mit dem der Hubschrauber bald bestückt
werden würde, doch in diesem Moment hatte Bendikson nichts,
nur neue Probleme: Blauweiße Flammen loderten plötzlich
knatternd über der Nase des Helikopters und vollführten vor der
Kanzel einen unheimlichen Tanz.
»Elmsfeuer!«, rief Bendikson, um Han zu beruhigen, doch der
brüllte bereits, als säße ihm Sedna persönlich im Nacken.
»Guutiga illiwi, beschütze uns vor dem Bösen!«
Jensens Gesicht sah im Widerschein der zuckenden Flammen
aschfahl aus.
»Wir werden alle sterben«, murmelte er monoton vor sich.
»Wir werden alle ...«
»Nein, werden wir nicht!« Ohne Vorwarnung drückte der
Pilot die Maschine so lange nach unten, bis die blauen Flammen
züngelnd verloschen.
Geblendet, unfähig die Tourenzahl abzulesen, musste Bendikson
sie nach Gehör abschätzen. Noch eine Leuchtgarbe, ein
Sprühen des Metallrotors, und es war geschafft: Die wilden Wirbel
gingen in eine erträgliche Böigkeit über.
»Juchhe!«, rief Jensen. »Wir sind durch!« Han hob beide Damen,
doch seine Freude währte nicht lang. Hatte der Pilot eben
noch Mühe gehabt, die Maschine zu drücken, fiel sie jetzt plötzlich
wie ein Stein nach unten, der Zeiger des Höhenmessers lief
wie rasend zurück.
»Leistungszufuhr!«, brüllte Gunnar. »Abfangen, Mann! Fang
sie ab!«
Bendikson hatte längst reagiert. Seine Pitchhand zog, vergrößerte
den Anstellwinkel der beiden Hauptrotorblätter, während
seine Rechte den Steuerknüppel vorwärtsdrückte.
Erneut fiel die Drehzahl zusammen. Die Männer hörten es an
dem tiefen, röhrenden Ton der sechs Zylinder und bissen die
Zähne zusammen. Sie konnten nur hoffen, dass die Strömung
nicht plötzlich abreißen und infolgedessen den Motor abwürgen
würde, auch das war schon bei Rettungseinsätzen passiert, und
das Meer vergab keine Fehler.
Dass das waghalsige Manöver schließlich gelang, war allein
Bendiksons großer Erfahrung zu verdanken: Er drückte den
Steuerknüppel impulsiv bis zum Anschlag nach vorne und
brachte so den Motor auf Touren. Drücken - ziehen - drücken.
»Shit! Was ist denn das?« Jensen drückte sein Gesicht an die
Scheibe.
In dem Luftraum vor ihnen manifestierten sich eisig blitzende
Schleier.
»Schnee«, seufzte Bendikson, und im nächsten Moment hörte
er bereits die Eiskristalle im Quirl der Rotorblätter umherwirbeln.
»Jungs, eins sage ich euch, das ist der tiefste Tiefflug meines
Lebens.«
Unter Aufbietung all seines Könnens gelang es ihm endlich
den Unfallort anzusteuern. Die Boje, die der Pilot vor der Wasserung
abgesetzt hatte, war ein blinkender roter Stecknadelkopf
in den kochenden Fluten. Hier in einer Tiefe von fünf bis zehn
Metern lag wahrscheinlich das Wrack. Von überlebenden Passagieren
war nichts zu sehen, keine Schwimmwesten, keine Wrack-
teile, nichts, selbst der starke, ferngesteuerte Scheinwerferkegel
leuchtete vergebens in die dunklen Wellentäler hinein. Schwebend
tastete sich der Rettungshubschrauber vorwärts.
»Nicht zu steil kommen!«, warnte Gunnar. »Gleitwinkel einhalten!
Mehr drücken!«
»Ja, schon gut.« Bendiksons Arme übertrugen seine Gedanken
auf die Steuerorgane, sie drückten und zogen den Pitch, korrigierten
den Knüppel.
»Licht aus!«, brüllte er und schaltete die Instrumentenbeleuchtung
aus.
Was er jetzt brauchte, waren keine Barometer-, Temperatur-
und Druckanzeigen, keine Drehzahl-, Fahrt- und Höhenangaben,
sondern in erster Linie gute Sicht. Jede noch so kleine
Lichtquelle spiegelte sich in den gebogenen Scheiben der Kanzel
und hinderte den Blick nach draußen.
Er schaltete auch das grell blinkende Anti Collision Light aus,
es war überflüssig, denn er würde hier über der tobenden See
keinem anderen Flugzeug begegnen.
Der Heli schwebte jetzt mit drehenden Rotoren über der
Boje, die wie ein Irrlicht unter ihm tanzte.
»Da! Ich kann es sehen!« Ganz langsam formten sich Konturen
aus, nichts Plastisches, nur eine geringe Farbabstufung wie
auf einer stark unterbelichteten Schwarz-Weiß-Fotografie: der
Schemen eines Flugzeugs, ein dunkelgraues Nachbild auf einem
schwarzen Schirm. Es war nur zu sehen, weil noch immer die
Positionslichter brannten.
»Sie kann nicht besonders tief liegen«, meinte Gunnar. »Das
Leitwerk ist gut zu sehen. Ich schätze mal, das sind keine zwei
Meter.«
»Vielleicht hängt sie irgendwie fest«, mutmaßte Jensen.
»Oder sie hat Luft im Bauch«, meinte Bendikson lakonisch,
»und die wartet nur darauf, wie ein gigantischer Furz zu ent weichen
...« Jensen blickte entsetzt auf. Er wusste genau, was das
bedeutete: Wer immer in der Kabine war, ja, nur am Rumpf des
Flugzeugs würde mit in die Tiefe gerissen ...
»Alles klar, Jensen?«
Der Daumen seiner Pitchhand dirigierte den Lichtstrahl weiter
nach unten.
»Verdammt, Gunnar, kannst du irgendwas sehen?«
»Ja, einen Arsch voller Klippen!«
»Genau wie Frithjof gesagt hat.«
Das Strahlenbündel kreiste über dem Wasser, ließ den Regen
zu weißen Strähnen erstarren, streifte und tastete über die scharfkantigen
Felsen zwischen den Wellenbergen und -tälern hinweg.
»Wir können nicht springen«, sagte Jensen, als ob Bendikson
das nicht selbst gewusst hätte.
»Dann nehmt die Seilwinde!«
Das windgepeitschte Wasser stäubte in gewaltigen Gischt böen
zu ihnen empor. Der starke Mitraluxstrahl schien jeden Tropfen
hyperplastisch hervortreten zu lassen.
»Na, dann mal raus mit euch, ihr Höllenhunde!«
Im grellen Licht niederfahrender Blitze lief die Bergungsaktion
an. Jede Windenoperation mit einem Hubschrauber über
dem Meer war gefährlich und erforderte höchste Konzentration
und perfektes Zusammenspiel der Besatzung.
»Schiebetür auf!«
Der Flughelfer hatte bereits Position am Windenhaken bezogen.
Die Schiebtür glitt zur Seite, und rasende Eiskristalle erfüll ten
schlagartig die Kabine. Jensen klinkte sich als Erster ein. Es
war ihm anzusehen, wie unwohl er sich in seiner Haut fühlte.
»Worauf wartest du?«, schnaubte Bendikson. Aus seiner Sicht
schienen seine Rotorblätter schon fast die Wellenkämme zu
ritzen. »Was zum Teufel ist los mit dir?«
Han murmelte etwas, er wollte es offensichtlich hinter sich
bringen, und Jensen ließ ihm den Vortritt.
»Sag deiner Sedna einen schönen Gruß von mir!«
»Damit scherzt man nicht, Mann!«
»He, wer scherzt denn hier? Wenn es Sedna gibt, haben wir
ihr eine Menge zu verdanken, oder nicht?«
Han nickte stumm.
»Winde ab!« Während das Stahlseil mit Han abwärtszischte,
bemühte sich Bendikson unentwegt um Schwebeflug-Steuerkorrekturen.
Es war nicht leicht, denn der Wind drohte ihn
immer wieder gegen die Klippen in den aufgewirbelten Wassermassen
zu schleudern. »Er ist unten!« brüllte Gunnar.
Obwohl Han an einem Stahlseil hing, war es wie im freien
Fall in die Tiefe gegangen. Es war ihm, als würde er in den
Rachen einen fauchenden Untiers stürzen - ein lebender Schalltrichter,
der im Moment des Eintauchens plötzlich verstummte.
Er drang nur wenige Meter unter die Wasseroberfläche, und
schon war alles friedlich und still. Han klinkte sich aus, sah sich
um: Die weiße Cessna erstrahlte in ihrer Unversehrtheit wie eine
unwirkliche Erscheinung. Sie hing auf einer unter seeischen Klippe,
die an eine schlackebedeckte Variante von Neptuns Dreizack
erinnerte. Wie lange sie sich so halten würde, war schwer zu
sagen. Der Rumpf knirschte gelegentlich in der Gabel, wenn
sich die Haut des Flugzeugs am Felsen scheuerte, als ob es von
einer Strömung leicht angehoben würde. Das war alles andere als
eine stabile Position. Han ahnte, er hatte keine Zeit zu verlieren.
Er wollte gerade losstrampeln, als etwas pfeilgerade in einem
Schwall Luftblasen an ihm vorbeizischte. Zwei Taucherlampen
flammten auf, sie illuminierten Jensens Sil houette. Er hatte
offenbar seine Angst überwunden und war gesprungen. Den
Handzeichen nach zu urteilen, war alles okay.
Na, dann mal los ... Die weißen Tragflächen der Cessna
leuchten in diesem Moment auf, denn Bendiksons Lichtkanone
strahlte durch die Wassermassen zu ihnen hinab.
In schnellem Beinkraulschlag näherten sich die Taucher dem
Flugzeug. Noch immer war nichts von einer Beschädigung zu
erkennen, man sah die ausgefahrenen Räder, alle Luken waren
geschlossen, die Scheiben schienen intakt.
Während sich Han an der Luke zu schaffen machte, leuch tete
Jensen in eines der Fenster: Der Pilot hing in seinem Sitz, seine
Arme erhoben, als wolle er ein Orchester zu dirigieren. Loses
Papier, Plastikbecher, ein angebissener Mars-Riegel und ein teurer
Montblanc-Füllfederhalter, aus dem blauen Tinte austrat,
hingen über ihm wie im schwerelosen Raum. Von den anderen
Passagieren war nichts zu sehen. Vielleicht hatten sie Glück und
saßen im hinteren Teil der Maschine in einer Luftblase fest. Hatten
diese Maschinen nicht sogar Sauerstoffmasken an Bord?
Etwas erschütterte das Wrack. Han hatte die Bolzen der Notverriegelungen
entfernt. Die Konstruktion der Cessna war den
Rettungstauchern vertraut, für das Öffnen der Luke brauchten
sie in der Regel nicht einmal fünfzehn Sekunden. Han steckte
seinen Kopf zuerst in die Kabine. Ein Babyschnuller trudelte
ihm entgegen, kalkweiße, halbaufgelöste Babywindeln trieben
wie mysteriöse Seeschnecken in den Lichtkegel seiner Lampe.
Eine traf die Sichtscheibe seiner Brille.
Ärgerlich wischte Han den Watteklumpen zur Seite - und
erschrak, denn er blickte direkt in das Gesicht einer Frau. Sie
kauerte hinter dem Sitz des Piloten, ihr langes blondes Haar
wogte wie eine Fächerkoralle. Offenbar hatte sie es noch geschafft
den Gurt zu lösen, bevor das Wasser sie mit seinen eisigen
Fingern erwürgte. Jetzt war sie Tango-Oskar-Tango. Han
schluckte unwillkürlich, selbst für einen hartgesottenen Robbenschlächter
und Rohfleischfresser war der Anblick dieser Ertrunkenen
kaum zu ertragen. Etwas in ihren weit aufgerissenen
Augen war noch immer schrecklich lebendig, es schien ausgeharrt
zu haben, all die Zeit war es geblieben, um Han etwas zu
sagen, etwas Wichtiges, etwas, dass sie nicht ins Schattenreich
der adlivun, der Ertrunkenen, mitnehmen wollte.
Was?, dachte Han. Warum ist deine Seele noch hier?
Jensen zerrte bereits an seiner Schulter. Für ihn war die Sache
gelaufen, doch Han spürte, er musste bleiben. Er machte Jensen
ein Handzeichen zu verschwinden und näherte sich der weib lichen
Leiche. Wie bei dem Piloten waren auch ihre Hände in
ihrer letzten Bewegung erstarrt. Sie schienen nach etwas zu greifen,
etwas, das der Frau entglitten war und das sie wieder auffangen
wollte.
Der Rumpf scheuerte in diesem Moment heftiger über die
Felsen, und Han bemerkte für den Bruchteil einer Sekunde eine
schwache Bewegung im Schatten der Frau.
Natürlich, das Kind! Han hätte es gleich wissen müssen. Er
richtete seine Taucherlampe darauf und erschauderte, als er das
Baby zwischen den Beinen der Mutter auftauchen sah. Als es der
Schein der Lampe erfasste, hob es den Kopf, blinzelte und ver-
suchte sich dann mit unbeholfenen Bewegungen unter dem
Stuhl zu verkriechen. Die Sitzheizung war offensichtlich noch
an.
Es atmet unter Wasser, fuhr es Han durch den Kopf. War das
nicht üblich bei Babys? Nein, bei Sedna, der großen Mutter des
Meeres, dieses kleine Wesen war anders.
Während die Cessna sich mit einem lang gezogenen Quietschen
in der Felsgabel drehte, ein Zacken brach und die rechte
Tragfläche bereits ins Nichts abkippte, hatte Han für einen Moment
die Kiemenspalten am Hals des Babys gesehen. Auch jetzt
noch, als er sich bückte und nach dem Baby griff, hatte er nur
Augen für diese organische Monstrosität, den dunklen, sich bewegenden
Spalt zwischen Ohrmuschel und Halsansatz.
Sednas Kind. Ein Kind des Wassers. Hans Puls ging schneller. Es
ist uns ein Wunder geschehen! Die alten Legenden hatten Recht: Ein
Wassermensch würde dem Volk der Inuit den Weg aus der Sklaverei
weisen. Dem großen Torngarsuk sei Dank!
Fast glücklich presste er das Baby an seine Brust. Dann stieß
er sich von dem Flugzeug ab. Suka, suka! 3 Und während das
Grab der Eltern langsam von der Klippe rutschte und sank,
strampelte Han dem weißen Licht an der Meeresoberfläche entgegen.
3 Inukitut (Sprache der Inuit): Schnell, schnell!
ACGTCCCAGGGT
ACGTCCCAGGGTACGTCCCAGGGTACCCA
ACCCAACCCATGCTTCCACTT
TGCTTCCACTTTGCTTCCACTTAGGT
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ACTGTCTTTCCCGGACTGTCTTTCCCGG KAPITEL 1
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Wir erleben eine Art Endspiel um die Eiskappe.
- DR. WALT MEIER, National Snow and
Ice Data Center, April 2009
Als Folge des anthropogenen Klimawandels
wird der Eisschild Grönlands mit
hoher Wahrscheinlichkeit abschmelzen.
- NATURE, Vol. 428, 8. 4. 2004
Berlin, Bundesumweltministerium, 14 Uhr 30
Die Pressekonferenz hatte gerade begonnen, als dicke Tropfen
auf das Podium fielen und zwischen den Mikrofonen der Sendeanstalten
zerplatzten. Ein Sprecher des Umweltministeriums hob
den Kopf, stutzte. Ein Tropfen landete genau auf seiner Brille.
»Na, so was«, sagte er, »könnte mal jemand die Dusche abstellen?
« Dann hatte es auch die hochempfindlichen Membrane seines
Mikros erwischt, in den Lautsprechern prasselte es jetzt wie
trockenes Holz im Kamin, es wurde lauter und lauter, bis sich
schließlich ein wahrer Wasserschwall auf die versammelte Journaille
Berlins ergoss. Als käme hinter der abgehängten Decke
ein Feuerwehrschlauch zum Einsatz, so heftig spritzte das Wasser
aus den Spalten herab. Mit Hochdruck fegte es Aktenkoffer,
Kameras und Diktafone zur Seite und bildete einen meterlangen,
wabernden Vorhang zwischen der ersten und zweiten Stuhlreihe.
Die wasserscheuen, unrasierten Vertreter der Presse stoben
wild auseinander - Stühle und teure Klapprechner purzelten zu
Boden, umherfliegende Kaffeebecher und angebissene Croissants
verliehen dem Ganzen eine komödiantische Note. Erst als
ein Scheinwerfer über dem Podium explodierte und sich ein
Geruch wie von verschmorter Elektrizität breitmachte, waren
Panikschreie zu hören.
Vom Gang aus konnte Jenna sehen, wie die in Zivil gekleideten
Sicherheitskräfte versuchten, die Lage unter Kontrolle bringen.
Sie befand sich in einer stillen Bucht des Mediengewoges,
das jenseits des Wellenbrechers einer verkeilten Stuhlreihe den
Raum wie ein Donnerwetter erfüllte. In dem allgemeinen Tumult
hatte sie plötzlich eine Vorahnung, wie das befürchtete
»Absaufen der Welt« aussehen würde: Das Wasser war ein unberechenbarer
Gegner, der blitzschnell und überraschend aus allen
Richtungen zuschlagen konnte, ein gefallener Engel der Lüfte,
ein feuchtkalter Dämon, dem kleinste Risse genügte, um Mauern
zu sprengen und solide Fundamente zu unterspülen. In Hamburg
- kaum drei Wochen her - war das Wasser aus Tausenden
von Kellern gekommen. In Nordfriesland kletterte es des Nachts
ohne jede Warnung über die Deiche, stieg über die Kronen hinweg
und ertränkte die Ernte. In Oldenburg schüttete es für vierundzwanzig
Stunden sintflutartig vom Himmel, bis die Stadt in
einem Schlammbad versank. Viele Landstraßen in Schleswig-
Holstein standen seitdem unter Wasser, jetzt meldete auch Dresden
Land unter, die Elbe war erneut über die Ufer getreten.
Doch all das wurde von den staatlichen kontrollierten Medien
heruntergespielt. Die Chefredakteure der großen Nachrichtenmagazine
versuchten so bei unterschiedlichen politischen Lagern
zu punkten. Jenna wusste das nur zu gut, denn sie gehörte zu
einer gefürchteten Gruppe von Öko-Aktivisten, die die Verflechtung
medialer und wirtschaftlicher Interessen öffentlich
anprangerte.
Die holistische Dimension der globalen Erwärmung war ihr
vollauf bewusst. Ungeachtet aller warnenden Vorzeichen in den
vergangenen Jahrzehnten hatte die Industrie weiterhin kräftig
Reibach gemacht, um nun die Kosten der Klima-Stabilisierung
dem Steuerzahler zu überlassen. Wie bei der Bankenkrise, diesem
Armutszeugnis einer an Unfähigkeit und Eitelkeit krankenden
Finanzelite, hatte der Staat die Verluste zu tragen, nicht die
Verantwortlichen. Dasselbe Bubenstück versuchten die Regierenden
jetzt mit der Umweltmisere. Die Schmelze des Grönland eises
kam der Regierung wahrscheinlich nicht ungelegen, um
von den wirtschaftlichen Problemen im eigenen Land ablenken
zu können. Ob die eigenen Bürger inzwischen in Zelten und
Notbehelfen hausten, war der Regierung offenbar gleich. Der
Störung der Pressekonferenz gehörte zum Glück einer anderen
Kategorie an: Ein Ministeriumssprecher sprach von einem »ordi nären
Wasserrohrbruch im dritten Obergeschoss«, der Haupthahn
sei abgedreht worden, die Monteure schon unterwegs.
Kein Grund zur Beunruhigung, alles unter Kontrolle.
Der Wasserfall vor dem Pult versiegte tatsächlich allmählich.
Zwar tröpfelte es noch hier und da vor sich hin, doch die Journalisten
hatten sich von ihrem anfänglichen Schrecken wieder
erholt.
»Sie haben Glück gehabt, Gnädigste.«
»Bitte?« Als Jenna den Kopf drehte, sah sie ein halbes Gesicht,
die andere Hälfte war von einem Kameragehäuse verdeckt. Es
war etwas Merkwürdiges an diesem Gesicht, und es lief auf die
Frage hinaus, welcher Blick kälter war, der des Kameraobjektivs
oder der seines starren hellgrünen Glubschauges. Der kahl
rasierte, von Pigmentflecken gesprenkelte Schädel kontrastierte
scharf mit dem weißen Knopf in der Ohrmuschel und einem
gleichfarbigen Spiralkabel, das unter einem Seidenchoker verschwand.
»Sie sind nicht nass geworden. Erstaunlich. Als ob Sie es
gewusst hätten.«
»Hören Sie auf mich zu filmen!«
»He, für wen halten Sie sich - Erin Brockovich?«
»Fast richtig getippt.«
Jennifer Resch - kurz Jenna genannt - fuhr mit einer raschen
Bewegung durch ihr blondes, kurz geschnittenes Haar. Es wirkte
stachlig wie Johnny Rottens legendäre Punkrock-Frisur, doch
passte zu ihrem Gesicht, das sich dem Kameramann in diesem
Moment im Profil darbot: Das Objektiv erfasste eine vorwitzige
Stupsnase über einem schön geschwungenen Mund, aus dessen
Winkeln sich gelegentlich ein spöttisches Grinsen wurmte.
Schwere Kajal-Schwalbenschwänze zierten die runden Augen,
deren Farbe der Chip nicht deutlich erkennen konnte. Sie schienen
grau, dunkelgrau, doch war es gut möglich, dass sie von der
seltenen Sorte Blau waren, das in der Sonne wie Azur aufleuchtete.
Die Piercings in ihrem Gesicht waren ebenso echt wie der
Camouflage-Regenmantel von Dolce&Gabbana.
»Sind Sie ... wie sagt man - so eine von diesen Gruftie-
Schnecken?«
»Wieso?«
»Na ja, ich komme aus Leipzig, ich kenne die Gothenszene ganz
gut. Jedes Jahr gibt es da dieses Treffen. Die Stadt wimmelt dann
von Typen, die aussehen, als wollten sie zum Dracula-Ball ...«
»Sagen Sie - wollen Sie etwas von mir?«
»Nun, weil Sie so freundlich fragen: Ich möchte gerne Ihre
Einladung sehen.« Der Sicherheitsmann nahm das Auge kurz
vom Sucher. »Falls Sie keine haben, tut's auch ein Presseausweis.«
»Dürfen Sie das überhaupt?« Sie griff in ihre Manteltasche,
suchte den Brief des Ministeriums.
»Wir dürfen alles, das wissen Sie doch.«
»Oh, ist es schon wieder so weit?« Jenna faltete den Brief auseinander
und überreichte ihn dem Quälgeist mit einem ironischen
Augenaufschlag.
»Alfred-Wegener-Institut, Polarforschung. Ist der auch echt?«
Sie konnte sehen, wie seine Finger das Prägesiegel befühlten.
»In Ordnung.« Etwas umständlich schaltete er die Kamera aus.
»Tut mir leid, aber wir müssen jede verdächtige Person überprüfen.«
»Und ich bin Ihnen verdächtig?«
»Um ehrlich zu sein, in Ihrem Army-Mantel sehen Sie aus, als
hätten Sie vor, die Versammlung im Alleingang zu sprengen.«
Jenna nickte verächtlich, doch es war nur, um ihre Nervosität
zu unterdrücken: Unter dem Mantel verbargen sich zwei eingerollte
Transparente mit höchst subversiven Texten.
»Das Wasser war schneller«, meinte sie keck.
»Oh, das ist es immer.« Der Mann gab ihr das Schreiben
zurück.
»Dann entschuldigen Sie vielmals die Störung.«
»Wieso entschuldigen Sie sich? Sie dürfen doch alles.«
Der Mann drehte sich noch einmal um und richtete eine aus
Daumen und Zeigefinger geformte Pistole auf sie: Gotcha, Baby.
Es sollte wohl heißen, er würde sie im Auge behalten.
Das Ministerium erwies sich als flexibel. In Windeseile wurden
sogenannte »Diplomatenschirme« mit aufgedrucktem Bundesadler
verteilt. Nett frisierte Damen reichten heiße Getränke,
Snacks und Handtücher. Elektrogeräte wurden mit Zellstoff tüchern
getrocknet, durchnässte Sitze mit Plastikfolien provisorisch
wieder benutzbar gemacht. Die Riege der Umweltpopulisten
und Vergolder des Klimawandels, die sich gerne selbst als
Experten auswiesen, kehrten aufs Podium zurück, setzten ritterliche
Mienen auf oder erfreuten die Journalisten in der ersten
Reihe mit Schwänken aus ihrem ach-so-bewegten Leben.
»Alles halb so schlimm, meine Damen und Herren. In Bagdad
saß ich mal in einer Konferenz, da rauschte eine Cruise Missile
direkt über uns rein ...«
Später hieß es dann hinter vorgehaltener Hand, eine Gruppe
militanter Öko-Aktivisten habe mit einer gestohlenen Rohr reinigungsmaschine
verschiedene Wasserleitungen angefräst, um
der anwesenden Journaille einen Denkzettel beziehungsweise
Vorgeschmack des Klimawandels zu verpassen. Ein Teil der
Saboteure war beim Verteilen von Handzetteln verhaftet worden,
andere befanden sich noch immer auf freiem Fuß.
»Was für ein Auftakt!« Als Kathrin auftauchte, sah sie aus, als
hätte sie in ihren Klamotten geduscht. Eingekeilt von zwei
schwergewichtigen Korrespondenten, hatte sie nicht schnell genug
aufspringen können. Ihre blau gefärbten, zu einer Trauerweidenfrisur
geflochtenen Zöpfe trieften ihr auf die Bluse, einer
ehemals weißen Bluse, die sie sich von Mutti geliehen hatte,
um auf der Konferenz einen guten Eindruck zu machen. »Und
alles nur, weil ein paar Idioten auf sich aufmerksam machen wollen
...« Mit ihren großen Augen und dem viel zu dunklen Lippenstift,
der ihrem Mund einen bösen Zug verlieh, hatte sie
Ähnlichkeiten mit einer Cartoon-Göre.
»Halt den Rand, Kathrin, hier wimmelt es nur so von
Schnüfflern!«
»Oh, du meinst den, der uns gerade filmt?« Kathrin schniefte
erst eine obszöne Grimasse, dann klappte sie ihren Stinkefinger
aus.
Jenna runzelte die Stirn, hielt sich aber zurück. Noch vor Jahren
war sie nicht anders als Kathrin gewesen - dynamisch, spontan,
immer bereit, den Nackenschlägen des Lebens zu trotzen.
Doch inzwischen - nach einem traumatischen Erlebnis im malaysischen
Dschungel - hatte sie sich einen Panzer zugelegt. Er
war nicht sichtbar, nicht greifbar, aber sie wäre auch nicht in der
Lage gewesen ihn abzulegen. Vielleicht war sie erwachsen geworden.
In Kathrins Gegenwart, wenn sie ihre Empörung über
die Winkelzüge korrupter Politiker spürte, ging ihr auf, dass sie
schon lange nicht mehr zu der jungen, intellektuellen Erregnungsgemeinschaft
gehörte.
»Weiß man, wer es war?«
»Keine Ahnung«, sagte Jenna. »Irgendeine beknackte Chaotenfraktion!
Vermutlich dieselben Typen, die den letzten G8-Gipfel
zum Schlachtfeld gemacht haben.«
»Chaoten.« Kathrin warf einen verächtlichen Blick über die
Schulter. »Autonome, Randalierer, gestörte Weltverbesserer und
die übliche schwarz vermummte Zeckengemeinde. Hauptsache
Stunk - und nach uns die Sintflut!« Sie stampfte einmal auf den
durchweichten Teppichboden. »Die Polizei ist jedenfalls draußen
mit einer Hundertschaft aufgekreuzt. Es gibt an den Ausgängen
Personenkontrollen. Die passen auf wie die Schießhunde.«
»Dann sollten wir die Aktion besser abblasen, solange wir
noch können.« Jenna presste die eingerollten Transparente fest
unter ihrem Mantel zusammen. Auch Kathrin zählte zu einer
Gruppe von Aktivisten, denen es - nach langer Vorbereitung -
gelungen war, die Konferenz zu infiltrieren, um das abgekartete
Spiel - so nannten sie es in ihrer WG - aufzumischen. Beide
Frauen, hauptberuflich Studentinnen einer naturwissenschaft lichen
Fakultät, hatten viel riskiert. Falls sie auffliegen sollten,
hätte schon die Fälschung der Presseausweise ein gerichtliches
Nachspiel gehabt. Für die Einladungen hatte Kathrin angeblich
sogar mit einem netten, jungen PR-Berater des Ministers geschlafen.
Dass er so ausgesehen hatte wie Justin Timberlake,
wäre nur ein schwacher Trost, falls sie jetzt unverrichteter Dinge
abziehen würden.
»Was machen die anderen?«
»Tja, Jens und Theo haben schon aufgesteckt.«
»Wie - aufgesteckt?«
»Na ja, du weißt ja, wie die sind. Jens meinte, wir bräuchten
ihn nicht, um ein Transparent aufzurollen und es in eine der
Kameras zu halten. Und Theo wollte noch seine Mutter besuchen.
Sie hat heute Geburtstag. Fiel ihm anscheinend noch
rechtzeitig ein.«
Jenna nickt stumm, sie war von Öko-Aktivisten nichts anderes
gewohnt. Die meisten hielten es für eine hippe Freizeit beschäftigung,
sich für irgendeine gute Sache zu engagieren.
»Blutige Amateure. Und was ist mit Pia?«
»Pia sitzt am Ausgang. Die Wachleute haben ihr einen Stuhl
organisiert, damit sie bequemer demonstrieren kann. Einer hält
ihr sogar das Transparent. Sie hat, glaube ich, wieder eine Sehnenscheidenentzündung.«
»Schon gut«, seufzte Jenna, »das heißt, wir sind allein.«
»Das heißt es, Schwester! Aber tröste dich, du weißt ja: Sisters
are doing it for themselves.«
»Nicht mehr lange«, sagte Jenna. »Ich habe es satt.«
»Ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit. Der Bundesumweltminister!«
Die extra angeschleppten Scheinwerfer leuchteten auf, und in
ihrem grellen Licht schienen die letzten Tropfen auf den Regenschirmen
zu verdampfen. Hemdsärmelig und lässig pochte der
Minster einmal kurz an eines der Mikrofone, und der Stimmenwirrwarr
brach in sich zusammen.
»Ich will es kurz machen, meine Damen und Herren. Wir
stehen womöglich vor einer globalen Hochwasserkatastrophe,
die genau hier ihren Ursprung hat ...«
Hinter der fülligen Figur des Ministers tauchten mehrere
Satellitenbilder auf.
»In Grönland. Diese Aufnahmen belegen einen extrem rückläufigen
Meereisbedeckungsgrad und die wohl rasanteste Inlandeisschmelze
des Planeten. Sollte sich der Trend fortsetzen, müssen
wir hier in Europa in nur einem Jahr mit einem Anstieg des
Meeresspiegels um drei Meter rechnen. Sollte die gesamte Eisdecke
Grönlands verschwinden, werden noch mal vier Meter
dazukommen. Wir wissen noch nicht genau, wie die Folgen aussehen
werden, doch die Welt, wie wir sie heute kennen, wird es
dann nicht mehr geben.«
Es erhob sich augenblicklich ein Gemurmel im Raum. Auch
Jenna und Kathrin waren von dieser Mitteilung überrascht.
Grönlands Eisschmelze war ein allgemein bekanntes Faktum.
Ein fünfzigköpfiges Forschungsteam des Alfred-Wegener-Instituts
hatte im Jahr 2007 ermittelt, dass das Meereis um Grönland
herum nur noch halb so dick war wie im Jahr 2001. Zu diesem
Zeitpunkt verlor das Eis noch jährlich fünfzig Kubikkilometer
an Masse. Der Anstieg der Temperatur an den Polkappen reichte
nicht aus, diesen Schwund zu erklären, doch die Klimaskeptiker
hatten die Entdeckung heruntergespielt.
»Was wollen Sie damit sagen?«, rief jemand dazwischen. »Dass
ein Walross auf Grönland einen krachen lässt und hier wackelt
die Hütte?«
Auf dem pausbäckigen Gesicht des Ministers zeigte sich ein
verkniffener Mund. »Viel Land, sehr viel Land wird verschwinden.
« Er gab einem der Experten ein Zeichen. Neue Grafiken
tauchten auf, geografische, in denen die Konturen der Kontinente
merkwürdig zu schrumpfen begannen. »Sehen Sie, hier
und hier ... Diese Daten hat uns die NASA geschickt. Sollte das
gesamte grönländische Inlandeis abschmelzen, haben wir global
ein massives Problem. Am schlimmsten wird es die Küsten
Europas und Nordafrikas treffen.«
»Wie gesichert sind diese Daten?« Ein nervös zuckender
Kugelschreiber ging in die Luft.
»Sehr gesichert. Wir konnten sogar einen Ausgangspunkt der
Schmelze ermitteln.«
»Und - gibt es dafür eine Erklärung?«
Der Minister räusperte sich. »Wir haben für diese punktuelle
Schmelze keine Erklärung. Das Zentrum scheint im Nordosten
zu liegen, in der Nähe des Waltershausen-Gletschers, etwas unter
siebzig Grad nördlicher Breite. Dort gibt es nichts, rein gar
nichts, nur einen über dreitausend Meter dicken Eispanzer.«
»Und das finden Sie unerklärlich?« Ein Meteorologe zu seiner
Linken wedelte mit einem Haufen Papier. »In der ganzen Arktis
herrscht Tauwetter! Ein derartig geringes Eisvolumen hat es seit
achttausend Jahren nicht mehr gegeben.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Dass all unsere Klimamodelle versagt haben! Was sich in den
polaren Regionen abspielt, ist eine klimatische Mutation.«
»Eine Mutation?« Der Minister versuchte ein skeptisches
Lächeln.
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ISBN: 978-3-453-43257-1
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»Das werden wir sehen«, sagte Frithjof. Es war ohnehin seine
Aufgabe, bis zuletzt an die Rettung der Verunglückten zu glauben,
aber diesmal kam noch etwas dazu: Die Maschine gehörte
einem gewissen Paulino Hernando Pesceros, seines Zeichens Ölbaron,
Großaktionär und neuerdings auch Regierungsberater.
Der gebürtige Kolumbianer gehörte zu den als »unabkömmlich«
eingestuften Personen des dänischen Königreichs. Frithjof war
geradezu in der Pflicht, denn der Milliardär und seine Familie
waren persönlich an Bord des Unglücksvogels gewesen.
»So ein Mist ...« Das Gewitter, das sich draußen zusammengebraut
hatte, drückte seine hässliche, von Blitzen vernarbte
Visage gegen die Panzerglasscheibe und vergegenwärtigte dem
Rettungschef, dass er diesmal seine besten Männer aufbieten
musste.
»Verdammt, Reynar, das ist ein Fall für die Küstenwache! Die
sollen ein Boot schicken und die Leute aus dem Wasser fischen!«
Wenn man vom Teufel spricht, dachte Frithjof. Der Mann, der
in diesem Moment in die Einsatzzentrale polterte, hörte auf den
Namen Sig Bendikson. Er hatte den klassischen Werdegang
eines Helipiloten durchlaufen - erst Mechanikerlehre, dann
Helikoptermonteur bei der Luftwaffe, ein Job, der es ihm später
ermöglicht hatte, die Pilotenlaufbahn einzuschlagen. Inzwischen
galt er als Ass des Luftrettungsdienstes und »größter Hubschrauberpilot
« Skandinaviens - ein spitzfindiger Nörgler am Boden,
doch einmal in der Luft unschlagbar, wenn es darum ging, Menschenleben
zu retten. So wie damals - Frithjof erinnerte sich -
an der Südspitze Grönlands, als Bendikson seine Maschine über
einen eingenebelten Gletscher dirigiert und dann - wegen beschlagener
Scheiben - halb aus dem Fenster hängend, Proviant
und Verbandszeug abgeworfen hatte. Auch dass er einmal dreißig
Schiffbrüchige in einer leckenden Rettungsinsel am Seil in den
Hafen eingeschleppt hatte, war Frithjof noch lebhaft in Erinnerung
geblieben.
»Nun, halt mal die Luft an«, knurrte Frithjof. »Glaubst du,
ich würde dich da rausjagen, wenn ich eine Wahl hätte? Wo der
Vogel abgestürzt ist, wimmelt es von Klippen ... Das Skagerrak
ist ein Dreck dagegen! Du bist meine einzige Chance. Tut mir
leid, alter Schwede.«
»Und mir erst!« Bendikson raufte sich seine grauen Stoppel-
haare, aber dann marschierte er ab, ganz so wie es Frithjof von
ihm gewohnt war.
Ein Expresslift bracht Bendikson aus der Tiefe des Berges hinauf
zur Landplattform des Heliports. Im Hangar, der wie eine würfelförmige
Festung an der Steilküste klebte, war der Copter, ein
nagelneuer US-Coast-Guard-»HH 65A«, schon betankt und
startklar. Sein frisch eingewachster Rumpf funkelte im Licht der
Scheinwerfer. Zwei AVCO-Lycoming-Triebwerke mit jeweils siebenhundertunddreißig
Pferdestärken verliehen dem auch »Polar-
Heli« genannten Hubschrauber die nötige Kraft, auch bei orkanartigem
Wetter zu fliegen. Der Weg über die beleuchtete fünf
mal fünf Meter messende Plattform erschien Bendikson diesmal
länger als sonst. Ohne zu grüßen, schwang er sich in den Sitz,
schnallte sich an.
»Vergesst mir die Wärmflaschen nicht«, war das Einzige, was
er sagte, und Gunnar Steinkehl, der Flughelfer nickte. Auch die
Thermodecken gehörten zum Vorbereitungsmaterial auf der
Liste, die er täglich gewissenhaft checkte. Sollte es ihnen gelingen,
Menschen aus Seenot zu bergen, dann war die Wiederbelebung
durch Wärme die Medizin, die sofort anschlug, um den
Kreislauf zu stabilisieren. Als Piloten brauchte man Flughelfer
wie Gunnar, die an alles dachten und im Laufe ihrer Dienstzeit
ein fast kybernetisches Verhältnis mit der Maschine eingingen.
Sie verbreiteten das Gefühl von Sicherheit. Nicht zuletzt saßen
sie im selben »fliegenden Boot«, das sie in Technikkursen immer
wieder auseinandergenommen und zusammengesetzt hatten.
Der junge Blondschopf neben Gunnar hieß Enok Jensen, er
war Marine-Rettungstaucher, doch was echte Einsätze anbelangte
noch ein unbeschriebenes Blatt. Beim Winschen hatte er sich
schon ein paar Mal bewährt, doch dieser Einsatz war seine Feuertaufe,
und er machte einen etwas in sich gekehrten Eindruck.
Der vierte an Bord hieß mit vollem Namen Hanak Amaalik
Innunguaq, doch wurde er von allen - wegen seiner Neigung zu
Alleingängen - spöttisch Han Solo genannt. Er kauerte in seinem
Kaltwasseranzug hinter Gunnar auf dem Rettungsmaterial, den
Notfallsack und sein Schwimmbrett zwischen die Beine geklemmt.
Han war ein gebürtiger Inuit, der seinen Weg aus
einem kleinen Dorf namens Brandeliteqilaq in die westliche Zivilisation
gemacht hatte. Seine bärenhafte Statur trat in dem
hautengen Anzug deutlich hervor. Zu seinem Phlegma gehörte
die typische Gutmütigkeit der Inuit, vermischt mit einer Prise
schwarzen Humors. Abgesehen von seinem Job hatte er nur ein
einziges Hobby - die Robbenjagd , die sein Clan, die kukiit inui
oder Claw People, bereits seit über zweihundert Jahren in Ostgrönland
betrieb. Ein einziges Mal war Bendikson einer Ein ladung
von Han gefolgt und dabei Zeuge eines Tupilak-Rituals
der Jäger geworden. Das Christentum hatte auf Grönland schon
lange verspielt, selbst in Nuuk, der Hauptstadt, war man längst
wieder zur alten naturheidnischen Religion zurückgekehrt. Besonders
die Jüngeren beteten wieder zu dem Mondgott Igaluk,
der diejenigen, die ein sinnvolles Leben gelebt hatten, ins Qudlivun,
dem Paradies der Eskimos, heimführen würde. Er war
auch der Gott der Liebe, der Gott der Lampenlöschspiele.
Han gehörte zu einem anderen Kult, einem Kult, der die Seegöttin
Sedna wie die Heilige Jungfrau Maria verehrte. Die Zeremonie,
der Bendikson beiwohnen sollte, hatte sich auf dem offenen
Eis abgespielt, an einem großen Luftloch, in dem die See
schmatzte und gurgelte. Ein Schamane versuchte die froschmäulige,
gefräßige Göttin vom Meeresgrund an die Oberfläche
zu locken, in dem er - Robbengekröse mit einer Kelle aus einem
Plastikeimer schöpfend - in einen monotonen Singsang verfiel.
Wie der Wirt einer Pinte Bendikson später erklärte, hatte Sedna
ungezügelten Appetit auf Fleisch, ja, dem Mythos zufolge hatte
sie gar versucht, die eigenen Eltern zu fressen. Die Anhänger der
Göttin mochten daher ihr Fleisch gerne roh.
Bendikson hatte damals nur den toleranten Schweden gespielt.
Seine Meinung über Eskimos war ohnehin gründlich
gefestigt: Männer, die sich mit einem Nasenkuss begrüßen und
ihre Frauen tauschen, können keine allzu schlechten Kerle sein.
»Was für ein Sturm ...« Während der Pilot die Instrumente
checkte, stieß Gunnar Steinkehl Han unsanft in die Rippen.
»Was sagt unser Inuit dazu?«
Han griff nach dem merkwürdigen Amulett, das er immer
über seinem Schutzanzug trug und das ihn angeblich vor den
bösen Geistern, den Ilisitsoqs oder Angakoqs, schützte.
»Entweder ist Sedna sehr wütend, oder sie gebiert gerade ein
Kind.«
»Sie gebiert ein Kind?« Jensen hob den Kopf. »Du meinst, wir
erleben gerade so was wie 'ne schwere Geburt?«
»Ja. Unsere Leute sagen, das Meer hat die Wehen.«
»Lieber Himmel.« Jensen liebte es, Han aus der Reserve zu
locken. »Auf den Wechselbalg bin ich gespannt! Ist bestimmt
genauso gestört wie seine Mutter!«
»Sedna ist nicht gestört«, sagte Han. »Sie wurde verärgert.«
Und mit einem maskenhaftes Grinsen: »Vergesst nicht, die Erde
ist zu mehr als zwei Dritteln von Wasser bedeckt. Der blaue
Planet ist ein Wasserplanet. In einem Mythos der Inuit heißt es:
Ich bin das Wasser. Ich werde kommen, wenn es an der Zeit ist, um
euch zu holen. Denn ihr seid meine Kinder ...«
»He, die Geschichte kannte ich noch gar nicht«, fuhr Gunnar
dazwischen, »richtig gruselig.« Hans Geistergeschichten waren
bei den Männern beliebt, zumindest im trockenen, gut beheizten
Mannschaftsquartier. »Richtig gruselig. Aber was soll das
heißen? Dass eine neue Sintflut droht, oder was?«
»Aap, aap1 ...« Han begann wie ein grönländischer Buddha zu
grinsen. »Du wirst diese Prophezeiung auch in anderen Mythen
finden. Wir haben die Erde nicht von unseren Kindern, sondern
vom Wasser geborgt. Eines Tages wird die große Sassuma arnaa2
kommen und ihr Eigentum zurückfordern.«
»Verstehe.« Jensen nickte mit gespieltem Ernst. »Nur, was ist
mit uns? Ich meine, die Menschen leben nun mal auf dem
Land, oder nicht? Wir sind keine Frösche, die sich's aussuchen
können ...«
Han zuckte die Achseln. »Es wäre aber besser für sie. Glaubt
mir, wir alle werden bald nasse Füße bekommen.«
Gunnar öffnete den Mund, als wolle er etwas Passendes aushusten,
aber seine Stimme wurde von den startenden Turbinen
übertönt.
Danach war alles Routine: Sobald die Triebwerkinstrumente
im grünen Bereich pendelten, erhöhte Bendikson die Leistung,
wartete, bis sich die Drehzahl der Turbinen stabilisiert hatte, und
hob ab.
1 Inukitut (Sprache der Inuit): Ja, ja.
2 Ein anderer Name für Sedna.
Die Lichter des Heliports kippten seitlich weg, sie waren
plötzlich allein.
In der Kabine war von dem Wind nichts zu merken. Der
Rotor eines Hubschraubers gleicht einer wirbelnden Schere, die
thermische und dynamische Windstöße zerschneidet. So gleitet
der größte Teil der Aufwinde zwischen den Rotorblättern hindurch,
ohne direkte Einwirkung auf die Maschine.
Vor dem Dunkelviolett des Himmels türmten sich hohe
Quellwolken auf. Noch immer schraubte sich der Rotor in die
Höhe, und Bendikson holte tief Luft, wie er es immer tat, wenn
er Frithjof seine Position meldete.
Inzwischen herrschte völlige Dunkelheit. Die Männer waren von
Finsternis umschlossen. Nur wenn ein Blitz aufzuckte, waren der
Horizont und das Meer für Sekundenbruchteile zu sehen. Ein
Hexenkessel brodelte über dem Meer, die Luft flimmerte und
ließ sie die starken vertikalen Luftströmungen mit bloßem Auge
erkennen.
Unter anderen Umständen hätte sich Bendikson vielleicht an
den entfesselten Elementen erfreut, doch das Unwetter lag leider
genau auf Kurs. Selbst wenn sein Schrauber gegenüber Luftströmungen
viel weniger empfindlich war als ein Flugzeug mit Tragflächen,
konnte ein Auf- oder Fallwind dieser Stärke schnell
schlimme Folgen haben. Zumindest so dicht über dem Meer.
Um seine Angst zu bekämpfen, zählte sich Bendikson die Vorteile
dieser komplizierten Maschine gegenüber einem Starrflügler
auf. Man denke nur an die Probleme der Reduktion und des
Getriebes: Verminderung der dreitausendzweihundert Umdrehungen
in der Minute des Motors auf dreihundertzwanzig Umdrehungen
des Hauptrotors durch das Planetengetriebe, dann
die Übertragung einer nach Verminderung höchst stabilen
Drehbewegung auf den Heckrotor unter einem Winkel von
neunzig Grad und einer Achsenführung über ungefähr zehn Rollen.
Ein wahres Wunderwerk der Technik! Dauernde Kontrolle
und gute Schmierung waren notwendig. Sollte sich nur ein einziges
Lager festfressen, käme es unweigerlich zur Katastrophe.
Die Beleuchtung der Instrumente und der Widerschein der
Positionslichter in den Plexiglasscheiben blendeten ihn. Er warf
einen Blick über die Schulter.
»Haltet die Augen auf, ja?«
Alle nickten, doch das war leichter gesagt als getan. Dicke
Tropfen platschten an die Scheibe der Kanzel, rannen nach allen
Seiten davon, um vom Fahrtwind fortgerissen zu werden. Da sie
Licht reflektierten, zauberten sie eine leuchtende Korona auf
die »Guillotine«, wie Piloten die sich drehenden Rotorblätter
nennen.
»Kannst du niedriger gehen?«, fragte Jensen.
»Noch niedriger?« Ein plötzlicher Windstoß hatte den Helikopter
nach unten gedrückt, so dass für einen Augenblick die
dunkle, aufgewühlte See wie eine schwankende Gebirgslandschaft
in bedrohliche Nähe kam.
»Festhalten!« Bendikson riss den Steuerknüppel in letzter
Sekunde hoch.
Bisher hatte er es mit einem starken, gleichmäßigen Sturm zu
tun gehabt. Jetzt stolperte sein Heli von einem Luftloch ins
nächste. Die Maschine sackte ab, fiel in einen rabenschwarzen
Schacht, stieg wieder auf. Bendikson rauschte es in den Ohren.
Dann hatte sich der Heli wieder gefangen, bis sie über den
Kamm der nächsten Luftwelle sausten.
»Du bist ja ganz grün im Gesicht«, sagte Han.
»Kümmere dich um deinen eigenen Kram!«, zischte Jensen.
»Hab 'ne lange Nacht gehabt, das ist alles.«
Erst packte der Regen nach dem Plexiglas der Kanzel, dann der
Hagel. Regen mag ja gehen, aber Hagel? Das Getöse der prasselnden
Körner war so gewaltig, dass es das Motorengeräusch
übertönte. Jensen hielt sich die Ohren zu, selbst Gunnar
schluckte, wie er es sonst nur tat, um den Überdruck in seinen
Gehörgängen auszugleichen.
»Gottverdammt, wofür riskieren wir unser Leben? Wenn sie
abgestürzt sind, dann sind sie längst Tango-Oskar-Tango. Wir
sollten den Einsatz abbrechen!«
»Geht leider nicht.« Bendikson sah hinaus. In der uferlosen,
tobenden See erschien das weiße, harte Licht der Blitze doppelt
so grell.
»Es ist scheint sich um das Flugzeug eines wichtigen Menschen
zu handeln.«
»Und?«, fragte Han. »Er wird genauso ersaufen wie jeder andere
Mensch.«
»Trotzdem müssen wir ich ihn suchen.«
»Weißt du, was wir müssen?«, jaulte Jensen. »Hier heil wieder
rauskommen, Mann, heil wieder rauskommen.«
»Mach halblang.« Bendiksons Gesicht glühte dämonisch im
roten Schein der Instrumentenbeleuchtung. »Sollten wir diesen
Einsatz überleben, dann werde ich Frithjof gehörig den Marsch
blasen. Um Gottes willen, seht euch das an!«
Es war kein gewöhnlicher Sturm, es war ein schweres Unwetter,
das über dem Meer tobte. Wahre Feuergarben schossen aus
den Wolken heraus.
Selten hatte er aus seinem Cockpit derart bedrohlich wirkende
Wolkenburgen gesehen. Weit und ausgedehnt schienen sie,
schwarz-violett und unheimlich, durchbohrt vom grellen Flackern
der Blitze.
»Festhalten, Jungs!«
Jetzt waren sie schon mitten drin in der schwarzen Masse. Der
Orkan prallte an die Metallwände der Kabine, als wolle er sie
eindrücken, er riss am Heckruder, dass der Steuerknüppel in
Bendiksons Hand vibrierte. Er hatte in diesem Moment nicht
mehr zu steuern, sondern schwere körperliche Arbeit zu leisten.
Immer wieder entglitt ihm der Heli und er musste sich bemühen
ihn aufzufangen - ein Kunststück, denn der Steuerknüppel
begann sich mit irrwitziger Geschwindigkeit zu drehen.
»So was hab ich noch nie gesehen!«, brüllte Jensen. »Das ist ja
Wahnsinn!«
»Sei froh«, brüllte der Pilot zurück, »dass du überhaupt noch
was siehst.«
In so einer pechschwarzen Suppe ist ein Hubschrauberpilot
hilfloser als ein Autofahrer, der mit hundertfünfzig Stundenkilometern
in eine Nebelwand fährt. Es gibt weder oben noch unten
und ohne Blindfluginstrumente war man geliefert. Funkfeuer,
Radar und Kontakt zum Flugverkehrsleiter waren unerlässlich,
um die nächsten Minuten zu überleben, oder dieser verflixte Sea
Hawk-Infrarotsensor, mit dem der Hubschrauber bald bestückt
werden würde, doch in diesem Moment hatte Bendikson nichts,
nur neue Probleme: Blauweiße Flammen loderten plötzlich
knatternd über der Nase des Helikopters und vollführten vor der
Kanzel einen unheimlichen Tanz.
»Elmsfeuer!«, rief Bendikson, um Han zu beruhigen, doch der
brüllte bereits, als säße ihm Sedna persönlich im Nacken.
»Guutiga illiwi, beschütze uns vor dem Bösen!«
Jensens Gesicht sah im Widerschein der zuckenden Flammen
aschfahl aus.
»Wir werden alle sterben«, murmelte er monoton vor sich.
»Wir werden alle ...«
»Nein, werden wir nicht!« Ohne Vorwarnung drückte der
Pilot die Maschine so lange nach unten, bis die blauen Flammen
züngelnd verloschen.
Geblendet, unfähig die Tourenzahl abzulesen, musste Bendikson
sie nach Gehör abschätzen. Noch eine Leuchtgarbe, ein
Sprühen des Metallrotors, und es war geschafft: Die wilden Wirbel
gingen in eine erträgliche Böigkeit über.
»Juchhe!«, rief Jensen. »Wir sind durch!« Han hob beide Damen,
doch seine Freude währte nicht lang. Hatte der Pilot eben
noch Mühe gehabt, die Maschine zu drücken, fiel sie jetzt plötzlich
wie ein Stein nach unten, der Zeiger des Höhenmessers lief
wie rasend zurück.
»Leistungszufuhr!«, brüllte Gunnar. »Abfangen, Mann! Fang
sie ab!«
Bendikson hatte längst reagiert. Seine Pitchhand zog, vergrößerte
den Anstellwinkel der beiden Hauptrotorblätter, während
seine Rechte den Steuerknüppel vorwärtsdrückte.
Erneut fiel die Drehzahl zusammen. Die Männer hörten es an
dem tiefen, röhrenden Ton der sechs Zylinder und bissen die
Zähne zusammen. Sie konnten nur hoffen, dass die Strömung
nicht plötzlich abreißen und infolgedessen den Motor abwürgen
würde, auch das war schon bei Rettungseinsätzen passiert, und
das Meer vergab keine Fehler.
Dass das waghalsige Manöver schließlich gelang, war allein
Bendiksons großer Erfahrung zu verdanken: Er drückte den
Steuerknüppel impulsiv bis zum Anschlag nach vorne und
brachte so den Motor auf Touren. Drücken - ziehen - drücken.
»Shit! Was ist denn das?« Jensen drückte sein Gesicht an die
Scheibe.
In dem Luftraum vor ihnen manifestierten sich eisig blitzende
Schleier.
»Schnee«, seufzte Bendikson, und im nächsten Moment hörte
er bereits die Eiskristalle im Quirl der Rotorblätter umherwirbeln.
»Jungs, eins sage ich euch, das ist der tiefste Tiefflug meines
Lebens.«
Unter Aufbietung all seines Könnens gelang es ihm endlich
den Unfallort anzusteuern. Die Boje, die der Pilot vor der Wasserung
abgesetzt hatte, war ein blinkender roter Stecknadelkopf
in den kochenden Fluten. Hier in einer Tiefe von fünf bis zehn
Metern lag wahrscheinlich das Wrack. Von überlebenden Passagieren
war nichts zu sehen, keine Schwimmwesten, keine Wrack-
teile, nichts, selbst der starke, ferngesteuerte Scheinwerferkegel
leuchtete vergebens in die dunklen Wellentäler hinein. Schwebend
tastete sich der Rettungshubschrauber vorwärts.
»Nicht zu steil kommen!«, warnte Gunnar. »Gleitwinkel einhalten!
Mehr drücken!«
»Ja, schon gut.« Bendiksons Arme übertrugen seine Gedanken
auf die Steuerorgane, sie drückten und zogen den Pitch, korrigierten
den Knüppel.
»Licht aus!«, brüllte er und schaltete die Instrumentenbeleuchtung
aus.
Was er jetzt brauchte, waren keine Barometer-, Temperatur-
und Druckanzeigen, keine Drehzahl-, Fahrt- und Höhenangaben,
sondern in erster Linie gute Sicht. Jede noch so kleine
Lichtquelle spiegelte sich in den gebogenen Scheiben der Kanzel
und hinderte den Blick nach draußen.
Er schaltete auch das grell blinkende Anti Collision Light aus,
es war überflüssig, denn er würde hier über der tobenden See
keinem anderen Flugzeug begegnen.
Der Heli schwebte jetzt mit drehenden Rotoren über der
Boje, die wie ein Irrlicht unter ihm tanzte.
»Da! Ich kann es sehen!« Ganz langsam formten sich Konturen
aus, nichts Plastisches, nur eine geringe Farbabstufung wie
auf einer stark unterbelichteten Schwarz-Weiß-Fotografie: der
Schemen eines Flugzeugs, ein dunkelgraues Nachbild auf einem
schwarzen Schirm. Es war nur zu sehen, weil noch immer die
Positionslichter brannten.
»Sie kann nicht besonders tief liegen«, meinte Gunnar. »Das
Leitwerk ist gut zu sehen. Ich schätze mal, das sind keine zwei
Meter.«
»Vielleicht hängt sie irgendwie fest«, mutmaßte Jensen.
»Oder sie hat Luft im Bauch«, meinte Bendikson lakonisch,
»und die wartet nur darauf, wie ein gigantischer Furz zu ent weichen
...« Jensen blickte entsetzt auf. Er wusste genau, was das
bedeutete: Wer immer in der Kabine war, ja, nur am Rumpf des
Flugzeugs würde mit in die Tiefe gerissen ...
»Alles klar, Jensen?«
Der Daumen seiner Pitchhand dirigierte den Lichtstrahl weiter
nach unten.
»Verdammt, Gunnar, kannst du irgendwas sehen?«
»Ja, einen Arsch voller Klippen!«
»Genau wie Frithjof gesagt hat.«
Das Strahlenbündel kreiste über dem Wasser, ließ den Regen
zu weißen Strähnen erstarren, streifte und tastete über die scharfkantigen
Felsen zwischen den Wellenbergen und -tälern hinweg.
»Wir können nicht springen«, sagte Jensen, als ob Bendikson
das nicht selbst gewusst hätte.
»Dann nehmt die Seilwinde!«
Das windgepeitschte Wasser stäubte in gewaltigen Gischt böen
zu ihnen empor. Der starke Mitraluxstrahl schien jeden Tropfen
hyperplastisch hervortreten zu lassen.
»Na, dann mal raus mit euch, ihr Höllenhunde!«
Im grellen Licht niederfahrender Blitze lief die Bergungsaktion
an. Jede Windenoperation mit einem Hubschrauber über
dem Meer war gefährlich und erforderte höchste Konzentration
und perfektes Zusammenspiel der Besatzung.
»Schiebetür auf!«
Der Flughelfer hatte bereits Position am Windenhaken bezogen.
Die Schiebtür glitt zur Seite, und rasende Eiskristalle erfüll ten
schlagartig die Kabine. Jensen klinkte sich als Erster ein. Es
war ihm anzusehen, wie unwohl er sich in seiner Haut fühlte.
»Worauf wartest du?«, schnaubte Bendikson. Aus seiner Sicht
schienen seine Rotorblätter schon fast die Wellenkämme zu
ritzen. »Was zum Teufel ist los mit dir?«
Han murmelte etwas, er wollte es offensichtlich hinter sich
bringen, und Jensen ließ ihm den Vortritt.
»Sag deiner Sedna einen schönen Gruß von mir!«
»Damit scherzt man nicht, Mann!«
»He, wer scherzt denn hier? Wenn es Sedna gibt, haben wir
ihr eine Menge zu verdanken, oder nicht?«
Han nickte stumm.
»Winde ab!« Während das Stahlseil mit Han abwärtszischte,
bemühte sich Bendikson unentwegt um Schwebeflug-Steuerkorrekturen.
Es war nicht leicht, denn der Wind drohte ihn
immer wieder gegen die Klippen in den aufgewirbelten Wassermassen
zu schleudern. »Er ist unten!« brüllte Gunnar.
Obwohl Han an einem Stahlseil hing, war es wie im freien
Fall in die Tiefe gegangen. Es war ihm, als würde er in den
Rachen einen fauchenden Untiers stürzen - ein lebender Schalltrichter,
der im Moment des Eintauchens plötzlich verstummte.
Er drang nur wenige Meter unter die Wasseroberfläche, und
schon war alles friedlich und still. Han klinkte sich aus, sah sich
um: Die weiße Cessna erstrahlte in ihrer Unversehrtheit wie eine
unwirkliche Erscheinung. Sie hing auf einer unter seeischen Klippe,
die an eine schlackebedeckte Variante von Neptuns Dreizack
erinnerte. Wie lange sie sich so halten würde, war schwer zu
sagen. Der Rumpf knirschte gelegentlich in der Gabel, wenn
sich die Haut des Flugzeugs am Felsen scheuerte, als ob es von
einer Strömung leicht angehoben würde. Das war alles andere als
eine stabile Position. Han ahnte, er hatte keine Zeit zu verlieren.
Er wollte gerade losstrampeln, als etwas pfeilgerade in einem
Schwall Luftblasen an ihm vorbeizischte. Zwei Taucherlampen
flammten auf, sie illuminierten Jensens Sil houette. Er hatte
offenbar seine Angst überwunden und war gesprungen. Den
Handzeichen nach zu urteilen, war alles okay.
Na, dann mal los ... Die weißen Tragflächen der Cessna
leuchten in diesem Moment auf, denn Bendiksons Lichtkanone
strahlte durch die Wassermassen zu ihnen hinab.
In schnellem Beinkraulschlag näherten sich die Taucher dem
Flugzeug. Noch immer war nichts von einer Beschädigung zu
erkennen, man sah die ausgefahrenen Räder, alle Luken waren
geschlossen, die Scheiben schienen intakt.
Während sich Han an der Luke zu schaffen machte, leuch tete
Jensen in eines der Fenster: Der Pilot hing in seinem Sitz, seine
Arme erhoben, als wolle er ein Orchester zu dirigieren. Loses
Papier, Plastikbecher, ein angebissener Mars-Riegel und ein teurer
Montblanc-Füllfederhalter, aus dem blauen Tinte austrat,
hingen über ihm wie im schwerelosen Raum. Von den anderen
Passagieren war nichts zu sehen. Vielleicht hatten sie Glück und
saßen im hinteren Teil der Maschine in einer Luftblase fest. Hatten
diese Maschinen nicht sogar Sauerstoffmasken an Bord?
Etwas erschütterte das Wrack. Han hatte die Bolzen der Notverriegelungen
entfernt. Die Konstruktion der Cessna war den
Rettungstauchern vertraut, für das Öffnen der Luke brauchten
sie in der Regel nicht einmal fünfzehn Sekunden. Han steckte
seinen Kopf zuerst in die Kabine. Ein Babyschnuller trudelte
ihm entgegen, kalkweiße, halbaufgelöste Babywindeln trieben
wie mysteriöse Seeschnecken in den Lichtkegel seiner Lampe.
Eine traf die Sichtscheibe seiner Brille.
Ärgerlich wischte Han den Watteklumpen zur Seite - und
erschrak, denn er blickte direkt in das Gesicht einer Frau. Sie
kauerte hinter dem Sitz des Piloten, ihr langes blondes Haar
wogte wie eine Fächerkoralle. Offenbar hatte sie es noch geschafft
den Gurt zu lösen, bevor das Wasser sie mit seinen eisigen
Fingern erwürgte. Jetzt war sie Tango-Oskar-Tango. Han
schluckte unwillkürlich, selbst für einen hartgesottenen Robbenschlächter
und Rohfleischfresser war der Anblick dieser Ertrunkenen
kaum zu ertragen. Etwas in ihren weit aufgerissenen
Augen war noch immer schrecklich lebendig, es schien ausgeharrt
zu haben, all die Zeit war es geblieben, um Han etwas zu
sagen, etwas Wichtiges, etwas, dass sie nicht ins Schattenreich
der adlivun, der Ertrunkenen, mitnehmen wollte.
Was?, dachte Han. Warum ist deine Seele noch hier?
Jensen zerrte bereits an seiner Schulter. Für ihn war die Sache
gelaufen, doch Han spürte, er musste bleiben. Er machte Jensen
ein Handzeichen zu verschwinden und näherte sich der weib lichen
Leiche. Wie bei dem Piloten waren auch ihre Hände in
ihrer letzten Bewegung erstarrt. Sie schienen nach etwas zu greifen,
etwas, das der Frau entglitten war und das sie wieder auffangen
wollte.
Der Rumpf scheuerte in diesem Moment heftiger über die
Felsen, und Han bemerkte für den Bruchteil einer Sekunde eine
schwache Bewegung im Schatten der Frau.
Natürlich, das Kind! Han hätte es gleich wissen müssen. Er
richtete seine Taucherlampe darauf und erschauderte, als er das
Baby zwischen den Beinen der Mutter auftauchen sah. Als es der
Schein der Lampe erfasste, hob es den Kopf, blinzelte und ver-
suchte sich dann mit unbeholfenen Bewegungen unter dem
Stuhl zu verkriechen. Die Sitzheizung war offensichtlich noch
an.
Es atmet unter Wasser, fuhr es Han durch den Kopf. War das
nicht üblich bei Babys? Nein, bei Sedna, der großen Mutter des
Meeres, dieses kleine Wesen war anders.
Während die Cessna sich mit einem lang gezogenen Quietschen
in der Felsgabel drehte, ein Zacken brach und die rechte
Tragfläche bereits ins Nichts abkippte, hatte Han für einen Moment
die Kiemenspalten am Hals des Babys gesehen. Auch jetzt
noch, als er sich bückte und nach dem Baby griff, hatte er nur
Augen für diese organische Monstrosität, den dunklen, sich bewegenden
Spalt zwischen Ohrmuschel und Halsansatz.
Sednas Kind. Ein Kind des Wassers. Hans Puls ging schneller. Es
ist uns ein Wunder geschehen! Die alten Legenden hatten Recht: Ein
Wassermensch würde dem Volk der Inuit den Weg aus der Sklaverei
weisen. Dem großen Torngarsuk sei Dank!
Fast glücklich presste er das Baby an seine Brust. Dann stieß
er sich von dem Flugzeug ab. Suka, suka! 3 Und während das
Grab der Eltern langsam von der Klippe rutschte und sank,
strampelte Han dem weißen Licht an der Meeresoberfläche entgegen.
3 Inukitut (Sprache der Inuit): Schnell, schnell!
ACGTCCCAGGGT
ACGTCCCAGGGTACGTCCCAGGGTACCCA
ACCCAACCCATGCTTCCACTT
TGCTTCCACTTTGCTTCCACTTAGGT
AGGTAGGTAGTCCA
AGTCCAAGTCCAT
TTA
AAT
TT
ACTGTCTTTCCCGG
ACTGTCTTTCCCGGACTGTCTTTCCCGG KAPITEL 1
KAPITEL 1KAPITEL 1 ACTGTCTTTCCCG
ACTGTCTTTCCCGACTGTCTTTCCCG
TTTCCCA
TTTCCCATTTCCCATCGGGGT
TCGGGGTTCGGGGTA
AATTCCCAGCTTCCA
TTCCCAGCTTCCATTCCCAGCTTCCATCCCCA
TCCCCATCCCCATTGCTTCC
TTGCTTCCTTGCTTCC
Wir erleben eine Art Endspiel um die Eiskappe.
- DR. WALT MEIER, National Snow and
Ice Data Center, April 2009
Als Folge des anthropogenen Klimawandels
wird der Eisschild Grönlands mit
hoher Wahrscheinlichkeit abschmelzen.
- NATURE, Vol. 428, 8. 4. 2004
Berlin, Bundesumweltministerium, 14 Uhr 30
Die Pressekonferenz hatte gerade begonnen, als dicke Tropfen
auf das Podium fielen und zwischen den Mikrofonen der Sendeanstalten
zerplatzten. Ein Sprecher des Umweltministeriums hob
den Kopf, stutzte. Ein Tropfen landete genau auf seiner Brille.
»Na, so was«, sagte er, »könnte mal jemand die Dusche abstellen?
« Dann hatte es auch die hochempfindlichen Membrane seines
Mikros erwischt, in den Lautsprechern prasselte es jetzt wie
trockenes Holz im Kamin, es wurde lauter und lauter, bis sich
schließlich ein wahrer Wasserschwall auf die versammelte Journaille
Berlins ergoss. Als käme hinter der abgehängten Decke
ein Feuerwehrschlauch zum Einsatz, so heftig spritzte das Wasser
aus den Spalten herab. Mit Hochdruck fegte es Aktenkoffer,
Kameras und Diktafone zur Seite und bildete einen meterlangen,
wabernden Vorhang zwischen der ersten und zweiten Stuhlreihe.
Die wasserscheuen, unrasierten Vertreter der Presse stoben
wild auseinander - Stühle und teure Klapprechner purzelten zu
Boden, umherfliegende Kaffeebecher und angebissene Croissants
verliehen dem Ganzen eine komödiantische Note. Erst als
ein Scheinwerfer über dem Podium explodierte und sich ein
Geruch wie von verschmorter Elektrizität breitmachte, waren
Panikschreie zu hören.
Vom Gang aus konnte Jenna sehen, wie die in Zivil gekleideten
Sicherheitskräfte versuchten, die Lage unter Kontrolle bringen.
Sie befand sich in einer stillen Bucht des Mediengewoges,
das jenseits des Wellenbrechers einer verkeilten Stuhlreihe den
Raum wie ein Donnerwetter erfüllte. In dem allgemeinen Tumult
hatte sie plötzlich eine Vorahnung, wie das befürchtete
»Absaufen der Welt« aussehen würde: Das Wasser war ein unberechenbarer
Gegner, der blitzschnell und überraschend aus allen
Richtungen zuschlagen konnte, ein gefallener Engel der Lüfte,
ein feuchtkalter Dämon, dem kleinste Risse genügte, um Mauern
zu sprengen und solide Fundamente zu unterspülen. In Hamburg
- kaum drei Wochen her - war das Wasser aus Tausenden
von Kellern gekommen. In Nordfriesland kletterte es des Nachts
ohne jede Warnung über die Deiche, stieg über die Kronen hinweg
und ertränkte die Ernte. In Oldenburg schüttete es für vierundzwanzig
Stunden sintflutartig vom Himmel, bis die Stadt in
einem Schlammbad versank. Viele Landstraßen in Schleswig-
Holstein standen seitdem unter Wasser, jetzt meldete auch Dresden
Land unter, die Elbe war erneut über die Ufer getreten.
Doch all das wurde von den staatlichen kontrollierten Medien
heruntergespielt. Die Chefredakteure der großen Nachrichtenmagazine
versuchten so bei unterschiedlichen politischen Lagern
zu punkten. Jenna wusste das nur zu gut, denn sie gehörte zu
einer gefürchteten Gruppe von Öko-Aktivisten, die die Verflechtung
medialer und wirtschaftlicher Interessen öffentlich
anprangerte.
Die holistische Dimension der globalen Erwärmung war ihr
vollauf bewusst. Ungeachtet aller warnenden Vorzeichen in den
vergangenen Jahrzehnten hatte die Industrie weiterhin kräftig
Reibach gemacht, um nun die Kosten der Klima-Stabilisierung
dem Steuerzahler zu überlassen. Wie bei der Bankenkrise, diesem
Armutszeugnis einer an Unfähigkeit und Eitelkeit krankenden
Finanzelite, hatte der Staat die Verluste zu tragen, nicht die
Verantwortlichen. Dasselbe Bubenstück versuchten die Regierenden
jetzt mit der Umweltmisere. Die Schmelze des Grönland eises
kam der Regierung wahrscheinlich nicht ungelegen, um
von den wirtschaftlichen Problemen im eigenen Land ablenken
zu können. Ob die eigenen Bürger inzwischen in Zelten und
Notbehelfen hausten, war der Regierung offenbar gleich. Der
Störung der Pressekonferenz gehörte zum Glück einer anderen
Kategorie an: Ein Ministeriumssprecher sprach von einem »ordi nären
Wasserrohrbruch im dritten Obergeschoss«, der Haupthahn
sei abgedreht worden, die Monteure schon unterwegs.
Kein Grund zur Beunruhigung, alles unter Kontrolle.
Der Wasserfall vor dem Pult versiegte tatsächlich allmählich.
Zwar tröpfelte es noch hier und da vor sich hin, doch die Journalisten
hatten sich von ihrem anfänglichen Schrecken wieder
erholt.
»Sie haben Glück gehabt, Gnädigste.«
»Bitte?« Als Jenna den Kopf drehte, sah sie ein halbes Gesicht,
die andere Hälfte war von einem Kameragehäuse verdeckt. Es
war etwas Merkwürdiges an diesem Gesicht, und es lief auf die
Frage hinaus, welcher Blick kälter war, der des Kameraobjektivs
oder der seines starren hellgrünen Glubschauges. Der kahl
rasierte, von Pigmentflecken gesprenkelte Schädel kontrastierte
scharf mit dem weißen Knopf in der Ohrmuschel und einem
gleichfarbigen Spiralkabel, das unter einem Seidenchoker verschwand.
»Sie sind nicht nass geworden. Erstaunlich. Als ob Sie es
gewusst hätten.«
»Hören Sie auf mich zu filmen!«
»He, für wen halten Sie sich - Erin Brockovich?«
»Fast richtig getippt.«
Jennifer Resch - kurz Jenna genannt - fuhr mit einer raschen
Bewegung durch ihr blondes, kurz geschnittenes Haar. Es wirkte
stachlig wie Johnny Rottens legendäre Punkrock-Frisur, doch
passte zu ihrem Gesicht, das sich dem Kameramann in diesem
Moment im Profil darbot: Das Objektiv erfasste eine vorwitzige
Stupsnase über einem schön geschwungenen Mund, aus dessen
Winkeln sich gelegentlich ein spöttisches Grinsen wurmte.
Schwere Kajal-Schwalbenschwänze zierten die runden Augen,
deren Farbe der Chip nicht deutlich erkennen konnte. Sie schienen
grau, dunkelgrau, doch war es gut möglich, dass sie von der
seltenen Sorte Blau waren, das in der Sonne wie Azur aufleuchtete.
Die Piercings in ihrem Gesicht waren ebenso echt wie der
Camouflage-Regenmantel von Dolce&Gabbana.
»Sind Sie ... wie sagt man - so eine von diesen Gruftie-
Schnecken?«
»Wieso?«
»Na ja, ich komme aus Leipzig, ich kenne die Gothenszene ganz
gut. Jedes Jahr gibt es da dieses Treffen. Die Stadt wimmelt dann
von Typen, die aussehen, als wollten sie zum Dracula-Ball ...«
»Sagen Sie - wollen Sie etwas von mir?«
»Nun, weil Sie so freundlich fragen: Ich möchte gerne Ihre
Einladung sehen.« Der Sicherheitsmann nahm das Auge kurz
vom Sucher. »Falls Sie keine haben, tut's auch ein Presseausweis.«
»Dürfen Sie das überhaupt?« Sie griff in ihre Manteltasche,
suchte den Brief des Ministeriums.
»Wir dürfen alles, das wissen Sie doch.«
»Oh, ist es schon wieder so weit?« Jenna faltete den Brief auseinander
und überreichte ihn dem Quälgeist mit einem ironischen
Augenaufschlag.
»Alfred-Wegener-Institut, Polarforschung. Ist der auch echt?«
Sie konnte sehen, wie seine Finger das Prägesiegel befühlten.
»In Ordnung.« Etwas umständlich schaltete er die Kamera aus.
»Tut mir leid, aber wir müssen jede verdächtige Person überprüfen.«
»Und ich bin Ihnen verdächtig?«
»Um ehrlich zu sein, in Ihrem Army-Mantel sehen Sie aus, als
hätten Sie vor, die Versammlung im Alleingang zu sprengen.«
Jenna nickte verächtlich, doch es war nur, um ihre Nervosität
zu unterdrücken: Unter dem Mantel verbargen sich zwei eingerollte
Transparente mit höchst subversiven Texten.
»Das Wasser war schneller«, meinte sie keck.
»Oh, das ist es immer.« Der Mann gab ihr das Schreiben
zurück.
»Dann entschuldigen Sie vielmals die Störung.«
»Wieso entschuldigen Sie sich? Sie dürfen doch alles.«
Der Mann drehte sich noch einmal um und richtete eine aus
Daumen und Zeigefinger geformte Pistole auf sie: Gotcha, Baby.
Es sollte wohl heißen, er würde sie im Auge behalten.
Das Ministerium erwies sich als flexibel. In Windeseile wurden
sogenannte »Diplomatenschirme« mit aufgedrucktem Bundesadler
verteilt. Nett frisierte Damen reichten heiße Getränke,
Snacks und Handtücher. Elektrogeräte wurden mit Zellstoff tüchern
getrocknet, durchnässte Sitze mit Plastikfolien provisorisch
wieder benutzbar gemacht. Die Riege der Umweltpopulisten
und Vergolder des Klimawandels, die sich gerne selbst als
Experten auswiesen, kehrten aufs Podium zurück, setzten ritterliche
Mienen auf oder erfreuten die Journalisten in der ersten
Reihe mit Schwänken aus ihrem ach-so-bewegten Leben.
»Alles halb so schlimm, meine Damen und Herren. In Bagdad
saß ich mal in einer Konferenz, da rauschte eine Cruise Missile
direkt über uns rein ...«
Später hieß es dann hinter vorgehaltener Hand, eine Gruppe
militanter Öko-Aktivisten habe mit einer gestohlenen Rohr reinigungsmaschine
verschiedene Wasserleitungen angefräst, um
der anwesenden Journaille einen Denkzettel beziehungsweise
Vorgeschmack des Klimawandels zu verpassen. Ein Teil der
Saboteure war beim Verteilen von Handzetteln verhaftet worden,
andere befanden sich noch immer auf freiem Fuß.
»Was für ein Auftakt!« Als Kathrin auftauchte, sah sie aus, als
hätte sie in ihren Klamotten geduscht. Eingekeilt von zwei
schwergewichtigen Korrespondenten, hatte sie nicht schnell genug
aufspringen können. Ihre blau gefärbten, zu einer Trauerweidenfrisur
geflochtenen Zöpfe trieften ihr auf die Bluse, einer
ehemals weißen Bluse, die sie sich von Mutti geliehen hatte,
um auf der Konferenz einen guten Eindruck zu machen. »Und
alles nur, weil ein paar Idioten auf sich aufmerksam machen wollen
...« Mit ihren großen Augen und dem viel zu dunklen Lippenstift,
der ihrem Mund einen bösen Zug verlieh, hatte sie
Ähnlichkeiten mit einer Cartoon-Göre.
»Halt den Rand, Kathrin, hier wimmelt es nur so von
Schnüfflern!«
»Oh, du meinst den, der uns gerade filmt?« Kathrin schniefte
erst eine obszöne Grimasse, dann klappte sie ihren Stinkefinger
aus.
Jenna runzelte die Stirn, hielt sich aber zurück. Noch vor Jahren
war sie nicht anders als Kathrin gewesen - dynamisch, spontan,
immer bereit, den Nackenschlägen des Lebens zu trotzen.
Doch inzwischen - nach einem traumatischen Erlebnis im malaysischen
Dschungel - hatte sie sich einen Panzer zugelegt. Er
war nicht sichtbar, nicht greifbar, aber sie wäre auch nicht in der
Lage gewesen ihn abzulegen. Vielleicht war sie erwachsen geworden.
In Kathrins Gegenwart, wenn sie ihre Empörung über
die Winkelzüge korrupter Politiker spürte, ging ihr auf, dass sie
schon lange nicht mehr zu der jungen, intellektuellen Erregnungsgemeinschaft
gehörte.
»Weiß man, wer es war?«
»Keine Ahnung«, sagte Jenna. »Irgendeine beknackte Chaotenfraktion!
Vermutlich dieselben Typen, die den letzten G8-Gipfel
zum Schlachtfeld gemacht haben.«
»Chaoten.« Kathrin warf einen verächtlichen Blick über die
Schulter. »Autonome, Randalierer, gestörte Weltverbesserer und
die übliche schwarz vermummte Zeckengemeinde. Hauptsache
Stunk - und nach uns die Sintflut!« Sie stampfte einmal auf den
durchweichten Teppichboden. »Die Polizei ist jedenfalls draußen
mit einer Hundertschaft aufgekreuzt. Es gibt an den Ausgängen
Personenkontrollen. Die passen auf wie die Schießhunde.«
»Dann sollten wir die Aktion besser abblasen, solange wir
noch können.« Jenna presste die eingerollten Transparente fest
unter ihrem Mantel zusammen. Auch Kathrin zählte zu einer
Gruppe von Aktivisten, denen es - nach langer Vorbereitung -
gelungen war, die Konferenz zu infiltrieren, um das abgekartete
Spiel - so nannten sie es in ihrer WG - aufzumischen. Beide
Frauen, hauptberuflich Studentinnen einer naturwissenschaft lichen
Fakultät, hatten viel riskiert. Falls sie auffliegen sollten,
hätte schon die Fälschung der Presseausweise ein gerichtliches
Nachspiel gehabt. Für die Einladungen hatte Kathrin angeblich
sogar mit einem netten, jungen PR-Berater des Ministers geschlafen.
Dass er so ausgesehen hatte wie Justin Timberlake,
wäre nur ein schwacher Trost, falls sie jetzt unverrichteter Dinge
abziehen würden.
»Was machen die anderen?«
»Tja, Jens und Theo haben schon aufgesteckt.«
»Wie - aufgesteckt?«
»Na ja, du weißt ja, wie die sind. Jens meinte, wir bräuchten
ihn nicht, um ein Transparent aufzurollen und es in eine der
Kameras zu halten. Und Theo wollte noch seine Mutter besuchen.
Sie hat heute Geburtstag. Fiel ihm anscheinend noch
rechtzeitig ein.«
Jenna nickt stumm, sie war von Öko-Aktivisten nichts anderes
gewohnt. Die meisten hielten es für eine hippe Freizeit beschäftigung,
sich für irgendeine gute Sache zu engagieren.
»Blutige Amateure. Und was ist mit Pia?«
»Pia sitzt am Ausgang. Die Wachleute haben ihr einen Stuhl
organisiert, damit sie bequemer demonstrieren kann. Einer hält
ihr sogar das Transparent. Sie hat, glaube ich, wieder eine Sehnenscheidenentzündung.«
»Schon gut«, seufzte Jenna, »das heißt, wir sind allein.«
»Das heißt es, Schwester! Aber tröste dich, du weißt ja: Sisters
are doing it for themselves.«
»Nicht mehr lange«, sagte Jenna. »Ich habe es satt.«
»Ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit. Der Bundesumweltminister!«
Die extra angeschleppten Scheinwerfer leuchteten auf, und in
ihrem grellen Licht schienen die letzten Tropfen auf den Regenschirmen
zu verdampfen. Hemdsärmelig und lässig pochte der
Minster einmal kurz an eines der Mikrofone, und der Stimmenwirrwarr
brach in sich zusammen.
»Ich will es kurz machen, meine Damen und Herren. Wir
stehen womöglich vor einer globalen Hochwasserkatastrophe,
die genau hier ihren Ursprung hat ...«
Hinter der fülligen Figur des Ministers tauchten mehrere
Satellitenbilder auf.
»In Grönland. Diese Aufnahmen belegen einen extrem rückläufigen
Meereisbedeckungsgrad und die wohl rasanteste Inlandeisschmelze
des Planeten. Sollte sich der Trend fortsetzen, müssen
wir hier in Europa in nur einem Jahr mit einem Anstieg des
Meeresspiegels um drei Meter rechnen. Sollte die gesamte Eisdecke
Grönlands verschwinden, werden noch mal vier Meter
dazukommen. Wir wissen noch nicht genau, wie die Folgen aussehen
werden, doch die Welt, wie wir sie heute kennen, wird es
dann nicht mehr geben.«
Es erhob sich augenblicklich ein Gemurmel im Raum. Auch
Jenna und Kathrin waren von dieser Mitteilung überrascht.
Grönlands Eisschmelze war ein allgemein bekanntes Faktum.
Ein fünfzigköpfiges Forschungsteam des Alfred-Wegener-Instituts
hatte im Jahr 2007 ermittelt, dass das Meereis um Grönland
herum nur noch halb so dick war wie im Jahr 2001. Zu diesem
Zeitpunkt verlor das Eis noch jährlich fünfzig Kubikkilometer
an Masse. Der Anstieg der Temperatur an den Polkappen reichte
nicht aus, diesen Schwund zu erklären, doch die Klimaskeptiker
hatten die Entdeckung heruntergespielt.
»Was wollen Sie damit sagen?«, rief jemand dazwischen. »Dass
ein Walross auf Grönland einen krachen lässt und hier wackelt
die Hütte?«
Auf dem pausbäckigen Gesicht des Ministers zeigte sich ein
verkniffener Mund. »Viel Land, sehr viel Land wird verschwinden.
« Er gab einem der Experten ein Zeichen. Neue Grafiken
tauchten auf, geografische, in denen die Konturen der Kontinente
merkwürdig zu schrumpfen begannen. »Sehen Sie, hier
und hier ... Diese Daten hat uns die NASA geschickt. Sollte das
gesamte grönländische Inlandeis abschmelzen, haben wir global
ein massives Problem. Am schlimmsten wird es die Küsten
Europas und Nordafrikas treffen.«
»Wie gesichert sind diese Daten?« Ein nervös zuckender
Kugelschreiber ging in die Luft.
»Sehr gesichert. Wir konnten sogar einen Ausgangspunkt der
Schmelze ermitteln.«
»Und - gibt es dafür eine Erklärung?«
Der Minister räusperte sich. »Wir haben für diese punktuelle
Schmelze keine Erklärung. Das Zentrum scheint im Nordosten
zu liegen, in der Nähe des Waltershausen-Gletschers, etwas unter
siebzig Grad nördlicher Breite. Dort gibt es nichts, rein gar
nichts, nur einen über dreitausend Meter dicken Eispanzer.«
»Und das finden Sie unerklärlich?« Ein Meteorologe zu seiner
Linken wedelte mit einem Haufen Papier. »In der ganzen Arktis
herrscht Tauwetter! Ein derartig geringes Eisvolumen hat es seit
achttausend Jahren nicht mehr gegeben.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Dass all unsere Klimamodelle versagt haben! Was sich in den
polaren Regionen abspielt, ist eine klimatische Mutation.«
»Eine Mutation?« Der Minister versuchte ein skeptisches
Lächeln.
Copyright © 2010 by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Dieses Werk wurde vermittelt durch die AVA International GmbH
Autoren- und Verlagsagentur, Herrsching
Printed in Germany 2010
Redaktion: Heiko Arntz
Umschlagabbildung: © Ruud Baan
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN: 978-3-453-43257-1
www.heyne.de
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Autoren-Porträt von Cord Hagen
Cord Hagen, geboren 1963, ist das Pseudonym eines bekannten deutschen Romanautors. Er hat neben Romanen auch Drehbücher, Hörspiele, Erzählungen und poetische Reportagen geschrieben. Cord Hagen lebt in Berlin und auf der Kanareninsel La Palma, auf der sein erster Öko-Thriller Der Schlund spielte. <br /><br />
Bibliographische Angaben
- Autor: Cord Hagen
- 2010, 510 Seiten, Maße: 11,8 x 18,9 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 3453432576
- ISBN-13: 9783453432574
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