Auf dem Weg zur deutschen Einheit
Auf demWeg zur deutschen Einheit von Helmut Schmidt
LESEPROBE
Ursachender Fehleinschätzung
Wer sichfragt, wie und warum es zu der leichtfertigen Unterschätzung derVereinigungsaufgaben durch die Regierung Kohl/Genscher und durch dasnachfolgende Gespann Kohl/Möllemann kommen konnte, der muß - wenn er denn fairund gerecht sein will - eine klare Feststellung vorwegschicken.
Noch tiefbis ins Jahr 1989 hinein, noch bis in den Herbst hat die Bundesregierung nichtwirklich mit der Möglichkeit zur Wiedervereinigung gerechnet. Sie hat dafürauch keine Pläne entwickelt. Es ist Kohls Verdienst, die gegen Ende jenesJahres und im Laufe des ersten Halbjahres 1990 sich eröffnende Chance erkanntund in mehreren Schritten genutzt zu haben: durch den Vertrag über dieWährungs-, Wirtschafts- und Sozialunion vom 18. Mai 1990, durch denEinigungsvertrag vom 31. August 1990 (Inkrafttreten am 3. Oktober) und durchden sogenannten Zwei-plus-Vier-Vertrag vom 12. September 1990 über die abschließendeRegelung in bezug auf Deutschland zwischen den beiden deutschen Staaten, denUSA, Großbritannien, Frankreich und der Sowjetunion.
Der zuletztgenannte Vertrag ist relativ kurz und augenscheinlich fehlerfrei. Dieerstgenannten beiden Verträge sind außerordentlich umfangreich, sie gehenvielfach ins Detail; da sie unter ungewöhnlichem Zeitdruck erarbeitet wurden,enthalten sie allein schon deshalb eine Reihe von fehlerhaften Bestimmungen.Die Eile des ganzen Verfahrens hat überdies eine sorgfältige Begleitung undBeratung durch Bundestag und Volkskammer unmöglich gemacht. Das Tempo war nurinsofern gerechtfertigt, als Bonn und Ost-Berlin davon ausgingen, daß ausaußenpolitischen Gründen Eile geboten war, weil sonst die Chance zur Verständigungmit der Sowjetunion wieder verlorengehen konnte. Immerhin ist ja Gorbatschownicht sehr lange danach aus seinem Amt an der Spitze der Sowjetunionausgeschieden, und die Sowjetunion hat sich in viele souveräne Staatenaufgelöst; da wäre ein Vertrag der beiden deutschen Staaten nicht mit nur vierausländischen Mächten, sondern mit sehr viel mehr internationalen Partnernnötig gewesen, und das wäre schwierig geworden.
Trotz derschwerwiegenden Fehler im Währungs- wie auch im Einigungsvertrag, von denenspäter in diesem Kapitel noch zu reden ist, war es im Grundsatzselbstverständlich richtig, die Einheit Deutschlands herbeizuführen und dieehemalige DDR nicht nur in das Währungsgebiet der D-Mark, sondern ebenso in denGemeinsamen Markt der Europäischen Gemeinschaft aufzunehmen. Dies lag imInteresse der Nation und entsprach den lange gehegten Wünschen der Deutschenauf beiden Seiten. Hier liegt ein bleibendes Verdienst des Bundeskanzlers Kohlund seiner damaligen Bundesregierung.
Mit der gleichen Klarheit darf man danach die Feststellunganfügen: Fast alles andere, was Kohl seit dem 3. Oktober 1990 zum Zwecke derVereinigung unternommen, entschieden oder auf den Weg gebracht hat, war teilsfalsch, teils fehlerhaft, teils zu zaghaft und teils zu spät. Die vierJahrzehnte lang voneinander getrennten und gegeneinander abgeschotteten Teileunseres Volkes wieder zusammenzufügen, die sich unter entgegengesetztenRegierungsformen, unter völlig verschiedenen Wirtschafts- und Sozialordnungen,Rechts- und Erziehungssystemen zwangsläufig in sehr verschiedene Richtungenentwickelt hatten, zwei Länder, von denen das eine knapp ein Drittel derProduktivität des anderen erreichte - dieser größten deutschen Herausforderung seit1945 ist Kohl nicht gewachsen gewesen. Ebensowenig sein Finanzminister Theo Waigelund seine Wirtschaftsminister Helmut Haussmann und Jürgen Möllemann. Diesozialdemokratische Opposition war an den Vertragsverhandlungen nicht beteiligtworden; sie hätte es deshalb sehr schwer gehabt - vielleicht wäre es ihr sogarunmöglich gewesen -, den Vereinigungsplänen der Bundesregierung ein eigenesumfassendes Konzept entgegenzusetzen und der Öffentlichkeit vorzulegen; siehat sich statt dessen auf Kritik und punktuelle Vorschläge beschränkt.
Deutschlandhatte die historisch einmalige Chance, in einer einzigen umfassenden,friedlichen Anstrengung zu einer demokratischen und selbstbewußten, zu einerhumanen, mit sich selbst solidarischen Gesellschaft und zugleich zu einerstolzen Nation zusammenzuwachsen. Einmalig, weil weder Bismarck dies gewollt nochdie Weimarer Republik es geschafft hat. Die Chance wurde nicht erkannt undnicht genutzt. Es ist denkbar - manche Verhärtungen sprechen dafür -, daß dieChance schon vertan ist.
Abervielleicht müssen wir noch keineswegs alles verlorengeben. Vielleicht könnenwir uns moralisch noch aufrichten und dem Rad der deutschen Geschichte in dieSpeichen greifen. Wer das tun will, wer als Politiker unserem Volk dazuverhelfen will, der muß sich Fritz Erlers Wort zur Richtschnur nehmen, vor einemVierteljahrhundert ausgesprochen: «Wir sind ein Volk, da trage jeder desanderen Last.» Er muß sich lösen von der Tagestaktik des politischenGeschäfts, von der Versuchung zu nichtssagenden kleinen Fernsehauftritten undPresseinterviews. Er muß sich mit Gleichgesinnten umgeben und mit Fachleuten,um zunächst drei Hauptfragen zu klären.
Dieselauten:
1. Worinliegen die Ursachen dafür, daß wir die Aufgabe bisher unterschätzt haben? Nurwenn man die Ursachen einer Krankheit erkennt, kann man sie kurieren.
2. WelcheFehler haben wir gemacht, welche Unterlassungen begangen? Was ist nochkorrigierbar?
3. Wasmüssen wir konkret tun? Was zuerst? Was an zweiter Stelle - und was später?
Erst wennein zur Korrektur entschlossener Politiker in Bonn und die ihm Gleichgesinntenglauben, auf diese Fragen die Antworten gefunden zu haben, wenn sie an derenRichtigkeit keinen Zweifel mehr haben, erst dann sollen sie vor das Volktreten, ihre Wahrheiten laut und hörbar aussprechen und die Menschen aufrufenund ermutigen, mitzumachen und sich einzureihen.
Eine derUrsachen der Fehleinschätzung lag in der offensichtlichen Unkenntnis der inBonn Handelnden über Zustand, Leistungsfähigkeit und Wettbewerbsfähigkeit derBetriebe in der alten DDR. Diese Unkenntnis ist schwer zu verstehen, denn westdeutschewirtschaftswissenschaftliche Institute haben seit vielen Jahren vieleUntersuchungen darüber veröffentlicht.
SpätestensAnfang Juli 1990, wenige Tage nach Einführung der D-Mark in der damals nochbestehenden DDR, ein Vierteljahr vor dem 3. Oktober, konnte jeder Laie in Bonnmiterleben, was mit dem volkstümlichen Symbolprodukt Trabant geschah: Jahrelanghatte ein DDR-Bürger einst darauf warten müssen, daß ihm sein Trabi geliefert wurde;jetzt aber konnte man für das gleiche Geld einen Kleinwagen von Opel oder VW,von Ford oder Fiat kaufen. Diese westlichen Autos waren eindeutig besser, und siewaren sofort lieferbar - dazu kam ein riesiges Angebot an gebrauchtenWestautos, die qualitativ besser waren als ein neuer Trabi, aber viel billiger.Schon nach wenigen Tagen wollte keiner mehr einen neuen Trabi kaufen, nachwenigen Wochen mußte deshalb die Produktion eingestellt werden; viele Menschenwurden deshalb arbeitslos. Das Schicksal des Trabi lieferte ein frühes Paradebeispielfür ein industrielles DDR-Produkt, das trotz des Fleißes und des Schweißes, dendie Ingenieure und die Arbeiter darauf verwandten, mangels Wettbewerbsfähigkeitauf dem Gemeinsamen Markt der EG nicht verkäuflich war. (...)
© 2005 byRowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
- Autor: Helmut Schmidt
- 2005, 1, 224 Seiten, Maße: 14,5 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Rowohlt, Hamburg
- ISBN-10: 3498063855
- ISBN-13: 9783498063856
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