Aus dem Sinn
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Aus dem Sinn von Emma Braslvsky
LESEPROBE
Erst einEnde
(Prolog)
»Ende derFahnenstange?«, heißt es in der Stadtzeitung, auf Seite zwei unten, weil dievierhundertzweiundsiebzig Jahre alte Domglocke wieder aus heiterem Himmel zumStillstand gekommen ist und seit Monaten nicht mehr läutet, weil die amtlichgewartete, schon siebenhundertneunundneunzig Jahre alte Domuhr seit gesternzerstört, da explodiert ist, und die ebenso alten, echt römischen, hauchdünnenGoldziffern verbogen und angesengt auf dem Bordstein liegen. Dass die Sieben nichtauffindbar ist, wird nur erwähnt und im Weiteren offengelassen.Schon den ganzen Tag sind Bürger auf der Suche nach ihr. Die KatholischeGemeinde hat auf das Fundstück eine hohe Geldbelohnung ausgesetzt. Dem Pfarrerstehen heute Morgen die Tränen in den Augen, als er es vor der Presse ein »Werkdes Teufels« nennt.
Na ja, sagtgrinsend nur dazu der frisch eingesetzte Oberbürgermeister Scheinpflug.
Darüberkann der Pfarrer bloß lachen, als er im Anschluss an die Pressekonferenzgegenüber einem Journalisten meint, dass das »ja wieder so typisch einfältig« sei!Gerade weil es die Sieben sei, könne es nur Satans Werk sein.
Die Bürgersind natürlich in Aufruhr. Man hört auf dem Domplatz, der Teufel sei hier!
Immer schonwar der Dom, erhobenen Hauptes über der Stadt, den Aufbegehrern, Reformatorenund Kritikern ein Dorn im Auge: sei es das Saufgelage der Läutemannschaft im 14.Jahrhundert, bei dem der Dachstuhl in Brand geraten war, oder der Amoklauf desZisterziensermönchs Dietrich Burghardt, der ein paar Jahrzehnte später aus Wutüber die Ketzerreden der Reformatoren die ganze Stadt anzündete, oder gar dieJahrhundert um Jahrhundert beharrlichen Neugüsse der verdammten Gloriosa-Glocke, die einigen Gießermeistern die Seele raubte.Seit Anbeginn hütet diese gut gemeinte, geweihte Domarchitektur einenHöllenzorn: den der Gläubigen und der Ungläubigen gleichermaßen.
Am Tag,wenn die Sonne freimütig auf die Dommauern schaut, kann man den Groll dortschlafen sehen, in dem Rötlichen, das sich eine Spur in die braunen Gemäuerzurückgezogen hat. Vorsicht, wenn sich ein grauer Himmel herabsenkt! Dannkriecht das Rot schon tags aus den Poren; und eine Windhose umtreibt die Mauernund dringt in die geöffneten Augen der anliegenden Häuser. Erst vorgestern, amfrühen Nachmittag, hat so ein Windstoß den Plastikkronleuchter der benachbartenGärtnerklause erfasst und von der Decke gefegt, obwohl der Mann am Tresen bloßkurz durchlüften wollte. Dass es hier am Dom merkwürdig zugeht, spürt man vorallem in der Nacht. Seit Jahren beschweren sich die Bürger, dieStadtbeleuchtung am Domplatz werde unzureichend gewartet. Hier stottern dieStraßenlichter wie erschrockene Kinder; sogar in der vorbeifahrenden Straßenbahnzucken die Neonröhren einige Male zusammen, vor Ehrfurcht vielleicht. Deramtliche Stromnetzwart ist ratlos, denn alle Versuche der Instandsetzung warenund sind für die Katz. Daher flackert das Straßenlicht schüchtern im Reigen umdie Domanlage. Wem das zu gruselig ist, der soll den Domplatz in der Nachtlieber meiden.
Neben denAbbildungen der zerstörten Domuhr und der schweigenden Gloriosazeigt die Zeitung das Bild eines jungen Mannes, der im Morgengrauen auf dem Bordsteinzwischen den Ziffern und Zeigern an den Straßenbahngleisen gefunden wurde. DiePolizei bitte hierbei um Hinweise. Seine Identität könne nicht festgestellt werden;er erinnere sich nicht an seinen Namen. Sie hätten ihn barfußin Hemd und Hose gefunden, ohne Papiere, mit einer falschen Brille, schreibensie. Der Mann habe glatte, braune Haare, blaue Augen, sei eins sechsundsiebziggroß, etwas untersetzt, habe am linken Fuß eine Verletzung, einen kleineneingetretenen Nagel. Wer kenne den Mann? Ob er in Verbindung mit derDomuhrexplosion und der verschwundenen Sieben stehe, sei noch nicht geklärt.
DerAbschnittsbevollmächtigte Genosse Karlheinz Krause erzählt einem Journalisten,während er die wenigen Büsche und Bäume um den Dom nach der römischen Siebendurchsucht, dass der Fuß des Mannes ordnungsgemäß medizinisch versorgt wordensei. Er habe anschließend eine Aussage gemacht, eigentlich nur gestammelt, waszu keinem Ergebnis geführt habe. Sie hätten ihn lang gestreckt vor sich hindämmernd auf dem Gehsteig gefunden. Mit offenen Augen soll er seinen Kopf vonder einen auf die andere Seite gedreht haben, als würde er »nein« sagen. Der ABVhabe ihn gefragt, wer er sei, woher er komme, wie er sich verletzt habe. Aberer sei nicht ansprechbar gewesen. Sein linker Arm habe verdreht und taub amKörper gelegen. Krause sei gleich seine ungewöhnliche Uhr aufgefallen, die im Dunkelngrünliches Licht abgebe und neben dem Sekundenzeiger noch Zehntelsekundenanzeige. Krause ist begeistert: So etwas Genaues habe er noch nicht gesehen.
An jederFußsohle soll er einen kleinen schwarzen Fleck gehabt haben. Überhaupt seienseine Gliedmaßen so gelblich verfärbt gewesen; er vermute, ihn habe ein Blitzgetroffen. Nachdem ihm der Nagel aus dem Fuß entfernt, die Wunde mit Jodversorgt worden sei, soll er zu sich gekommen sein. Der Mann habe plötzlich seineFüße gestreichelt, einmal an jeden »Ziepen« (Zeh) gegriffen, bis elf gezähltund aufgesehen. Die diensthabende Mannschaft seihilflos gewesen; immerhin habe es sich auch um einen Wahnsinnigen handeln können.Er sei ganz schön »flimmerant« (durcheinander) gewesen,flüstert Krause. Außerdem soll er stark nach Kaffee gerochen und nur wirresZeug geredet haben. Als er nach seinem Namen und seiner Adresse gefragt wordensei, habe er mehrmals gesummt. Krause sagt, es seien sieben Töne gewesen. Erversucht, sie nachzusingen: Hmm, hmmm,hmm, hm, hmm, hm, hmmm.
Leider einevollkommen unbekannte Melodie. Das klingt schrecklich, so gequetscht undschief. Krause sagt, der könne überhaupt nicht singen; ein Sänger sei dersicher nicht. Obwohl, fügt er lachend hinzu, schief sei ja englisch, undenglisch sei modern!
Er versuchtsich zu erinnern, was genau der Mann gesagt hat. Er habe andauernd gezählt,aber nur die unge- radenZahlen. Dazwischen nur beziehungslose Worte und Satzfetzen. Er soll gleich nacheinem Kaffee gefragt haben. »Siegstmal«, habe ereinige Male wiederholt. Und »Net nein sagen« und »Ich weck dich«. Einmal habeer »Mutter« gesagt und »Sapperlot« geschrien, gleichdanach »Vater« und dann »Miri« oder »Mili« oder soetwas. Und ständig gezählt und diese fürchterlich schräge Melodie! Dem müssevielleicht etwas zugestoßen sein!
Weil die diensthabende Mannschaft nicht schlau aus der Aussage desMannes geworden sei, habe man einen Spezialisten, einen Psychologen,hinzugezogen, vom Katholischen nebenan. Der habe gleich so einen Psychotest mitihm gemacht. Auf Wörter hin habe der Mann assoziieren müssen. Krause denktnach. Also, der Spezialist habe »Nacht« gesagt und der Mann sofort »Rabe«. Oder»Tag« und der Mann »Taube«. »Zu Hause«, »Tuschkau«.Wo das liege, wisse kein Schwein. Und auf »Mutter« habe der doch nur »Ä«geantwortet, also »Ä wie Ärfurt«, erklärt Krause. Bei»Vater« habe er »Füße« gesagt. Auf »Liebe« sei ihm nichts eingefallen; er habenur wieder gesummt. Das alles sei sehr seltsam. Krause schüttelt den Kopf.
Anschließendhabe der Psychologe die schwarzen Flecken an den Füßen untersucht und gesagt,dass alle Symptome auf einen schweren Gedächtnisverlust deuten würden, der durchElektroschockbehandlungen hervorgerufen worden sein könne, sagt Krause. Daraufwiesen auch die gelbliche Verfärbung und diese schwarzen Flecken hin. Aber wensolle er deswegen kontaktieren? Ein ABV sei ja auch nur ein ABV. Entweder seider Mann in »Behandlung« gewesen, oder dahinter stecke ein ganz anderes Ding.Krause stürzt sich ins Gebüsch, weil er glaubt, die Sieben gesehen zu haben.Enttäuscht, aber nicht entmutigt tritt er wieder heraus. Der Busch hat Äste undBlätter gelassen. Na, wie dem auch sei, der Psychologe habe es dennochgeschafft, ihn zum Geschehen zu befragen. Er habe ihn gefragt, was dennpassiert sei. Krause könne das natürlich nicht wortwörtlich wiederholen; es seija unzusammenhängend gewesen. Er erinnere sich aneinige Satzfetzen: »Rabe stottert Taube, Lampe oben, schön, schön. Autsch!Regen. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun, zehn, elf,zwölf.« Ungewöhnlich sei, dass diesmal auch diegeraden Zahlen dabei gewesen seien. Dann habe er noch mehr von diesem Wirrwarrerzählt, an das er, Krause, sich nicht mehr genau erinnere. Aber an eineserinnere er sich doch noch; er habe plötzlich »Huuuh«gesagt und dann »Sieben«. Deshalb glaube er auch, dass der Mann etwas mit derverschwundenen Ziffer zu tun habe; der wisse was.
Krause gibtallerdings auch zu, dass sie beim Durchsuchen nichts an dem Mann gefundenhaben, rein gar nichts. Er soll so ohne alles gewesen sein, wie er ohneErinnerungen sei. Der Psychologe sei skeptisch hinsichtlich der Frage, ob dasGedächtnis zurückkehren werde, sagt Krause. Es solle schon erstaunlich sein,dass er überhaupt antworten könne. Jedoch meine der Psychologe, dass erzumindest seine Kindheitserinnerungen wiedererlangen würde. Ungewöhnlich solldem Spezialisten der Mischmasch aus Dialekten vorgekommen sein. Mal habe er denlokalen, mal einen fremden, südlichen gesprochen. Das habe sich fastschizophren angehört, sagt Krause kopfschüttelnd. Jedoch könne der Psychologe Schizophrenieausschließen, denn diese Dialekte sollen mit seinen Erinnerungen verbundensein. Den südlichen habe er gesprochen, als er sich an seine Mutter erinnert hat.Und dabei sei ebenfalls nur wirres Zeug herausgekommen. Mit dem Dialekt sollenauch seine früheren Erinnerungen zusammenhängen. Aber sobald er nach derjüngsten Vergangenheit befragt worden sei, sei er zu »unserem« Dialektgewechselt. Sein Name sei ihm bei der Befragung leider nicht eingefallen. DerPsychologe habe den Schluss gezogen, der Mann sei nicht von hier. Um den Domherum sind etliche Annahmen zur Domuhrexplosion zu hören. Einer gibt sich alsPhysiker zu erkennen und tippt auf eine »kurzzeitige Raum-Zeit- Verschiebung«,die ja nicht ungewöhnlich sei. Die hätte »im Endeffekt« (der Physiker!) eine»enorme Zeitanhäufung « an einem »Punkt im Raum« zur Folge, die sich»zwangsläufig« entladen müsse. Explosionen kämen ja allemal und überall auf derWelt vor.
Daschüttelt der Pfarrer ängstlich den Kopf und flüstert ein Gebet, denn das könneer sich nur mit »Seiner« Anwesenheit erklären. Doch dazu wolle er lieber nichtsweiter sagen.
Die kleineStadt hält sich zunächst bedeckt in dieser Angelegenheit. Der staatlichgeprüfte Stadtuhraufseher Genosse Anton Becker sei doch bis gestern noch auf Dienstreisegewesen, verteidigt ihn die Stadtverwaltung. Aber als er am Morgen von demUnglück gehört habe, sei er schnurstracks zum Dom gekommen. Immer wieder habeer sekundenlang regungslos davorgestanden und nachoben gesehen. Den ganzen Tag habe er nur den Kopf geschüttelt und gejammert:Das gebe es doch nicht! Heijeijei! Nee! Das könnedoch nicht wahr sein! Er, Krause, habe auch bei ihm umgehend dieStandardbefragung durchgeführt. Becker habe gleich auf das Zeitungsfoto desunbekannten Mannes gewiesen, dass er den kenne und dass er ein alterKindheitsfreund von ihm aus Tuschkau sei. Er sollehier in Erfurt leben. Becker habe gesagt, dass er ein Mathematiker an derHochschule sei. Ein richtiger Zeitforscher! Er solle Krause blickt auf seinenNotizblock Eduard Meißerl heißen. Becker seiaufgebracht gewesen: Was dem denn passiert sei? Was der denn damit zu tun habe?Krause hätte das gern von ihm gehört; aber Becker habe nur mit den Schulterngezuckt, sagt Krause und seufzt. Das alles sei sehr rätselhaft. Da sei etwasfaul dran.
Bleibt alsonur der Verdacht, dass der verwirrte junge Mann, der vorläufig als Eduard Meißerl identifiziert worden ist, nicht ohne Grund ohneGedächtnis und ohne Papiere, ohne seine Brille und ohne Schuhe, dafür mit zweiDialekten neben der Domuhr gefunden wurde, inmitten der römischen Ziffern, ohnedass er etwas zum Verbleib der Sieben sagen kann und ohne dass gewiss ist, dasser überhaupt etwas damit zu tun hat. Überall in der Stadt hört man die Leutereden: Die Sache sei teuflisch! Bis die Sieben nicht wieder auftauche, würdensie keine Ruhe nicht finden können. Solange müsse die Stadt ohne Domuhrauskommen, meint Becker. Krause sagt, wenn man seine Erinnerungen nicht mehrhabe, sei man ein »armes Schwein«. Da bliebe einem doch »nüscht«mehr!
© ClaassenVerlag
Emma Braslavsky, geboren 1971 in Erfurt, lebt nach Zwischenstationen in Rom, Moskau, New York und Tel Aviv heute mit Mann und Tochter in Berlin. Sie studierte Russistik, Italianistik und Südostasienstudien in Berlin, Moskau und Ho-Chi-Minh-Stadt. Seit 1999 arbeitet sie als freie Autorin und Kuratorin in Berlin. Ihr erster Roman Aus dem Sinn wurde 2007 mit dem Uwe-Johnson-Förderpreis sowie mit dem Franz-Tumler-Debütpreis ausgezeichnet. Für die Arbeit an ihrem zweiten Roman Das Blaue vom Himmel über dem Atlantik erhielt sie das Grenzgänger-Stipendium der Robert-Bosch-Stiftung sowie ein Literaturstipendium der Stiftung Preußische Seehandlung.
- Autor: Emma Braslavsky
- 2007, 361 Seiten, Maße: 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: CLAASSEN VERLAG
- ISBN-10: 3546004191
- ISBN-13: 9783546004190
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