Ausnahme
Roman. Ausgezeichnet mit dem 'Goldenen Lorbeer'
Ausgezeichnet mit dem »Goldenen Lorbeer« für das beste dänische Buch des Jahres: ein Roman über die Psychologie des Bösen. Malene, Anne-Lise, Iben und Camilla arbeiten gemeinsam im Büro des dänischen Zentrums für Völkerrecht. Gegenseitig machen sie sich das...
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Buch
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Produktinformationen zu „Ausnahme “
Ausgezeichnet mit dem »Goldenen Lorbeer« für das beste dänische Buch des Jahres: ein Roman über die Psychologie des Bösen. Malene, Anne-Lise, Iben und Camilla arbeiten gemeinsam im Büro des dänischen Zentrums für Völkerrecht. Gegenseitig machen sie sich das Leben zur Hölle. Eines Tages erhält Iben per E-Mail eine Morddrohung. Kommt sie von einem serbischen Kriegsverbrecher, dessen Fall Iben einst bearbeitete? Oder von einer der »lieben« Kolleginnen...? »Genussvoll und gespenstisch, weil es so unbestechlich realistisch ist.« (Berlingske Tidende)
Lese-Probe zu „Ausnahme “
Christian JungersenAusnahme
Roman
"Haben die nichts anderes im Kopf, als sich gegenseitig umzubringen?" fragt Roberto. Normalerweise hätte er so etwas nie gesagt.
Der Geländewagen, auf dessen Ladepritsche die vier Mitarbeiter der Hilfsorganisation und die beiden Geiselnehmer sitzen, hält schon seit mindestens einer Stunde hier. Der Weg vor ihnen ist durch ausgebrannte Autowracks versperrt, doch eigentlich müßte es möglich sein, zurückzusetzen oder direkt zwischen den fragilen Hütten hindurchzufahren, die an beiden Seiten der Straße stehen.
"Ich meine, worauf warten wir? Wieso fahren wir nicht einfach mittendurch?"
Normalerweise ist Robertos Englisch perfekt. Zum ersten Mal ist ein Akzent zu hören, der ursprünglich einmal italienisch gewesen ist. Er atmet schwer, Schweiß läuft ihm über die Wange in einen der Mundwinkel.
Das Slumviertel hat die Farbe einer zertrampelten und völlig verdreckten Kuhweide. Der Schlamm unter dem Wagen ist von der Sonne fast zu Keramik gebrannt und durchzogen von tiefen Spuren, die sich in der letzten Regenzeit eingegraben haben. Auf die staubige Ebene haben die Nubier ein Gewirr von graubraunen Hütten aus Kuhmist gebaut, der über Skelette aus entlaubten Zweigen geschmiert ist.
Roberto, der hier unten Ibens unmittelbarer Vorgesetzter ist, sieht seine drei Mitgefangenen an.
"... oder wieso fahren die uns nicht wenigstens in den Schatten?!" Nach seinem Ausbruch hebt er mit einer langsamen Bewegung die Hand bis zum unteren Rand seiner Sonnenbrille.
Einer der Geiselnehmer läßt ein scharfgeschliffenes, halbmeterlanges Panga ein bißchen hin und her schaukeln. Er schaut nicht länger auf die Slumbewohner, sondern in einer Weise auf Roberto, die diesen den Arm mit der gleichen übertriebenen Langsamkeit sinken läßt, mit der er ihn erhoben hat.
Iben stöhnt, der Schweiß muß ihr wohl in die Ohren geflossen sein, sie hört ihre inneren Geräusche so laut wie einen anlaufenden Ventilator. An der Wand der nächstgelegenen
... mehr
Hütte aus Kuhdung türmt sich ein meterhoher Haufen aus verfaulten, mit menschlichen Exkrementen vermischten Gemüseabfällen. Das ist der Geruch der Slums, wie sie ihn kennt. Und hier ist er heftig.
"O glorious Name of Jesus, gracious Name. Name of love and power! Though your sins are forgiven, enemies are vanquished, the sick ..." leiert der jüngere ihrer Entführer vor sich hin.
Iben sieht zu ihm hoch. Er ist nicht wie die Kindersoldaten, über die sie in Kopenhagen geschrieben hat.
Er ist sichtlich unerfahren und kann dem Druck nicht standhalten. Die ganze Zeit war er von irgendeinem Stoff high, jetzt macht ihn die Angst verrückt. Er steht da, den Blick auf das ständig größer werdende und immer stärker bewaffnete Menschenmeer gerichtet, das den Wagen in einem gewissen Abstand umringt. Tränen laufen ihm die Wangen hinunter. Eine Hand preßt sich an die schartige schwarze Maschinenpistole, die andere reibt an dem Kreuz, das er unter seinem rot-blauen "I love Hong Kong"-T-Shirt um den Hals trägt.
Der Junge muß einer englischsprachigen Kirche angehören, denn er wechselt aus seiner Muttersprache und haspelt zusammengewürfelte englische Gebete und lange Bibelzitate in einem Tonfall herunter, als wäre es Latein.
"... Surely goodness and love will follow me all the days of my life. And I will dwell in the house of the Lord for length of days ..."
Daheim in Dänemark sind die Wohnungen noch genauso eingerichtet wie zuvor. Ibens Freundinnen tragen die gleichen Klamotten und reden über die gleichen Dinge. Und sie selbst ist längst zu ihrer normalen Arbeit zurückgekehrt. Kopenhagen ist so überraschend unverändert - abgesehen davon, daß es Herbst geworden ist.
Vor drei Monaten wurde Iben als Geisel genommen und in einer kleinen afrikanischen Hütte außerhalb von Nairobi gefangengehalten. Damals wußte sie nicht, ob sie je wieder nach Hause kommen würde. Daran erinnert sie sich. Sie erinnert sich an die Diarrhöe, die bewaffneten Wächter, die Wärme, die Angst. Und dann erinnert sie sich, daß dies ihre ganze Welt bedeutete.
Nun sagt ihr eine innere Stimme, daß das nicht wahr sein kann. Denn es bedeutet nichts. Die Erlebnisse in Kenia wollen einfach nicht zu dem ruhigen Leben passen, das sie hier führt. Es kann unmöglich sie gewesen sein, die dort mit der Maschinenpistole an der Schläfe auf dem Boden lag. Sie erinnert sich daran auf dieselbe Weise, mit der man sich an einen alten experimentellen Film erinnert, den man mal vor vielen Jahren bei einem nächtlichen Filmfestival gesehen hat.
Iben ist bei ihrer besten Freundin Malene. Sie wollen Freunde besuchen, mit denen sie vor ein paar Jahren im Studentenwohnheim auf dem gleichen Flur gewohnt haben.
Sie schlendert durch Malenes und Rasmus' Wohnzimmer und wartet darauf, daß Malene aus dem Schlafzimmer zurückkommt und etwas trägt, worin sie sich gefällt. Iben hat zwei große Mojitos gemixt und ihr Glas während der letzten Nummern auf der CD mit Fela Kutis Afrofunk ziemlich leergetrunken.
Malene flitzt ins Wohnzimmer und wieder hinaus, dann stellt sie sich vor den Spiegel und fragt:
"Wieso habe ich hier zu Hause eigentlich immer interessantere Sachen an, bevor wir zu einem Fest gehen, als auf dem Fest selbst?"
Sie schaut sich in dem schwarzen, teilweise durchsichtigen Kleid an, das eher für eine Silvesterfeier geeignet ist als für einen Freitagabend bei einer Freundin, die selbst nur in Pullovern herumläuft und gerade ihre Ausbildung als Biologin beendet hat.
"Weil wir zu so langweiligen Festen gehen", sagt Iben.
Malene ist bereits wieder auf dem Weg ins Schlafzimmer, um etwas weniger Auffälliges zu finden.
"Und du kannst davon ausgehen, daß es heute abend ziemlich langweilig wird... bei Sophie!" ruft Iben ihr nach.
Sie macht eine Pause, als hätte sie mit Sophies Namen alles gesagt, und hört, wie Malene im Schlafzimmer mit einer albernen Stimme wiederholt: "Ja - bei Sophie."
Iben nippt an ihrem Glas, während sie einmal mehr den Blick über die Buchrücken im Regal wandern läßt. Häufig geht sie zuerst zu den Büchern, wenn sie in eine neue Wohnung kommt. Bei Festen stellt sie sich vors Regal und überfliegt diskret den häuslichen Lesestoff, während sie beim Lesen der vielen Titel und Autorennamen auf den Rücken dem einleitenden Smalltalk der übrigen Gäste zuhört.
Malenes Buchrücken kennt sie, sie zieht eine dicke Sammlung anthropologischer Artikel heraus und wiegt sich damit zu einem langsameren Stück auf der CD. Sie hat genug getrunken, um ein glückliches, prickelndes Gefühl zu verspüren.
Während sie beinahe mit dem Buch tanzt, drückt sie das kalte Glas Rum mit dem Handgelenk an die Brust und liest, daß die Xingu-Indianer als Übergangsritual zum Erwachsenendasein Mädchen in kleine, dunkle Verschläge sperren, in denen sie bis zu drei Jahren liegen müssen. Wenn sie wieder ans Sonnenlicht kommen, sind sie dick, blaß und haben langes, strähniges Haar. Erst jetzt sind sie in den Augen des Stammes richtige Frauen.
Im Regal liegt das Video mit Ibens Fernsehauftritten, das Rasmus aufgenommen hat, als sie aus Kenia zurückkehrte. Sie arbeitet beim Dänischen Zentrum für Information über Völkermord, dem DZIV, und war an eine internationale Organisation abgestellt worden, die Aussöhnungsprozesse unterstützt und die Ursache und Entwicklung von Genoziden untersucht.
Iben nimmt einen Keks aus der Packung auf dem Sofatisch und legt das Video in den Rekorder, ohne die Musik leiser zu stellen.
Am Anfang steht sie mitten im Wohnzimmer und schaut in ihr eigenes Gesicht auf dem Fernsehschirm. Dann setzt sie sich auf das große Sofa von Malene und Rasmus.
Jedesmal, wenn sie das Video sieht, muß sie zwischendurch lachen. Es scheint eine kleine Iben-Marionette in den Nachrichtensendungen von TV 2 und Danmarks Radio zu sitzen, die so tut, als wäre sie ernst und klug. Als hätte sie damals von den Erlebnissen einer fremden Frau erzählt.
Aber dann kommen auch Bilder aus dem Slum, von der Ankunft der befreiten Geiseln in der amerikanischen Botschaft. Und von der Pressekonferenz dort.
Sie sieht sich diese Bilder genau an - jedesmal sind sie neu und fremd.
Malene kommt herein, mit einem schwachen Duft nach Parfum und einem dünnen, nougatfarbenen Kleid. Bei ihrer Figur stehen ihr Kleider gut, sie hat dickes rotbraunes Haar und immer eine leicht gebräunte Haut. Es ist nicht schwer, die Männer zu verstehen. Malene hat etwas Appetitliches. Wie ein großer, goldener, glatter Karamelbonbon.
Malene sieht sofort, was Iben eingelegt hat. Sie sagt nichts, berührt nur leicht ihre Schulter und setzt sich neben sie aufs Sofa.
Iben dreht die Musik leiser, damit sie hören kann, was Roberto dem Reporter in den Nachrichten erzählt:
"Iben sagte, während unserer Gefangenschaft sollten wir nicht aufhören, uns gegenseitig zu erzählen, was passiert ist. Wir sollten es immer und immer wiederholen, selbst wenn die Worte für uns schon fast keine Bedeutung mehr hätten ..."
Das Interview findet in der italienischen Botschaft in Nairobi statt. Nach ihrer Befreiung und der ärztlichen und psychologischen Behandlung hatte Roberto mehr Zeit gebraucht als die anderen, bevor er imstande war, nach Hause zu reisen. Bei dem Interview hat er ausnahmsweise seine Sonnenbrille abgenommen, er sieht schmal aus und lächelt: "Iben erklärte, eine Reihe von Untersuchungen hätten gezeigt, daß man so posttraumatischen Belastungsreaktionen am besten vorbeugt."
Sie schalten zurück ins Studio nach Kopenhagen, und Iben erklärt dem Moderator: "Entscheidend für die vorbeugende Behandlung von posttraumatischen Belastungsreaktionen ist, daß man so
schnell wie möglich sein Debriefing einleitet. Wir wußten ja nicht, ob wir monatelang eingesperrt bleiben würden, also mußten wir bereits während der Gefangenschaft einen Verlauf strukturieren, wie wir ..."
In Malenes Wohnzimmer stöhnt Iben laut auf und greift nach ihrem Drink.
"Ich wirke absolut unerträglich."
"Du bist überhaupt nicht unerträglich. Du weißt nur ein paar Dinge, von denen die meisten keine Ahnung haben."
"Aber genau das müssen die Journalisten immer wieder vorführen. Als ob ich so eine Art Psychologiefreak wäre. Als ob ich keine Gefühle hätte, nur weil ich nachdenke."
Malene gibt Iben einen liebevollen Klaps auf die Hand, als sie ihr Glas zurück auf den Tisch stellt. Sie lächelt.
"Vielleicht sind sie auch einfach nur fasziniert, weil du in dieser kleinen Hütte aus Kuhscheiße so effektiv warst, oder? Du bist eine Heldin. Du bist nur nicht daran gewöhnt. Wer weiß schon, was es heißt, ein Held zu sein?"
Iben weiß nicht, was sie sagen soll. Sie lachen, und Iben weist mit einem Nicken auf Malenes Kleid: "Du weißt, daß du das da nicht bei Sophie anziehen kannst?"
"Ja."
Die nächsten Beiträge auf dem Band sind Ibens Auftritte bei Guten Morgen Dänemark und Deadline.
Auf den Bildern sieht sie tatsächlich aus wie jemand, der sich überwiegend im Freien aufhält - was sie zu Hause nie getan hat. Iben hat helles, schulterlanges Haar; es ist kräftig, aber es hat überhaupt nicht dieses Spiel von warmen Nuancen, zu dem die Sonne Blondinen normalerweise verhilft. Erst in Afrika war das Licht intensiv genug, um Reflexe in ihrem Haar zu erzeugen. Sie will versuchen, einen Friseur zu finden, der es auch weiterhin so leuchten läßt.
Im Fernsehen hat sie auch eine tolle Hautfarbe, beinahe wie Malene. Nur kam nach dem Interview ihre gewohnte Blässe schnell wieder zurück und von Zeit zu Zeit auch die dunklen Ränder unter den Augen - ein großer blaßblauer Halbmond unter jedem Auge.
Die Ränder sind markanter, als sie es ihrer Ansicht nach vor dem dreißigsten Lebensjahr sein dürften. Sofort als sie nach Hause kam, hat sie sich wie Malene eine Rabattkarte für eines der vielen kleinen Solarien in Nørrebro gekauft. Sie wollte ihr Aussehen bewahren. Doch ihr wurde klar, daß sie nicht die richtige innere Einstellung hat, um sich in eine lärmende Maschine zu legen und zu schwitzen. Also wurde das Projekt nie verwirklicht.
Natürlich haben alle Journalisten das gleiche Schema, mit dieser Art von Geschichten umzugehen: Iben konnte sagen, was sie wollte, man würde dennoch redigieren und streichen, bis sie wieder ein idealistisches dänisches Mädchen war, das sich draußen in der großen, weiten Welt als Heldin gezeigt hatte.
Besonders hervorgehoben wurde, daß sie noch einmal zu den anderen Gefangenen auf der Wagenpritsche zurückgelaufen war, nachdem sie sich selbst schon vor den Geiselnehmern in Sicherheit gebracht hatte. Wie sie inmitten des Tumults die gewalttätigen Polizisten anbrüllte, damit sie die Seiten wechselten.
Dann zitierten die Zeitungen, wie die anderen Geiseln Iben als "die Starke in der Gruppe" beschrieben.
Eines der Opfer hatten die Kopenhagener Boulevardzeitungen zu Hause in den USA angerufen und zu einer Stellungnahme gedrängt: "Ich bin nicht sicher, ob es gut geendet hätte, wenn Iben nicht in der Gruppe gewesen wäre."
Nach einer Woche verschwand das Interesse der Medien. Ebenso schnell und unkontrolliert, wie es entstanden war. Die Gefangenschaft der Gruppe hatte nur vier Tage gedauert, so daß Iben als Geisel nie zu einer großen Berühmtheit wurde, und nun interessierten sich die Journalisten nicht mehr für sie.
Iben spürt, wie Malene ihr ins Gesicht zu schauen versucht, ob "da etwas ist".
"Es ist alles in Ordnung. Geh dich ruhig umziehen."
"Bist du sicher?" fragt Malene.
"Ja, ja."
Die Wohnung von Malene und Rasmus befindet sich in einer Übergangsphase: Auf den Rücklehnen von zwei billigen Ikea-Klappstühlen liegen noch immer indianische Decken aus dem Dritte-Welt-Laden. Auch die billigen polynesischen Figuren, die im Kiefernholzregal stehen, stammen aus der Zeit, als Malene internationale Entwicklung an der Universität von Roskilde studierte.
Ihr Examen bestand sie vor drei Jahren. Gleichzeitig wurde der Job als studentische Aushilfe am DZIV zu ihrem richtigen Beruf, und später half sie Iben, am Zentrum unterzukommen. Im gleichen Wohnzimmer stehen das neue teure italienische Sofa und zwei dänische Designer-Sessel aus den Sechzigern. Malene und Rasmus verdienen beide gut, sie können es sich leisten, die Wohnung nach und nach exklusiver einzurichten.
Von Rasmus' Geschmack merkt man allerdings noch nicht sehr viel. Nachdem er sein Filmwissenschaftsstudium beendet hatte, gab es keine Jobs, also arbeitet er bei Messen und Tagungen in ganz Europa und verkauft Hardware-Komponenten, die die Übertragungsgeschwindigkeit von Computern zu Lichtleiterkabeln erhöhen. Mehr als die Hälfte des Jahres verbringt er im Ausland, von ihm wird die Wohnung vor allem durch zwei Regale mit Filmbüchern und einem Riesenhaufen Krempel geprägt, der seit einem halben Jahr im Schlafzimmer liegt.
Das Telefon klingelt, und Iben weiß, daß sie einfach drangehen darf. Sie erkennt die Männerstimme in der Leitung, ihren dunklen jütländischen Tonfall hat sie im Radio in der außenpolitischen Sendung Orientierung gehört. Es ist Gunnar Hartvig Nielsen.
Iben ruft Malene, die in Jeans und einer Seidenbluse in unauffälliger Farbe zurückkommt. Es scheint sich um ihre endgültige Entscheidung in der Kleidungsfrage für den heutigen Abend zu handeln, denn sie hat Lidschatten aufgelegt, aber noch keinen Lippenstift.
Iben hört, wie Malene einen Vorschlag ablehnt, mit Gunnar am Abend essen zu gehen. Statt dessen lädt sie ihn zu Sophie ein. Als sie aufgelegt hat, wundert sich Iben.
"Hat er dazu Lust?"
"Na klar."
"Ja, aber was soll er denn da?"
"Ein paar Leute treffen, mich sehen, Spaß haben, wie wir anderen auch."
"Ja, natürlich."
Iben schaltet den Fernseher aus und geht mit Malene ins Badezimmer, wo diese ihr Make-up beendet.
Auf Gunnar Hartvig Nielsens Namen war Iben zum ersten Mal vor ein paar Jahren am Studienseminar gestoßen. Seine zahlreichen Artikel und Features über internationale Politik in der Information, die sie im Studentenwohnheim gemeinsam abonniert hatten, wurden sehr genau gelesen. Besonders seine Berichte aus Afrika wurden bewundert und in der gemeinsamen Küche diskutiert.
Und dann gab es noch seine eigene Geschichte, die man hin und wieder in Zeitungsportraits erzählt bekam. Wie Malene war er aus Mitteljütland in die Stadt gekommen - allerdings noch tiefer aus der Provinz. Seine Eltern waren Bauern, und nach dem Abitur hatte er als Neunzehnjähriger an einem Entwicklungsprojekt in Tansania teilgenommen, dort lernte er Suaheli, danach zog er dreieinhalb Jahre durch Afrika.
Zurück in Dänemark schrieb er Der Rhythmus des Überlebens, ein Buch über Afrika, das vor allem von jungen Rucksacktouristen und Menschen gelesen wurde, die sich für internationale Politik interessierten - besonders von den eher Linksgerichteten.
Im Alter von fünfundzwanzig Jahren war er bereits ein bekannter Journalist und Kommentator der Information. Seither hatte er mehrfach längere Zeit in afrikanischen Ländern gelebt. Er hatte versucht, ein Universitätsstudium zu absolvieren, während er für Information über Gipfeltreffen und Konferenzen in New York und Daressalam berichtete. Aber nach etwas über einem Jahr gab er es auf.
In den letzten Jahren von Ibens und Malenes Studium arbeitete er nicht mehr als fester Mitarbeiter für Zeitungen und verlor dadurch ein wenig von seinem Ruf als einer der führenden linken Journalisten des Landes.
Als Malene vor vier Jahren ihre Arbeit als studentische Aushilfe im DZIV antrat, konnte sie Iben erzählen, wohin er verschwunden war. Sie hatte ihn für einen Artikel über den ungeheuren und unbeachteten Völkermord im Sudan interviewt. Gunnar war jetzt Anfang Vierzig und arbeitete als Redakteur des vom Außenministerium herausgegebenen Magazins Entwicklung.
Er erzählte, daß er den Job als Redakteur bei der Abteilung für Auslandshilfe angenommen hatte, weil er nach seiner Scheidung ein Einkommen brauchte, mit dem er den Unterhalt seiner Kinder und eine Wohnung mit zwei Kinderzimmern bezahlen konnte. Jetzt schrieb er mindestens ebenso gute Artikel für Entwicklung, aber außerhalb eines Kreises von besonders Interessierten gab es nicht sehr viele, die davon erfuhren.
Iben studierte noch Literaturwissenschaft, und sie beneidete damals ihre Freundin, daß sie durch ihre Arbeit so viele interessante Männer kennenlernte und durch ihr Aussehen auch die Aufmerksamkeit eines großen Teils von ihnen erregte. Der Neid wurde nicht kleiner, als Malene eines Tages erzählte, daß Gunnar sie zum Essen eingeladen hatte.
Es wurden viele Abendessen. Malene und Gunnar zusammen allein in den Restaurants der ganzen Stadt. Aber nichts weiter. Malene liebte diese Einladungen. Gunnars stämmiger Körper, seine desillusionierte Haltung als Sozialist und besonders sein Alter reizten sie jedoch nicht. Ein paarmal beklagte sie sich bei Iben: Den Blick seiner großen bettelnden Hundeaugen fände sie bedrückend.
Iben hatte damals geantwortet: "Wenn er in dich verliebt ist und du nicht mit ihm ins Bett willst, dann ist es ja wohl auch nicht in Ordnung, sich zu einem Essen nach dem anderen einladen zu lassen?"
"Ja, aber uns geht's unheimlich gut zusammen. Er hat selbst gesagt, daß er nichts Sexuelles erwartet."
"Aber trotzdem soll er bezahlen?"
"Nein, das macht er doch nur, wenn er in der Stadt essen will und ich pleite bin. Ich würde doch auch für ihn bezahlen, wenn er es sich nicht leisten könnte."
Selbst als sich Malene in den attraktiven jungen Rasmus verliebte, hörten die Abendessen mit dem älteren Bewunderer nicht auf. Iben hörte, wie Malene erklärte: "Rasmus, da ist nichts Sexuelles. Er ist nur ein guter Freund." Allerdings bestand Rasmus darauf, daß sie ihren Teil der Rechnung künftig selbst zahlte, und das tat sie dann auch.
Während sie in der Küche noch ein paar Reste essen, reden Iben und Malene darüber, wen sie an diesem Abend treffen werden.
Im Flur stehen Marmeladengläser und leere Sprudel- und Weinflaschen, die zum Glascontainer gebracht werden müssen, daneben zieht sich Malene ein anderes Paar ihrer teuren orthopädischen Schuhe an, die sie wegen ihres Gelenkrheumatismus tragen muß. Sie trinken ihre Mojitos aus - und los geht's.
"O glorious Name of Jesus, gracious Name. Name of love and power! Though your sins are forgiven, enemies are vanquished, the sick ..." leiert der jüngere ihrer Entführer vor sich hin.
Iben sieht zu ihm hoch. Er ist nicht wie die Kindersoldaten, über die sie in Kopenhagen geschrieben hat.
Er ist sichtlich unerfahren und kann dem Druck nicht standhalten. Die ganze Zeit war er von irgendeinem Stoff high, jetzt macht ihn die Angst verrückt. Er steht da, den Blick auf das ständig größer werdende und immer stärker bewaffnete Menschenmeer gerichtet, das den Wagen in einem gewissen Abstand umringt. Tränen laufen ihm die Wangen hinunter. Eine Hand preßt sich an die schartige schwarze Maschinenpistole, die andere reibt an dem Kreuz, das er unter seinem rot-blauen "I love Hong Kong"-T-Shirt um den Hals trägt.
Der Junge muß einer englischsprachigen Kirche angehören, denn er wechselt aus seiner Muttersprache und haspelt zusammengewürfelte englische Gebete und lange Bibelzitate in einem Tonfall herunter, als wäre es Latein.
"... Surely goodness and love will follow me all the days of my life. And I will dwell in the house of the Lord for length of days ..."
Daheim in Dänemark sind die Wohnungen noch genauso eingerichtet wie zuvor. Ibens Freundinnen tragen die gleichen Klamotten und reden über die gleichen Dinge. Und sie selbst ist längst zu ihrer normalen Arbeit zurückgekehrt. Kopenhagen ist so überraschend unverändert - abgesehen davon, daß es Herbst geworden ist.
Vor drei Monaten wurde Iben als Geisel genommen und in einer kleinen afrikanischen Hütte außerhalb von Nairobi gefangengehalten. Damals wußte sie nicht, ob sie je wieder nach Hause kommen würde. Daran erinnert sie sich. Sie erinnert sich an die Diarrhöe, die bewaffneten Wächter, die Wärme, die Angst. Und dann erinnert sie sich, daß dies ihre ganze Welt bedeutete.
Nun sagt ihr eine innere Stimme, daß das nicht wahr sein kann. Denn es bedeutet nichts. Die Erlebnisse in Kenia wollen einfach nicht zu dem ruhigen Leben passen, das sie hier führt. Es kann unmöglich sie gewesen sein, die dort mit der Maschinenpistole an der Schläfe auf dem Boden lag. Sie erinnert sich daran auf dieselbe Weise, mit der man sich an einen alten experimentellen Film erinnert, den man mal vor vielen Jahren bei einem nächtlichen Filmfestival gesehen hat.
Iben ist bei ihrer besten Freundin Malene. Sie wollen Freunde besuchen, mit denen sie vor ein paar Jahren im Studentenwohnheim auf dem gleichen Flur gewohnt haben.
Sie schlendert durch Malenes und Rasmus' Wohnzimmer und wartet darauf, daß Malene aus dem Schlafzimmer zurückkommt und etwas trägt, worin sie sich gefällt. Iben hat zwei große Mojitos gemixt und ihr Glas während der letzten Nummern auf der CD mit Fela Kutis Afrofunk ziemlich leergetrunken.
Malene flitzt ins Wohnzimmer und wieder hinaus, dann stellt sie sich vor den Spiegel und fragt:
"Wieso habe ich hier zu Hause eigentlich immer interessantere Sachen an, bevor wir zu einem Fest gehen, als auf dem Fest selbst?"
Sie schaut sich in dem schwarzen, teilweise durchsichtigen Kleid an, das eher für eine Silvesterfeier geeignet ist als für einen Freitagabend bei einer Freundin, die selbst nur in Pullovern herumläuft und gerade ihre Ausbildung als Biologin beendet hat.
"Weil wir zu so langweiligen Festen gehen", sagt Iben.
Malene ist bereits wieder auf dem Weg ins Schlafzimmer, um etwas weniger Auffälliges zu finden.
"Und du kannst davon ausgehen, daß es heute abend ziemlich langweilig wird... bei Sophie!" ruft Iben ihr nach.
Sie macht eine Pause, als hätte sie mit Sophies Namen alles gesagt, und hört, wie Malene im Schlafzimmer mit einer albernen Stimme wiederholt: "Ja - bei Sophie."
Iben nippt an ihrem Glas, während sie einmal mehr den Blick über die Buchrücken im Regal wandern läßt. Häufig geht sie zuerst zu den Büchern, wenn sie in eine neue Wohnung kommt. Bei Festen stellt sie sich vors Regal und überfliegt diskret den häuslichen Lesestoff, während sie beim Lesen der vielen Titel und Autorennamen auf den Rücken dem einleitenden Smalltalk der übrigen Gäste zuhört.
Malenes Buchrücken kennt sie, sie zieht eine dicke Sammlung anthropologischer Artikel heraus und wiegt sich damit zu einem langsameren Stück auf der CD. Sie hat genug getrunken, um ein glückliches, prickelndes Gefühl zu verspüren.
Während sie beinahe mit dem Buch tanzt, drückt sie das kalte Glas Rum mit dem Handgelenk an die Brust und liest, daß die Xingu-Indianer als Übergangsritual zum Erwachsenendasein Mädchen in kleine, dunkle Verschläge sperren, in denen sie bis zu drei Jahren liegen müssen. Wenn sie wieder ans Sonnenlicht kommen, sind sie dick, blaß und haben langes, strähniges Haar. Erst jetzt sind sie in den Augen des Stammes richtige Frauen.
Im Regal liegt das Video mit Ibens Fernsehauftritten, das Rasmus aufgenommen hat, als sie aus Kenia zurückkehrte. Sie arbeitet beim Dänischen Zentrum für Information über Völkermord, dem DZIV, und war an eine internationale Organisation abgestellt worden, die Aussöhnungsprozesse unterstützt und die Ursache und Entwicklung von Genoziden untersucht.
Iben nimmt einen Keks aus der Packung auf dem Sofatisch und legt das Video in den Rekorder, ohne die Musik leiser zu stellen.
Am Anfang steht sie mitten im Wohnzimmer und schaut in ihr eigenes Gesicht auf dem Fernsehschirm. Dann setzt sie sich auf das große Sofa von Malene und Rasmus.
Jedesmal, wenn sie das Video sieht, muß sie zwischendurch lachen. Es scheint eine kleine Iben-Marionette in den Nachrichtensendungen von TV 2 und Danmarks Radio zu sitzen, die so tut, als wäre sie ernst und klug. Als hätte sie damals von den Erlebnissen einer fremden Frau erzählt.
Aber dann kommen auch Bilder aus dem Slum, von der Ankunft der befreiten Geiseln in der amerikanischen Botschaft. Und von der Pressekonferenz dort.
Sie sieht sich diese Bilder genau an - jedesmal sind sie neu und fremd.
Malene kommt herein, mit einem schwachen Duft nach Parfum und einem dünnen, nougatfarbenen Kleid. Bei ihrer Figur stehen ihr Kleider gut, sie hat dickes rotbraunes Haar und immer eine leicht gebräunte Haut. Es ist nicht schwer, die Männer zu verstehen. Malene hat etwas Appetitliches. Wie ein großer, goldener, glatter Karamelbonbon.
Malene sieht sofort, was Iben eingelegt hat. Sie sagt nichts, berührt nur leicht ihre Schulter und setzt sich neben sie aufs Sofa.
Iben dreht die Musik leiser, damit sie hören kann, was Roberto dem Reporter in den Nachrichten erzählt:
"Iben sagte, während unserer Gefangenschaft sollten wir nicht aufhören, uns gegenseitig zu erzählen, was passiert ist. Wir sollten es immer und immer wiederholen, selbst wenn die Worte für uns schon fast keine Bedeutung mehr hätten ..."
Das Interview findet in der italienischen Botschaft in Nairobi statt. Nach ihrer Befreiung und der ärztlichen und psychologischen Behandlung hatte Roberto mehr Zeit gebraucht als die anderen, bevor er imstande war, nach Hause zu reisen. Bei dem Interview hat er ausnahmsweise seine Sonnenbrille abgenommen, er sieht schmal aus und lächelt: "Iben erklärte, eine Reihe von Untersuchungen hätten gezeigt, daß man so posttraumatischen Belastungsreaktionen am besten vorbeugt."
Sie schalten zurück ins Studio nach Kopenhagen, und Iben erklärt dem Moderator: "Entscheidend für die vorbeugende Behandlung von posttraumatischen Belastungsreaktionen ist, daß man so
schnell wie möglich sein Debriefing einleitet. Wir wußten ja nicht, ob wir monatelang eingesperrt bleiben würden, also mußten wir bereits während der Gefangenschaft einen Verlauf strukturieren, wie wir ..."
In Malenes Wohnzimmer stöhnt Iben laut auf und greift nach ihrem Drink.
"Ich wirke absolut unerträglich."
"Du bist überhaupt nicht unerträglich. Du weißt nur ein paar Dinge, von denen die meisten keine Ahnung haben."
"Aber genau das müssen die Journalisten immer wieder vorführen. Als ob ich so eine Art Psychologiefreak wäre. Als ob ich keine Gefühle hätte, nur weil ich nachdenke."
Malene gibt Iben einen liebevollen Klaps auf die Hand, als sie ihr Glas zurück auf den Tisch stellt. Sie lächelt.
"Vielleicht sind sie auch einfach nur fasziniert, weil du in dieser kleinen Hütte aus Kuhscheiße so effektiv warst, oder? Du bist eine Heldin. Du bist nur nicht daran gewöhnt. Wer weiß schon, was es heißt, ein Held zu sein?"
Iben weiß nicht, was sie sagen soll. Sie lachen, und Iben weist mit einem Nicken auf Malenes Kleid: "Du weißt, daß du das da nicht bei Sophie anziehen kannst?"
"Ja."
Die nächsten Beiträge auf dem Band sind Ibens Auftritte bei Guten Morgen Dänemark und Deadline.
Auf den Bildern sieht sie tatsächlich aus wie jemand, der sich überwiegend im Freien aufhält - was sie zu Hause nie getan hat. Iben hat helles, schulterlanges Haar; es ist kräftig, aber es hat überhaupt nicht dieses Spiel von warmen Nuancen, zu dem die Sonne Blondinen normalerweise verhilft. Erst in Afrika war das Licht intensiv genug, um Reflexe in ihrem Haar zu erzeugen. Sie will versuchen, einen Friseur zu finden, der es auch weiterhin so leuchten läßt.
Im Fernsehen hat sie auch eine tolle Hautfarbe, beinahe wie Malene. Nur kam nach dem Interview ihre gewohnte Blässe schnell wieder zurück und von Zeit zu Zeit auch die dunklen Ränder unter den Augen - ein großer blaßblauer Halbmond unter jedem Auge.
Die Ränder sind markanter, als sie es ihrer Ansicht nach vor dem dreißigsten Lebensjahr sein dürften. Sofort als sie nach Hause kam, hat sie sich wie Malene eine Rabattkarte für eines der vielen kleinen Solarien in Nørrebro gekauft. Sie wollte ihr Aussehen bewahren. Doch ihr wurde klar, daß sie nicht die richtige innere Einstellung hat, um sich in eine lärmende Maschine zu legen und zu schwitzen. Also wurde das Projekt nie verwirklicht.
Natürlich haben alle Journalisten das gleiche Schema, mit dieser Art von Geschichten umzugehen: Iben konnte sagen, was sie wollte, man würde dennoch redigieren und streichen, bis sie wieder ein idealistisches dänisches Mädchen war, das sich draußen in der großen, weiten Welt als Heldin gezeigt hatte.
Besonders hervorgehoben wurde, daß sie noch einmal zu den anderen Gefangenen auf der Wagenpritsche zurückgelaufen war, nachdem sie sich selbst schon vor den Geiselnehmern in Sicherheit gebracht hatte. Wie sie inmitten des Tumults die gewalttätigen Polizisten anbrüllte, damit sie die Seiten wechselten.
Dann zitierten die Zeitungen, wie die anderen Geiseln Iben als "die Starke in der Gruppe" beschrieben.
Eines der Opfer hatten die Kopenhagener Boulevardzeitungen zu Hause in den USA angerufen und zu einer Stellungnahme gedrängt: "Ich bin nicht sicher, ob es gut geendet hätte, wenn Iben nicht in der Gruppe gewesen wäre."
Nach einer Woche verschwand das Interesse der Medien. Ebenso schnell und unkontrolliert, wie es entstanden war. Die Gefangenschaft der Gruppe hatte nur vier Tage gedauert, so daß Iben als Geisel nie zu einer großen Berühmtheit wurde, und nun interessierten sich die Journalisten nicht mehr für sie.
Iben spürt, wie Malene ihr ins Gesicht zu schauen versucht, ob "da etwas ist".
"Es ist alles in Ordnung. Geh dich ruhig umziehen."
"Bist du sicher?" fragt Malene.
"Ja, ja."
Die Wohnung von Malene und Rasmus befindet sich in einer Übergangsphase: Auf den Rücklehnen von zwei billigen Ikea-Klappstühlen liegen noch immer indianische Decken aus dem Dritte-Welt-Laden. Auch die billigen polynesischen Figuren, die im Kiefernholzregal stehen, stammen aus der Zeit, als Malene internationale Entwicklung an der Universität von Roskilde studierte.
Ihr Examen bestand sie vor drei Jahren. Gleichzeitig wurde der Job als studentische Aushilfe am DZIV zu ihrem richtigen Beruf, und später half sie Iben, am Zentrum unterzukommen. Im gleichen Wohnzimmer stehen das neue teure italienische Sofa und zwei dänische Designer-Sessel aus den Sechzigern. Malene und Rasmus verdienen beide gut, sie können es sich leisten, die Wohnung nach und nach exklusiver einzurichten.
Von Rasmus' Geschmack merkt man allerdings noch nicht sehr viel. Nachdem er sein Filmwissenschaftsstudium beendet hatte, gab es keine Jobs, also arbeitet er bei Messen und Tagungen in ganz Europa und verkauft Hardware-Komponenten, die die Übertragungsgeschwindigkeit von Computern zu Lichtleiterkabeln erhöhen. Mehr als die Hälfte des Jahres verbringt er im Ausland, von ihm wird die Wohnung vor allem durch zwei Regale mit Filmbüchern und einem Riesenhaufen Krempel geprägt, der seit einem halben Jahr im Schlafzimmer liegt.
Das Telefon klingelt, und Iben weiß, daß sie einfach drangehen darf. Sie erkennt die Männerstimme in der Leitung, ihren dunklen jütländischen Tonfall hat sie im Radio in der außenpolitischen Sendung Orientierung gehört. Es ist Gunnar Hartvig Nielsen.
Iben ruft Malene, die in Jeans und einer Seidenbluse in unauffälliger Farbe zurückkommt. Es scheint sich um ihre endgültige Entscheidung in der Kleidungsfrage für den heutigen Abend zu handeln, denn sie hat Lidschatten aufgelegt, aber noch keinen Lippenstift.
Iben hört, wie Malene einen Vorschlag ablehnt, mit Gunnar am Abend essen zu gehen. Statt dessen lädt sie ihn zu Sophie ein. Als sie aufgelegt hat, wundert sich Iben.
"Hat er dazu Lust?"
"Na klar."
"Ja, aber was soll er denn da?"
"Ein paar Leute treffen, mich sehen, Spaß haben, wie wir anderen auch."
"Ja, natürlich."
Iben schaltet den Fernseher aus und geht mit Malene ins Badezimmer, wo diese ihr Make-up beendet.
Auf Gunnar Hartvig Nielsens Namen war Iben zum ersten Mal vor ein paar Jahren am Studienseminar gestoßen. Seine zahlreichen Artikel und Features über internationale Politik in der Information, die sie im Studentenwohnheim gemeinsam abonniert hatten, wurden sehr genau gelesen. Besonders seine Berichte aus Afrika wurden bewundert und in der gemeinsamen Küche diskutiert.
Und dann gab es noch seine eigene Geschichte, die man hin und wieder in Zeitungsportraits erzählt bekam. Wie Malene war er aus Mitteljütland in die Stadt gekommen - allerdings noch tiefer aus der Provinz. Seine Eltern waren Bauern, und nach dem Abitur hatte er als Neunzehnjähriger an einem Entwicklungsprojekt in Tansania teilgenommen, dort lernte er Suaheli, danach zog er dreieinhalb Jahre durch Afrika.
Zurück in Dänemark schrieb er Der Rhythmus des Überlebens, ein Buch über Afrika, das vor allem von jungen Rucksacktouristen und Menschen gelesen wurde, die sich für internationale Politik interessierten - besonders von den eher Linksgerichteten.
Im Alter von fünfundzwanzig Jahren war er bereits ein bekannter Journalist und Kommentator der Information. Seither hatte er mehrfach längere Zeit in afrikanischen Ländern gelebt. Er hatte versucht, ein Universitätsstudium zu absolvieren, während er für Information über Gipfeltreffen und Konferenzen in New York und Daressalam berichtete. Aber nach etwas über einem Jahr gab er es auf.
In den letzten Jahren von Ibens und Malenes Studium arbeitete er nicht mehr als fester Mitarbeiter für Zeitungen und verlor dadurch ein wenig von seinem Ruf als einer der führenden linken Journalisten des Landes.
Als Malene vor vier Jahren ihre Arbeit als studentische Aushilfe im DZIV antrat, konnte sie Iben erzählen, wohin er verschwunden war. Sie hatte ihn für einen Artikel über den ungeheuren und unbeachteten Völkermord im Sudan interviewt. Gunnar war jetzt Anfang Vierzig und arbeitete als Redakteur des vom Außenministerium herausgegebenen Magazins Entwicklung.
Er erzählte, daß er den Job als Redakteur bei der Abteilung für Auslandshilfe angenommen hatte, weil er nach seiner Scheidung ein Einkommen brauchte, mit dem er den Unterhalt seiner Kinder und eine Wohnung mit zwei Kinderzimmern bezahlen konnte. Jetzt schrieb er mindestens ebenso gute Artikel für Entwicklung, aber außerhalb eines Kreises von besonders Interessierten gab es nicht sehr viele, die davon erfuhren.
Iben studierte noch Literaturwissenschaft, und sie beneidete damals ihre Freundin, daß sie durch ihre Arbeit so viele interessante Männer kennenlernte und durch ihr Aussehen auch die Aufmerksamkeit eines großen Teils von ihnen erregte. Der Neid wurde nicht kleiner, als Malene eines Tages erzählte, daß Gunnar sie zum Essen eingeladen hatte.
Es wurden viele Abendessen. Malene und Gunnar zusammen allein in den Restaurants der ganzen Stadt. Aber nichts weiter. Malene liebte diese Einladungen. Gunnars stämmiger Körper, seine desillusionierte Haltung als Sozialist und besonders sein Alter reizten sie jedoch nicht. Ein paarmal beklagte sie sich bei Iben: Den Blick seiner großen bettelnden Hundeaugen fände sie bedrückend.
Iben hatte damals geantwortet: "Wenn er in dich verliebt ist und du nicht mit ihm ins Bett willst, dann ist es ja wohl auch nicht in Ordnung, sich zu einem Essen nach dem anderen einladen zu lassen?"
"Ja, aber uns geht's unheimlich gut zusammen. Er hat selbst gesagt, daß er nichts Sexuelles erwartet."
"Aber trotzdem soll er bezahlen?"
"Nein, das macht er doch nur, wenn er in der Stadt essen will und ich pleite bin. Ich würde doch auch für ihn bezahlen, wenn er es sich nicht leisten könnte."
Selbst als sich Malene in den attraktiven jungen Rasmus verliebte, hörten die Abendessen mit dem älteren Bewunderer nicht auf. Iben hörte, wie Malene erklärte: "Rasmus, da ist nichts Sexuelles. Er ist nur ein guter Freund." Allerdings bestand Rasmus darauf, daß sie ihren Teil der Rechnung künftig selbst zahlte, und das tat sie dann auch.
Während sie in der Küche noch ein paar Reste essen, reden Iben und Malene darüber, wen sie an diesem Abend treffen werden.
Im Flur stehen Marmeladengläser und leere Sprudel- und Weinflaschen, die zum Glascontainer gebracht werden müssen, daneben zieht sich Malene ein anderes Paar ihrer teuren orthopädischen Schuhe an, die sie wegen ihres Gelenkrheumatismus tragen muß. Sie trinken ihre Mojitos aus - und los geht's.
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Autoren-Porträt von Christian Jungersen
Ulrich Sonnenberg, geb. 1955, arbeitete nach seiner Buchhändlerlehre mehrere Jahre in Kopenhagen und war bis Ende 2003 Verkaufsleiter der Verlage Suhrkamp und Insel in Frankfurt am Main. Seit Anfang 2004 lebt und arbeitet er als freier Übersetzer, Herausgeber und Publizist in Frankfurt am Main.
Bibliographische Angaben
- Autor: Christian Jungersen
- 2006, 666 Seiten, Maße: 13,9 x 21 cm, Geb. mit Su., Deutsch
- Verlag: Piper Taschenbuch
- ISBN-10: 3492047718
- ISBN-13: 9783492047715
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