Beim Leben meines Kindes
Roman. Deutsche Erstausgabe
Claires heile Welt gerät aus den Fugen als sie herausfindet, dass ihr Mann Julian seit Wochen Drohbriefe erhält. Julian ist Staatsanwalt und kurz davor, einem Mafiaboss den Prozess zu machen. Ein Unbekannter will dies verhindern und bedroht ihre Tochter.
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Beim Leben meines Kindes “
Claires heile Welt gerät aus den Fugen als sie herausfindet, dass ihr Mann Julian seit Wochen Drohbriefe erhält. Julian ist Staatsanwalt und kurz davor, einem Mafiaboss den Prozess zu machen. Ein Unbekannter will dies verhindern und bedroht ihre Tochter.
Klappentext zu „Beim Leben meines Kindes “
Was würdest du opfern, um deine Familie zu schützen?Claires Leben ist so, wie sie es sich immer erträumt hat. Mit ihrem Mann und der gemeinsamen Tochter lebt sie in der Hafenstadt Brighton. Julian und sie sind ein echtes Team, und Bea ihr ganzes Glück. Nichts, glaubt Claire, kann ihre heile Welt erschüttern.Doch dann stößt sie eines Tages zufällig auf E-Mails. Sie sind an Julian adressiert und die Botschaft ist eindeutig: Ihr Mann, der als Staatsanwalt arbeitet, soll eine wichtige Information preisgeben, sonst geschieht Bea etwas Schreckliches. Claire ist außer sich, dass Julian ihr nichts von der Erpressung erzählt hat. Dass er sich weiter vor ihr verschließt. Den Drohungen nicht nachgeben will. Und dann ist plötzlich Bea fort.
Lese-Probe zu „Beim Leben meines Kindes “
Beim Leben meines Kindes von Julie Corbin1. KAPITEL
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Es ist der 1. Juni, Beas vierter Geburtstag. Die Feier ist vorbei, und die anderen Mütter sind gekommen, um ihre Kinder abzuholen. Ich laufe zwischen Küche und Garten hin und her, reiche den Kindern Saft, ihren Müttern Tee oder Kaffee, schnappe Bruchstücke der Unterhaltung auf und trage selbst die eine oder andere Bemerkung bei, bevor ich wieder hineingehe. Meine Stiefmutter Wendy kehrt das zerknüllte Geschenkpapier und die Luftschlangen zusammen, die auf dem Küchenfußboden herumliegen, und stopft sie in den Mülleimer. Ich fange an, den Tisch abzuräumen: Teller mit halb aufgegessenen Würstchen und Sandwiches, dazu die Schüsselchen für den Nachtisch, Schokoladeneis und Mandarinengötterspeise. Die meisten sind sorgfältig leer gekratzt.
«Ich kann einfach nicht glauben, dass sie schon vier ist», sagt Wendy, die gerade Beas Glückwunschkarten auf der Anrichte drapiert. «Irgendwie kommt es mir so vor, als hätte sie erst gestern ihre ersten Schritte gemacht.»
«Ich weiß.» Ich sehe durch das große Fenster nach draußen, wo Bea und ein anderes Kind an meinem Mann Julian hängen - eins an jedem Arm. Er wirbelt sie im Kreis herum. Ich lege den Kopf gegen den Fensterrahmen und lächle. Im nächsten Moment muss ich laut lachen, als die beiden ihn zu Boden zerren und mit ihren kleinen, hartnäckigen Fäusten bearbeiten. Sie hören erst auf, als er so tut, als müsste er weinen. Bea hockt sich neben ihn, versucht ihn zu trösten und streichelt ihm über den Kopf, bis er plötzlich aufspringt und hinter ihr herjagt. Sie kreischt in einer Mischung aus Angst und Begeisterung. Als er sie fängt, wirft er sie in die Luft und kitzelt sie, bis ihr Gesicht knallrot wird.
«Wirklich schade, dass Lisa nicht hier sein kann», fährt Wendy fort und stellt sich neben mich. «Morgen bekommt sie die Ergebnisse der CT, oder?»
Ich nicke.
«Ach Claire, ich hoffe so sehr, dass der Befund gut ist.» Sie seufzt leise. «Es wäre so schön, wenn sie wieder gesund würde.»
Ihre Worte versetzen mir einen Stich. Die letzte Runde Chemotherapie hat meine Schwester geschwächt und vollkommen erschöpft. Von dem Menschen, der sie einmal war, ist kaum noch etwas zu erkennen. Wir alle beten, dass es das wert war.
«Wenn ich sie morgen besuche, zeige ich ihr die Fotos vom Kindergeburtstag», sage ich und lege Wendy den Arm um die Schultern. «Außerdem bringe ich ihr ein Stück von dem großartigen Geburtstagskuchen mit, den du gebacken hast.»
«Drück sie fest von mir», antwortet Wendy. Sie tritt beiseite, als meine Freundin Jem aus dem Garten hereinkommt, beladen mit achtlos beiseitegeworfenen Pullovern, einem Mini-Kricketspiel und zwei Frisbees.
«Julian verausgabt sich da draußen völlig», bemerkt Jem, als sie ihre Last auf dem Tisch ablädt. «Sie scheuchen ihn ganz schön durch die Gegend.»
«Es macht ihm Spaß.» Ich sehe auf meine Uhr. «In einer Stunde muss er nach Sofia aufbrechen. Schlafen kann er im Flugzeug.» «Warum fliegt er da eigentlich hin?», fragt Jem.
«Es hat mit dem Fall zu tun, an dem er gerade arbeitet. Er muss bei der bulgarischen Polizei ein paar Fakten überprüfen.»
«Er hat die Anklage im Fall Pawel Georgiew übernommen», sagt Wendy. «Von dem hast du bestimmt gehört, Jem. Es war in allen Zeitungen.»
«Ja, natürlich.» Jem blickt zu mir. «Mir war nicht klar, dass er für diesen Fall zuständig ist.»
«Eine wirklich schlimme Geschichte», erklärt Wendy mit gedämpfter Stimme. «Georgiew und die Männer, die für ihn arbeiten ...» Sie schüttelt den Kopf. «Schreckliche Dinge sind da passiert. Manchmal ist es schwer zu glauben, dass Menschen so böse sein können.»
«Und dabei ist noch nicht einmal die Hälfte bekannt», sage ich. «Die Zeitungen durften ja nicht alle Informationen veröffentlichen, weil das den Prozessverlauf beeinflussen könnte.» Unwillkürlich muss ich an ein paar der Dinge denken, die Julian mir erzählt hat und die ich unseren Freunden und der Familie lieber verschwiegen habe. Es ging dabei um junge Mädchen, die verschleppt und zum Sex gezwungen wurden, und um Männer, die man gefoltert und dann getötet hat, weil sie sich geweigert hatten, Schutzgeld zu bezahlen. Bei dem Gedanken überläuft mich ein Schauder. «Ich bin froh, wenn der Prozess vorbei ist und der Mann für immer hinter Gittern sitzt.»
Jem drückt mich kurz an sich. «Bestimmt möchtet ihr noch ein bisschen Zeit für euch haben, bevor Julian abreist.» Mit dem Kopf deutet sie in Richtung Garten. «Ich leite dann mal die Abschiedsrunde ein.»
Auf Jem ist Verlass. Kaum ist sie verschwunden, als auch schon eine Mutter nach der anderen mit ihrem Kind hereinkommt. Stimmen erfüllen den Flur. Schuhe und Pullover finden ihre Besitzer, alle verabschieden sich, und Bea verteilt die Gastgeschenke an ihre Freunde. Sie nimmt diese Aufgabe sehr ernst. Sorgsam schaut sie zuerst in jede Tüte hinein, bevor sie das Geschenk überreicht.
«Das hier ist für dich, Adam», erklärt sie. «Da ist die rote Wasserpistole drin.» Sie wirft mir einen Blick zu. «Adam findet Wasserpistolen toll.»
«Ja, Liebes.» Ich streiche ihr ein paar flaumige blonde Strähnen aus den Augen und unter den Haarreifen zurück. Bea trägt ein weißes Partykleidchen mit einem türkisfarbenen Band um die Taille. Es hat die gleiche Farbe wie ihre Augen.
«Ich bin jetzt vier.» Sie berührt die Ansteckbuttons an ihrer Brust. Auf jedem steht groß und unübersehbar die bedeutsame Zahl.
«Stimmt.» Ich drücke ihr einen Kuss auf die gerötete Wange. «Aber du wirst immer mein Baby bleiben.»
«Ich bin doch kein Baby mehr, Mummy!» Mit ernstem Blick schaut sie mich an. «Ich bin jetzt vier.»
«Na ja, für mich bleibst du trotzdem mein süßes kleines Baby.» Ich kitzle sie. «So ist das nun mal.»
Sie verzieht die Mundwinkel zu einem Lächeln, um gleich darauf das nächste Gastgeschenk zu überreichen. Der Tag war lang, und ich hätte eigentlich erwartet, dass sie um diese Zeit vollkommen überdreht ist. Doch obwohl sie heute im Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit steht, geht sie vollkommen souverän damit um. Plötzlich bin ich sehr stolz auf sie und muss sie noch einmal an mich drücken.
Unzählige Male öffnet und schließt sich die Haustür. Die Spätnachmittagssonne wärmt die schwarz-weißen Schachbrettfliesen des Eingangsbereichs. Fast alle Gäste sind schon gegangen, als ich Bea bei Wendy an der Tür zurücklasse, um einer der Mütter ein T-Shirt zum Wechseln herauszusuchen, weil ihre Tochter Jessica ihres mit Saft bekleckert hat. Wir unterhalten uns ein paar Minuten lang in Beas Zimmer über den Kindergarten und über die Baustellen, die im Moment überall aus dem Boden schießen. Als wir wieder hinunterkommen, hat Bea ihren Posten verlassen. Das letzte Gastgeschenk liegt auf dem Boden. Ohne mir etwas dabei zu denken, drücke ich Jessica die Tüte in die Hand und verabschiede mich von den beiden.
Als ich in die Küche komme, steht dort Julian und nimmt sich ein Glas aus dem Schrank.
«Na, das ist ja gut über die Bühne gegangen.» Ich schmiege mich von hinten an ihn. «Danke, dass du den Alleinunterhalter gespielt hast. Als der Clown nicht aufgetaucht ist, dachte ich schon, der Nachmittag wird eine Katastrophe.»
Er hält das Glas unter den Hahn und füllt es bis zum Rand mit kaltem Wasser. «Ohne Charlie hätte ich das nicht geschafft.»
«Du hast recht. Es ist toll, dass er zu Hause ist.» Ich blicke in den Garten, aber weder unser älterer Sohn Charlie noch seine Freundin sind zu sehen. Nur Wendy ist damit beschäftigt, Stühle zurechtzurücken und Bonbonpapiere vom Rasen aufzuheben. «Er ist so erwachsen geworden, seit er zur Uni geht.»
«Stimmt.» Julian trinkt einen großen Schluck Wasser und wischt sich den Mund mit dem Handrücken ab, bevor er leise stöhnend seinen Rücken dehnt. «Langsam werde ich zu alt für Kindergeburtstage.»
«Fünfzig ist das neue vierzig, habe ich gehört.»
«Erzähl das meinen Knien.» Er lässt sich auf einen Stuhl fallen und streift sich die Schuhe ab.
«Du hast überall Gras hängen.» Nachdem ich ihm ein paar Halme vom Rücken geklopft habe, lege ich ihm die Arme um den Hals und stütze die Ellbogen auf seine Schultern. Ganz nah an seinem Ohr flüstere ich: «Musst du wirklich heute nach Sofia fliegen?»
«Ja.» Er zieht mich auf seinen Schoß. «Morgen früh habe ich ein Meeting dort.»
«Es war so schön, dich mal an einem Wochentag zu Hause zu haben.» Ich schmiege mich an ihn. «Ich hoffe wirklich, du kannst den Prozess abschließen, bevor der Sommer vorbei ist. Wir könnten nach Dorset fahren, Lisa mitnehmen und alle zusammen Familienurlaub machen.»
Ich spüre, wie sich sein Körper leicht anspannt.
«Machen wir etwa keinen Urlaub?», frage ich.
Er antwortet mir nicht. Um seine Miene sehen zu können, setze ich mich auf. Seit beinahe fünfundzwanzig Jahren kenne ich dieses Gesicht nun schon, und noch immer wird mir sein Anblick nicht langweilig. Julian besitzt feine Züge, hohe Wangenknochen und eine gerade Nase. Der breite Mund wirkt wie geschaffen zum Lächeln. Mein Mann sieht mich aus mahagonibraunen Augen an, sein tiefschwarzes, lockiges Haar zeigt an den Schläfen einen ersten Anflug von Grau. Nicht zum ersten Mal denke ich, dass er für einen Anwalt einfach viel zu gut aussieht. Aber sein Blick verunsichert mich.
«Ist alles in Ordnung mit dir?», erkundige ich mich.
In diesem Moment schreckt uns das Telefon mit schrillem Klingeln auf. Ich greife zur Anrichte hinüber und nehme das Mobilteil von der Station.
«Hi, Mum. Ich bin's.»
«Jack!» Unwillkürlich muss ich lächeln, als ich die Stimme meines jüngeren Sohnes höre. «Beas Geburtstagsparty war toll. Sie hat sich sehr über dein Geschenk gefreut. Wie läuft es mit dem Lernen?» Jack ist auf dem Internat und steckt gerade mitten in den Vorbereitungen für die Prüfungen am Ende des Schuljahres. «Bist du bereit für die Klausuren?»
«Ich arbeite dran.»
Im Hintergrund ruft jemand seinen Namen.
«Ich will bloß Bea zum Geburtstag gratulieren.»
«Okay. Ich reiche dich an Dad weiter und gehe sie suchen.» Julian nimmt mir den Hörer ab, und ich laufe zur Treppe. «Bea!», rufe ich hinauf. «Jack ist am Telefon!»
Keine Antwort. Dabei würde sie um nichts in der Welt einen Anruf von Jack verpassen wollen. Obwohl sie und ihre Brüder zwölf beziehungsweise fünfzehn Jahre voneinander trennen, liebt Bea beide heiß und innig. Vermutlich lauscht sie gerade einer Hörspielkassette. Oder die Aufregung des Tages fordert nun doch ihren Tribut, und das Geburtstagskind ist irgendwo eingeschlafen.
Ich schaue kurz ins Wohnzimmer - leer - , um dann zu Beas Zimmer hinaufzugehen. Dabei rufe ich immer wieder ihren Namen. Ich öffne die Tür, aber hier ist sie auch nicht. Als Nächstes sehe ich im Schlafzimmer nach. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie sich über mein Make-up hermacht oder meine Schuhe anprobiert. Aber weder dort noch im angrenzenden Badezimmer finde ich eine Spur von ihr. Ich öffne sogar den Kleiderschrank - Fehlanzeige.
Im anderen Badezimmer läuft die Dusche, und ich höre Charlie leise singen. Unser Haus erstreckt sich über vier Stockwerke, und eilig laufe ich ganz nach oben, wo noch zwei ungenutzte Zimmer liegen. Allerdings rechne ich kaum damit, sie hier zu finden, und ich behalte recht. Beide Räume strahlen etwas Verlassenes aus.
«Jack ist am Telefon!», rufe ich laut, während ich die Treppe wieder hinuntersteige. «Bea, wenn du dich versteckst, musst du jetzt rauskommen.»
Ich gehe gleich ganz hinunter bis ins Souterrain, wo die Waschküche, Julians Arbeitszimmer und Jacks Zimmer liegen. Niemand. Die Waschküche geht auf den Garten hinaus, und von der Tür aus rufe ich Wendy zu: «Bea ist nicht bei dir, oder?»
«Nein. Zum letzten Mal habe ich sie im Wohnzimmer gesehen.»
Erneut laufe ich die Treppen hoch, aber ich bin schon fast in der Küche angekommen, als mir etwas einfällt und ich umdrehe. Meine Sandalen klappern ein hektisches Stakkato auf die Fliesen. Bea hat sich eine Höhle unter der Treppe eingerichtet, mit ihren Kuscheltieren und jeder Menge Kissen. Dort spielt sie oft oder liegt einfach nur da, den Daumen im Mund und einen abwesenden Ausdruck in den Augen. Hastig ziehe ich den Vorhang beiseite, der die Höhle versteckt. Bea ist nicht dort. Ich hole tief Luft, aber meine Kehle ist wie zugeschnürt. Bei all dem Kommen und Gehen heute kann es leicht passiert sein, dass Bea durch die Haustür hinausgeschlüpft ist. Vielleicht ist sie einem ihrer Freunde nachgelaufen. Aber warum sollte sie das tun? Viel wahrscheinlicher ist es, dass sie irgendwo im Haus spielt - irgendwo, wo ich noch nicht nachgesehen habe.
Ich kehre in die Küche zurück. «Ich kann sie nicht finden.» Im Grunde erwarte ich, dass Julian lächelt und mich an irgendeinen vollkommen naheliegenden Platz erinnert, an den ich bisher noch nicht gedacht habe.
Aber das tut er nicht. Für den Bruchteil einer Sekunde begegnet er meinem Blick. In der nächsten ist er bereits aufgesprungen - so hastig, dass ich gegen die Arbeitsplatte taumle. Er schlüpft wieder in die Schuhe und beendet das Telefongespräch kurz angebunden. «Ja, wir rufen zurück.» Damit legt er das Mobilteil auf den Tisch und sieht mich an. «Was meinst du damit: Du kannst sie nicht finden?»
«Ich habe nach ihr gerufen, aber sie antwortet nicht. Und ich glaube, ich habe überall gesucht.»
«Könnte sie mit einer der Mütter mitgegangen sein?»
«Nein, ausgeschlossen.» Ich schüttle den Kopf. «Niemand hätte sie mitgenommen, ohne vorher zu fragen. Sie muss irgendwo im Haus sein.»
Er geht an mir vorbei zur Treppe. «Bea!» Immer wieder ruft er ihren Namen. Nein, das ist schon kein Rufen mehr: Er brüllt.
«Julian!» Seine Lautstärke macht mich nervös. «Du erschreckst sie noch.»
Aber er hört nicht auf mich, sondern eilt nach oben, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. «Charlie!» Er hämmert an die Badezimmertür.
Ein verwirrt aussehender Charlie kommt heraus, ein Handtuch um die Hüften geschlungen. Mit einem zweiten rubbelt er sich das Haar trocken. «Was ist?»
«Hast du Bea gesehen?»
«Amy hat sie mit in den Park genommen. Hat sie euch das nicht gesagt?»
«Nein.»
«Dann ist das also des Rätsels Lösung.» Ich lasse die Schultern fallen, die ich vor Anspannung beinahe bis zu den Ohren hochgezogen habe. «Puh! Panik vorüber.»
Aber Julian wirkt keineswegs beruhigt. Er geht ins Schlafzimmer und sieht durchs Fenster. Wir wohnen in Brighton, in einer dieser halbmondförmigen Straßen mit weißen Stadthäusern. Im Innern des Bogens liegt in einem kleinen Park ein Spielplatz mit drei Schaukeln, einer Rutsche und einem stabilen hölzernen Klettergerüst. Ich folge Julians Blick und stelle sofort fest, dass Bea nicht dort ist. Abgesehen von Jem, die ihren Sohn Adam auf der Schaukel anschubst, ist der Park leer. Ohne mich anzusehen, läuft Julian die Treppe wieder hinunter. Ich folge ihm.
«Julian?»
Aber er hört mich nicht. Mit ein paar Schritten ist er zur Haustür hinaus und überquert die Straße. Im Gehen ruft er Jem zu: «Hast du Bea gesehen?»
Als sie den Kopf schüttelt, beginnt Julian, vor dem schmiedeeisernen Zaun auf und ab zu laufen. Ich versuche, ihn am Arm zu packen, doch er nimmt mich nicht einmal wahr. Anspannung spricht aus seiner Miene, und seine merkwürdig fahle Gesichtsfarbe steht im krassen Widerspruch zu seinem hastigen Atem und der Hitze der Nachmittagssonne. Aber das Schlimmste ist der Ausdruck von Panik in seinen Augen, während er den Blick von einem Ende der Straße zum anderen wandern lässt. Wieder strecke ich die Hand aus, um Julian am Arm zu packen, aber er nimmt mich immer noch nicht wahr. Seine gesamte Aufmerksamkeit konzentriert sich auf die Angst und das, was sie ausgelöst hat. Dieses Verhalten, das Julian überhaupt nicht ähnlich sieht, macht mich fassungslos. Ich fühle mich wie erstarrt. Es kommt mir vor, als wäre ich plötzlich in einer Parallelwelt aufgewacht, in der sich der Himmel unten befindet und die Erde oben. Schwere, erstickende Schwärze breitet sich in meinem Kopf aus. Dann zucken in wilder Folge Lichtblitze auf, die mich blenden. Verzweifelt halte ich mich am Zaun fest und versuche, Luft zu bekommen. In meinen Ohren hämmert der Puls wie verrückt gegen die Trommelfelle. Und dazwischen kann ich nur einen einzigen vernünftigen Gedanken fassen: Aus irgendeinem unerklärlichen Grund glaubt Julian, dass Bea in Gefahr schwebt.
Sobald ich wieder klar sehen kann, packe ich meinen Mann am Hemd und zwinge ihn, sich mir zuzuwenden. «Julian! Was ist los?» Als er mir endlich in die Augen sieht, lese ich in seinem Blick Angst. Unwillkürlich zucke ich zusammen und weiche einen Schritt zurück. «Was ist los mit dir? Warum reagierst du so?»
«Wo können sie nur sein?» Erneut sucht er die Straße ab.
«Das weiß ich nicht, aber ...» Ich hole tief Luft. «Du glaubst doch wohl nicht, dass Amy Bea etwas antun würde, oder?»
«Ich weiß es nicht, Claire.» Seine Miene, sein ganzer Körper kommen mir vor wie versteinert vor Anspannung. «Überleg doch mal - was wissen wir denn schon über dieses Mädchen?»
«Also ...» Ich denke kurz nach. «Sie studiert Biologie. Charlie und sie sind seit neun Monaten zusammen. Ihre Eltern haben früher in Manchester gewohnt, leben aber inzwischen auf Zypern. Sie ist ...»
«... im Großen und Ganzen ein unbeschriebenes Blatt für uns», ergänzt Julian. Er packt mich an den Schultern und schüttelt mich - nicht grob, aber es genügt, um den Druck in meinem schmerzenden Kopf zu verstärken. «Wohin könnte sie mit Bea gegangen sein?» «Zum Laden an der Ecke. Aber ...» Bevor ich den Satz zu Ende sprechen kann, ist Julian schon verschwunden. «Aber Bea geht dort normalerweise nur mit einem der Jungs hin», ergänze ich leise.
Eigentlich mag Bea Amy nämlich nicht besonders. Sie hat mir schon mehrmals gesagt, dass sie es viel besser findet, wenn Charlie allein nach Hause kommt. Auch ich kann nicht gerade behaupten, Amy in mein Herz geschlossen zu haben. Das liegt allerdings weniger daran, dass sie Charlies Aufmerksamkeit beansprucht, sondern eher an ihrem Verhalten. Sie benimmt sich ungehobelt und sagt geradeheraus, was sie denkt - auch über die Grenzen des Höflichen hinaus. Wie Charlie mir erzählt hat, ist genau das einer der Gründe dafür, dass er sich zu ihr hingezogen fühlt: weil sie Dinge unverblümt ausspricht; ganz anders als die meisten ihrer Altersgenossinnen, die das eine sagen und das andere meinen.
Ich verberge das Gesicht in den Händen, schließe die Augen und rufe mir Beas Gesicht ins Gedächtnis. Wenn sie in Gefahr wäre, wüsste ich es. Etwas anderes ist schlicht nicht vorstellbar. Sie ist mein Kind. Ich verbringe den größten Teil des Tages mit ihr und häufig auch noch die Nächte, wenn sie in unser Bett klettert. Obwohl die physische Nabelschnur schon lange durchtrennt ist, verbindet uns dennoch ein unsichtbares Band, das ebenso stark und voller Leben ist. Wenn es um Beas Wohlergehen geht, besitze ich einen sechsten Sinn. Ich weiß, was sie mag und was sie nicht mag. Ich ahne ihre Bedürfnisse voraus. Wieder sage ich mir, dass ich es bestimmt wüsste, wenn sie in Gefahr schwebte. Was auch immer hier passiert, es hat mehr mit dem zu tun, was in Julians Kopf vorgeht, als mit Amy.
Ich öffne die Augen und suche ebenfalls die Straße nach Amy und Bea ab. Aber alles, was ich sehe, sind ein paar Leute, die zielstrebig in Richtung Hauptstraße gehen.
«Was ist denn los, Mum?» Charlie kommt hinter mir die Treppe herunter. Inzwischen trägt er Shorts und Flipflops, und er macht eine beunruhigte Miene.
«Dad ... macht sich Sorgen.» Das ist so maßlos untertrieben, dass ich es kaum über die Lippen bringe. «Sie sind nicht im Park, und ...» Hilflos zucke ich die Achseln. «Weißt du, wo Amy Bea noch mit hingenommen haben könnte?»
«Keine Ahnung.» Er schüttelt den Kopf. «Aber die beiden kommen schon wieder. Was hat Dad denn in solche Panik versetzt?»
Ich folge Charlies Blick zum Ende der Straße. Dort kommt Julian gerade aus dem kleinen Laden und rennt auf uns zu. Und zwar schnell. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich ihn schon einmal so gehetzt gesehen habe, so ... getrieben.
...
Copyright © 2012 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Es ist der 1. Juni, Beas vierter Geburtstag. Die Feier ist vorbei, und die anderen Mütter sind gekommen, um ihre Kinder abzuholen. Ich laufe zwischen Küche und Garten hin und her, reiche den Kindern Saft, ihren Müttern Tee oder Kaffee, schnappe Bruchstücke der Unterhaltung auf und trage selbst die eine oder andere Bemerkung bei, bevor ich wieder hineingehe. Meine Stiefmutter Wendy kehrt das zerknüllte Geschenkpapier und die Luftschlangen zusammen, die auf dem Küchenfußboden herumliegen, und stopft sie in den Mülleimer. Ich fange an, den Tisch abzuräumen: Teller mit halb aufgegessenen Würstchen und Sandwiches, dazu die Schüsselchen für den Nachtisch, Schokoladeneis und Mandarinengötterspeise. Die meisten sind sorgfältig leer gekratzt.
«Ich kann einfach nicht glauben, dass sie schon vier ist», sagt Wendy, die gerade Beas Glückwunschkarten auf der Anrichte drapiert. «Irgendwie kommt es mir so vor, als hätte sie erst gestern ihre ersten Schritte gemacht.»
«Ich weiß.» Ich sehe durch das große Fenster nach draußen, wo Bea und ein anderes Kind an meinem Mann Julian hängen - eins an jedem Arm. Er wirbelt sie im Kreis herum. Ich lege den Kopf gegen den Fensterrahmen und lächle. Im nächsten Moment muss ich laut lachen, als die beiden ihn zu Boden zerren und mit ihren kleinen, hartnäckigen Fäusten bearbeiten. Sie hören erst auf, als er so tut, als müsste er weinen. Bea hockt sich neben ihn, versucht ihn zu trösten und streichelt ihm über den Kopf, bis er plötzlich aufspringt und hinter ihr herjagt. Sie kreischt in einer Mischung aus Angst und Begeisterung. Als er sie fängt, wirft er sie in die Luft und kitzelt sie, bis ihr Gesicht knallrot wird.
«Wirklich schade, dass Lisa nicht hier sein kann», fährt Wendy fort und stellt sich neben mich. «Morgen bekommt sie die Ergebnisse der CT, oder?»
Ich nicke.
«Ach Claire, ich hoffe so sehr, dass der Befund gut ist.» Sie seufzt leise. «Es wäre so schön, wenn sie wieder gesund würde.»
Ihre Worte versetzen mir einen Stich. Die letzte Runde Chemotherapie hat meine Schwester geschwächt und vollkommen erschöpft. Von dem Menschen, der sie einmal war, ist kaum noch etwas zu erkennen. Wir alle beten, dass es das wert war.
«Wenn ich sie morgen besuche, zeige ich ihr die Fotos vom Kindergeburtstag», sage ich und lege Wendy den Arm um die Schultern. «Außerdem bringe ich ihr ein Stück von dem großartigen Geburtstagskuchen mit, den du gebacken hast.»
«Drück sie fest von mir», antwortet Wendy. Sie tritt beiseite, als meine Freundin Jem aus dem Garten hereinkommt, beladen mit achtlos beiseitegeworfenen Pullovern, einem Mini-Kricketspiel und zwei Frisbees.
«Julian verausgabt sich da draußen völlig», bemerkt Jem, als sie ihre Last auf dem Tisch ablädt. «Sie scheuchen ihn ganz schön durch die Gegend.»
«Es macht ihm Spaß.» Ich sehe auf meine Uhr. «In einer Stunde muss er nach Sofia aufbrechen. Schlafen kann er im Flugzeug.» «Warum fliegt er da eigentlich hin?», fragt Jem.
«Es hat mit dem Fall zu tun, an dem er gerade arbeitet. Er muss bei der bulgarischen Polizei ein paar Fakten überprüfen.»
«Er hat die Anklage im Fall Pawel Georgiew übernommen», sagt Wendy. «Von dem hast du bestimmt gehört, Jem. Es war in allen Zeitungen.»
«Ja, natürlich.» Jem blickt zu mir. «Mir war nicht klar, dass er für diesen Fall zuständig ist.»
«Eine wirklich schlimme Geschichte», erklärt Wendy mit gedämpfter Stimme. «Georgiew und die Männer, die für ihn arbeiten ...» Sie schüttelt den Kopf. «Schreckliche Dinge sind da passiert. Manchmal ist es schwer zu glauben, dass Menschen so böse sein können.»
«Und dabei ist noch nicht einmal die Hälfte bekannt», sage ich. «Die Zeitungen durften ja nicht alle Informationen veröffentlichen, weil das den Prozessverlauf beeinflussen könnte.» Unwillkürlich muss ich an ein paar der Dinge denken, die Julian mir erzählt hat und die ich unseren Freunden und der Familie lieber verschwiegen habe. Es ging dabei um junge Mädchen, die verschleppt und zum Sex gezwungen wurden, und um Männer, die man gefoltert und dann getötet hat, weil sie sich geweigert hatten, Schutzgeld zu bezahlen. Bei dem Gedanken überläuft mich ein Schauder. «Ich bin froh, wenn der Prozess vorbei ist und der Mann für immer hinter Gittern sitzt.»
Jem drückt mich kurz an sich. «Bestimmt möchtet ihr noch ein bisschen Zeit für euch haben, bevor Julian abreist.» Mit dem Kopf deutet sie in Richtung Garten. «Ich leite dann mal die Abschiedsrunde ein.»
Auf Jem ist Verlass. Kaum ist sie verschwunden, als auch schon eine Mutter nach der anderen mit ihrem Kind hereinkommt. Stimmen erfüllen den Flur. Schuhe und Pullover finden ihre Besitzer, alle verabschieden sich, und Bea verteilt die Gastgeschenke an ihre Freunde. Sie nimmt diese Aufgabe sehr ernst. Sorgsam schaut sie zuerst in jede Tüte hinein, bevor sie das Geschenk überreicht.
«Das hier ist für dich, Adam», erklärt sie. «Da ist die rote Wasserpistole drin.» Sie wirft mir einen Blick zu. «Adam findet Wasserpistolen toll.»
«Ja, Liebes.» Ich streiche ihr ein paar flaumige blonde Strähnen aus den Augen und unter den Haarreifen zurück. Bea trägt ein weißes Partykleidchen mit einem türkisfarbenen Band um die Taille. Es hat die gleiche Farbe wie ihre Augen.
«Ich bin jetzt vier.» Sie berührt die Ansteckbuttons an ihrer Brust. Auf jedem steht groß und unübersehbar die bedeutsame Zahl.
«Stimmt.» Ich drücke ihr einen Kuss auf die gerötete Wange. «Aber du wirst immer mein Baby bleiben.»
«Ich bin doch kein Baby mehr, Mummy!» Mit ernstem Blick schaut sie mich an. «Ich bin jetzt vier.»
«Na ja, für mich bleibst du trotzdem mein süßes kleines Baby.» Ich kitzle sie. «So ist das nun mal.»
Sie verzieht die Mundwinkel zu einem Lächeln, um gleich darauf das nächste Gastgeschenk zu überreichen. Der Tag war lang, und ich hätte eigentlich erwartet, dass sie um diese Zeit vollkommen überdreht ist. Doch obwohl sie heute im Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit steht, geht sie vollkommen souverän damit um. Plötzlich bin ich sehr stolz auf sie und muss sie noch einmal an mich drücken.
Unzählige Male öffnet und schließt sich die Haustür. Die Spätnachmittagssonne wärmt die schwarz-weißen Schachbrettfliesen des Eingangsbereichs. Fast alle Gäste sind schon gegangen, als ich Bea bei Wendy an der Tür zurücklasse, um einer der Mütter ein T-Shirt zum Wechseln herauszusuchen, weil ihre Tochter Jessica ihres mit Saft bekleckert hat. Wir unterhalten uns ein paar Minuten lang in Beas Zimmer über den Kindergarten und über die Baustellen, die im Moment überall aus dem Boden schießen. Als wir wieder hinunterkommen, hat Bea ihren Posten verlassen. Das letzte Gastgeschenk liegt auf dem Boden. Ohne mir etwas dabei zu denken, drücke ich Jessica die Tüte in die Hand und verabschiede mich von den beiden.
Als ich in die Küche komme, steht dort Julian und nimmt sich ein Glas aus dem Schrank.
«Na, das ist ja gut über die Bühne gegangen.» Ich schmiege mich von hinten an ihn. «Danke, dass du den Alleinunterhalter gespielt hast. Als der Clown nicht aufgetaucht ist, dachte ich schon, der Nachmittag wird eine Katastrophe.»
Er hält das Glas unter den Hahn und füllt es bis zum Rand mit kaltem Wasser. «Ohne Charlie hätte ich das nicht geschafft.»
«Du hast recht. Es ist toll, dass er zu Hause ist.» Ich blicke in den Garten, aber weder unser älterer Sohn Charlie noch seine Freundin sind zu sehen. Nur Wendy ist damit beschäftigt, Stühle zurechtzurücken und Bonbonpapiere vom Rasen aufzuheben. «Er ist so erwachsen geworden, seit er zur Uni geht.»
«Stimmt.» Julian trinkt einen großen Schluck Wasser und wischt sich den Mund mit dem Handrücken ab, bevor er leise stöhnend seinen Rücken dehnt. «Langsam werde ich zu alt für Kindergeburtstage.»
«Fünfzig ist das neue vierzig, habe ich gehört.»
«Erzähl das meinen Knien.» Er lässt sich auf einen Stuhl fallen und streift sich die Schuhe ab.
«Du hast überall Gras hängen.» Nachdem ich ihm ein paar Halme vom Rücken geklopft habe, lege ich ihm die Arme um den Hals und stütze die Ellbogen auf seine Schultern. Ganz nah an seinem Ohr flüstere ich: «Musst du wirklich heute nach Sofia fliegen?»
«Ja.» Er zieht mich auf seinen Schoß. «Morgen früh habe ich ein Meeting dort.»
«Es war so schön, dich mal an einem Wochentag zu Hause zu haben.» Ich schmiege mich an ihn. «Ich hoffe wirklich, du kannst den Prozess abschließen, bevor der Sommer vorbei ist. Wir könnten nach Dorset fahren, Lisa mitnehmen und alle zusammen Familienurlaub machen.»
Ich spüre, wie sich sein Körper leicht anspannt.
«Machen wir etwa keinen Urlaub?», frage ich.
Er antwortet mir nicht. Um seine Miene sehen zu können, setze ich mich auf. Seit beinahe fünfundzwanzig Jahren kenne ich dieses Gesicht nun schon, und noch immer wird mir sein Anblick nicht langweilig. Julian besitzt feine Züge, hohe Wangenknochen und eine gerade Nase. Der breite Mund wirkt wie geschaffen zum Lächeln. Mein Mann sieht mich aus mahagonibraunen Augen an, sein tiefschwarzes, lockiges Haar zeigt an den Schläfen einen ersten Anflug von Grau. Nicht zum ersten Mal denke ich, dass er für einen Anwalt einfach viel zu gut aussieht. Aber sein Blick verunsichert mich.
«Ist alles in Ordnung mit dir?», erkundige ich mich.
In diesem Moment schreckt uns das Telefon mit schrillem Klingeln auf. Ich greife zur Anrichte hinüber und nehme das Mobilteil von der Station.
«Hi, Mum. Ich bin's.»
«Jack!» Unwillkürlich muss ich lächeln, als ich die Stimme meines jüngeren Sohnes höre. «Beas Geburtstagsparty war toll. Sie hat sich sehr über dein Geschenk gefreut. Wie läuft es mit dem Lernen?» Jack ist auf dem Internat und steckt gerade mitten in den Vorbereitungen für die Prüfungen am Ende des Schuljahres. «Bist du bereit für die Klausuren?»
«Ich arbeite dran.»
Im Hintergrund ruft jemand seinen Namen.
«Ich will bloß Bea zum Geburtstag gratulieren.»
«Okay. Ich reiche dich an Dad weiter und gehe sie suchen.» Julian nimmt mir den Hörer ab, und ich laufe zur Treppe. «Bea!», rufe ich hinauf. «Jack ist am Telefon!»
Keine Antwort. Dabei würde sie um nichts in der Welt einen Anruf von Jack verpassen wollen. Obwohl sie und ihre Brüder zwölf beziehungsweise fünfzehn Jahre voneinander trennen, liebt Bea beide heiß und innig. Vermutlich lauscht sie gerade einer Hörspielkassette. Oder die Aufregung des Tages fordert nun doch ihren Tribut, und das Geburtstagskind ist irgendwo eingeschlafen.
Ich schaue kurz ins Wohnzimmer - leer - , um dann zu Beas Zimmer hinaufzugehen. Dabei rufe ich immer wieder ihren Namen. Ich öffne die Tür, aber hier ist sie auch nicht. Als Nächstes sehe ich im Schlafzimmer nach. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie sich über mein Make-up hermacht oder meine Schuhe anprobiert. Aber weder dort noch im angrenzenden Badezimmer finde ich eine Spur von ihr. Ich öffne sogar den Kleiderschrank - Fehlanzeige.
Im anderen Badezimmer läuft die Dusche, und ich höre Charlie leise singen. Unser Haus erstreckt sich über vier Stockwerke, und eilig laufe ich ganz nach oben, wo noch zwei ungenutzte Zimmer liegen. Allerdings rechne ich kaum damit, sie hier zu finden, und ich behalte recht. Beide Räume strahlen etwas Verlassenes aus.
«Jack ist am Telefon!», rufe ich laut, während ich die Treppe wieder hinuntersteige. «Bea, wenn du dich versteckst, musst du jetzt rauskommen.»
Ich gehe gleich ganz hinunter bis ins Souterrain, wo die Waschküche, Julians Arbeitszimmer und Jacks Zimmer liegen. Niemand. Die Waschküche geht auf den Garten hinaus, und von der Tür aus rufe ich Wendy zu: «Bea ist nicht bei dir, oder?»
«Nein. Zum letzten Mal habe ich sie im Wohnzimmer gesehen.»
Erneut laufe ich die Treppen hoch, aber ich bin schon fast in der Küche angekommen, als mir etwas einfällt und ich umdrehe. Meine Sandalen klappern ein hektisches Stakkato auf die Fliesen. Bea hat sich eine Höhle unter der Treppe eingerichtet, mit ihren Kuscheltieren und jeder Menge Kissen. Dort spielt sie oft oder liegt einfach nur da, den Daumen im Mund und einen abwesenden Ausdruck in den Augen. Hastig ziehe ich den Vorhang beiseite, der die Höhle versteckt. Bea ist nicht dort. Ich hole tief Luft, aber meine Kehle ist wie zugeschnürt. Bei all dem Kommen und Gehen heute kann es leicht passiert sein, dass Bea durch die Haustür hinausgeschlüpft ist. Vielleicht ist sie einem ihrer Freunde nachgelaufen. Aber warum sollte sie das tun? Viel wahrscheinlicher ist es, dass sie irgendwo im Haus spielt - irgendwo, wo ich noch nicht nachgesehen habe.
Ich kehre in die Küche zurück. «Ich kann sie nicht finden.» Im Grunde erwarte ich, dass Julian lächelt und mich an irgendeinen vollkommen naheliegenden Platz erinnert, an den ich bisher noch nicht gedacht habe.
Aber das tut er nicht. Für den Bruchteil einer Sekunde begegnet er meinem Blick. In der nächsten ist er bereits aufgesprungen - so hastig, dass ich gegen die Arbeitsplatte taumle. Er schlüpft wieder in die Schuhe und beendet das Telefongespräch kurz angebunden. «Ja, wir rufen zurück.» Damit legt er das Mobilteil auf den Tisch und sieht mich an. «Was meinst du damit: Du kannst sie nicht finden?»
«Ich habe nach ihr gerufen, aber sie antwortet nicht. Und ich glaube, ich habe überall gesucht.»
«Könnte sie mit einer der Mütter mitgegangen sein?»
«Nein, ausgeschlossen.» Ich schüttle den Kopf. «Niemand hätte sie mitgenommen, ohne vorher zu fragen. Sie muss irgendwo im Haus sein.»
Er geht an mir vorbei zur Treppe. «Bea!» Immer wieder ruft er ihren Namen. Nein, das ist schon kein Rufen mehr: Er brüllt.
«Julian!» Seine Lautstärke macht mich nervös. «Du erschreckst sie noch.»
Aber er hört nicht auf mich, sondern eilt nach oben, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. «Charlie!» Er hämmert an die Badezimmertür.
Ein verwirrt aussehender Charlie kommt heraus, ein Handtuch um die Hüften geschlungen. Mit einem zweiten rubbelt er sich das Haar trocken. «Was ist?»
«Hast du Bea gesehen?»
«Amy hat sie mit in den Park genommen. Hat sie euch das nicht gesagt?»
«Nein.»
«Dann ist das also des Rätsels Lösung.» Ich lasse die Schultern fallen, die ich vor Anspannung beinahe bis zu den Ohren hochgezogen habe. «Puh! Panik vorüber.»
Aber Julian wirkt keineswegs beruhigt. Er geht ins Schlafzimmer und sieht durchs Fenster. Wir wohnen in Brighton, in einer dieser halbmondförmigen Straßen mit weißen Stadthäusern. Im Innern des Bogens liegt in einem kleinen Park ein Spielplatz mit drei Schaukeln, einer Rutsche und einem stabilen hölzernen Klettergerüst. Ich folge Julians Blick und stelle sofort fest, dass Bea nicht dort ist. Abgesehen von Jem, die ihren Sohn Adam auf der Schaukel anschubst, ist der Park leer. Ohne mich anzusehen, läuft Julian die Treppe wieder hinunter. Ich folge ihm.
«Julian?»
Aber er hört mich nicht. Mit ein paar Schritten ist er zur Haustür hinaus und überquert die Straße. Im Gehen ruft er Jem zu: «Hast du Bea gesehen?»
Als sie den Kopf schüttelt, beginnt Julian, vor dem schmiedeeisernen Zaun auf und ab zu laufen. Ich versuche, ihn am Arm zu packen, doch er nimmt mich nicht einmal wahr. Anspannung spricht aus seiner Miene, und seine merkwürdig fahle Gesichtsfarbe steht im krassen Widerspruch zu seinem hastigen Atem und der Hitze der Nachmittagssonne. Aber das Schlimmste ist der Ausdruck von Panik in seinen Augen, während er den Blick von einem Ende der Straße zum anderen wandern lässt. Wieder strecke ich die Hand aus, um Julian am Arm zu packen, aber er nimmt mich immer noch nicht wahr. Seine gesamte Aufmerksamkeit konzentriert sich auf die Angst und das, was sie ausgelöst hat. Dieses Verhalten, das Julian überhaupt nicht ähnlich sieht, macht mich fassungslos. Ich fühle mich wie erstarrt. Es kommt mir vor, als wäre ich plötzlich in einer Parallelwelt aufgewacht, in der sich der Himmel unten befindet und die Erde oben. Schwere, erstickende Schwärze breitet sich in meinem Kopf aus. Dann zucken in wilder Folge Lichtblitze auf, die mich blenden. Verzweifelt halte ich mich am Zaun fest und versuche, Luft zu bekommen. In meinen Ohren hämmert der Puls wie verrückt gegen die Trommelfelle. Und dazwischen kann ich nur einen einzigen vernünftigen Gedanken fassen: Aus irgendeinem unerklärlichen Grund glaubt Julian, dass Bea in Gefahr schwebt.
Sobald ich wieder klar sehen kann, packe ich meinen Mann am Hemd und zwinge ihn, sich mir zuzuwenden. «Julian! Was ist los?» Als er mir endlich in die Augen sieht, lese ich in seinem Blick Angst. Unwillkürlich zucke ich zusammen und weiche einen Schritt zurück. «Was ist los mit dir? Warum reagierst du so?»
«Wo können sie nur sein?» Erneut sucht er die Straße ab.
«Das weiß ich nicht, aber ...» Ich hole tief Luft. «Du glaubst doch wohl nicht, dass Amy Bea etwas antun würde, oder?»
«Ich weiß es nicht, Claire.» Seine Miene, sein ganzer Körper kommen mir vor wie versteinert vor Anspannung. «Überleg doch mal - was wissen wir denn schon über dieses Mädchen?»
«Also ...» Ich denke kurz nach. «Sie studiert Biologie. Charlie und sie sind seit neun Monaten zusammen. Ihre Eltern haben früher in Manchester gewohnt, leben aber inzwischen auf Zypern. Sie ist ...»
«... im Großen und Ganzen ein unbeschriebenes Blatt für uns», ergänzt Julian. Er packt mich an den Schultern und schüttelt mich - nicht grob, aber es genügt, um den Druck in meinem schmerzenden Kopf zu verstärken. «Wohin könnte sie mit Bea gegangen sein?» «Zum Laden an der Ecke. Aber ...» Bevor ich den Satz zu Ende sprechen kann, ist Julian schon verschwunden. «Aber Bea geht dort normalerweise nur mit einem der Jungs hin», ergänze ich leise.
Eigentlich mag Bea Amy nämlich nicht besonders. Sie hat mir schon mehrmals gesagt, dass sie es viel besser findet, wenn Charlie allein nach Hause kommt. Auch ich kann nicht gerade behaupten, Amy in mein Herz geschlossen zu haben. Das liegt allerdings weniger daran, dass sie Charlies Aufmerksamkeit beansprucht, sondern eher an ihrem Verhalten. Sie benimmt sich ungehobelt und sagt geradeheraus, was sie denkt - auch über die Grenzen des Höflichen hinaus. Wie Charlie mir erzählt hat, ist genau das einer der Gründe dafür, dass er sich zu ihr hingezogen fühlt: weil sie Dinge unverblümt ausspricht; ganz anders als die meisten ihrer Altersgenossinnen, die das eine sagen und das andere meinen.
Ich verberge das Gesicht in den Händen, schließe die Augen und rufe mir Beas Gesicht ins Gedächtnis. Wenn sie in Gefahr wäre, wüsste ich es. Etwas anderes ist schlicht nicht vorstellbar. Sie ist mein Kind. Ich verbringe den größten Teil des Tages mit ihr und häufig auch noch die Nächte, wenn sie in unser Bett klettert. Obwohl die physische Nabelschnur schon lange durchtrennt ist, verbindet uns dennoch ein unsichtbares Band, das ebenso stark und voller Leben ist. Wenn es um Beas Wohlergehen geht, besitze ich einen sechsten Sinn. Ich weiß, was sie mag und was sie nicht mag. Ich ahne ihre Bedürfnisse voraus. Wieder sage ich mir, dass ich es bestimmt wüsste, wenn sie in Gefahr schwebte. Was auch immer hier passiert, es hat mehr mit dem zu tun, was in Julians Kopf vorgeht, als mit Amy.
Ich öffne die Augen und suche ebenfalls die Straße nach Amy und Bea ab. Aber alles, was ich sehe, sind ein paar Leute, die zielstrebig in Richtung Hauptstraße gehen.
«Was ist denn los, Mum?» Charlie kommt hinter mir die Treppe herunter. Inzwischen trägt er Shorts und Flipflops, und er macht eine beunruhigte Miene.
«Dad ... macht sich Sorgen.» Das ist so maßlos untertrieben, dass ich es kaum über die Lippen bringe. «Sie sind nicht im Park, und ...» Hilflos zucke ich die Achseln. «Weißt du, wo Amy Bea noch mit hingenommen haben könnte?»
«Keine Ahnung.» Er schüttelt den Kopf. «Aber die beiden kommen schon wieder. Was hat Dad denn in solche Panik versetzt?»
Ich folge Charlies Blick zum Ende der Straße. Dort kommt Julian gerade aus dem kleinen Laden und rennt auf uns zu. Und zwar schnell. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich ihn schon einmal so gehetzt gesehen habe, so ... getrieben.
...
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Autoren-Porträt von Julie Corbin
Julie Corbin lebt mit ihrem Mann und drei Kindern in Sussex. «Dann schweige für immer» war ihr erster Roman.Sabine Schlimm lebt als Übersetzerin, Autorin und Lektorin in Hamburg.
Bibliographische Angaben
- Autor: Julie Corbin
- 2012, 1. Auflage., 448 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung:Schlimm, Sabine
- Übersetzer: Sabine Schlimm
- Verlag: Rowohlt TB.
- ISBN-10: 3499257424
- ISBN-13: 9783499257421
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