Bin isch Freak, oda was?!
Geschichten aus einer durchgeknallten Republik
Die Schulglocke klingelt, das Hoftor fällt hinter mir zu. Meine Tage als Aushilfspauker sind vorbei. Und jetzt? »Bin ich froh, diese Freak-Show endlich hinter mir zu haben«, sage ich so lässig wie möglich. Mein Kollege Geierchen runzelt die Stirn: »Pass ma...
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Produktinformationen zu „Bin isch Freak, oda was?! “
Klappentext zu „Bin isch Freak, oda was?! “
Die Schulglocke klingelt, das Hoftor fällt hinter mir zu. Meine Tage als Aushilfspauker sind vorbei. Und jetzt? »Bin ich froh, diese Freak-Show endlich hinter mir zu haben«, sage ich so lässig wie möglich. Mein Kollege Geierchen runzelt die Stirn: »Pass ma uff: Schule is 'ne Miniaturlandschaft unserer Jesellschaft. Und wenn de denkst, Möller, die Minifreaks war'n schon crazy - denn schau dir erstma die ausgewachsenen Exemplare an!«Leben wir tatsächlich in einer Nation der Übertreiber, Spinner und Durchgeknallten? Philipp Möller trifft trinkfreudige Burschenschaftler, kampflustige Veganer und erleuchtete Weltenlehrer und stellt sich immer häufiger die Frage: Wer sind eigentlich die wahren Freaks in unserem Land?
Lese-Probe zu „Bin isch Freak, oda was?! “
BIN ISCH FREAK, ODA WAS?! von Philipp Möller... mehr
Eine sanfte Sommerbrise weht mir um die Nase, als ich das Schultor durchschreite und im doppelten Sinne auf der Straße stehe. Das war's dann also. Meine Zeit als Vertretungslehrer ist ein für alle Mal vorbei. Vom Schulhof dringen die Stimmen meiner Kollegen zu mir herüber, mit denen ich im Anschluss an das jährliche Sommerfest gerade noch auf die großen Ferien angestoßen habe - und auf meinen Abschied. Wenn das kein Grund zu feiern ist: nie wieder Grundschule. Nie wieder Ersatzlehrer. Nie wieder Sechstklässler unterrichten, die auf dem Leistungsniveau von Viertklässlern sind. Keine ausgebrannten Kollegen mehr, die eigentlich nur noch auf die Pensionierung warten. Nie wieder versiffte Toiletten, gegen die ein altes Bahnhofsklo wie ein Sanitärpalast wirkt. Und nie wieder Elfjährige beruhigen, die blind vor Wut auf ihre Mitschüler einprügeln wollen. Oder auf mich. Leicht beschwipst und ein bisschen wehmütig spaziere ich an den Gitterstäben entlang, die den verrückten Schulhof von der normalen Welt trennen, und sehe meiner wiedergewonnenen Freiheit nicht ganz ohne Sorge entgegen. Denn sosehr mich der Job als Lehrer an meine emotionalen Belastungsgrenzen gebracht haben mag - immerhin hatte ich ein Job! Immerhin durfte ich eine tägliche Aufgabe erfüllen, mit der ich nicht nur meine Familie ernähren, sondern auch das Bedürfnis stillen konnte, etwas gesellschaftlich Relevantes zu tun. Außerdem war bei all der Anstrengung nicht zu leugnen, dass ich immer wieder einen Heidenspaß mit den Kids hatte. Aber all das ist nun vorbei, und bislang bin ich ziemlich ratlos, welche neue Beschäftigung das Loch in meinem Alltag und in meinem Lebenslauf füllen soll."Züüüüsch, Herr Mülla!", werde ich plötzlich von hinten angesprochen."Warum hängst du noch hier rum?" Als ich mich umdrehe, steht mein ehemaliger Schüler Khalim mit einem Skateboard unterm Arm vor mir. Seitdem klar ist, dass er die sechste Klasse wiederholen muss, ist seine Laune ziemlich im Eimer."Wir haben bloß noch auf die Sommerferien angestoßen „, erkläre ich,"und auf meinen letzten Tag als Lehrer."„Vallah, du hast's gut, ja? Musst nisch mehr Schule gehen ..."„Dafür muss ich jetzt zum Amt, mir einen neuen Job suchen. „„Is doch voll cool!", meint er und schaut sich dann zum Schulgebäude um."Sch'würde viel lieber Job suchen, als noch ein Jahr hier bleiben. Bei diesen ganzen Opfern!" Er zuckt mit den Schultern, lässt sein Skateboard auf den Boden fallen und gibt mir zum Abschied die Hand."Viel Glück, Herr Mülla!"„Danke, dir auch, Khalim." Glück kann ich gut gebrauchen, denke ich, als er davonrollert. Doch bevor ich in Selbstmitleid versinken kann, tritt der Mann aus dem Schultor, der mich in den letzten zwei Jahren am häufigsten zum Lachen gebracht hat: Geierchen. Ein sportlicher Mittfünfziger mit schulterlangen blonden Haaren, strahlend blauen Augen und einer kleinen Wohlstandswampe. Geierchen, der eigentlich Rolf Geier heißt, unterrichtet Sport und Naturwissenschaften an der Schule, in der ich die letzten vierundzwanzig Monate gebuckelt habe. Gemeinsam mit ihm habe ich im letzten Jahr eine sechste Klasse geleitet, die wir mit dem heutigen Tag, dem letzten des Schuljahrs, in die Oberschule entlassen. In dieser Zeit lernte ich seine etwas ungewöhnlichen, aber stets unterhaltsamen Unterrichtsmethoden kennen und lieben - und es verging kaum ein Tag, an dem er mir nicht in aller Deutlichkeit sagte, dass ich mich beruflich auf dem Holzweg befände. Nachdem sich Geierchen eine Kippe angesteckt hat, schaut er sich kurz nach rechts und links um und setzt dann ein breites Grinsen auf, als er mich erblickt."Kiek ma eena an", ruft er mir zu,"der jescheiterte Aushilfspauker!" Wie gewohnt beendet er seinen Satz mit einer kratzigen Lache, die so ansteckend ist, dass ich das ängstliche Grummeln in meinem Bauch für einen Moment vergesse und lächelnd in seine Richtung schlendere. Breitbeinig stiefelt er auf mich zu und haut mir dann so kameradschaftlich auf die Schulter, dass ich fast im nächsten Gebüsch lande."Hab ick's dir nich jesacht?", beginnt er und zieht erneut an seiner Fluppe."Reißt dir hier zwee Jahre den Hintern uff - und am Ende treten se dir noch rinn ..." Ach, Geierchen, denke ich, wenn ich doch nur auf dich gehört hätte ... Dann wäre ich um so viele Sorgenfalten ärmer - aber auch um tonnenweise wertvolle Lebenserfahrung und um die Bekanntschaft mit dem wohl außergewöhnlichsten Lehrer der Welt."Du findest schon wat", muntert er mich auf unserem Fußweg zur U-Bahn auf,"hast ja zwölf Monate Zeit."„Bis?"„Na, bis die Hartz-IV-Falle zuschnappt", erklärt Geierchen und schaut mich prüfend über die Ränder seiner rosafarbenen Lesebrille an. Dann nimmt er das 2-Euro-99- Gestell ab und lässt es an der Goldkette um den Hals baumeln."Aber hier warste eh uff 'n falschen Dampfer, hab ick dir ja von Anfang an jesacht. Also lass dir diesmal nich wieder so 'ne Notlösung andrehen. Haste jehört?"„Ja ja, du hast wahrscheinlich recht", seufze ich und zucke mit den Schultern."Aber irgendwie vermisse ich die Chaos-Kids jetzt schon. Zumindest ein bisschen. Zwischendurch haben wir doch echt viel gelacht ..."„Stimmt schon, aber fast jedet Mal isset uns anschließend im Halse stecken jeblieben", beendet er meinen Satz und grinst dann."Kannste dich an Jack inne Werkstatt erinnern? „ Oh ja, das kann ich! Im vergangenen Frühling plante Geierchen mit unserer Klasse den Bau eines Vogelhäuschen. Deshalb fanden wir uns jeden Dienstag für eine Doppelstunde in der Schulwerkstatt ein, in der die siebenundzwanzig Schüler über Hammer und Nägel, Säge und Feile frei verfügen konnten. Immer, wenn sich der ohnehin schon ohrenbetäubende Geräuschpegel in der Klasse zu einem Höllenlärm hochschaukelte, schnappte sich Geier chen einen Besenstiel und schlug ihn der Länge nach auf eine der Werkbänke. Das knallte noch lauter als das Lineal, das ich zu Beginn meiner kurzen Paukerkarriere auf dem Lehrerpult zerschmettert hatte."Wenn hier eena brüllt, bin ick dit!", donnerte Geierchen jeden Dienstag pädagogisch wertvoll nach dem Schlag mit dem Besenstiel. Und dann wandte er sich wieder denen zu, die als Sechstklässler anscheinend zum ersten Mal ein Werkzeug in der Hand hielten, und zeigte ihnen geduldig, wie man den Nagel auf den Kopf trifft. Zu genau diesen Schülern gehörte Jack. Als Rolf und ich uns eines Tages seiner Werkbank näherten, stand er in gebeugter Haltung davor und schlug lustlos mit dem Hammer auf ein Stück Holz."Wat machst du denn da?", wollte Geierchen von Jack wissen, der ganz überrascht hochschaute, als er uns neben sich stehen sah."Schau'n Nagel rein." Mit offenem Mund starrte Jack zuerst die beiden Lehrkörper vor sich und dann das Holz an und schien dabei erstmalig zu bemerken, dass er bei seiner Aktion einen nicht unerheblichen Gegenstand, den Nagel, vergessen hatte. Schließlich trug Rolf mir auf, mich des Jungen anzunehmen, und so unterstützte ich Jack, so gut es eben ging, bei seiner Aufgabe, zwei Holzplatten zu einem Spitzdach zu formen und mit ein paar Nägeln auf einer weiteren Holzplatte zu befestigen. Als Geierchen eines Tages vorbeikam, um das Ergebnis zu inspizieren, fehlten ihm für einen Augenblick die Worte. Von allen Seiten betrachtete er das windschiefe Gebilde, aus dem zahlreiche Nagelspitzen he rausragten. Dann schüttelte er langsam den Kopf."Dit soll 'n Vogelhaus sein?", wollte er von Jack wissen, der da rauf hin zu Boden blickte und auch ich kratzte mich verlegen am Oberarm."Und wat soll da für 'n Vogel drin wohnen?", hakte mein Kollege nach."Der sojenannte Kackvogel, oder wat?" Kopfschüttelnd pfefferte Geierchen das handgefertigte Trauerspiel auf den Altholzhaufen in der Ecke und ließ den Jungen von vorne anfangen."Drei Monate hamwa an den Häuschen jearbeitet", sagt Geierchen jetzt, als wir uns von dem Lachanfall wieder einigermaßen erholt haben, und starrt in den sommerlich blauen Himmel. Dann verschwindet das Lächeln plötzlich."Und am Ende hamse die Dinger uff'm Schulhof zertreten." Sein Blick verliert sich in der Ferne."Is doch allet für die Katz." Was für mich eine frustrierende Erinnerung ist, ist für Rolf nackte Realität - immerhin war er schon als Lehrer unterwegs, als mein Lebensinhalt noch maßgeblich von Schnullern und abwaschbaren Bilderbüchern bestimmt wurde. Nach Aussage vieler Kolleginnen hat die Bildungskatastrophe zwar erst in den letzten zehn, vielleicht fünfzehn Jahren solch dramatische Ausmaße angenommen, aber eine Besserung ist seitdem keineswegs in Sicht - ganz im Gegenteil: Die sträfliche Vernachlässigung des Bildungswesens durch Politik und Gesellschaft wird die ohnehin schon pikante Personalsituation in den kommenden Jahren noch verschärfen. Inklusion und Reformschule sind damit vermutlich genauso zum Scheitern verurteilt wie alle vorherigen Reformansätze auch."Lang mach ick dit nich mehr mit", seufzt Geierchen, als wir am Eingang des U-Bahnhofes ankommen. Dann schüttelt er kurz den Kopf und grinst mich breit an:"Aber zu Ferienbeginn woll'n wa keen Trübsal blasen, wa?"„Genau", stimme ich ihm zu,"wahrscheinlich sollte ich einfach froh sein, diese Freak-Show hinter mir zu lassen und ..."„Hinter dir?" Geierchen legt den Kopf zur Seite, kneift die Augen zusammen und kommt mir ganz nahe."Pass ma uff: Schule is 'ne Miniaturlandschaft der Jesellschaft. Und wenn de denkst, Möller, die Minifreaks war'n schon crazy - denn schau dir die Exemplare ma in Originalgröße an!"„Wie meinst du das?" Als Geierchen gerade Luft holt, hält in der Schlange, die sich nur wenige Meter von uns entfernt vor einer roten Ampel gebildet hat, ein Hundeschlitten auf Rädern zwischen den Autos an. Vor das Gefährt sind sechs waschechte Huskys gespannt. Ein großer Mann mit Vollbart, Regenjacke und Lederhandschuhen steht auf dem Aluminiumgestell des Schlittens und bemerkt unsere Blicke."Was denn", fragt er genervt,"noch nie 'n Tandemgespann gesehen?!" Geierchen und ich schauen uns einen Moment verwundert an."Doch, doch", meint mein Kollege dann und steckt mich wieder mit seiner krächzenden Lache an."Aber nur im Fernsehen. Reiseberichte über Grönland und so", kichert er."Nun sein Se mal nicht so verbohrt!", ruft der Mann zu uns rüber, der ohne Weiteres als Doppelgänger von Reinhold Messner durchgehen könnte."Meine CO2-Bilanz ist unschlagbar", schiebt er dann hinterher und unterstreicht dabei jede Silbe des letzten Wortes mit wilden Handbewegungen. Einen Moment später schaltet die Ampel auf Grün, und nach einem unverständlichen Befehl in einer fremden Sprache nimmt das Gespann hechelnd Fahrt auf."Äckt globill, sink lokill!", ruft uns der Hundeführer mit einem harten deutschen Akzent noch zu, während Geierchen ihm lachend nachwinkt. Sprachlos schüttele ich den Kopf."Ick sachet ja", wiederholt Geierchen auf der Treppe zur U-Bahn."Dit janze Land is voller Freaks - und weil in Berlin die meisten rumspringen, sinn wa och Hauptstadt jeworden." Da mein lieber Exkollege in die andere Richtung fahren muss, wird es Zeit für den vorläufigen Abschied. Als seine Bahn kommt, nimmt er mich so fest in den Arm, dass mir fast die Luft wegbleibt."Möller, wir bleiben in Kontakt, wa?", sagt Geierchen, und es sieht ein bisschen so aus, als hätte jetzt auch ihn der Abschiedsschmerz gepackt. Doch für Sentimentalitäten bleibt keine Zeit, denn als sich die Türen der U-Bahn öffnen, können es die Ersten am Bahnsteig kaum erwarten, den Waggon zu betreten. Ohne Rücksicht auf Verluste drängeln sich die Passagiere, die bislang friedlich neben uns standen, an einem kleinen Mann mit Karohut und Aktenkoffer vorbei, der offensichtlich aussteigen will. Mit hochrotem Kopf versucht er sich unter Einsatz seines überschaubaren Körpers durch die he reinströmende Menschenmasse nach draußen zu quetschen."Erst aussteigen lassen!", blafft er schließlich ein paar Unschuldige an, die brav gewartet haben. Dann schiebt er sich rabiat an meinem unbeteiligten Kollegen vorbei und verpasst ihm mit dem Aktenkoffer einen saftigen Pferdekuss."Aua!", ruft Geierchen und hält sich den Oberschenkel."Bisse bekloppt, oder wat?!"„Selbst schuld, was stehen Sie auch hier he rum?", schnaubt der Herr mit Hut und mustert Geierchen dabei von oben bis unten."Die ganze Stadt ist voller Spinner!", schimpft er dann, zupft seinen senfgelben Blouson zurecht und eilt mit trippelnden Schritten davon."Dit sind mir die Liebsten", sagt Geierchen, noch bevor sich die Türen der Bahn schließen und er vorerst aus meinem Leben entschwindet."Die Spießer-Freaks!"
2 DER COUNTDOWN LÄUFT
Als auch meine U-Bahn kommt, ergattere ich einen Sitzplatz und schotte mich dank der Kopfhörer zügig von der Umwelt ab. Dann zücke ich mein Smartphone, wähle einen Song aus meiner Playlist und öffne die blaue Zeitfresser- App mit dem weißen f. Hier erfahre ich, was meine sogenannten Freunde - Menschen, denen ich teilweise noch nie begegnet bin - der Welt mitteilen wollen: Tina hat einen Bagel mit Rucola zu Mittag gegessen, Konstantin war mit seinem Hund spazieren, Jessica ist langweilig, und Tunç möchte mit mir einen Bauernhof gründen. Nach mehreren Jahren Mitgliedschaft in diesem nicht immer nur sozialen Netzwerk überfliege ich die Meldungen meist nur noch aus Langeweile und wundere mich nicht selten über die unfassbare Irrelevanz der sogenannten Neuigkeiten. Dennoch haben es mir die kleinen roten Zahlen am oberen Rand der App irgendwie angetan, die mich über Freundschaftsanfragen, Likes und sonstige Mitteilungen informieren, und so erwische ich mich immer wieder dabei, vollkommen sinnfreie Minuten in diesem virtuellen Freundeskreis zu verbringen. Wahrscheinlich hat Geierchen also mal wieder recht: Das Land ist voller Freaks - und mitten unter ihnen muss ich nun einen Platz für mich finden. Schöne Aussichten sehen irgendwie anders aus ... Im Hausflur kommt mir auf halber Treppe mein Vermieter Herr Graufuß entgegen, der seine mehrstöckige Altersvorsorge gemeinsam mit seiner Frau bewohnt, verwaltet und instand hält. Aus der Brusttasche seiner grünen Latzhose lugen ein Schraubenzieher, ein Bleistift und ein Kugelschreiber, die er der Länge nach sortiert hat. Die Ärmel seines Karohemds sind fein säuberlich bis zu den Ellenbogen hochgekrempelt und die Schnürsenkel seiner Sicherheitsschuhe mit den großen Stahlkappen zu identischen Doppelschleifen gebunden. Zwei Stufen über mir hält er inne und spricht mich an."Herr Möller", beginnt er vorwurfsvoll und atmet dann einmal laut aus."Meine Frau musste mal wieder feststellen, dass zwischen Ihren Papiermüll ooch Plastik dabei sein tut."„Ehrlich? Aber woher wissen Sie denn, dass ..." Er unterbricht mich, indem er mir demonstrativ einen Briefumschlag mit meinem Namen da rauf zeigt. Durchsucht der Typ tatsächlich meinen Müll? Hält er mir demnächst vielleicht die Windeln unserer Tochter vor die Nase und verlangt, deren Inhalt gesondert in der Biotonne zu entsorgen?"In diesen Hause tun wir allagrößten Wert uff Riehzaikling legen", erklärt er mir."Ick erwarte mehr Sorgfalt von Ihnen, ja?" Weil mein Tag für heute bescheiden genug war, nicke ich ihm nur kurz zu und überlasse ihn dann sich selbst. Im dunklen Flur unserer Wohnung kommt mir Sarah auf Zehenspitzen entgegen und gibt mir einen Kuss."Klara ist gerade eingeschlafen", flüstert sie mir ins Ohr und zeigt auf das Zimmer unserer fünf Monate alten Tochter. Leise verkrümeln wir uns auf den Balkon, wo sich meine Freundin eine Tasse Stilltee eingießt. Dann nimmt sie meine Hand und lächelt mich sanft an."Na, wie war dein letzter Tag in der Schule?" Seitdem Sarah einen Lehramtsstudienplatz in Potsdam bekommen hat, verfolgt sie meine beruflichen Ausflüge ins Schulhaus ganz genau. Ich berichte ihr also von meinem letzten Auftritt als Musiklehrer auf dem Sommerfest, von den Bierchen mit dem Kollegium und der Betriebsrätin unserer Schule. Die wollte nämlich auch den letzten Tag nicht ungenutzt lassen, um mir noch einmal mitzuteilen, wie sehr sie die Entscheidung der Senatsverwaltung begrüße, Vertretungslehrer wie mich endgültig vor die Tür zu setzen."Ist das dreist!", entfährt es Sarah."Drei Tage vor Ablauf deines Vertrages erfährst du, dass er doch nicht verlängert wird - und die Trulla würgt dir noch eins rein ..."„Na ja", gebe ich zu bedenken,"man muss sich ja schon fragen, ob jemand ohne Staatsexamen wirklich eine vierte Klasse leiten sollte."„Ach komm", entgegnet Sarah energisch,"du hast deine Sache doch gut gemacht. Außerdem gibt es mehr als genug schlechte Lehrer mit passendem Studium!" Nach einem Blick in Richtung Kinderzimmer senkt sie ihre Stimme wieder etwas."Und wenn ich an meine bisherigen Seminare denke, weiß ich langsam auch, wa rum die meisten so schlecht auf den Schuldienst vorbereitet sind." Bis wir merken, dass wir all diese Dinge in den letzten zwei Jahren schon ausgiebig diskutiert haben, vergehen ein paar Minuten. Immer wieder haben wir in den vorigen Monaten festgestellt, dass nicht jeder, der den Lehrberuf ergreift, auch dazu geeignet ist. Und manch einer von denen, die geeignet scheinen, wird aufgrund politischer Entscheidungen nicht zugelassen. Oder zu katastrophalen Bedingungen, wie beispielsweise in meinem Fall: Dreimal habe ich da rauf hoffen müssen, dass die Senatsverwaltung meinen befristeten Vertrag verlängert, und dreimal habe ich erst wenige Tage vor Vertragsende erfahren, dass es klappt. Dementsprechend bin ich also auch bis vor Kurzem davon ausgegangen, im nächsten Jahr weiterhin beschäftigt zu werden - zumal die Schulleitung mir das längst versprochen hatte. Aber mündliche Zusagen sind eben keine richtigen Zusagen, und so stehe ich nun doof da: eben noch Lehrer, jetzt schon auf Jobsuche."Darfst du denn überhaupt verreisen, wenn du auf Jobsuche bist?", fällt Sarah plötzlich ein. Stimmt ja: der Urlaub! Ich schlucke, denn immerhin ist die Ferienwohnung längst gebucht und bezahlt - damals konnte ich ja nicht ahnen, dass das Schuljahr ohne Job und festes Gehalt enden würde. Am nächsten Morgen muss ich meinen Kopf vor dem hohen tristen Gebäude weit in den Nacken legen, um das große weiße A im roten Kreis zu erblicken. Durch eine rasant rotierende Drehtür gelange ich in eine riesige Empfangshalle, in der unzählige Menschen stumm auf eine Anzeigetafel voller Namen und Wartenummern starren. Ich stelle mich dazu und suche nach meinem Namen. H, I, J, K, L, M, N, O ... kein Möller? Dabei habe ich doch einen Termin! Nur einen gewissen Herrn Müller kann ich finden, aber an diesen Namen habe ich mich ja während meiner Zeit als Lehrer schon gewöhnen müssen. Na gut, dann probier ich es einfach mal als Herr Müller. Ich bewege mich an den Rand der Halle und steige in den gläsernen Lift, der mich in Windeseile in die schwindelerregende Höhe des siebten Stocks katapultiert. Während der Fahrt werden die Menschen unter mir immer kleiner und kleiner, bis sie zu einem einzigen wuseligen Ameisenhaufen zusammengeschrumpft sind. Im siebten Stock angekommen, gleiten die Fahrstuhltüren langsam auf. Ich steige aus dem Lift und stehe in einer grell beleuchteten Wartehalle, in der rote Metallstühle in mehreren Reihen aneinandergeschraubt stehen. Auf ihnen sitzen Menschen verschiedener Altersgruppen und starren auf einen großen Fernseher, der vor ihnen an der Wand hängt. Unter Protest einer Gruppe junger Typen in abgewetzten Klamotten drängele ich mich auf einen der letzten freien Plätze und nehme neben einer Dame mit tadelloser Frisur und schmalen Lippen Platz. Dann schaue ich mir das Video an. Es zeigt eine Gruppe attraktiver Männer und Frauen, die in Zeitlupe auf die Kamera zugehen. Sie tragen Aktenkoffer oder Handtaschen, sind in feine Anzüge und Kostüme gekleidet und strahlen den Zuschauer mit perfekten Zähnen an."Zeitarbeit", spricht eine tiefe Stimme aus der Glotze, als die Models an der Kamera vorbeilaufen. Dann taucht hinter ihnen ein älterer und sehr seriös wirkender Herr im Dreireiher auf und fügt hinzu:"Ihr Job! Ihre Zukunft!" Als der Clip ein paar Mal in Schleife gelaufen ist, wird er für eine Anzeige unterbrochen. Herr Müller, bitte zu Beratungsplatz zwei für Akademiker kommen, steht dort in weißen Lettern auf rotem Hintergrund. Das Publikum schaut mich böse an, als ich mich erhebe und wieder aus der Reihe drängele. Ich blicke an mir herab und stelle erschrocken fest, dass ich mit Anzug und Krawatte für diesen Termin offenbar komplett overdressed bin. Ja, genau, denke ich mir. Der Pseudo-Yuppie darf vor euch allen dran, der hat nämlich einen Termin. Der ist schließlich Akademiker. Auch wenn der Anzug von H&M und seine berufliche Zukunft kohlrabenschwarz ist."Herr Müller, bitte!", ruft nun eine Stimme aus dem Lautsprecher, als ich mit großen Schritten an einer Gruppe finster dreinblickender Männer in blauen Latzhosen vorbeilaufe, von denen einer sogar seine geballte Faust in der anderen Hand reibt. Ein paar Meter weiter öffne ich eine schwere Holztür mit einer gelben Zwei da rauf. Hinter einem massiven Eichenholzschreibtisch sitzt ein Mann, der deutlich jünger ist als ich. Die Haare hat er penibel zurückgekämmt und mit viel Pomade an den Schädel geklatscht. Durch eine große Hornbrille starrt er mich an, während er auf einen freien Holzstuhl vor dem Tisch weist."Bitte setzen", sagt er streng."Sie sind doch dieser Herr Müller, oder?"„Möller", korrigiere ich ihn,"mit Ö wie Ökonom."„Natürlich. Und Sie sind also arbeitslos, Herr Müller?", will er von mir wissen und schlägt eine lederne Mappe auf, die vor ihm auf dem Tisch liegt. Vorsichtig ziehe ich die schwere Tür ins Schloss und schleiche zu dem Stuhl vor seinem Tisch."Wie konnte das denn passieren?", fragt er. Tja, gute Frage. Als ich gerade meine kleine Geschichte des gestrandeten Aushilfslehrers zum Besten geben will, hebt er seinen Zeigefinger und hält mit zusammengekniffenen Augen ein Blatt Papier in die Höhe."Ich habe hier Ihren Lebenslauf vorliegen. Sie haben doch in der Uni gelernt, berufliche Weiterbildungsmaßnahmen für Erwachsene zu gestalten - und sind dann Lehrer für Kinder geworden? „ Offensichtlich ist die Frage rhetorisch, denn ohne den Blick von den Unterlagen zu heben, fährt er fort."Außerdem waren Sie Pressesprecher einer Werbekampagne für Atheismus?", fragt er zuerst nachdenklich, erhebt dann aber plötzlich die Stimme und sieht mich vorwurfsvoll an:"Damit haben Sie sich für einen Job bei der Caritas wohl disqualifiziert!" Kopfschüttelnd schiebt er einen großen Stapel Unterlagen an den äußersten Rand des großen Tisches."Ja, wenn Sie das so ..."„Tut mir leid", unterbricht er mich, schlägt die Mappe wieder zu, nimmt die Brille von der Nase und reibt sich entnervt die Augen."Aber mit einem solchen beruflichen Werdegang sehe ich ehrlich gesagt ganz schwarz für Sie." Dann bekreuzigt er sich und murmelt etwas in seine gefalteten Hände. Aus dem Bücherregal hinter ihm öffnet sich plötzlich eine Tür, durch die überraschenderweise Sarah in den Raum tritt. Ihr Kopf ist mit einem weißen Tuch bedeckt, und unter einem langen Kleid schauen ihre nackten Füße hervor. Geräuschlos schreitet sie auf den Schreibtisch zu und macht davor einen höflichen Knicks. Mit beiden Händen schiebt sie den Schleier beiseite und legt dabei eine blau schimmernde Tätowierung im Dekolleté frei. Sie zeigt die Zahlenfolge 08:30."Und führe ihn nicht in Verschlafung!", spricht sie dann mit blecherner Stimme,"sondern erlöse ihn von dem Dösen!" Wie bitte? Von dem Dösen?"Philipp, du hast verschlafen!", ruft Sarah plötzlich mit klarer Stimme und rüttelt an meiner Schulter."Es ist halb neun! Du musst in 'ner halben Stunde beim Arbeitsamt sein. Steh jetzt auf!" Ich blinzele ein paar Mal, hebe meinen Kopf aus dem Kissen und greife hektisch nach meinem Wecker. Halb neun?! Eine Wagenladung Adrenalin schießt mir durch die Adern und katapultiert mich aus dem Bett, sodass ich nur elf Minuten später geduscht und angezogen die Treppe he runterpoltere."Keine Zeit!", rufe ich Frau Graufuß entgegen, die sich mir vor ihrer Wohnung im zweiten Stock in den Weg stellt."Aber in Ihrem Müll ..."„Sortiere ich!", rufe ich ihr aus dem ersten Stock zu und renne weiter zum Bahnhof. Schon von der Straße aus sehe ich die S-Bahn einfahren, also gebe ich auf den Stufen zum Gleis noch einmal Vollgas. Mit einem Hechtsprung schmeiße ich mich gerade noch zwischen die Türen, die sich mit einem tutenden Signal schließen und dabei meinen rechten Fuß einklemmen. Vor den Augen einiger untätiger Fahrgäste stemme ich die Türen mit letzter Kraft ein paar Zentimeter auf und ziehe meine Tasche hinterher. Geschafft! Nachdem sich mein Puls wieder halbwegs stabilisiert hat, entdecke ich einen freien Sitzplatz in einer Viererbank, finde da rauf allerdings einen Aktenkoffer vor. Den zwei Punks gegenüber wird er wohl kaum gehören, also kommt als Eigentümer des edlen Gepäckstücks eigentlich nur der Herr auf dem Platz neben dem Koffer infrage. Hinter einer Ausgabe der Financial Times kann ich von ihm allerdings nur die Nadelstreifen und die glänzenden Lederschuhe sehen."Entschuldigung, ist das Ihr Koffer?" Raschelnd nimmt Monsieur die Zeitung he runter und bringt seine feinen Gesichtszüge zum Vorschein, die durch einen akkuraten Seitenscheitel eingerahmt werden. Anstelle einer Krawatte ragt der lockere Knoten eines weinroten Tuchs aus seinem Hemdkragen."Weshalb fragen Sie?", will er wissen und schaut mich durch eine rahmenlose Brille an."Weila da sitzen möchte, du feiner Pinkel", mischt sich der Punk vom Sitz gegenüber ein und schaut ihm unbeirrt in die Augen."Also, ich muss doch sehr bitten!", echauffiert sich der feine Herr und faltet die Zeitung zusammen."Deinen Koffer da wegnehmen, dit musste!", korrigiert ihn der Punk und nimmt einen Schluck aus seinem Weinkarton. Dabei hält er dem Blick seines Kontrahenten weiter stand und nickt schließlich, als dieser seinen Koffer wegnimmt, ihn umständlich auf seinen Oberschenkeln platziert und sich erneut hinter seiner Zeitungswand verbarrikadiert."So kannze dich im Rolls-Royce ufführen", hat der junge Mann mit dem grünen Haar noch zu sagen,"aber stell dir vor: Hier inna echten Welt jibt's noch andre Leute!"„Danke sehr", sage ich in Richtung Zeitung, nicke den Punks zu und setze mich."Keen Ding. Ick bin Sterni, und dit is meene Braut Kröte." Er zeigt auf die junge Dame neben sich, die mit halb offenem Mund an seiner Schulter lehnt."Haste 'n Euro?", will sie wissen."Oder 'ne Kippe?" Lächelnd händige ich beiden eine Zigarette aus und versuche dann, mich auf mein bevorstehendes Gespräch beim Arbeitsamt zu konzentrieren. Aus gegebenem Anlass kommt mir dabei jedoch ständig Geierchen in den Sinn, denn schon wieder befinde ich mich zwischen etwas sonderbaren Zeitgenossen: das fleischgewordene Statussymbol, das auf zwei Quadratmetern lachsfarbenem Zeitungspapier die Aktienkurse studiert, und zwei waschechte Punks, die eng ineinander umschlungen versuchen, zwischen Tetrapakwein und Springerstiefeln eine Art Romantik entstehen zu lassen. Leben wir also wirklich in einer Freak-Republik? Wandeln wir eher zwischen Exzentrikern, Übertreibern und Paradiesvögeln durch die sechzehn Bundesländer als zwischen kultivierten Dichtern und Denkern? Und was meint dieser Begriff eigentlich: Freak? Glücklicherweise sind die Zeiten ja vorbei, in denen siamesische Zwillinge, Frauen mit Vollbärten oder körperlich beeinträchtigte Menschen als Zwerge, Riesen oder Dreibeinige im Zelt eines Wanderzirkus ausgestellt wurden. Wohin hat sich dieser Begriff also entwickelt? Was bedeutet es inzwischen, ein Freak zu sein? Eines haben die drei um mich he rum schon mal gemeinsam: Rein äußerlich fallen sie vollkommen aus dem Rahmen. Aber ist es wirklich nur das Äußere, das mich von den Punks oder dem Herren in Nadelstreifen unterscheidet, oder ist es eher das Verhalten, das den schmalen Grat zwischen Homo normalus und Homo freakus ausmacht? Und wer von ihnen ist dahin gehend eigentlich schräger: der wie aus dem Ei gepellte und offenbar sehr gut etablierte Typ, der für seine großflächige Lektüre und sein Gepäckstück zwei Sitzplätze beansprucht, oder die gepiercten und ungewaschenen Schnorrer, die zwar gruselig aussehen, mir aber letztlich weniger auf den Keks gehen als mein Sitznachbar? Die Frauenstimme der S-Bahn reißt mich aus meinen Gedanken und bewahrt mich so davor, die Station zum Arbeitsamt zu verpassen. Ein kurzer Fußweg führt mich zu dem Gebäude, das zum Glück ganz anders aussieht als in meinem Traum. Innen erwarten mich auch keine Menschenmassen, keine Anzeigetafel und kein gläser ner Fahrstuhl, stattdessen fordert ein kleines Schild dazu auf, sich unaufgefordert beim Empfang zu melden. Linker Hand befindet sich ein Schalter, an dem zwei junge Frauen anstehen. Eine von ihnen wird gerade nach vorne gebeten, als ich mich hinter der anderen einreihe. Ihr rotes gelocktes Haar steht in alle Himmelsrichtungen vom Kopf ab, und während sie in ihrer Tasche he rumwühlt, brabbelt sie auf Englisch leise vor sich hin. Schwungvoll dreht sie sich plötzlich zu mir um. Ihr stupsnäsiges Gesicht ist voller Sommersprossen."Excuse me", beginnt sie mit feinstem britischen Dialekt,"do you speak English?" Nach genau dieser Frage hat mir meine ehemalige Schulleiterin damals einen Job als Englischlehrer angeboten, aber so etwas wird wohl kaum ein zweites Mal passieren. Ich nicke. Da rauf hin erklärt mir die Lady in Höchstgeschwindigkeit, dass sie einen Job in Berlin suche, dabei aber bisher unter anderem an den Sprachkenntnissen der hiesigen Sachbearbeiter gescheitert sei. Warum überrascht mich das nicht? Noch bevor sie mich um Hilfe bitten kann, wird sie an den Schalter gerufen und legt die Unterlagen vor, die der Mann hinter dem Tresen mit steinerner Miene prüft."Sie benötigen eine vom Vermieter gegengezeichnete Meldebescheinigung in Original und Kopie sowie das Kündigungsschreiben mit Zugangs- bzw. Absendenachweis oder den Aufhebungsvertrag des letzten Arbeitsverhältnisses „, erklärt der Mann am Pult in einer solchen Monotonie, dass ich mich für den Bruchteil einer Sekunde frage, ob der Typ wirklich aus Fleisch und Blut oder vielleicht doch ein Android ist.
Copyright © 2014 by Bastei Lübbe AG, Köln
Eine sanfte Sommerbrise weht mir um die Nase, als ich das Schultor durchschreite und im doppelten Sinne auf der Straße stehe. Das war's dann also. Meine Zeit als Vertretungslehrer ist ein für alle Mal vorbei. Vom Schulhof dringen die Stimmen meiner Kollegen zu mir herüber, mit denen ich im Anschluss an das jährliche Sommerfest gerade noch auf die großen Ferien angestoßen habe - und auf meinen Abschied. Wenn das kein Grund zu feiern ist: nie wieder Grundschule. Nie wieder Ersatzlehrer. Nie wieder Sechstklässler unterrichten, die auf dem Leistungsniveau von Viertklässlern sind. Keine ausgebrannten Kollegen mehr, die eigentlich nur noch auf die Pensionierung warten. Nie wieder versiffte Toiletten, gegen die ein altes Bahnhofsklo wie ein Sanitärpalast wirkt. Und nie wieder Elfjährige beruhigen, die blind vor Wut auf ihre Mitschüler einprügeln wollen. Oder auf mich. Leicht beschwipst und ein bisschen wehmütig spaziere ich an den Gitterstäben entlang, die den verrückten Schulhof von der normalen Welt trennen, und sehe meiner wiedergewonnenen Freiheit nicht ganz ohne Sorge entgegen. Denn sosehr mich der Job als Lehrer an meine emotionalen Belastungsgrenzen gebracht haben mag - immerhin hatte ich ein Job! Immerhin durfte ich eine tägliche Aufgabe erfüllen, mit der ich nicht nur meine Familie ernähren, sondern auch das Bedürfnis stillen konnte, etwas gesellschaftlich Relevantes zu tun. Außerdem war bei all der Anstrengung nicht zu leugnen, dass ich immer wieder einen Heidenspaß mit den Kids hatte. Aber all das ist nun vorbei, und bislang bin ich ziemlich ratlos, welche neue Beschäftigung das Loch in meinem Alltag und in meinem Lebenslauf füllen soll."Züüüüsch, Herr Mülla!", werde ich plötzlich von hinten angesprochen."Warum hängst du noch hier rum?" Als ich mich umdrehe, steht mein ehemaliger Schüler Khalim mit einem Skateboard unterm Arm vor mir. Seitdem klar ist, dass er die sechste Klasse wiederholen muss, ist seine Laune ziemlich im Eimer."Wir haben bloß noch auf die Sommerferien angestoßen „, erkläre ich,"und auf meinen letzten Tag als Lehrer."„Vallah, du hast's gut, ja? Musst nisch mehr Schule gehen ..."„Dafür muss ich jetzt zum Amt, mir einen neuen Job suchen. „„Is doch voll cool!", meint er und schaut sich dann zum Schulgebäude um."Sch'würde viel lieber Job suchen, als noch ein Jahr hier bleiben. Bei diesen ganzen Opfern!" Er zuckt mit den Schultern, lässt sein Skateboard auf den Boden fallen und gibt mir zum Abschied die Hand."Viel Glück, Herr Mülla!"„Danke, dir auch, Khalim." Glück kann ich gut gebrauchen, denke ich, als er davonrollert. Doch bevor ich in Selbstmitleid versinken kann, tritt der Mann aus dem Schultor, der mich in den letzten zwei Jahren am häufigsten zum Lachen gebracht hat: Geierchen. Ein sportlicher Mittfünfziger mit schulterlangen blonden Haaren, strahlend blauen Augen und einer kleinen Wohlstandswampe. Geierchen, der eigentlich Rolf Geier heißt, unterrichtet Sport und Naturwissenschaften an der Schule, in der ich die letzten vierundzwanzig Monate gebuckelt habe. Gemeinsam mit ihm habe ich im letzten Jahr eine sechste Klasse geleitet, die wir mit dem heutigen Tag, dem letzten des Schuljahrs, in die Oberschule entlassen. In dieser Zeit lernte ich seine etwas ungewöhnlichen, aber stets unterhaltsamen Unterrichtsmethoden kennen und lieben - und es verging kaum ein Tag, an dem er mir nicht in aller Deutlichkeit sagte, dass ich mich beruflich auf dem Holzweg befände. Nachdem sich Geierchen eine Kippe angesteckt hat, schaut er sich kurz nach rechts und links um und setzt dann ein breites Grinsen auf, als er mich erblickt."Kiek ma eena an", ruft er mir zu,"der jescheiterte Aushilfspauker!" Wie gewohnt beendet er seinen Satz mit einer kratzigen Lache, die so ansteckend ist, dass ich das ängstliche Grummeln in meinem Bauch für einen Moment vergesse und lächelnd in seine Richtung schlendere. Breitbeinig stiefelt er auf mich zu und haut mir dann so kameradschaftlich auf die Schulter, dass ich fast im nächsten Gebüsch lande."Hab ick's dir nich jesacht?", beginnt er und zieht erneut an seiner Fluppe."Reißt dir hier zwee Jahre den Hintern uff - und am Ende treten se dir noch rinn ..." Ach, Geierchen, denke ich, wenn ich doch nur auf dich gehört hätte ... Dann wäre ich um so viele Sorgenfalten ärmer - aber auch um tonnenweise wertvolle Lebenserfahrung und um die Bekanntschaft mit dem wohl außergewöhnlichsten Lehrer der Welt."Du findest schon wat", muntert er mich auf unserem Fußweg zur U-Bahn auf,"hast ja zwölf Monate Zeit."„Bis?"„Na, bis die Hartz-IV-Falle zuschnappt", erklärt Geierchen und schaut mich prüfend über die Ränder seiner rosafarbenen Lesebrille an. Dann nimmt er das 2-Euro-99- Gestell ab und lässt es an der Goldkette um den Hals baumeln."Aber hier warste eh uff 'n falschen Dampfer, hab ick dir ja von Anfang an jesacht. Also lass dir diesmal nich wieder so 'ne Notlösung andrehen. Haste jehört?"„Ja ja, du hast wahrscheinlich recht", seufze ich und zucke mit den Schultern."Aber irgendwie vermisse ich die Chaos-Kids jetzt schon. Zumindest ein bisschen. Zwischendurch haben wir doch echt viel gelacht ..."„Stimmt schon, aber fast jedet Mal isset uns anschließend im Halse stecken jeblieben", beendet er meinen Satz und grinst dann."Kannste dich an Jack inne Werkstatt erinnern? „ Oh ja, das kann ich! Im vergangenen Frühling plante Geierchen mit unserer Klasse den Bau eines Vogelhäuschen. Deshalb fanden wir uns jeden Dienstag für eine Doppelstunde in der Schulwerkstatt ein, in der die siebenundzwanzig Schüler über Hammer und Nägel, Säge und Feile frei verfügen konnten. Immer, wenn sich der ohnehin schon ohrenbetäubende Geräuschpegel in der Klasse zu einem Höllenlärm hochschaukelte, schnappte sich Geier chen einen Besenstiel und schlug ihn der Länge nach auf eine der Werkbänke. Das knallte noch lauter als das Lineal, das ich zu Beginn meiner kurzen Paukerkarriere auf dem Lehrerpult zerschmettert hatte."Wenn hier eena brüllt, bin ick dit!", donnerte Geierchen jeden Dienstag pädagogisch wertvoll nach dem Schlag mit dem Besenstiel. Und dann wandte er sich wieder denen zu, die als Sechstklässler anscheinend zum ersten Mal ein Werkzeug in der Hand hielten, und zeigte ihnen geduldig, wie man den Nagel auf den Kopf trifft. Zu genau diesen Schülern gehörte Jack. Als Rolf und ich uns eines Tages seiner Werkbank näherten, stand er in gebeugter Haltung davor und schlug lustlos mit dem Hammer auf ein Stück Holz."Wat machst du denn da?", wollte Geierchen von Jack wissen, der ganz überrascht hochschaute, als er uns neben sich stehen sah."Schau'n Nagel rein." Mit offenem Mund starrte Jack zuerst die beiden Lehrkörper vor sich und dann das Holz an und schien dabei erstmalig zu bemerken, dass er bei seiner Aktion einen nicht unerheblichen Gegenstand, den Nagel, vergessen hatte. Schließlich trug Rolf mir auf, mich des Jungen anzunehmen, und so unterstützte ich Jack, so gut es eben ging, bei seiner Aufgabe, zwei Holzplatten zu einem Spitzdach zu formen und mit ein paar Nägeln auf einer weiteren Holzplatte zu befestigen. Als Geierchen eines Tages vorbeikam, um das Ergebnis zu inspizieren, fehlten ihm für einen Augenblick die Worte. Von allen Seiten betrachtete er das windschiefe Gebilde, aus dem zahlreiche Nagelspitzen he rausragten. Dann schüttelte er langsam den Kopf."Dit soll 'n Vogelhaus sein?", wollte er von Jack wissen, der da rauf hin zu Boden blickte und auch ich kratzte mich verlegen am Oberarm."Und wat soll da für 'n Vogel drin wohnen?", hakte mein Kollege nach."Der sojenannte Kackvogel, oder wat?" Kopfschüttelnd pfefferte Geierchen das handgefertigte Trauerspiel auf den Altholzhaufen in der Ecke und ließ den Jungen von vorne anfangen."Drei Monate hamwa an den Häuschen jearbeitet", sagt Geierchen jetzt, als wir uns von dem Lachanfall wieder einigermaßen erholt haben, und starrt in den sommerlich blauen Himmel. Dann verschwindet das Lächeln plötzlich."Und am Ende hamse die Dinger uff'm Schulhof zertreten." Sein Blick verliert sich in der Ferne."Is doch allet für die Katz." Was für mich eine frustrierende Erinnerung ist, ist für Rolf nackte Realität - immerhin war er schon als Lehrer unterwegs, als mein Lebensinhalt noch maßgeblich von Schnullern und abwaschbaren Bilderbüchern bestimmt wurde. Nach Aussage vieler Kolleginnen hat die Bildungskatastrophe zwar erst in den letzten zehn, vielleicht fünfzehn Jahren solch dramatische Ausmaße angenommen, aber eine Besserung ist seitdem keineswegs in Sicht - ganz im Gegenteil: Die sträfliche Vernachlässigung des Bildungswesens durch Politik und Gesellschaft wird die ohnehin schon pikante Personalsituation in den kommenden Jahren noch verschärfen. Inklusion und Reformschule sind damit vermutlich genauso zum Scheitern verurteilt wie alle vorherigen Reformansätze auch."Lang mach ick dit nich mehr mit", seufzt Geierchen, als wir am Eingang des U-Bahnhofes ankommen. Dann schüttelt er kurz den Kopf und grinst mich breit an:"Aber zu Ferienbeginn woll'n wa keen Trübsal blasen, wa?"„Genau", stimme ich ihm zu,"wahrscheinlich sollte ich einfach froh sein, diese Freak-Show hinter mir zu lassen und ..."„Hinter dir?" Geierchen legt den Kopf zur Seite, kneift die Augen zusammen und kommt mir ganz nahe."Pass ma uff: Schule is 'ne Miniaturlandschaft der Jesellschaft. Und wenn de denkst, Möller, die Minifreaks war'n schon crazy - denn schau dir die Exemplare ma in Originalgröße an!"„Wie meinst du das?" Als Geierchen gerade Luft holt, hält in der Schlange, die sich nur wenige Meter von uns entfernt vor einer roten Ampel gebildet hat, ein Hundeschlitten auf Rädern zwischen den Autos an. Vor das Gefährt sind sechs waschechte Huskys gespannt. Ein großer Mann mit Vollbart, Regenjacke und Lederhandschuhen steht auf dem Aluminiumgestell des Schlittens und bemerkt unsere Blicke."Was denn", fragt er genervt,"noch nie 'n Tandemgespann gesehen?!" Geierchen und ich schauen uns einen Moment verwundert an."Doch, doch", meint mein Kollege dann und steckt mich wieder mit seiner krächzenden Lache an."Aber nur im Fernsehen. Reiseberichte über Grönland und so", kichert er."Nun sein Se mal nicht so verbohrt!", ruft der Mann zu uns rüber, der ohne Weiteres als Doppelgänger von Reinhold Messner durchgehen könnte."Meine CO2-Bilanz ist unschlagbar", schiebt er dann hinterher und unterstreicht dabei jede Silbe des letzten Wortes mit wilden Handbewegungen. Einen Moment später schaltet die Ampel auf Grün, und nach einem unverständlichen Befehl in einer fremden Sprache nimmt das Gespann hechelnd Fahrt auf."Äckt globill, sink lokill!", ruft uns der Hundeführer mit einem harten deutschen Akzent noch zu, während Geierchen ihm lachend nachwinkt. Sprachlos schüttele ich den Kopf."Ick sachet ja", wiederholt Geierchen auf der Treppe zur U-Bahn."Dit janze Land is voller Freaks - und weil in Berlin die meisten rumspringen, sinn wa och Hauptstadt jeworden." Da mein lieber Exkollege in die andere Richtung fahren muss, wird es Zeit für den vorläufigen Abschied. Als seine Bahn kommt, nimmt er mich so fest in den Arm, dass mir fast die Luft wegbleibt."Möller, wir bleiben in Kontakt, wa?", sagt Geierchen, und es sieht ein bisschen so aus, als hätte jetzt auch ihn der Abschiedsschmerz gepackt. Doch für Sentimentalitäten bleibt keine Zeit, denn als sich die Türen der U-Bahn öffnen, können es die Ersten am Bahnsteig kaum erwarten, den Waggon zu betreten. Ohne Rücksicht auf Verluste drängeln sich die Passagiere, die bislang friedlich neben uns standen, an einem kleinen Mann mit Karohut und Aktenkoffer vorbei, der offensichtlich aussteigen will. Mit hochrotem Kopf versucht er sich unter Einsatz seines überschaubaren Körpers durch die he reinströmende Menschenmasse nach draußen zu quetschen."Erst aussteigen lassen!", blafft er schließlich ein paar Unschuldige an, die brav gewartet haben. Dann schiebt er sich rabiat an meinem unbeteiligten Kollegen vorbei und verpasst ihm mit dem Aktenkoffer einen saftigen Pferdekuss."Aua!", ruft Geierchen und hält sich den Oberschenkel."Bisse bekloppt, oder wat?!"„Selbst schuld, was stehen Sie auch hier he rum?", schnaubt der Herr mit Hut und mustert Geierchen dabei von oben bis unten."Die ganze Stadt ist voller Spinner!", schimpft er dann, zupft seinen senfgelben Blouson zurecht und eilt mit trippelnden Schritten davon."Dit sind mir die Liebsten", sagt Geierchen, noch bevor sich die Türen der Bahn schließen und er vorerst aus meinem Leben entschwindet."Die Spießer-Freaks!"
2 DER COUNTDOWN LÄUFT
Als auch meine U-Bahn kommt, ergattere ich einen Sitzplatz und schotte mich dank der Kopfhörer zügig von der Umwelt ab. Dann zücke ich mein Smartphone, wähle einen Song aus meiner Playlist und öffne die blaue Zeitfresser- App mit dem weißen f. Hier erfahre ich, was meine sogenannten Freunde - Menschen, denen ich teilweise noch nie begegnet bin - der Welt mitteilen wollen: Tina hat einen Bagel mit Rucola zu Mittag gegessen, Konstantin war mit seinem Hund spazieren, Jessica ist langweilig, und Tunç möchte mit mir einen Bauernhof gründen. Nach mehreren Jahren Mitgliedschaft in diesem nicht immer nur sozialen Netzwerk überfliege ich die Meldungen meist nur noch aus Langeweile und wundere mich nicht selten über die unfassbare Irrelevanz der sogenannten Neuigkeiten. Dennoch haben es mir die kleinen roten Zahlen am oberen Rand der App irgendwie angetan, die mich über Freundschaftsanfragen, Likes und sonstige Mitteilungen informieren, und so erwische ich mich immer wieder dabei, vollkommen sinnfreie Minuten in diesem virtuellen Freundeskreis zu verbringen. Wahrscheinlich hat Geierchen also mal wieder recht: Das Land ist voller Freaks - und mitten unter ihnen muss ich nun einen Platz für mich finden. Schöne Aussichten sehen irgendwie anders aus ... Im Hausflur kommt mir auf halber Treppe mein Vermieter Herr Graufuß entgegen, der seine mehrstöckige Altersvorsorge gemeinsam mit seiner Frau bewohnt, verwaltet und instand hält. Aus der Brusttasche seiner grünen Latzhose lugen ein Schraubenzieher, ein Bleistift und ein Kugelschreiber, die er der Länge nach sortiert hat. Die Ärmel seines Karohemds sind fein säuberlich bis zu den Ellenbogen hochgekrempelt und die Schnürsenkel seiner Sicherheitsschuhe mit den großen Stahlkappen zu identischen Doppelschleifen gebunden. Zwei Stufen über mir hält er inne und spricht mich an."Herr Möller", beginnt er vorwurfsvoll und atmet dann einmal laut aus."Meine Frau musste mal wieder feststellen, dass zwischen Ihren Papiermüll ooch Plastik dabei sein tut."„Ehrlich? Aber woher wissen Sie denn, dass ..." Er unterbricht mich, indem er mir demonstrativ einen Briefumschlag mit meinem Namen da rauf zeigt. Durchsucht der Typ tatsächlich meinen Müll? Hält er mir demnächst vielleicht die Windeln unserer Tochter vor die Nase und verlangt, deren Inhalt gesondert in der Biotonne zu entsorgen?"In diesen Hause tun wir allagrößten Wert uff Riehzaikling legen", erklärt er mir."Ick erwarte mehr Sorgfalt von Ihnen, ja?" Weil mein Tag für heute bescheiden genug war, nicke ich ihm nur kurz zu und überlasse ihn dann sich selbst. Im dunklen Flur unserer Wohnung kommt mir Sarah auf Zehenspitzen entgegen und gibt mir einen Kuss."Klara ist gerade eingeschlafen", flüstert sie mir ins Ohr und zeigt auf das Zimmer unserer fünf Monate alten Tochter. Leise verkrümeln wir uns auf den Balkon, wo sich meine Freundin eine Tasse Stilltee eingießt. Dann nimmt sie meine Hand und lächelt mich sanft an."Na, wie war dein letzter Tag in der Schule?" Seitdem Sarah einen Lehramtsstudienplatz in Potsdam bekommen hat, verfolgt sie meine beruflichen Ausflüge ins Schulhaus ganz genau. Ich berichte ihr also von meinem letzten Auftritt als Musiklehrer auf dem Sommerfest, von den Bierchen mit dem Kollegium und der Betriebsrätin unserer Schule. Die wollte nämlich auch den letzten Tag nicht ungenutzt lassen, um mir noch einmal mitzuteilen, wie sehr sie die Entscheidung der Senatsverwaltung begrüße, Vertretungslehrer wie mich endgültig vor die Tür zu setzen."Ist das dreist!", entfährt es Sarah."Drei Tage vor Ablauf deines Vertrages erfährst du, dass er doch nicht verlängert wird - und die Trulla würgt dir noch eins rein ..."„Na ja", gebe ich zu bedenken,"man muss sich ja schon fragen, ob jemand ohne Staatsexamen wirklich eine vierte Klasse leiten sollte."„Ach komm", entgegnet Sarah energisch,"du hast deine Sache doch gut gemacht. Außerdem gibt es mehr als genug schlechte Lehrer mit passendem Studium!" Nach einem Blick in Richtung Kinderzimmer senkt sie ihre Stimme wieder etwas."Und wenn ich an meine bisherigen Seminare denke, weiß ich langsam auch, wa rum die meisten so schlecht auf den Schuldienst vorbereitet sind." Bis wir merken, dass wir all diese Dinge in den letzten zwei Jahren schon ausgiebig diskutiert haben, vergehen ein paar Minuten. Immer wieder haben wir in den vorigen Monaten festgestellt, dass nicht jeder, der den Lehrberuf ergreift, auch dazu geeignet ist. Und manch einer von denen, die geeignet scheinen, wird aufgrund politischer Entscheidungen nicht zugelassen. Oder zu katastrophalen Bedingungen, wie beispielsweise in meinem Fall: Dreimal habe ich da rauf hoffen müssen, dass die Senatsverwaltung meinen befristeten Vertrag verlängert, und dreimal habe ich erst wenige Tage vor Vertragsende erfahren, dass es klappt. Dementsprechend bin ich also auch bis vor Kurzem davon ausgegangen, im nächsten Jahr weiterhin beschäftigt zu werden - zumal die Schulleitung mir das längst versprochen hatte. Aber mündliche Zusagen sind eben keine richtigen Zusagen, und so stehe ich nun doof da: eben noch Lehrer, jetzt schon auf Jobsuche."Darfst du denn überhaupt verreisen, wenn du auf Jobsuche bist?", fällt Sarah plötzlich ein. Stimmt ja: der Urlaub! Ich schlucke, denn immerhin ist die Ferienwohnung längst gebucht und bezahlt - damals konnte ich ja nicht ahnen, dass das Schuljahr ohne Job und festes Gehalt enden würde. Am nächsten Morgen muss ich meinen Kopf vor dem hohen tristen Gebäude weit in den Nacken legen, um das große weiße A im roten Kreis zu erblicken. Durch eine rasant rotierende Drehtür gelange ich in eine riesige Empfangshalle, in der unzählige Menschen stumm auf eine Anzeigetafel voller Namen und Wartenummern starren. Ich stelle mich dazu und suche nach meinem Namen. H, I, J, K, L, M, N, O ... kein Möller? Dabei habe ich doch einen Termin! Nur einen gewissen Herrn Müller kann ich finden, aber an diesen Namen habe ich mich ja während meiner Zeit als Lehrer schon gewöhnen müssen. Na gut, dann probier ich es einfach mal als Herr Müller. Ich bewege mich an den Rand der Halle und steige in den gläsernen Lift, der mich in Windeseile in die schwindelerregende Höhe des siebten Stocks katapultiert. Während der Fahrt werden die Menschen unter mir immer kleiner und kleiner, bis sie zu einem einzigen wuseligen Ameisenhaufen zusammengeschrumpft sind. Im siebten Stock angekommen, gleiten die Fahrstuhltüren langsam auf. Ich steige aus dem Lift und stehe in einer grell beleuchteten Wartehalle, in der rote Metallstühle in mehreren Reihen aneinandergeschraubt stehen. Auf ihnen sitzen Menschen verschiedener Altersgruppen und starren auf einen großen Fernseher, der vor ihnen an der Wand hängt. Unter Protest einer Gruppe junger Typen in abgewetzten Klamotten drängele ich mich auf einen der letzten freien Plätze und nehme neben einer Dame mit tadelloser Frisur und schmalen Lippen Platz. Dann schaue ich mir das Video an. Es zeigt eine Gruppe attraktiver Männer und Frauen, die in Zeitlupe auf die Kamera zugehen. Sie tragen Aktenkoffer oder Handtaschen, sind in feine Anzüge und Kostüme gekleidet und strahlen den Zuschauer mit perfekten Zähnen an."Zeitarbeit", spricht eine tiefe Stimme aus der Glotze, als die Models an der Kamera vorbeilaufen. Dann taucht hinter ihnen ein älterer und sehr seriös wirkender Herr im Dreireiher auf und fügt hinzu:"Ihr Job! Ihre Zukunft!" Als der Clip ein paar Mal in Schleife gelaufen ist, wird er für eine Anzeige unterbrochen. Herr Müller, bitte zu Beratungsplatz zwei für Akademiker kommen, steht dort in weißen Lettern auf rotem Hintergrund. Das Publikum schaut mich böse an, als ich mich erhebe und wieder aus der Reihe drängele. Ich blicke an mir herab und stelle erschrocken fest, dass ich mit Anzug und Krawatte für diesen Termin offenbar komplett overdressed bin. Ja, genau, denke ich mir. Der Pseudo-Yuppie darf vor euch allen dran, der hat nämlich einen Termin. Der ist schließlich Akademiker. Auch wenn der Anzug von H&M und seine berufliche Zukunft kohlrabenschwarz ist."Herr Müller, bitte!", ruft nun eine Stimme aus dem Lautsprecher, als ich mit großen Schritten an einer Gruppe finster dreinblickender Männer in blauen Latzhosen vorbeilaufe, von denen einer sogar seine geballte Faust in der anderen Hand reibt. Ein paar Meter weiter öffne ich eine schwere Holztür mit einer gelben Zwei da rauf. Hinter einem massiven Eichenholzschreibtisch sitzt ein Mann, der deutlich jünger ist als ich. Die Haare hat er penibel zurückgekämmt und mit viel Pomade an den Schädel geklatscht. Durch eine große Hornbrille starrt er mich an, während er auf einen freien Holzstuhl vor dem Tisch weist."Bitte setzen", sagt er streng."Sie sind doch dieser Herr Müller, oder?"„Möller", korrigiere ich ihn,"mit Ö wie Ökonom."„Natürlich. Und Sie sind also arbeitslos, Herr Müller?", will er von mir wissen und schlägt eine lederne Mappe auf, die vor ihm auf dem Tisch liegt. Vorsichtig ziehe ich die schwere Tür ins Schloss und schleiche zu dem Stuhl vor seinem Tisch."Wie konnte das denn passieren?", fragt er. Tja, gute Frage. Als ich gerade meine kleine Geschichte des gestrandeten Aushilfslehrers zum Besten geben will, hebt er seinen Zeigefinger und hält mit zusammengekniffenen Augen ein Blatt Papier in die Höhe."Ich habe hier Ihren Lebenslauf vorliegen. Sie haben doch in der Uni gelernt, berufliche Weiterbildungsmaßnahmen für Erwachsene zu gestalten - und sind dann Lehrer für Kinder geworden? „ Offensichtlich ist die Frage rhetorisch, denn ohne den Blick von den Unterlagen zu heben, fährt er fort."Außerdem waren Sie Pressesprecher einer Werbekampagne für Atheismus?", fragt er zuerst nachdenklich, erhebt dann aber plötzlich die Stimme und sieht mich vorwurfsvoll an:"Damit haben Sie sich für einen Job bei der Caritas wohl disqualifiziert!" Kopfschüttelnd schiebt er einen großen Stapel Unterlagen an den äußersten Rand des großen Tisches."Ja, wenn Sie das so ..."„Tut mir leid", unterbricht er mich, schlägt die Mappe wieder zu, nimmt die Brille von der Nase und reibt sich entnervt die Augen."Aber mit einem solchen beruflichen Werdegang sehe ich ehrlich gesagt ganz schwarz für Sie." Dann bekreuzigt er sich und murmelt etwas in seine gefalteten Hände. Aus dem Bücherregal hinter ihm öffnet sich plötzlich eine Tür, durch die überraschenderweise Sarah in den Raum tritt. Ihr Kopf ist mit einem weißen Tuch bedeckt, und unter einem langen Kleid schauen ihre nackten Füße hervor. Geräuschlos schreitet sie auf den Schreibtisch zu und macht davor einen höflichen Knicks. Mit beiden Händen schiebt sie den Schleier beiseite und legt dabei eine blau schimmernde Tätowierung im Dekolleté frei. Sie zeigt die Zahlenfolge 08:30."Und führe ihn nicht in Verschlafung!", spricht sie dann mit blecherner Stimme,"sondern erlöse ihn von dem Dösen!" Wie bitte? Von dem Dösen?"Philipp, du hast verschlafen!", ruft Sarah plötzlich mit klarer Stimme und rüttelt an meiner Schulter."Es ist halb neun! Du musst in 'ner halben Stunde beim Arbeitsamt sein. Steh jetzt auf!" Ich blinzele ein paar Mal, hebe meinen Kopf aus dem Kissen und greife hektisch nach meinem Wecker. Halb neun?! Eine Wagenladung Adrenalin schießt mir durch die Adern und katapultiert mich aus dem Bett, sodass ich nur elf Minuten später geduscht und angezogen die Treppe he runterpoltere."Keine Zeit!", rufe ich Frau Graufuß entgegen, die sich mir vor ihrer Wohnung im zweiten Stock in den Weg stellt."Aber in Ihrem Müll ..."„Sortiere ich!", rufe ich ihr aus dem ersten Stock zu und renne weiter zum Bahnhof. Schon von der Straße aus sehe ich die S-Bahn einfahren, also gebe ich auf den Stufen zum Gleis noch einmal Vollgas. Mit einem Hechtsprung schmeiße ich mich gerade noch zwischen die Türen, die sich mit einem tutenden Signal schließen und dabei meinen rechten Fuß einklemmen. Vor den Augen einiger untätiger Fahrgäste stemme ich die Türen mit letzter Kraft ein paar Zentimeter auf und ziehe meine Tasche hinterher. Geschafft! Nachdem sich mein Puls wieder halbwegs stabilisiert hat, entdecke ich einen freien Sitzplatz in einer Viererbank, finde da rauf allerdings einen Aktenkoffer vor. Den zwei Punks gegenüber wird er wohl kaum gehören, also kommt als Eigentümer des edlen Gepäckstücks eigentlich nur der Herr auf dem Platz neben dem Koffer infrage. Hinter einer Ausgabe der Financial Times kann ich von ihm allerdings nur die Nadelstreifen und die glänzenden Lederschuhe sehen."Entschuldigung, ist das Ihr Koffer?" Raschelnd nimmt Monsieur die Zeitung he runter und bringt seine feinen Gesichtszüge zum Vorschein, die durch einen akkuraten Seitenscheitel eingerahmt werden. Anstelle einer Krawatte ragt der lockere Knoten eines weinroten Tuchs aus seinem Hemdkragen."Weshalb fragen Sie?", will er wissen und schaut mich durch eine rahmenlose Brille an."Weila da sitzen möchte, du feiner Pinkel", mischt sich der Punk vom Sitz gegenüber ein und schaut ihm unbeirrt in die Augen."Also, ich muss doch sehr bitten!", echauffiert sich der feine Herr und faltet die Zeitung zusammen."Deinen Koffer da wegnehmen, dit musste!", korrigiert ihn der Punk und nimmt einen Schluck aus seinem Weinkarton. Dabei hält er dem Blick seines Kontrahenten weiter stand und nickt schließlich, als dieser seinen Koffer wegnimmt, ihn umständlich auf seinen Oberschenkeln platziert und sich erneut hinter seiner Zeitungswand verbarrikadiert."So kannze dich im Rolls-Royce ufführen", hat der junge Mann mit dem grünen Haar noch zu sagen,"aber stell dir vor: Hier inna echten Welt jibt's noch andre Leute!"„Danke sehr", sage ich in Richtung Zeitung, nicke den Punks zu und setze mich."Keen Ding. Ick bin Sterni, und dit is meene Braut Kröte." Er zeigt auf die junge Dame neben sich, die mit halb offenem Mund an seiner Schulter lehnt."Haste 'n Euro?", will sie wissen."Oder 'ne Kippe?" Lächelnd händige ich beiden eine Zigarette aus und versuche dann, mich auf mein bevorstehendes Gespräch beim Arbeitsamt zu konzentrieren. Aus gegebenem Anlass kommt mir dabei jedoch ständig Geierchen in den Sinn, denn schon wieder befinde ich mich zwischen etwas sonderbaren Zeitgenossen: das fleischgewordene Statussymbol, das auf zwei Quadratmetern lachsfarbenem Zeitungspapier die Aktienkurse studiert, und zwei waschechte Punks, die eng ineinander umschlungen versuchen, zwischen Tetrapakwein und Springerstiefeln eine Art Romantik entstehen zu lassen. Leben wir also wirklich in einer Freak-Republik? Wandeln wir eher zwischen Exzentrikern, Übertreibern und Paradiesvögeln durch die sechzehn Bundesländer als zwischen kultivierten Dichtern und Denkern? Und was meint dieser Begriff eigentlich: Freak? Glücklicherweise sind die Zeiten ja vorbei, in denen siamesische Zwillinge, Frauen mit Vollbärten oder körperlich beeinträchtigte Menschen als Zwerge, Riesen oder Dreibeinige im Zelt eines Wanderzirkus ausgestellt wurden. Wohin hat sich dieser Begriff also entwickelt? Was bedeutet es inzwischen, ein Freak zu sein? Eines haben die drei um mich he rum schon mal gemeinsam: Rein äußerlich fallen sie vollkommen aus dem Rahmen. Aber ist es wirklich nur das Äußere, das mich von den Punks oder dem Herren in Nadelstreifen unterscheidet, oder ist es eher das Verhalten, das den schmalen Grat zwischen Homo normalus und Homo freakus ausmacht? Und wer von ihnen ist dahin gehend eigentlich schräger: der wie aus dem Ei gepellte und offenbar sehr gut etablierte Typ, der für seine großflächige Lektüre und sein Gepäckstück zwei Sitzplätze beansprucht, oder die gepiercten und ungewaschenen Schnorrer, die zwar gruselig aussehen, mir aber letztlich weniger auf den Keks gehen als mein Sitznachbar? Die Frauenstimme der S-Bahn reißt mich aus meinen Gedanken und bewahrt mich so davor, die Station zum Arbeitsamt zu verpassen. Ein kurzer Fußweg führt mich zu dem Gebäude, das zum Glück ganz anders aussieht als in meinem Traum. Innen erwarten mich auch keine Menschenmassen, keine Anzeigetafel und kein gläser ner Fahrstuhl, stattdessen fordert ein kleines Schild dazu auf, sich unaufgefordert beim Empfang zu melden. Linker Hand befindet sich ein Schalter, an dem zwei junge Frauen anstehen. Eine von ihnen wird gerade nach vorne gebeten, als ich mich hinter der anderen einreihe. Ihr rotes gelocktes Haar steht in alle Himmelsrichtungen vom Kopf ab, und während sie in ihrer Tasche he rumwühlt, brabbelt sie auf Englisch leise vor sich hin. Schwungvoll dreht sie sich plötzlich zu mir um. Ihr stupsnäsiges Gesicht ist voller Sommersprossen."Excuse me", beginnt sie mit feinstem britischen Dialekt,"do you speak English?" Nach genau dieser Frage hat mir meine ehemalige Schulleiterin damals einen Job als Englischlehrer angeboten, aber so etwas wird wohl kaum ein zweites Mal passieren. Ich nicke. Da rauf hin erklärt mir die Lady in Höchstgeschwindigkeit, dass sie einen Job in Berlin suche, dabei aber bisher unter anderem an den Sprachkenntnissen der hiesigen Sachbearbeiter gescheitert sei. Warum überrascht mich das nicht? Noch bevor sie mich um Hilfe bitten kann, wird sie an den Schalter gerufen und legt die Unterlagen vor, die der Mann hinter dem Tresen mit steinerner Miene prüft."Sie benötigen eine vom Vermieter gegengezeichnete Meldebescheinigung in Original und Kopie sowie das Kündigungsschreiben mit Zugangs- bzw. Absendenachweis oder den Aufhebungsvertrag des letzten Arbeitsverhältnisses „, erklärt der Mann am Pult in einer solchen Monotonie, dass ich mich für den Bruchteil einer Sekunde frage, ob der Typ wirklich aus Fleisch und Blut oder vielleicht doch ein Android ist.
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Bibliographische Angaben
- Autor: Philipp Möller
- 2014, 1. Aufl. 2014, 336 Seiten, Maße: 12,5 x 18,3 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Bastei Lübbe
- ISBN-10: 3404607589
- ISBN-13: 9783404607587
- Erscheinungsdatum: 14.01.2014
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