Bis du erwachst
Die junge Lena stürzt so unglücklich von der Treppe, dass sie ins Koma fällt. Ihre Schwestern finden in ihrer Tasche die Visitenkarte von Michael, den Lena erst vor kurzem kennengelernt hat. Sofort eilt er an Lenas Krankenbett. Und schließlich geschieht sogar ein Wunder.
Die junge Lena stürzt so unglücklich von der Treppe, dass sie ins Koma fällt. Ihre Schwestern finden in ihrer Tasche die Visitenkarte von Michael, den Lena erst vor kurzem kennengelernt hat. Sofort eilt er an Lenas Krankenbett. Und schließlich geschieht sogar ein Wunder.
Lena liegt nach einem Unfall im Koma. Ihre Schwestern, die arbeitslose Millie und Cara, die Karrierefrau, lassen alles stehen und liegen, um ins Krankenhaus an ihre Seite zu eilen.
Dort, an Lenas Bett, kommen sie sich wieder näher. Und müssen feststellen: Sie kannten ihre Schwester kaum. Als ein heimlicher Verehrer Lenas im Krankenhaus auftaucht, erleben die Schwestern ein Wunder ...
Bis du erwachst von Lola Jaye
1
Cara würde sich immer daran erinnern, wo sie gewesen war und was sie gerade getan hatte, als sie das mit Lena erfuhr.
Sie war da gewesen, wo sie dienstagabends immer war – sie hatte irgendeinen blöden Gast bedient. Diesmal behauptete der Typ, sie habe ihm aus Versehen auf eine Zehnpfundnote her ausgegeben, während er ihr aber zwanzig gegeben hätte.
« Es war ein Zehner, glauben Sie mir », sagte sie ruhig und stellte sich dabei vor, wie sie ihm mit besagter Zehnpfundnote das Maul stopfte.
« Ich schlage vor, dass Sie mal Ihre Kasse aufmachen und nachsehen, welchen Schein Sie zuletzt hin eingelegt haben, Miss », entgegnete er wichtigtuerisch.
Cara konnte es sich nicht verkneifen, mit den Augen zu rollen, egal, ob er es sah oder nicht. Ade redete ständig davon, dass der Kunde immer recht habe, aber der Spruch war ihr schon immer gewaltig auf die Nerven gegangen. Das hier war ihre Bar (na ja, ihre und Ades), und die Einzige, die hier recht hatte (vor allem gerade jetzt), war sie selbst, und das würde sie gleich beweisen.
« Falls es sich nicht um eine dieser seltenen unsichtbaren Zaubernoten handelt, ist Ihr Zwanziger nicht da. Sie haben mir einen Zehner gegeben. Wünschen Sie sonst noch etwas, Sir? », fragte sie scharf. Sie hoffte, dass dieser spezielle Gast nicht wiederkam. Nie wieder. Es war schließlich nicht so, als wäre die Bar auf ihn angewiesen. Nach drei langen Jahren Schufterei und schlafloser Nächte und einigen angespannten Terminen bei dem kaum dem Teenageralter entwachsenen Bankfilialleiter warf das A&R endlich Gewinn ab. Jeder, vor allem ihre Schwester Lena, hatte sie gewarnt, dass der Schritt in die Selbständigkeit schwierig und sehr risikoreich sein würde. Aber Cara und Ade hatten Herzblut in ihr Projekt gesteckt, und neben dem Blut noch jede Menge Schweiß und Tränen. Und während der Rest der Welt in einer globalen Rezession versank, konnten Cara und Ade sich behaupten, weil East Dulwich sich gerade zur bequemeren und billigeren Alternative zum Londoner West End entwickelte. Und das A&R mit seinem entspannten und coolen Look – schummrige Beleuchtung aus Mini-Lüstern, kleine Séparées mit bequemen Ledersofas, abgeteilt durch glitzernde Musselinvorhänge – konnte mit den besten Bars im West End mithalten. Nicht zu weit entfernt lebten Cara und Ade in einer Traumwohnung, von der aus sie einen wunderschönen Blick über London hatten. Im Prinzip hatte sie ihr Leben im Griff. Alles war genau so, wie es sein sollte : Sie hatte einen wunderbaren Lebensgefährten, eine schöne Wohnung, und ihr Geschäft lief super.
Cara fuhr sich mit den Fingern durch das kurzgeschnittene Haar. Sie war müde, und ihr taten allmählich die Füße weh – was einerseits wohl dar an lang, dass sie den ganzen
Tag pausenlos auf den Beinen gewesen war, und andererseits, dass sie ein Paar neue hochhackige Schuhe aus lila Satin trug, die noch eingelaufen werden mussten. Das war noch etwas, was die gut gehende Bar ihr ermöglichte : freie Schuhauswahl. Die Verkäuferinnen bei Kurt Geiger und Bertie sprachen sie schon mit Vornamen an. Sie besaß ein Paar Christian Louboutins und ein Paar Sergio Rossis, und bald würde sie ein Paar herrliche schwarz-orange Ginas mit einem Absatz von zwölf Zentimetern ihr Eigen nennen. Je höher der Absatz, desto selbstbewusster fühlte sie sich – vor allem, weil sie nur eins fünfzig maß.
« Cara ! Cara ! », rief Ade von der anderen Seite der Bar. Seine Stimme klang drängend und ungeduldig, was gar nicht zu Ade passte. Normalerweise war er der Ruhige und sie die Chaotin. Er war der Nette und sie (und sie hatte kein Problem damit, das zuzugeben) die Ruppige. Was war los mit ihm ?
« Ade ? » Sie gingen auf ein an der zu, beinahe in Zeitlupe. Ade hielt das schnurlose Telefon umklammert, die Hand über der Sprechmuschel. « Für dich », flüsterte er. Seine Miene war düster.
Ihr Herz begann zu rasen. Irgendetwas war passiert. Alle möglichen Schreckensvorstellungen jagten ihr durch den Sinn. Vielleicht waren sie gar nicht so gut bei Kasse, wie sie gedacht hatte ? Vielleicht würde ihre Bar doch der Rezession zum Opfer fallen. Mit allem könnte sie zurechtkommen, nur damit nicht. Bitte nicht. « Wer ist dran ? », wisperte sie. Sie fühlte sich plötzlich nicht imstande, das Telefon von ihm entgegenzunehmen.
« Das Fen Lane Hospital. Sie . . . sie müssen . . . dich dringend sprechen ! » Er redete in winzigen Explosionen, so
schien es, und er schnappte nach Luft, als wäre er eben zwanzig Bahnen geschwommen. Seine Augen waren weit aufgerissen und wachsam.
Cara rutschte das Herz in die Hosen, sie stand wie angewurzelt. Die Stylistics plärrten derweil ihr « Betcha By Golly Wow » durch das hochmoderne Soundsystem.
« Das Krankenhaus ? », wiederholte sie so leise, dass sie von der Musik übertönt wurde.
« Es . . . es geht um Lena . . . », sagte Ade.
Millie befand sich in einem Zustand monumentaler Seligkeit, anders konnte man es nicht ausdrücken. Voll Entzücken betrachtete sie die riesigen Zehen, die am Fußende des überaus unordentlichen Bettes unter der Bettdecke hervorragten.
« Aufwachen, du Schlafmütze », sagte sie und tauchte selbst unter der Decke hervor. Der Fuß bewegte sich ein wenig, und sie beugte sich zum Nachttischchen und schaltete das winzige rosa Digitalradio ein. Unter der Decke drang ein ersticktes Gähnen hervor, als die seidige Stimme des DJs einsetzte. « Wir nähern uns dem Ende unserer Sendung – hier noch etwas von früher ! »
« Millie », stöhnte die verschlafene Stimme unter der Decke, dann dröhnte « Firestarter » ins Zimmer.
« Guten Morgen, schöner Mann », sagte sie heiter. So glücklich, so vollkommen hatte sie sich selten gefühlt. Es war eine schöne Abwechslung.
« Was zum . . . ? » Immer noch schlaftrunken, rieb Rik sich die Augen.
« Es ist beinahe Abend, Zeit zum Aufstehen ! », trällerte sie fröhlich, zog ihm die Decke vom Kopf und strahlte ihn an. Ihre wilden schulterlangen Locken wippten.
« Hmmmm, ich habe Hunger », seufzte Rik. Seit einem Monat war sie mit ihm zusammen, und sie mochte ihn wirklich schrecklich gern . . . « Hast du vielleicht was zu essen, Millie ? », fuhr er fort und wedelte mit der Hand in der Luft herum.
Und dann die Art, wie er ihren Namen sagte, wie er die Nase krauste, kurz bevor er lachte ! Sogar seine riesigen Füße waren süß. Sie war absolut verrückt nach ihm, und als sie Rik jetzt ansah, war ihr klar, was sie ihm sagen musste.
« Ich . . . », begann sie vorsichtig.
Rik beugte sich her über, um das kleine rosa Radio auszuschalten. Sie hatte es erst vor ein paar Monaten von Lena zum Vierundzwanzigsten bekommen, passend zu ihrem CD-Player, dazu eine Karte : Für Millie, meine verantwortungslose, liebe und schöne kleine Schwester. Herzlichen Glückwunsch. Du bist wunderbar. Alles Liebe, Lena.
« Ich schau mal in den Kühlschrank, aber wahrscheinlich gibt er nicht mehr her als kalte Pizza von gestern Abend. Außer du willst, dass ich uns was aus Lenas Vorräten zurechtmache. Da muss ich dich allerdings warnen : Sie hat bloß so gesundes Zeug wie Bohnensprossen oder Äpfel. Oh, aber ich glaube, ich weiß, wo sie ihren Geheimvorrat an Toblerone aufbewahrt », fuhr Millie aufgeregt fort.
« Ach, lassen wir das mit dem Essen », sagte Rik, der es sich anscheinend anders überlegt hatte. Er sprang aus dem Bett und ließ seinen perfekten Körper in eine Diesel -Jeans gleiten.
Ihr Herz tat einen Satz. Sie wollte es sagen. Sie musste ihm wirklich sagen, dass sie ihn liebte. Und zwar jetzt, bevor es zu spät war.
« Rik », begann sie. Sie musste sich sputen, damit sie es noch her ausbrachte, bevor er das Haus verließ. Er kam sowieso nur so selten vorbei, und sie gingen nie aus (es sei denn, man zählte den Fish-&-Chips-Imbiss letzten Samstag mit), daher wusste sie nicht, wann sich der nächste Moment bieten würde. Inzwischen hatte er schon das Shirt in der Hand. Sie musste sich beeilen, sonst wäre der Augenblick vorüber.
Sie musste es ihm jetzt sagen.
Jetzt.
Jetzt! « Ich liebe dich. »
Und dann herrschte Stille. Man hörte nur das Ticken ihres Betty-Boo-Weckers, während sie sich mit Blicken maßen, fast wie zwei feindliche Spieler.
Nervös biss sie sich auf die Unterlippe und wartete.
Rik seufzte und sah dann zu seiner Jacke hinüber, die er über die schief in den Angeln hängende Schranktür geworfen hatte. Er zog das Shirt an, immer noch schweigend, und Millie packte die Daunendecke und drückte sie an sich, weil ihr auf einmal ziemlich kalt war.
« Willst du denn gar nichts dazu sagen, Rik ? », fragte sie leise.
« Millie, ich mag dich ja . . . Aber . . . »
Und dann folgte ein Haufen Wörter, die, in die richtige Reihenfolge gebracht, alle auf dasselbe hin ausliefen :
Er wollte sie nicht.
« Ich glaube, wir sollten uns eine Weile nicht sehen », murmelte er schließlich.
Sie tat so, als hätte sie es nicht gehört, sie wollte diese Worte nicht hören, die sie ständig und dauernd zu hören bekam, solange sie zurückdenken konnte. Hauptsächlich
von Typen. Exfreunden, die natürlich nicht so perfekt zu ihr gepasst hatten wie Rik. Er war genau der Richtige für sie. Rik, der seinen Namen ohne C schrieb. Rik, mit dem sie sich sehr viel weniger einsam fühlte. Natürlich hatte sie auch Lena und manchmal Cara (die nur sehr selten), aber es war schön, jemanden wie Rik in der Nähe zu haben. Sie liebte ihn. Er war der Richtige für sie, und sie war die Richtige für ihn.
Sie brauchte ihn – zählte das denn gar nicht ?
Daher war das, was Millie als Nächstes tat, ganz natürlich.
« Nein, hör auf, Millie », murmelte er und versuchte sich ihrem drängenden Kuss zu entziehen. Das nutzte ihm natürlich nichts, denn sie klammerte sich verzweifelt an ihm fest. Krallte ihm die Finger in die Arme, als er sich aus ihrem Griff zu befreien versuchte und vielleicht auch aus ihrem Leben. Das konnte sie nicht zulassen. Jetzt nicht, überhaupt nie mehr. Sie wusste einfach nicht, ob ihr Herz einen weiteren Sprung überstehen würde.
Da packte er sie energisch bei den Schultern. « Ich habe nein gesagt, Millie ! » Seine Stimme war stark, fest, so klang ein Vater, der sein Kind ausschimpfte.
« Nicht », sagte er und schob sanft ihr Gesicht von sich weg. « Hör auf damit, Millie. »
Ein niederschmetterndes Gefühl der Zurückweisung überkam sie, drohte all ihre Sinne zu verschlingen, wenn sie nicht sofort etwas unternahm, um den Schaden zu begrenzen.
« Verstehe schon, du bist hundemüde, ich hätte dich nicht wecken dürfen. Geh heim, ruh dich aus, und dann treffen wir uns später ? », plapperte sie atemlos. Er sah sie an, und in
Copyright © 2010 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
- Autor: Lola Jaye
- 2010, 1. Auflage., 304 Seiten, Maße: 13 x 20,9 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung:Lingsminat, Petra
- Übersetzer: Petra Lingsminat
- Verlag: Wunderlich
- ISBN-10: 3805208952
- ISBN-13: 9783805208956
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