Blindes Verlangen / Darkyn Bd.4
Roman. Deutsche Erstausgabe
Der Vampir Gabriel wird von den Priestern der Bruderschaft entführt , in einer Kirche gefangen gehalten und grausamer Folter unterzogen. Das Einzige, was ihn davor bewahrt, den Verstand zu verlieren, sind die Träume von einer wunderschönen jungen...
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Produktinformationen zu „Blindes Verlangen / Darkyn Bd.4 “
Klappentext zu „Blindes Verlangen / Darkyn Bd.4 “
Der Vampir Gabriel wird von den Priestern der Bruderschaft entführt , in einer Kirche gefangen gehalten und grausamer Folter unterzogen. Das Einzige, was ihn davor bewahrt, den Verstand zu verlieren, sind die Träume von einer wunderschönen jungen Frau.Nicola Jefferson fährt auf ihrem Motorrad quer durch Europa. Getarnt als Fotografin stiehlt sie wertvolle Gegenstände aus Kirchen, auf der Suche nach einem alten Familienerbstück. Dabei entdeckt sie die Kirche, in der Gabriel sich befindet und befreit ihn. Der Vampir erkennt Nicola sofort: Sie ist die Frau aus seinen Träumen! Zwischen beiden scheint eine rätselhafte Verbindung zu bestehen ...
Lese-Probe zu „Blindes Verlangen / Darkyn Bd.4 “
Blindes Verlangen von Lynn Viehl... mehr
»Zu schwach, um zu entkommen«, sagte eine Stimme in der Dunkelheit, »und zu stark, um zu sterben.«
Als er in seinem neuen Raum in der Hölle aufwachte, bewegte sich der Gefangene nicht. Reaktionen waren genau wie Gefühle ebenso bedeutungslos wie nutzlos geworden. Er machte sich nicht mehr die Mühe, sich innerlich zu wappnen oder zusammenzuzucken; auf das zu warten, was passieren würde, kostete ihn seine gesamte Selbstbeherrschung.
Viel war Gabriel Seran angetan worden.
Und sie würden ihm noch mehr antun, doch er würde es aushalten. Fähigkeiten, die er während mehrerer Jahrhunderte seiner Existenz erworben hatte, ließen ihn das überleben, was ihn während seines kurzen menschlichen Lebens schon tausende Male getötet hätte. Sie hatten ihn auch diese letzten zwei Jahre als Gefangener der Bruderschaft überstehen lassen. Durch sein Talent war sein Körper nicht schwächer geworden, und seine Seele, von denen seine Geiselnehmer nicht glaubten, dass er sie besaß, hatte für den Rest gesorgt.
Was seinen Verstand anging, war er nicht sicher. Er hatte Gefühle gegen den Willen zum Überleben eingetauscht und fühlte jetzt kaum noch etwas - abgesehen von Schmerz. Er war zu einem Gletscher geworden, umgeben von gefoltertem Fleisch.
Vielleicht verdankte er sein Leben einem Phantom. Als er an sie dachte, diese Erfindung seiner eigenen verzweifelten Einsamkeit, sah er ihr Bild vor sich: ein blasses, blondes Mädchen, das im Wald herumirrte. Was sie suchte, wusste Gabriel nicht; und er hatte sie außerhalb seiner Träume auch noch nie gesehen. Aber so ausgedacht sie sein mochte, die Tatsache, dass sie in den letzten Monaten zu ihm gekommen war, hatte ihn davon abgehalten, sich den ewigen Freuden des Vergessens hinzugeben. Dank ihr konnte er mit dem Wissen leben, dass es niemanden auf der Welt gab, dem er noch etwas bedeutete oder der an ihn dachte. »Wenn du nicht zum Licht kommen willst, dann muss ich es zu dir bringen.« Ein leises Kratzen und das Zischen von brennendem Schwefel brachten eine kleine Flamme in die stickige, stockdunkle Kammer. Der Mensch, der das Streichholz entzündet hatte, hielt es an den geschwärzten Docht der Kerosinlampe, die der alte Priester zurückgelassen hatte, und der Lichtkreis wurde größer. Er hob die Lampe, sodass sie einen gelben Schein auf sein Gesicht und auf Gabriel warf. »Siehst du, Vampir? Im Gegensatz zu dir bin ich kein Monster.«
Jemand, der nicht zu sehen war, knurrte. Ein Sack wurde mit einem lauten Klatschen fallen gelassen.
Der Mensch trug das Gewand eines Monsters: eine schwarze Kutte mit drei auf seiner linken Brust aufgestickten Kreuzen aus blutroter Seide. Eines, das wusste Gabriel, für jeden Darkyn, den dieser Mensch persönlich getötet hatte. Die Brüder trugen die Kreuze wie moderne Soldaten ihre Medaillen.
Gabriel fragte sich, ob er dem Menschen sein viertes Kreuz einbringen würde und warum es ihm egal war, wenn es so war.
»Wir sind uns noch gar nicht richtig vorgestellt worden, nicht wahr?« Stumpfe kleine Zähne glänzten zwischen roten Lippen. »Ich bin Vater Benait.«
Benait gab vor, ein katholischer Priester zu sein, genauso wie alle Mitglieder des geheimen Ordens der Frères de la Lumière, der Bruderschaft des Lichts. Dieser Mensch und seine Mitgläubigen besaßen die blinde Entschlossenheit echter Fanatiker, die aus dem Glauben gespeist wurde, dass Gabriel und andere wie er ein Fluch für die Menschheit waren.
Den Brüdern war es egal, dass Gabriel und seine Art, die Darkyn, gelernt hatten, ihren Durst nach menschlichem Blut, das ihre einzige Nahrungsquelle war, zu zügeln, und nicht länger Menschen umbrachten. Während des ersten Jahres seiner Gefangenschaft hatte Gabriel all seine Überzeugungskraft eingesetzt, um Frieden mit seinen Geiselnehmern zu schließen, aber nichts konnte sie umstimmen. Sie waren nur an dem Erhalt ihres verzerrten Glaubens interessiert und der Perversionen, die sie in seinem Namen ausüben durften. Wie zum Beispiel Vrykolakas wie Gabriel gefangen zu nehmen und zu foltern, bis sie andere Kyn verrieten.
Gabriel gab sich keine Mühe mehr mit sinnloser Diplomatie. Was immer ihm die Brüder an diesem Ort antaten, er würde es ertragen. Es war seine Pflicht, das zu tun. Selbst wenn er sich gewünscht hätte zu sterben, sorgten die spontanen Selbstheilungskräfte seines Körpers dafür, dass er fast alles überlebte. Der betäubende Graben, den er durch sein Talent schaffen konnte, hielt alles andere von ihm fern.
Das war der wahre Fluch der Kyn: auch noch zu leben, wenn der Wunsch danach längst erloschen war.
Bin ich innerlich längst tot, und mein Körper weiß es nur noch nicht? Gabriel konnte es nicht sagen.
Räder in der Nähe quietschten, während sie sich drehten; noch eine schwerere Last wurde vor dem Raum abgestellt, und die Vibrationen des Aufpralls hallten an den Wänden wider. Benait lächelte, als er ein Handy aus seiner Robe holte und eine Nummer wählte. Unbewusst entfernte er sich von Gabriel, während er in schnellem Italienisch hineinsprach.
Gabriel nutzte das Licht, um sich den unbekannten Raum anzusehen, in dem er sich befand. Keine Fenster, keine Ein- oder Ausgänge, abgesehen von der einen offenen Tür, durch die der Mensch offenbar hineingekommen war. Nichts in dem Raum ließ darauf schließen, wohin man ihn gebracht hatte; als sie ihn aus dem Lieferwagen holten, hatte er im Mondlicht nur das zugewachsene Grundstück eines großen Anwesens und die Umrisse eines verfallenen, alten Gemäuers erkennen können. Die Fahrt von Paris bis zu diesem Ort hatte viele Stunden gedauert, doch er war ziemlich sicher, dass er sich noch in Frankreich befand.
Warum bin ich immer noch in Frankreich?
Dass die Brüder ihn nicht außer Landes gebracht hatten, verwirrte ihn. In Paris hatte er das Gespräch zweier Aufseher belauscht, bei dem es um eine Diebesbande ging, die es auf die Stützpunkte der Brüder abgesehen hatte und dort Kultobjekte und religiöse Schätze stahl. Offenbar waren sie bei einem dieser Einbrüche von mehreren eingesperrten Kyn angelockt worden und hatten diese freigelassen. Gabriel nahm an, dass man ihn aus der Stadt gebracht hatte, um zu verhindern, dass man auch ihn befreite.
Er würde vielleicht nie wieder frei sein. Gabriel hatte diese Tatsache schon vor langer Zeit akzeptiert. Aber die Hoffnung, dass er den Kyn vielleicht mitteilen konnte, was er als Gefangener der Brüder erfahren hatte, war noch nicht erloschen. Dieses Wissen lag wie ein weiterer Fluch auf seinen Schultern.
Leider hatte Benait recht mit seinen Worten: Gabriel war derzeit durch den Blutverlust und die Verletzungen zu geschwächt, um sich zu befreien. Seine einzige Hoffnung bestand in der vagen Chance, eines Tages sein Talent wieder benutzen zu können, um vielleicht einen der Einheimischen dieses neuen Ortes zu sich zu locken - oder das Mädchen aus seinen Träumen. Wenn er weiter von ihr träumte, musste das doch bedeuten, dass es sie wirklich gab.
Er konnte doch nicht verrückt sein.
Die Brüder gingen davon aus, dass Gabriel schon vor langer Zeit verrückt geworden war, so wie Thierry Durand in Irland, deshalb ließen sie ihn jetzt häufig unbewacht. Es war eine Schande, dass das letzte Verhör ihn in diesen schrecklichen Zustand versetzt hatte, sonst hätte er sich befreien können. Weder seine alten noch seine neuen Wunden würden sich jedoch schließen, bis er entweder sein Talent benutzen konnte oder ein Mensch ihm genug Blut gab, um diese zu heilen.
Wenn er sich überhaupt noch heilen wollte ...
Die düstere und hässliche Realität traf ihn mit voller Wucht, ein gnadenloser eiserner Panzerhandschuh, der das wackelige Bild der hellhaarigen Frau aus dem Wald zerschlug. Solche Träume bedeuteten nichts. Alle, die Gabriel geliebt hatte, waren tot; seine gesamte Familie war von den Brüdern abgeschlachtet worden. Seine Loyalität und sein Schweigen waren umsonst gewesen; kein Kyn war gekommen, um für ihn zu kämpfen oder ihn zu befreien. Nach zwei Jahren konnte er nur annehmen, dass man ihn vergessen, für tot erklärt oder absichtlich im Stich gelassen hatte. Trotz der Bürde dessen, was er über die Brüder erfahren hatte, konnte er der Aussicht, seine Existenz zu verlängern und seinen sadistischen Geiselnehmern weiter als Spielzeug zu dienen, nichts mehr abgewinnen.
Am Ende war selbst das nobelste Durchhalten sinnlos, genauso vergeblich wie die Verhöre der Brüder.
Benait sprach erneut mit ihm. »Fragst du dich nie, warum sie dein Gesicht unangetastet gelassen haben, Vampir?«
Gabriel hatte nach dem ersten Jahr seiner Gefangenschaft fast nichts mehr hinterfragt, was man ihm antat. Er hätte das gesagt, aber ungefähr zur gleichen Zeit hatte er aufgehört, mit seinen Folterern zu sprechen. Ursprünglich hatte er das Schweigen als einzige Möglichkeit des Widerstandes gesehen, die ihm noch geblieben war. Jetzt war es seine einzige Rückzugsmöglichkeit, der letzte Zufluchtsort. Aus einem Bollwerk aus Eis drang nie ein Laut.
Er hätte nicht sprechen können, selbst wenn er gewollt hätte; sie hatten ihn in Paris mit einem dünnen, breiten Kupferband geknebelt, das um seinen Mund geschmiedet war. Das gab ihm ebenfalls wertvolle Informationen über seine derzeitige Lage. Sie hatten ihn offenbar an einen Ort gebracht, an dem sie es sich nicht leisten konnten, dass er Lärm machte.
Benait trat näher. »Meine irischen Brüder hatten die Anweisung, dein Gesicht nicht zu verletzen. Ich schätze, sie haben Fotos von dir gemacht und sie eurem König geschickt. Als Beweis, dass wir dich zumindest vom Hals aufwärts gut behandeln.«
Gabriel hörte noch mehr Geräusche, die auf Aktivitäten auf der anderen Seite der Wand deuteten. Stein, der auf Stein traf, Wasser, das Kratzen von Metall an Mauerwerk. Er starrte auf die Glaskugel der Lampe, die halb mit Flüssigkeit gefüllt war. Sie hatten ihn wiederholt mit glühenden Stäben und Eisen sowie mit zahllosen Kupferwerkzeugen verbrannt, aber noch nie mit Kerosin oder Öl. Wie lange würde es dauern, bis sein ausgedörrter Körper brannte? Stunden? Tage?
Warum war ihm das egal? Hatten sie ihm das letzte Entsetzen - seine ganzen restlichen Gefühle - in Paris ausgetrieben?
»Euer König hat ihre Bedingungen für deine Freilassung nie erfüllt.« Benaits rote Lippen wurden schmal. »Stattdessen schickte er seinen Attentäter nach Dublin, kurz nachdem wir dich nach Paris gebracht hatten.«
Lucan.
»Er hat jeden Einzelnen dort abgeschlachtet«, fuhr Benait fort. »Sowohl die Brüder als auch die Maledicti. Die Überwachungskameras haben das alles aufgezeichnet.«
Eine Frau schrie in Gabriels Erinnerung und übertönte die menschliche Stimme. In Dublin hatte sie wiederholt in der Zelle neben Gabriels geschrien. Er hatte sie nie gesehen, aber sie hatte etwas in alter Sprache gerufen, in der, die die Priester nicht beherrschten. Sie hatte geschrien, dass sie ihr bei lebendigem Leib die Haut abzogen. Fast ein ganzes Jahr lang waren ihre Schreie durch seinen Kopf gehallt. Er wusste immer noch nicht, ob es eine Fremde gewesen war oder seine jüngere Schwester Angelica, die ebenfalls mit ihm und den Durands gefangen genommen worden war.
War es Angelica gewesen? Hatte Lucan sie so gefunden, gebrochen und zerschunden, unfähig, sich von den entsetzlichen Dingen zu erholen, die man ihr angetan hatte? Hatte er sie getötet, um sie zu erlösen?
Es nicht zu wissen trug stündlich zu Gabriels trostlosem inneren Winter bei, ließ eine ätzende Schneeflocke nach der anderen fallen.
»Wir wissen aus den Berichten, dass sie dich in Dublin niemals brechen oder euren König davon überzeugen konnten, ihre Bedingungen zu erfüllen«, sagte sein Geiselnehmer. »Trotz der hingebungsvollen Bemühungen meiner Brüder in Paris während des letzten Jahres hast du auch ihnen getrotzt.« Benait stellte die Lampe auf einen wackeligen Tisch neben dem Kamin und streckte die Arme aus, stöhnte erleichtert, als ein Gelenk knackte. »Du hast dich als praktisch nutzlos für uns erwiesen.«
Praktisch nutzlos. Eine Ächtung. Ein Kompliment. So sinnlos wie die Wahrung seiner Ehre.
Nein, dachte Gabriel. Denn wenn sie mich gebrochen hätten, dann hätte ich die Kyn verraten, und andere hätten mein Schicksal ebenfalls erleiden müssen. Es war richtig, standhaft zu bleiben.
Würde das Mädchen aus seinen Waldträumen es verstehen, wenn es sie wirklich gab? Würde sie ihm vergeben, dass er nicht in der Lage gewesen war, zu ihr zu kommen?
»Du brauchst keine Angst zu haben, Vampir.« Benait drehte den Docht herunter, sodass das Licht weicher wurde. »Du hast deinen endgültigen Aufenthaltsort erreicht, und ich werde jetzt die wenigen letzten Riten ausführen.«
Erleichterung und Scham setzten den letzten Rest von Gabriels strenger Selbstdisziplin und Gleichgültigkeit in Flammen. Sein Kopf verlangte von ihm, zu kämpfen, zu ertragen und zu überleben, aber die Worte des Menschen wärmten sein ein gefrorenes Herz. Keine endlosen Verhöre mehr, keine sinnlose Folter. Es würde ihn nicht länger quälen müssen, dass er von seinen Leuten aufgegeben worden war, dass er allein und verzweifelt in den schweigenden Schatten existierte. Er würde nicht mehr traurig sein müssen darüber, dass er alle überlebt hatte, die jemals von ihm geliebt worden waren. Er würde nicht länger mehr und mehr von sich selbst seinem Talent opfern müssen. Er musste nicht länger in der eisigen Hölle in seinem Innern ausharren, nur um am Leben zu bleiben. Jetzt würde dieser Mensch seine Gebete sprechen, sein Schwert ziehen und Gabriel den Kopf abschlagen, und diese Stufe der Hölle würde seine letzte sein.
Am Ende, ich bin am Ende angelangt, es ist vorbei.
Alles, auf das er zurückgegriffen hatte, um sein Schweigen zu wahren, war auf diesen einen Punkt ausgerichtet gewesen. Solange er nicht um sein Leben flehte, würde es vorbei sein. Er hatte verloren, aber er hatte auch gewonnen. Sie hatten ihn nicht gebrochen. Nicht ein Mal. In dieser Hinsicht hatte er gesiegt.
Sie würde es verstehen, sein blasses Mädchen. Sie würde ihn allein und ohne Angst in die Dunkelheit gehen lassen. Dort ... dort würde er auf sie warten.
Hinter den Mauern schlug etwas gegen einen Eimer, und jemand fluchte in einer anderen Sprache.
»Es wäre anders gelaufen, wenn du mit uns kooperiert hättest«, sagte Benait und nickte, als stimme er Gabriels Gedanken zu, während er näher kam. »Wir hätten dich mit zu uns ins Licht genommen, wir hätten dich zu einem Krieger Gottes gemacht. Und du hättest schließlich deine schwarze Seele gerettet.«
Die Brüder fühlten sich immer berufen, solche Reden zu halten, bevor sie ihn irgendwelchen monströsen Qualen aussetzten. Nicht seinetwegen, glaubte Gabriel, sondern um sich selbst eine Art Absolution zu erteilen, bevor sie ihre Gräueltaten ausführten. Es funktionierte nicht immer; einer der Unmenschen in Dublin war wahnsinnig geworden und hatte Gabriel seine Halluzinationen zugeflüstert.
Benait holte eine Bibel heraus und schlug das letzte Kapitel auf, bevor er zu lesen begann. »... den Engel des Abgrunds; sein Name heißt auf Hebräisch Abaddon ... «
Sie versuchten, die Heilige Schrift als eine weitere, subtilere Form der Folter zu benutzen, aber Gabriel, der von seinem Vater nach Gottes himmlischem Boten benannt worden war, hatte schon vor langer Zeit Frieden mit seinem Schicksal geschlossen. Er war kein Engel, aber er glaubte nicht länger daran, dass die Kyn verflucht waren. Er hatte zu viele Gräueltaten in seinem menschlichen Leben und in seinem Leben als Kyn gesehen; Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die obszöner und brutaler gewesen waren als alle seine eigenen bedauernswerten Sünden. Der Gott, dem er während seines menschlichen Lebens gedient hatte, würde nicht eine Handvoll in die Irre geleiteter Kreuzritter-Priester für die göttliche Rache aussondern und erlauben, dass die Schlächter von Millionen Menschen alt wurden und in Betten aus Gold starben.
Metall schabte erneut am Mauerwerk, doch diesmal war das Geräusch leiser, fließender.
Benait beendete seine Lesung aus der Offenbarung, schloss die Bibel und küsste den Deckel, bevor er sie beiseitelegte.
»Du hast deine Sünden nie gebeichtet, Vampir, und es kann keine Absolution für dich geben.« Er holte eine kleine Glasphiole mit einer rötlichen Flüssigkeit aus seinem Ärmel und öffnete sie. »Aber dein engelsgleiches Gesicht können wir noch für eine Sache gebrauchen. Vielleicht wird D'Orio sich deinen Kopf an die Wand seines Arbeitszimmers hängen, wenn das hier vorbei ist.«
Gabriels Blick wurde auf eine alte, fleckige Hand gelenkt, die in der Öffnung seiner Kammer erschien und Mörtel über der Schwelle verteilte. Die Kelle verschwand wieder, und dieselbe Hand legte vorsichtig Ziegel in den feuchten Mörtel. Ihm wurde klar, was auf der anderen Seite der Wand vor sich ging, und das Entsetzen, das ihn erfasste, löschte alles andere aus, was man ihm bis zu diesem Moment schon angetan hatte. Sie versiegelten den Raum. Sie schlossen ihn ein.
Er drehte das Gesicht weg und riss an seinen Ketten.
»Du wolltest das Licht nicht sehen, Vampir.« Benait krallte seine Hand in Gabriels verfilztes Haar und zwang ihn, sich anzusehen, wie die Mauer aus Ziegeln und Mörtel auf der Schwelle höher und höher wurde, bevor er ihm die Phiole vor das Gesicht hielt. »Deshalb wird dich von nun an nichts als Dunkelheit umgeben.«
© 2011 LYX verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH.
»Zu schwach, um zu entkommen«, sagte eine Stimme in der Dunkelheit, »und zu stark, um zu sterben.«
Als er in seinem neuen Raum in der Hölle aufwachte, bewegte sich der Gefangene nicht. Reaktionen waren genau wie Gefühle ebenso bedeutungslos wie nutzlos geworden. Er machte sich nicht mehr die Mühe, sich innerlich zu wappnen oder zusammenzuzucken; auf das zu warten, was passieren würde, kostete ihn seine gesamte Selbstbeherrschung.
Viel war Gabriel Seran angetan worden.
Und sie würden ihm noch mehr antun, doch er würde es aushalten. Fähigkeiten, die er während mehrerer Jahrhunderte seiner Existenz erworben hatte, ließen ihn das überleben, was ihn während seines kurzen menschlichen Lebens schon tausende Male getötet hätte. Sie hatten ihn auch diese letzten zwei Jahre als Gefangener der Bruderschaft überstehen lassen. Durch sein Talent war sein Körper nicht schwächer geworden, und seine Seele, von denen seine Geiselnehmer nicht glaubten, dass er sie besaß, hatte für den Rest gesorgt.
Was seinen Verstand anging, war er nicht sicher. Er hatte Gefühle gegen den Willen zum Überleben eingetauscht und fühlte jetzt kaum noch etwas - abgesehen von Schmerz. Er war zu einem Gletscher geworden, umgeben von gefoltertem Fleisch.
Vielleicht verdankte er sein Leben einem Phantom. Als er an sie dachte, diese Erfindung seiner eigenen verzweifelten Einsamkeit, sah er ihr Bild vor sich: ein blasses, blondes Mädchen, das im Wald herumirrte. Was sie suchte, wusste Gabriel nicht; und er hatte sie außerhalb seiner Träume auch noch nie gesehen. Aber so ausgedacht sie sein mochte, die Tatsache, dass sie in den letzten Monaten zu ihm gekommen war, hatte ihn davon abgehalten, sich den ewigen Freuden des Vergessens hinzugeben. Dank ihr konnte er mit dem Wissen leben, dass es niemanden auf der Welt gab, dem er noch etwas bedeutete oder der an ihn dachte. »Wenn du nicht zum Licht kommen willst, dann muss ich es zu dir bringen.« Ein leises Kratzen und das Zischen von brennendem Schwefel brachten eine kleine Flamme in die stickige, stockdunkle Kammer. Der Mensch, der das Streichholz entzündet hatte, hielt es an den geschwärzten Docht der Kerosinlampe, die der alte Priester zurückgelassen hatte, und der Lichtkreis wurde größer. Er hob die Lampe, sodass sie einen gelben Schein auf sein Gesicht und auf Gabriel warf. »Siehst du, Vampir? Im Gegensatz zu dir bin ich kein Monster.«
Jemand, der nicht zu sehen war, knurrte. Ein Sack wurde mit einem lauten Klatschen fallen gelassen.
Der Mensch trug das Gewand eines Monsters: eine schwarze Kutte mit drei auf seiner linken Brust aufgestickten Kreuzen aus blutroter Seide. Eines, das wusste Gabriel, für jeden Darkyn, den dieser Mensch persönlich getötet hatte. Die Brüder trugen die Kreuze wie moderne Soldaten ihre Medaillen.
Gabriel fragte sich, ob er dem Menschen sein viertes Kreuz einbringen würde und warum es ihm egal war, wenn es so war.
»Wir sind uns noch gar nicht richtig vorgestellt worden, nicht wahr?« Stumpfe kleine Zähne glänzten zwischen roten Lippen. »Ich bin Vater Benait.«
Benait gab vor, ein katholischer Priester zu sein, genauso wie alle Mitglieder des geheimen Ordens der Frères de la Lumière, der Bruderschaft des Lichts. Dieser Mensch und seine Mitgläubigen besaßen die blinde Entschlossenheit echter Fanatiker, die aus dem Glauben gespeist wurde, dass Gabriel und andere wie er ein Fluch für die Menschheit waren.
Den Brüdern war es egal, dass Gabriel und seine Art, die Darkyn, gelernt hatten, ihren Durst nach menschlichem Blut, das ihre einzige Nahrungsquelle war, zu zügeln, und nicht länger Menschen umbrachten. Während des ersten Jahres seiner Gefangenschaft hatte Gabriel all seine Überzeugungskraft eingesetzt, um Frieden mit seinen Geiselnehmern zu schließen, aber nichts konnte sie umstimmen. Sie waren nur an dem Erhalt ihres verzerrten Glaubens interessiert und der Perversionen, die sie in seinem Namen ausüben durften. Wie zum Beispiel Vrykolakas wie Gabriel gefangen zu nehmen und zu foltern, bis sie andere Kyn verrieten.
Gabriel gab sich keine Mühe mehr mit sinnloser Diplomatie. Was immer ihm die Brüder an diesem Ort antaten, er würde es ertragen. Es war seine Pflicht, das zu tun. Selbst wenn er sich gewünscht hätte zu sterben, sorgten die spontanen Selbstheilungskräfte seines Körpers dafür, dass er fast alles überlebte. Der betäubende Graben, den er durch sein Talent schaffen konnte, hielt alles andere von ihm fern.
Das war der wahre Fluch der Kyn: auch noch zu leben, wenn der Wunsch danach längst erloschen war.
Bin ich innerlich längst tot, und mein Körper weiß es nur noch nicht? Gabriel konnte es nicht sagen.
Räder in der Nähe quietschten, während sie sich drehten; noch eine schwerere Last wurde vor dem Raum abgestellt, und die Vibrationen des Aufpralls hallten an den Wänden wider. Benait lächelte, als er ein Handy aus seiner Robe holte und eine Nummer wählte. Unbewusst entfernte er sich von Gabriel, während er in schnellem Italienisch hineinsprach.
Gabriel nutzte das Licht, um sich den unbekannten Raum anzusehen, in dem er sich befand. Keine Fenster, keine Ein- oder Ausgänge, abgesehen von der einen offenen Tür, durch die der Mensch offenbar hineingekommen war. Nichts in dem Raum ließ darauf schließen, wohin man ihn gebracht hatte; als sie ihn aus dem Lieferwagen holten, hatte er im Mondlicht nur das zugewachsene Grundstück eines großen Anwesens und die Umrisse eines verfallenen, alten Gemäuers erkennen können. Die Fahrt von Paris bis zu diesem Ort hatte viele Stunden gedauert, doch er war ziemlich sicher, dass er sich noch in Frankreich befand.
Warum bin ich immer noch in Frankreich?
Dass die Brüder ihn nicht außer Landes gebracht hatten, verwirrte ihn. In Paris hatte er das Gespräch zweier Aufseher belauscht, bei dem es um eine Diebesbande ging, die es auf die Stützpunkte der Brüder abgesehen hatte und dort Kultobjekte und religiöse Schätze stahl. Offenbar waren sie bei einem dieser Einbrüche von mehreren eingesperrten Kyn angelockt worden und hatten diese freigelassen. Gabriel nahm an, dass man ihn aus der Stadt gebracht hatte, um zu verhindern, dass man auch ihn befreite.
Er würde vielleicht nie wieder frei sein. Gabriel hatte diese Tatsache schon vor langer Zeit akzeptiert. Aber die Hoffnung, dass er den Kyn vielleicht mitteilen konnte, was er als Gefangener der Brüder erfahren hatte, war noch nicht erloschen. Dieses Wissen lag wie ein weiterer Fluch auf seinen Schultern.
Leider hatte Benait recht mit seinen Worten: Gabriel war derzeit durch den Blutverlust und die Verletzungen zu geschwächt, um sich zu befreien. Seine einzige Hoffnung bestand in der vagen Chance, eines Tages sein Talent wieder benutzen zu können, um vielleicht einen der Einheimischen dieses neuen Ortes zu sich zu locken - oder das Mädchen aus seinen Träumen. Wenn er weiter von ihr träumte, musste das doch bedeuten, dass es sie wirklich gab.
Er konnte doch nicht verrückt sein.
Die Brüder gingen davon aus, dass Gabriel schon vor langer Zeit verrückt geworden war, so wie Thierry Durand in Irland, deshalb ließen sie ihn jetzt häufig unbewacht. Es war eine Schande, dass das letzte Verhör ihn in diesen schrecklichen Zustand versetzt hatte, sonst hätte er sich befreien können. Weder seine alten noch seine neuen Wunden würden sich jedoch schließen, bis er entweder sein Talent benutzen konnte oder ein Mensch ihm genug Blut gab, um diese zu heilen.
Wenn er sich überhaupt noch heilen wollte ...
Die düstere und hässliche Realität traf ihn mit voller Wucht, ein gnadenloser eiserner Panzerhandschuh, der das wackelige Bild der hellhaarigen Frau aus dem Wald zerschlug. Solche Träume bedeuteten nichts. Alle, die Gabriel geliebt hatte, waren tot; seine gesamte Familie war von den Brüdern abgeschlachtet worden. Seine Loyalität und sein Schweigen waren umsonst gewesen; kein Kyn war gekommen, um für ihn zu kämpfen oder ihn zu befreien. Nach zwei Jahren konnte er nur annehmen, dass man ihn vergessen, für tot erklärt oder absichtlich im Stich gelassen hatte. Trotz der Bürde dessen, was er über die Brüder erfahren hatte, konnte er der Aussicht, seine Existenz zu verlängern und seinen sadistischen Geiselnehmern weiter als Spielzeug zu dienen, nichts mehr abgewinnen.
Am Ende war selbst das nobelste Durchhalten sinnlos, genauso vergeblich wie die Verhöre der Brüder.
Benait sprach erneut mit ihm. »Fragst du dich nie, warum sie dein Gesicht unangetastet gelassen haben, Vampir?«
Gabriel hatte nach dem ersten Jahr seiner Gefangenschaft fast nichts mehr hinterfragt, was man ihm antat. Er hätte das gesagt, aber ungefähr zur gleichen Zeit hatte er aufgehört, mit seinen Folterern zu sprechen. Ursprünglich hatte er das Schweigen als einzige Möglichkeit des Widerstandes gesehen, die ihm noch geblieben war. Jetzt war es seine einzige Rückzugsmöglichkeit, der letzte Zufluchtsort. Aus einem Bollwerk aus Eis drang nie ein Laut.
Er hätte nicht sprechen können, selbst wenn er gewollt hätte; sie hatten ihn in Paris mit einem dünnen, breiten Kupferband geknebelt, das um seinen Mund geschmiedet war. Das gab ihm ebenfalls wertvolle Informationen über seine derzeitige Lage. Sie hatten ihn offenbar an einen Ort gebracht, an dem sie es sich nicht leisten konnten, dass er Lärm machte.
Benait trat näher. »Meine irischen Brüder hatten die Anweisung, dein Gesicht nicht zu verletzen. Ich schätze, sie haben Fotos von dir gemacht und sie eurem König geschickt. Als Beweis, dass wir dich zumindest vom Hals aufwärts gut behandeln.«
Gabriel hörte noch mehr Geräusche, die auf Aktivitäten auf der anderen Seite der Wand deuteten. Stein, der auf Stein traf, Wasser, das Kratzen von Metall an Mauerwerk. Er starrte auf die Glaskugel der Lampe, die halb mit Flüssigkeit gefüllt war. Sie hatten ihn wiederholt mit glühenden Stäben und Eisen sowie mit zahllosen Kupferwerkzeugen verbrannt, aber noch nie mit Kerosin oder Öl. Wie lange würde es dauern, bis sein ausgedörrter Körper brannte? Stunden? Tage?
Warum war ihm das egal? Hatten sie ihm das letzte Entsetzen - seine ganzen restlichen Gefühle - in Paris ausgetrieben?
»Euer König hat ihre Bedingungen für deine Freilassung nie erfüllt.« Benaits rote Lippen wurden schmal. »Stattdessen schickte er seinen Attentäter nach Dublin, kurz nachdem wir dich nach Paris gebracht hatten.«
Lucan.
»Er hat jeden Einzelnen dort abgeschlachtet«, fuhr Benait fort. »Sowohl die Brüder als auch die Maledicti. Die Überwachungskameras haben das alles aufgezeichnet.«
Eine Frau schrie in Gabriels Erinnerung und übertönte die menschliche Stimme. In Dublin hatte sie wiederholt in der Zelle neben Gabriels geschrien. Er hatte sie nie gesehen, aber sie hatte etwas in alter Sprache gerufen, in der, die die Priester nicht beherrschten. Sie hatte geschrien, dass sie ihr bei lebendigem Leib die Haut abzogen. Fast ein ganzes Jahr lang waren ihre Schreie durch seinen Kopf gehallt. Er wusste immer noch nicht, ob es eine Fremde gewesen war oder seine jüngere Schwester Angelica, die ebenfalls mit ihm und den Durands gefangen genommen worden war.
War es Angelica gewesen? Hatte Lucan sie so gefunden, gebrochen und zerschunden, unfähig, sich von den entsetzlichen Dingen zu erholen, die man ihr angetan hatte? Hatte er sie getötet, um sie zu erlösen?
Es nicht zu wissen trug stündlich zu Gabriels trostlosem inneren Winter bei, ließ eine ätzende Schneeflocke nach der anderen fallen.
»Wir wissen aus den Berichten, dass sie dich in Dublin niemals brechen oder euren König davon überzeugen konnten, ihre Bedingungen zu erfüllen«, sagte sein Geiselnehmer. »Trotz der hingebungsvollen Bemühungen meiner Brüder in Paris während des letzten Jahres hast du auch ihnen getrotzt.« Benait stellte die Lampe auf einen wackeligen Tisch neben dem Kamin und streckte die Arme aus, stöhnte erleichtert, als ein Gelenk knackte. »Du hast dich als praktisch nutzlos für uns erwiesen.«
Praktisch nutzlos. Eine Ächtung. Ein Kompliment. So sinnlos wie die Wahrung seiner Ehre.
Nein, dachte Gabriel. Denn wenn sie mich gebrochen hätten, dann hätte ich die Kyn verraten, und andere hätten mein Schicksal ebenfalls erleiden müssen. Es war richtig, standhaft zu bleiben.
Würde das Mädchen aus seinen Waldträumen es verstehen, wenn es sie wirklich gab? Würde sie ihm vergeben, dass er nicht in der Lage gewesen war, zu ihr zu kommen?
»Du brauchst keine Angst zu haben, Vampir.« Benait drehte den Docht herunter, sodass das Licht weicher wurde. »Du hast deinen endgültigen Aufenthaltsort erreicht, und ich werde jetzt die wenigen letzten Riten ausführen.«
Erleichterung und Scham setzten den letzten Rest von Gabriels strenger Selbstdisziplin und Gleichgültigkeit in Flammen. Sein Kopf verlangte von ihm, zu kämpfen, zu ertragen und zu überleben, aber die Worte des Menschen wärmten sein ein gefrorenes Herz. Keine endlosen Verhöre mehr, keine sinnlose Folter. Es würde ihn nicht länger quälen müssen, dass er von seinen Leuten aufgegeben worden war, dass er allein und verzweifelt in den schweigenden Schatten existierte. Er würde nicht mehr traurig sein müssen darüber, dass er alle überlebt hatte, die jemals von ihm geliebt worden waren. Er würde nicht länger mehr und mehr von sich selbst seinem Talent opfern müssen. Er musste nicht länger in der eisigen Hölle in seinem Innern ausharren, nur um am Leben zu bleiben. Jetzt würde dieser Mensch seine Gebete sprechen, sein Schwert ziehen und Gabriel den Kopf abschlagen, und diese Stufe der Hölle würde seine letzte sein.
Am Ende, ich bin am Ende angelangt, es ist vorbei.
Alles, auf das er zurückgegriffen hatte, um sein Schweigen zu wahren, war auf diesen einen Punkt ausgerichtet gewesen. Solange er nicht um sein Leben flehte, würde es vorbei sein. Er hatte verloren, aber er hatte auch gewonnen. Sie hatten ihn nicht gebrochen. Nicht ein Mal. In dieser Hinsicht hatte er gesiegt.
Sie würde es verstehen, sein blasses Mädchen. Sie würde ihn allein und ohne Angst in die Dunkelheit gehen lassen. Dort ... dort würde er auf sie warten.
Hinter den Mauern schlug etwas gegen einen Eimer, und jemand fluchte in einer anderen Sprache.
»Es wäre anders gelaufen, wenn du mit uns kooperiert hättest«, sagte Benait und nickte, als stimme er Gabriels Gedanken zu, während er näher kam. »Wir hätten dich mit zu uns ins Licht genommen, wir hätten dich zu einem Krieger Gottes gemacht. Und du hättest schließlich deine schwarze Seele gerettet.«
Die Brüder fühlten sich immer berufen, solche Reden zu halten, bevor sie ihn irgendwelchen monströsen Qualen aussetzten. Nicht seinetwegen, glaubte Gabriel, sondern um sich selbst eine Art Absolution zu erteilen, bevor sie ihre Gräueltaten ausführten. Es funktionierte nicht immer; einer der Unmenschen in Dublin war wahnsinnig geworden und hatte Gabriel seine Halluzinationen zugeflüstert.
Benait holte eine Bibel heraus und schlug das letzte Kapitel auf, bevor er zu lesen begann. »... den Engel des Abgrunds; sein Name heißt auf Hebräisch Abaddon ... «
Sie versuchten, die Heilige Schrift als eine weitere, subtilere Form der Folter zu benutzen, aber Gabriel, der von seinem Vater nach Gottes himmlischem Boten benannt worden war, hatte schon vor langer Zeit Frieden mit seinem Schicksal geschlossen. Er war kein Engel, aber er glaubte nicht länger daran, dass die Kyn verflucht waren. Er hatte zu viele Gräueltaten in seinem menschlichen Leben und in seinem Leben als Kyn gesehen; Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die obszöner und brutaler gewesen waren als alle seine eigenen bedauernswerten Sünden. Der Gott, dem er während seines menschlichen Lebens gedient hatte, würde nicht eine Handvoll in die Irre geleiteter Kreuzritter-Priester für die göttliche Rache aussondern und erlauben, dass die Schlächter von Millionen Menschen alt wurden und in Betten aus Gold starben.
Metall schabte erneut am Mauerwerk, doch diesmal war das Geräusch leiser, fließender.
Benait beendete seine Lesung aus der Offenbarung, schloss die Bibel und küsste den Deckel, bevor er sie beiseitelegte.
»Du hast deine Sünden nie gebeichtet, Vampir, und es kann keine Absolution für dich geben.« Er holte eine kleine Glasphiole mit einer rötlichen Flüssigkeit aus seinem Ärmel und öffnete sie. »Aber dein engelsgleiches Gesicht können wir noch für eine Sache gebrauchen. Vielleicht wird D'Orio sich deinen Kopf an die Wand seines Arbeitszimmers hängen, wenn das hier vorbei ist.«
Gabriels Blick wurde auf eine alte, fleckige Hand gelenkt, die in der Öffnung seiner Kammer erschien und Mörtel über der Schwelle verteilte. Die Kelle verschwand wieder, und dieselbe Hand legte vorsichtig Ziegel in den feuchten Mörtel. Ihm wurde klar, was auf der anderen Seite der Wand vor sich ging, und das Entsetzen, das ihn erfasste, löschte alles andere aus, was man ihm bis zu diesem Moment schon angetan hatte. Sie versiegelten den Raum. Sie schlossen ihn ein.
Er drehte das Gesicht weg und riss an seinen Ketten.
»Du wolltest das Licht nicht sehen, Vampir.« Benait krallte seine Hand in Gabriels verfilztes Haar und zwang ihn, sich anzusehen, wie die Mauer aus Ziegeln und Mörtel auf der Schwelle höher und höher wurde, bevor er ihm die Phiole vor das Gesicht hielt. »Deshalb wird dich von nun an nichts als Dunkelheit umgeben.«
© 2011 LYX verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH.
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Autoren-Porträt von Lynn Viehl
Die amerikanische Autorin Lynn Viehl wurde 1961 geboren. Unter Pseudonym hat sie bereits zahlreiche erfolgreiche Liebesromane geschrieben und erste Ausflüge in die Romantic Fantasy unternommen. Gegenwärtig lebt sie mit ihrer Familie in Florida. Katharina Kramp, Jahrgang 1969, studierte Germanistik und Anglistik in Bonn und arbeitete einige Jahre als Journalistin bei verschiedenen Tageszeitungen, Radiosendern und Fachmagazinen. Ihre wahre Liebe galt jedoch schon immer den Büchern. Deshalb gab sie ihren Redakteursjob auf und machte sich als Autorin, Übersetzerin und Lektorin selbstständig. Heute lebt sie mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern in Westfalen und kann jetzt den ganzen Tag und oft auch die halbe Nacht das tun, was ihr am meisten Spaß macht spannende Geschichten schreiben.
Bibliographische Angaben
- Autor: Lynn Viehl
- 2011, 368 Seiten, Maße: 12,7 x 18,1 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Katharina Kramp
- Verlag: LYX
- ISBN-10: 3802584864
- ISBN-13: 9783802584862
- Erscheinungsdatum: 02.08.2011
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