Bluternte
Thriller. Deutsche Erstveröffentlichung
Die Familie Fletcher ist erst vor kurzem aufs Land gezogen. Doch die vermeintliche englische Dorfidylle entpuppt sich bald als Alptraum. Die beiden Söhne der Fletchers hören auf dem Friedhof nahe des Hauses rätselhafte Stimmen und sehen...
Leider schon ausverkauft
versandkostenfrei
Buch
16.99 €
Produktdetails
Produktinformationen zu „Bluternte “
Die Familie Fletcher ist erst vor kurzem aufs Land gezogen. Doch die vermeintliche englische Dorfidylle entpuppt sich bald als Alptraum. Die beiden Söhne der Fletchers hören auf dem Friedhof nahe des Hauses rätselhafte Stimmen und sehen immer wieder die seltsame Gestalt eines Kindes. Als eine Friedhofsmauer einstürzt und ein Grab mit den Überresten dreier Mädchen freigelegt wird, ist klar, dass der Ort ein tödliches Geheimnis birgt. Auch der neue Vikar, Harry Laycock, und die Psychotherapeutin Evi Oliver werden in die rätselhaften Vorgänge um verschwundene Mädchen und ein unfassbares Verbrechen hineingezogen. Und die kleine Tochter der Fletchers könnte das nächste Opfer eines rätselhaften Killers sei.
"Sharon Bolton balanciert in diesem zutiefst erschreckenden Thriller über die Geheimnisse eines kleines Dorfes brillant zwischen dem Unheimlichen und dem psychologisch Abgründigen." -- Kirkus Reviews
"Sharon Bolton versteht es brillant, die beklemmende Atmosphäre englischen Dorflebens zu beschreiben. Und 'Bluternte' ist ihr bislang unheimlichster Thriller. Dieser Roman dringt in das verborgene, finstere Herz eines kleinen Ortes in den Mooren von Lancashire vor und bis zu den echten wie metaphorischen Leichen, die dort vergraben sind. Planen Sie keinen Ausflug in diese Gegend, nachdem Sie 'Bluternte' gelesen haben." -- The Observer (Thriller des Monats)
"Ein grandioser Thriller! Bolton verbindet Unheimliches meisterhaft mit einer vor Spannung knisternden psychologischen Handlung, sodass der Leser bis zur letzten Seite den Atem anhält." -- Publishers Weekly, starred review
"Sharon Bolton versteht es brillant, die beklemmende Atmosphäre englischen Dorflebens zu beschreiben. Und 'Bluternte' ist ihr bislang unheimlichster Thriller. Dieser Roman dringt in das verborgene, finstere Herz eines kleinen Ortes in den Mooren von Lancashire vor und bis zu den echten wie metaphorischen Leichen, die dort vergraben sind. Planen Sie keinen Ausflug in diese Gegend, nachdem Sie 'Bluternte' gelesen haben." -- The Observer (Thriller des Monats)
"Ein grandioser Thriller! Bolton verbindet Unheimliches meisterhaft mit einer vor Spannung knisternden psychologischen Handlung, sodass der Leser bis zur letzten Seite den Atem anhält." -- Publishers Weekly, starred review
Lese-Probe zu „Bluternte “
Bluternte von Sharon Bolton Prolog
3. November
... mehr
Es war also tatsächlich geschehen. Das, wovon er nur im Nachhinein hätte sagen können, dass er es befürchtet hatte. In gewisser Weise war es fast eine Erleichterung zu wissen, dass das Schlimmste vorbei war. Dass er nicht mehr zu heucheln brauchte. Jetzt musste er vielleicht nicht mehr so tun, als sei dies eine ganz gewöhnliche Kleinstadt, als seien dies ganz normale Leute. Harry atmete tief durch und stellte fest, dass der Tod nach Abflussrohren roch, nach feuchter Erde und Plastikplanen.
Der Schädel, keine zwei Meter entfernt, sah winzig aus. Als könnten ihn seine Finger fast völlig umschließen, wenn er ihn in der Hand hielte. Fast noch schlimmer als der Schädel war die Hand. Sie lag halb verborgen im Schlamm, die Knochen von der Haut kaum noch zusammengehalten, als versuchten sie, aus der Erde hervorzukriechen. Das grelle Kunstlicht flackerte wie ein Stroboskop, und einen Augenblick lang schien die Hand sich zu regen.
Auf der Plastikplane über Harrys Kopf hörte sich der Regen an wie Gewehrfeuer. So hoch oben auf dem Moor blies der Wind beinahe mit Sturmstärke, und die behelfsmäßigen Wände des Polizeizeltes konnten ihn nicht völlig abhalten. Als Harry seinen Wagen geparkt hatte, vor noch nicht einmal drei Minuten, war es 3.17 Uhr gewesen. Es war die dunkelste Stunde der Nacht. Harry wurde klar, dass er die Augen geschlossen hatte.
Detective Chief Superintendent Rushtons Hand lag noch immer auf seinem Arm, obgleich die beiden Männer den Rand der inneren Absperrung erreicht hatten. Näher würde man sie nicht heranlassen. Außer ihnen waren noch sechs weitere Personen in dem Zelt; alle trugen die gleichen weißen Overalls mit Kapuze und die gleichen Gummistiefel wie die, die Harry und Rushton gerade angezogen hatten.
Harry spürte, wie er zitterte. Mit geschlossenen Augen lauschte er dem beharrlichen, stetigen Trommeln des Regens auf dem Zeltdach. Er konnte noch immer diese Hand sehen. Als er merkte, dass er schwankte, schlug er die Augen auf und verlor beinahe das Gleichgewicht.
»Ein Stückchen zurück, Harry«, wies Rushton ihn an. »Bitte bleiben Sie auf der Matte.« Harry tat wie geheißen. Sein Körper schien mit einem Mal viel zu groß geworden zu sein, die geborgten Stiefel waren unerträglich eng, seine Kleider klebten an ihm, die Knochen seines Schädels fühlten sich zu dünn an. Das Geräusch von Wind und Regen ging weiter, wie der Soundtrack eines billigen Films. Zu viel Licht, zu viel Krach für mitten in der Nacht.
Der Schädel war von dem dazugehörigen Torso fortgerollt. Harry konnte einen Brustkorb sehen, so klein, noch immer bekleidet; winzige Knöpfe schimmerten unter den Lampen. »Wo sind die anderen?«, fragte er.
DCS Rushton neigte den Kopf und führte ihn dann über die Riffelblech-Platten, die wie Trittsteine über den Matsch gelegt worden waren. Sie folgten dem Verlauf der Kirchenmauer. »Passen Sie auf, wo Sie hintreten, mein Junge«, sagte Rushton. »Das ganze Gelände ist eine einzige Schlammsuhle. Da, sehen Sie?«
Sie waren am anderen Ende der Absperrung stehen geblieben. Der zweite Leichnam war noch intakt, sah jedoch nicht größer aus als der erste. Ein winziger Gummistiefel steckte auf seinem linken Fuß.
»Das Dritte liegt an der Mauer«, erläuterte Rushton. »Ist von hier aus schwer zu sehen. Es wird von den Steinen verdeckt.«
»Auch ein Kind?«, wollte Harry wissen. Unbefestigte PVC-Planen des Zeltes schlugen im Wind, und er musste fast schreien, um sich verständlich zu machen.
»Sieht so aus.« Rushtons Brille war von Regentropfen gesprenkelt. Er hatte sie nicht abgewischt, seit sie das Zelt betreten hatten. Vielleicht war er dankbar dafür, nicht deutlich sehen zu können. »Sehen Sie, wo die Mauer eingestürzt ist?«, fragte er.
Harry nickte. Ein ungefähr drei Meter langes Stück der Steinmauer, die die Grenze zwischen dem Grundstück der Fletchers und dem Kirchhof bildete, war eingestürzt, und das Erdreich, das sie zurückgehalten hatte, war wie ein kleiner Erdrutsch in den Garten gerollt. Eine alte Eibe war zusammen mit der Mauer umgestürzt. Im harten künstlichen Licht erinnerte der Baum ihn an das lange Haar einer Frau.
»Als die Mauer umgekippt ist, sind die Gräber am Friedhofsrand beschädigt worden«, sagte Rushton gerade. »Ganz besonders eines, das Grab eines Kindes. Ein kleines Mädchen namens Lucy Pickup. Das Problem ist, laut unseren Plänen lag das Kind allein in dem Grab. Es wurde vor zehn Jahren extra für sie angelegt.«
»Das weiß ich«, erwiderte Harry. »Aber dann ... « Er wandte sich wieder der Szene vor ihm zu.
»Na ja, jetzt verstehen Sie bestimmt unser Problem«, meinte Rushton. »Wenn die kleine Lucy hier allein bestattet wurde, wer sind dann die beiden anderen?«
»Kann ich einen Moment mit ihnen allein sein?«, fragte Harry.
Rushtons Augen wurden schmal. Sein Blick wanderte von den kleinen Gestalten zu Harry und wieder zurück.
»Das hier ist heiliger Boden«, sagte Harry fast zu sich selbst.
Rushton trat von ihm weg. »Ladys und Gentlemen«, rief er. »Bitte eine Minute Ruhe für den Vikar.« Die über das Areal verteilten Beamten blickten auf. Einer öffnete den Mund, um zu widersprechen, hielt jedoch inne, als er Brian Rushtons Gesichtsausdruck sah. Mit einem gemurmelten Dank trat Harry näher an die Absperrung heran, bis eine Hand auf seinem Arm ihm bedeutete, dass er stehen bleiben musste. Der Schädel des Leichnams, der ihm am nächsten war, war zertrümmert. Fast ein Drittel schien zu fehlen. Er erinnerte sich, gehört zu haben, wie Lucy Pickup ums Leben gekommen war. Er holte tief Luft und registrierte, dass alle um ihn herum reglos verharrten. Einige beobachteten ihn, andere hatten die Köpfe gesenkt. Harry hob die rechte Hand und schickte sich an, das Kreuz zu schlagen. Auf, ab, nach links. Er hielt inne. Näher am Fundort, direkt unter den Lampen, konnte er den dritten Leichnam besser sehen. Die winzige Gestalt war mit etwas bekleidet, das um den Hals herum mit einem Muster bestickt war: ein kleiner Igel, ein Kaninchen, eine Ente mit einer Haube. Figuren aus den Geschichten von Beatrix Potter.
Er begann zu sprechen und wusste doch kaum, was er sagte. Ein kurzes Gebet für die Seelen der Toten; es hätte alles Mögliche sein können. Offenbar hatte er es beendet, die Leute von der Spurensicherung machten sich wieder an die Arbeit. Rushton klopfte ihm auf den Arm und führte ihn aus dem Zelt. Harry folgte widerspruchslos; ihm war klar, dass er unter Schock stand.
Drei kleine Leichname, die aus einem Grab gepurzelt waren, das nur einen hätte bergen sollen. Zwei unbekannte Kinder hatten Lucy Pickups letzte Ruhestätte mit ihr geteilt. Nur war eins davon nicht unbekannt, jedenfalls nicht ihm. Die Kleine in dem Beatrix-Potter-Pyjama. Er wusste, wer sie war.
1
4. September (neun Wochen vorher)
Die Fletchers hatten ihr großes, brandneues Haus ganz oben auf dem Moor gebaut, in einem kleinen Ort, den die Zeit anscheinend sich selbst überlassen hatte, damit er sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern konnte. Es stand auf einem Grundstück von eher bescheidener Größe, das die Diözese hatte abstoßen müssen, weil sie dringend Geld brauchte. Die Fletchers bauten so nahe bei den beiden Kirchen - die eine alt, die andere sehr alt -, dass sie sich aus dem Schlafzimmerfenster beugen und fast das leere Gehäuse des uralten Turmes berühren konnten. Und auf drei Seiten ihres Gartens hatten sie die ruhigsten Nachbarn, die sie sich nur wünschen konnten. Denn die Fletchers hatten ihr neues Haus mitten auf einem Friedhof gebaut. Sie hätten es eigentlich besser wissen müssen.
Doch Tom und sein kleiner Bruder Joe waren anfangs ganz aus dem Häuschen vor Freude. In ihrem neuen Zuhause hatten sie riesige Zimmer, die noch nach frischer Farbe rochen. Draußen hatten sie den von Brombeerranken überwucherten Kirchhof mit den zerbröckelnden Steinen, wo Abenteuer wie aus dem Märchenbuch nur auf sie zu warten schienen. Drinnen hatten sie ein Wohnzimmer, das je nach Sonnenstand in endlosen Gelbschattierungen leuchtete. Draußen hatten sie uralte Bogengänge, die zum Himmel emporragten, Tierbaue mit Efeu, der so alt und starr war, dass er ganz allein stehen konnte, und Gras, das so lang war, dass der sechsjährige Joe darin zu ertrinken schien. Drinnen nahm das Haus allmählich das Wesen ihrer Eltern an, je mehr frische Farben, Wandgemälde und geschnitzte Tiere in den Zimmern Einzug hielten. Draußen nahmen Tom und Joe den Kirchhof in Besitz.
Am letzten Tag der Sommerferien lag Tom auf dem Grab von Jackson Reynolds (1875-1945) und sog die Wärme des alten Steines in sich auf. Der Himmel hatte denselben kornblumenblauen Farbton wie die Lieblingsmalfarbe seiner Mutter, und die Sonne schien bereits seit dem frühen Morgen. Es war ein Leuchtetag, wie Joe gern sagte.
Tom hätte nicht zu sagen vermocht, was auf einmal anders war. Wie es kam, dass er sich eben noch absolut prima fühlte, warm und glücklich, und darüber nachdachte, wie alt man wohl sein musste, um bei den Blackburn Rovers vorzuspielen - und plötzlich ... na ja ... fühlte er sich nicht mehr prima. Aber alles war in Ordnung, außer dass ihn etwas drängte, sich aufzusetzen. Zu schauen, was in der Nähe los war. Ob da jemand...
Bescheuert. Aber er richtete sich trotzdem auf, blickte sich um und fragte sich, wie Joe es geschafft hatte, schon wieder zu verschwinden. Weiter unten am Hügel erstreckte sich der Friedhof über die Länge eines Fußballfelds und fiel immer steiler ab. Dann kamen ein paar Straßen mit Reihenhäusern und dahinter wieder Wiesen. Hinter diesen Wiesen, am Grund des Tals, lag der Nachbarort Goodshaw Bridge, wo für ihn und Joe am Montagmorgen die Schule wieder anfangen würde. Jenseits des Tales erstreckten sich auf allen Seiten die Hochmoore. Jede Menge Hochmoore.
Toms Dad sagte gern, wie toll er die Moore fand, die Wildheit, die Erhabenheit und die absolute Unberechenbarkeit der Natur hier oben im Norden von England. Tom war natürlich derselben Meinung wie sein Dad, er war ja auch erst zehn. Insgeheim jedoch überlegte er manchmal, ob eine Landschaft, die berechenbar war - er hatte das Wort nachgeschlagen, er wusste, was es bedeutete -, vielleicht gar nicht so schlecht wäre. Manchmal kam es Tom so vor, als wären die Moore um sein neues Zuhause herum ein kleines bisschen zu unberechenbar. Obwohl er das niemals laut sagte.
Natürlich war er ein Idiot, das verstand sich von selbst.
Aber irgendwie schien Tom ständig ein neuer Felsbrocken aufzufallen, ein winziges Tal, das vorher nicht da gewesen war, ein Heidekrautflecken oder eine Baumgruppe, die über Nacht aufgetaucht war. Manchmal, wenn die Wolken rasch am Himmel dahinzogen und ihre Schatten über den Boden jagten, kam es Tom so vor, als bildeten sich Wellen auf dem Moor, wie bei Wasser, wenn sich etwas unter der Oberfläche bewegte. Oder es regte sich wie ein schlafendes Ungeheuer, das aus dem Schlaf gerissen wird. Und hin und wieder, wenn die Sonne auf der anderen Seite des Tals unterging und es dunkel wurde, konnte Tom sich des Gedankens nicht erwehren, dass die Moore ringsum näher herangekrochen waren.
»Tom!«, schrie Joe von der anderen Seite des Friedhofs her, und zur Abwechslung bedauerte Tom es einmal nicht, seinen kleinen Bruder zu hören. Der Stein unter ihm war kalt geworden, und über ihm waren Wolken aufgezogen.
»Tom!«, rief Joe abermals. Er schrie ihm diesmal fast ins Ohr. Mann, Joe, das ging aber schnell! Tom sprang auf und drehte sich um. Joe war nicht da.
Rund um den Kirchhof begannen die Bäume zu rauschen. Der Wind nahm wieder zu, und wenn der Wind auf dem Hochmoor es wirklich ernst meinte, kam er überall hin, selbst an geschützte Stellen. In den Büschen, die Tom am nächsten waren, bewegte sich etwas.
»Joe«, sagte er leiser, als er eigentlich wollte. Denn der Gedanke, dass sich irgendjemand, und sei es Joe, in diesen Büschen versteckte und ihn beobachtete, gefiel ihm überhaupt nicht. Er starrte die großen, glänzenden grünen Blätter an und wartete darauf, dass sie sich noch einmal rührten. Es waren Lorbeerbüsche, hoch, alt und dicht. Der Wind nahm definitiv an Stärke zu; jetzt konnte er ihn in den Baumwipfeln hören. Die Lorbeerbüsche vor ihm bewegten sich nicht.
Wahrscheinlich war es nur ein komisches Echo gewesen, das ihm vorgegaukelt hatte, Joe sei ganz in der Nähe. Doch Tom hatte wieder dieses Gefühl, jenes Kitzelgefühl, das er immer dann bekam, wenn ihm jemand bei etwas Verbotenem zusah. Und außerdem, hatte er nicht eben Joes Atem im Nacken gespürt?
»Joe?«, versuchte er es abermals.
»Joe?«, kam seine eigene Stimme zurück. Tom machte zwei Schritte rückwärts und prallte gegen den Grabstein. Dann schaute er sich gründlich um, ob auch wirklich niemand in der Nähe war, und kauerte sich hin.
In dieser Höhe waren die Lorbeerbüsche nicht so dicht belaubt. Zwischen Brennnesseln konnte Tom mehrere kahle Zweige des Gesträuchs erkennen. Und er sah noch etwas anderes, einen vagen Umriss, von dem er nur sagen konnte, dass es keine Pflanze war. Es sah ein bisschen so aus wie ... wenn es sich bewegte, würde er es vielleicht besser erkennen können ... ein großer und sehr schmutziger menschlicher Fuß.
»Tom, Tom, komm her und schau dir das an!«, rief sein Bruder und klang diesmal, als sei er kilometerweit weg. Tom ließ sich nicht zweimal bitten. Er sprang auf und rannte in die Richtung, aus der die Stimme kam.
Joe kauerte am Fuß der Mauer, die den Kirchhof vom Garten der Familie trennte. Er betrachtete ein Grab, das neuer zu sein schien als jene, die es umgaben. Am Fußende, dem Grabstein zugewandt, stand eine Statue.
»Schau mal, Tom«, verkündete Joe, noch ehe sein großer Bruder zum Stehen gekommen war. »Das ist ein kleines Mädchen. Mit einer Puppe.«
Tom bückte sich. Die Statue war ungefähr dreißig Zentimeter hoch und stellte ein winziges, rundliches Mädchen mit Locken dar, das ein Partykleidchen trug. Behutsam streckte Tom die Hand aus und kratzte ein wenig von dem Moos ab, das sie überwucherte. Der Bildhauer hatte sie mit vollendet herausgearbeiteten Schuhen ausgestattet, und in den Armen hielt sie eine kleine Puppe.
»Kleine Mädchen«, meinte Joe. »Das ist ein Grab für kleine Mädchen.«
Tom schaute auf und stellte fest, dass Joe recht hatte - beinahe. Nur ein einziges Wort war in den Grabstein eingemeißelt. Lucy. Vielleicht stand da noch mehr, doch alles, was sich möglicherweise darunter befinden mochte, war von Efeu bedeckt. »Nur für ein kleines Mädchen«, erwiderte er. »Lucy.«
Tom zerrte den Efeu weg, der über den Grabstein wucherte, bis er die Daten erkennen konnte. Lucy war vor zehn Jahren gestorben. Sie war erst zwei Jahre alt gewesen. Geliebtes Kind von Jennifer und Michael Pickup lautete die Inschrift. Mehr stand dort nicht.
»Nur für Lucy«, wiederholte er. »Komm, wir gehen.«
Tom machte sich auf den Weg, wand sich vorsichtig durch das hohe Gras, wich Brennnesseln aus, schob Brombeerranken zur Seite. Hinter sich hörte er das Gras rascheln und wusste, dass Joe ihm folgte. Als er den Hügel hinaufstieg, kamen die Mauern der Abteiruine in Sicht.
»Tom«, sagte Joe mit einer Stimme, die sich einfach nicht richtig anhörte.
Tom blieb stehen. Er konnte hören, wie sich direkt hinter ihm das Gras bewegte, doch er drehte sich nicht um. Er blieb einfach, wo er war, und starrte den verfallenen Kirchturm an, ohne ihn zu sehen. Stattdessen fragte er sich, warum er sich plötzlich so davor fürchtete, sich nach seinem Bruder umzudrehen.
Er tat es trotzdem. Da waren nur die hohen Grabsteine. Sonst nichts. Tom merkte, dass seine Hände zu Fäusten geballt waren. Das war wirklich nicht witzig. Dann bewegten sich die Büsche ein paar Meter weiter erneut, und dort war Joe. Er rannte durchs Gras, keuchte und war ganz rot im Gesicht, als hätte er sich mächtig angestrengt, um Schritt zu halten. Er kam näher, erreichte seinen Bruder und blieb stehen.
»Was ist?«, fragte Joe.
»Ich glaube, irgendjemand folgt uns«, flüsterte Tom.
Joe fragte nicht, wer oder wo, oder woher Tom das wusste, er starrte ihn bloß an. Tom streckte die Hand aus und fasste seinen Bruder am Arm. Sie würden nach Hause gehen, und zwar jetzt gleich.
Übersetzung: Marie-Luise Bezzenberger
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2011
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Es war also tatsächlich geschehen. Das, wovon er nur im Nachhinein hätte sagen können, dass er es befürchtet hatte. In gewisser Weise war es fast eine Erleichterung zu wissen, dass das Schlimmste vorbei war. Dass er nicht mehr zu heucheln brauchte. Jetzt musste er vielleicht nicht mehr so tun, als sei dies eine ganz gewöhnliche Kleinstadt, als seien dies ganz normale Leute. Harry atmete tief durch und stellte fest, dass der Tod nach Abflussrohren roch, nach feuchter Erde und Plastikplanen.
Der Schädel, keine zwei Meter entfernt, sah winzig aus. Als könnten ihn seine Finger fast völlig umschließen, wenn er ihn in der Hand hielte. Fast noch schlimmer als der Schädel war die Hand. Sie lag halb verborgen im Schlamm, die Knochen von der Haut kaum noch zusammengehalten, als versuchten sie, aus der Erde hervorzukriechen. Das grelle Kunstlicht flackerte wie ein Stroboskop, und einen Augenblick lang schien die Hand sich zu regen.
Auf der Plastikplane über Harrys Kopf hörte sich der Regen an wie Gewehrfeuer. So hoch oben auf dem Moor blies der Wind beinahe mit Sturmstärke, und die behelfsmäßigen Wände des Polizeizeltes konnten ihn nicht völlig abhalten. Als Harry seinen Wagen geparkt hatte, vor noch nicht einmal drei Minuten, war es 3.17 Uhr gewesen. Es war die dunkelste Stunde der Nacht. Harry wurde klar, dass er die Augen geschlossen hatte.
Detective Chief Superintendent Rushtons Hand lag noch immer auf seinem Arm, obgleich die beiden Männer den Rand der inneren Absperrung erreicht hatten. Näher würde man sie nicht heranlassen. Außer ihnen waren noch sechs weitere Personen in dem Zelt; alle trugen die gleichen weißen Overalls mit Kapuze und die gleichen Gummistiefel wie die, die Harry und Rushton gerade angezogen hatten.
Harry spürte, wie er zitterte. Mit geschlossenen Augen lauschte er dem beharrlichen, stetigen Trommeln des Regens auf dem Zeltdach. Er konnte noch immer diese Hand sehen. Als er merkte, dass er schwankte, schlug er die Augen auf und verlor beinahe das Gleichgewicht.
»Ein Stückchen zurück, Harry«, wies Rushton ihn an. »Bitte bleiben Sie auf der Matte.« Harry tat wie geheißen. Sein Körper schien mit einem Mal viel zu groß geworden zu sein, die geborgten Stiefel waren unerträglich eng, seine Kleider klebten an ihm, die Knochen seines Schädels fühlten sich zu dünn an. Das Geräusch von Wind und Regen ging weiter, wie der Soundtrack eines billigen Films. Zu viel Licht, zu viel Krach für mitten in der Nacht.
Der Schädel war von dem dazugehörigen Torso fortgerollt. Harry konnte einen Brustkorb sehen, so klein, noch immer bekleidet; winzige Knöpfe schimmerten unter den Lampen. »Wo sind die anderen?«, fragte er.
DCS Rushton neigte den Kopf und führte ihn dann über die Riffelblech-Platten, die wie Trittsteine über den Matsch gelegt worden waren. Sie folgten dem Verlauf der Kirchenmauer. »Passen Sie auf, wo Sie hintreten, mein Junge«, sagte Rushton. »Das ganze Gelände ist eine einzige Schlammsuhle. Da, sehen Sie?«
Sie waren am anderen Ende der Absperrung stehen geblieben. Der zweite Leichnam war noch intakt, sah jedoch nicht größer aus als der erste. Ein winziger Gummistiefel steckte auf seinem linken Fuß.
»Das Dritte liegt an der Mauer«, erläuterte Rushton. »Ist von hier aus schwer zu sehen. Es wird von den Steinen verdeckt.«
»Auch ein Kind?«, wollte Harry wissen. Unbefestigte PVC-Planen des Zeltes schlugen im Wind, und er musste fast schreien, um sich verständlich zu machen.
»Sieht so aus.« Rushtons Brille war von Regentropfen gesprenkelt. Er hatte sie nicht abgewischt, seit sie das Zelt betreten hatten. Vielleicht war er dankbar dafür, nicht deutlich sehen zu können. »Sehen Sie, wo die Mauer eingestürzt ist?«, fragte er.
Harry nickte. Ein ungefähr drei Meter langes Stück der Steinmauer, die die Grenze zwischen dem Grundstück der Fletchers und dem Kirchhof bildete, war eingestürzt, und das Erdreich, das sie zurückgehalten hatte, war wie ein kleiner Erdrutsch in den Garten gerollt. Eine alte Eibe war zusammen mit der Mauer umgestürzt. Im harten künstlichen Licht erinnerte der Baum ihn an das lange Haar einer Frau.
»Als die Mauer umgekippt ist, sind die Gräber am Friedhofsrand beschädigt worden«, sagte Rushton gerade. »Ganz besonders eines, das Grab eines Kindes. Ein kleines Mädchen namens Lucy Pickup. Das Problem ist, laut unseren Plänen lag das Kind allein in dem Grab. Es wurde vor zehn Jahren extra für sie angelegt.«
»Das weiß ich«, erwiderte Harry. »Aber dann ... « Er wandte sich wieder der Szene vor ihm zu.
»Na ja, jetzt verstehen Sie bestimmt unser Problem«, meinte Rushton. »Wenn die kleine Lucy hier allein bestattet wurde, wer sind dann die beiden anderen?«
»Kann ich einen Moment mit ihnen allein sein?«, fragte Harry.
Rushtons Augen wurden schmal. Sein Blick wanderte von den kleinen Gestalten zu Harry und wieder zurück.
»Das hier ist heiliger Boden«, sagte Harry fast zu sich selbst.
Rushton trat von ihm weg. »Ladys und Gentlemen«, rief er. »Bitte eine Minute Ruhe für den Vikar.« Die über das Areal verteilten Beamten blickten auf. Einer öffnete den Mund, um zu widersprechen, hielt jedoch inne, als er Brian Rushtons Gesichtsausdruck sah. Mit einem gemurmelten Dank trat Harry näher an die Absperrung heran, bis eine Hand auf seinem Arm ihm bedeutete, dass er stehen bleiben musste. Der Schädel des Leichnams, der ihm am nächsten war, war zertrümmert. Fast ein Drittel schien zu fehlen. Er erinnerte sich, gehört zu haben, wie Lucy Pickup ums Leben gekommen war. Er holte tief Luft und registrierte, dass alle um ihn herum reglos verharrten. Einige beobachteten ihn, andere hatten die Köpfe gesenkt. Harry hob die rechte Hand und schickte sich an, das Kreuz zu schlagen. Auf, ab, nach links. Er hielt inne. Näher am Fundort, direkt unter den Lampen, konnte er den dritten Leichnam besser sehen. Die winzige Gestalt war mit etwas bekleidet, das um den Hals herum mit einem Muster bestickt war: ein kleiner Igel, ein Kaninchen, eine Ente mit einer Haube. Figuren aus den Geschichten von Beatrix Potter.
Er begann zu sprechen und wusste doch kaum, was er sagte. Ein kurzes Gebet für die Seelen der Toten; es hätte alles Mögliche sein können. Offenbar hatte er es beendet, die Leute von der Spurensicherung machten sich wieder an die Arbeit. Rushton klopfte ihm auf den Arm und führte ihn aus dem Zelt. Harry folgte widerspruchslos; ihm war klar, dass er unter Schock stand.
Drei kleine Leichname, die aus einem Grab gepurzelt waren, das nur einen hätte bergen sollen. Zwei unbekannte Kinder hatten Lucy Pickups letzte Ruhestätte mit ihr geteilt. Nur war eins davon nicht unbekannt, jedenfalls nicht ihm. Die Kleine in dem Beatrix-Potter-Pyjama. Er wusste, wer sie war.
1
4. September (neun Wochen vorher)
Die Fletchers hatten ihr großes, brandneues Haus ganz oben auf dem Moor gebaut, in einem kleinen Ort, den die Zeit anscheinend sich selbst überlassen hatte, damit er sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern konnte. Es stand auf einem Grundstück von eher bescheidener Größe, das die Diözese hatte abstoßen müssen, weil sie dringend Geld brauchte. Die Fletchers bauten so nahe bei den beiden Kirchen - die eine alt, die andere sehr alt -, dass sie sich aus dem Schlafzimmerfenster beugen und fast das leere Gehäuse des uralten Turmes berühren konnten. Und auf drei Seiten ihres Gartens hatten sie die ruhigsten Nachbarn, die sie sich nur wünschen konnten. Denn die Fletchers hatten ihr neues Haus mitten auf einem Friedhof gebaut. Sie hätten es eigentlich besser wissen müssen.
Doch Tom und sein kleiner Bruder Joe waren anfangs ganz aus dem Häuschen vor Freude. In ihrem neuen Zuhause hatten sie riesige Zimmer, die noch nach frischer Farbe rochen. Draußen hatten sie den von Brombeerranken überwucherten Kirchhof mit den zerbröckelnden Steinen, wo Abenteuer wie aus dem Märchenbuch nur auf sie zu warten schienen. Drinnen hatten sie ein Wohnzimmer, das je nach Sonnenstand in endlosen Gelbschattierungen leuchtete. Draußen hatten sie uralte Bogengänge, die zum Himmel emporragten, Tierbaue mit Efeu, der so alt und starr war, dass er ganz allein stehen konnte, und Gras, das so lang war, dass der sechsjährige Joe darin zu ertrinken schien. Drinnen nahm das Haus allmählich das Wesen ihrer Eltern an, je mehr frische Farben, Wandgemälde und geschnitzte Tiere in den Zimmern Einzug hielten. Draußen nahmen Tom und Joe den Kirchhof in Besitz.
Am letzten Tag der Sommerferien lag Tom auf dem Grab von Jackson Reynolds (1875-1945) und sog die Wärme des alten Steines in sich auf. Der Himmel hatte denselben kornblumenblauen Farbton wie die Lieblingsmalfarbe seiner Mutter, und die Sonne schien bereits seit dem frühen Morgen. Es war ein Leuchtetag, wie Joe gern sagte.
Tom hätte nicht zu sagen vermocht, was auf einmal anders war. Wie es kam, dass er sich eben noch absolut prima fühlte, warm und glücklich, und darüber nachdachte, wie alt man wohl sein musste, um bei den Blackburn Rovers vorzuspielen - und plötzlich ... na ja ... fühlte er sich nicht mehr prima. Aber alles war in Ordnung, außer dass ihn etwas drängte, sich aufzusetzen. Zu schauen, was in der Nähe los war. Ob da jemand...
Bescheuert. Aber er richtete sich trotzdem auf, blickte sich um und fragte sich, wie Joe es geschafft hatte, schon wieder zu verschwinden. Weiter unten am Hügel erstreckte sich der Friedhof über die Länge eines Fußballfelds und fiel immer steiler ab. Dann kamen ein paar Straßen mit Reihenhäusern und dahinter wieder Wiesen. Hinter diesen Wiesen, am Grund des Tals, lag der Nachbarort Goodshaw Bridge, wo für ihn und Joe am Montagmorgen die Schule wieder anfangen würde. Jenseits des Tales erstreckten sich auf allen Seiten die Hochmoore. Jede Menge Hochmoore.
Toms Dad sagte gern, wie toll er die Moore fand, die Wildheit, die Erhabenheit und die absolute Unberechenbarkeit der Natur hier oben im Norden von England. Tom war natürlich derselben Meinung wie sein Dad, er war ja auch erst zehn. Insgeheim jedoch überlegte er manchmal, ob eine Landschaft, die berechenbar war - er hatte das Wort nachgeschlagen, er wusste, was es bedeutete -, vielleicht gar nicht so schlecht wäre. Manchmal kam es Tom so vor, als wären die Moore um sein neues Zuhause herum ein kleines bisschen zu unberechenbar. Obwohl er das niemals laut sagte.
Natürlich war er ein Idiot, das verstand sich von selbst.
Aber irgendwie schien Tom ständig ein neuer Felsbrocken aufzufallen, ein winziges Tal, das vorher nicht da gewesen war, ein Heidekrautflecken oder eine Baumgruppe, die über Nacht aufgetaucht war. Manchmal, wenn die Wolken rasch am Himmel dahinzogen und ihre Schatten über den Boden jagten, kam es Tom so vor, als bildeten sich Wellen auf dem Moor, wie bei Wasser, wenn sich etwas unter der Oberfläche bewegte. Oder es regte sich wie ein schlafendes Ungeheuer, das aus dem Schlaf gerissen wird. Und hin und wieder, wenn die Sonne auf der anderen Seite des Tals unterging und es dunkel wurde, konnte Tom sich des Gedankens nicht erwehren, dass die Moore ringsum näher herangekrochen waren.
»Tom!«, schrie Joe von der anderen Seite des Friedhofs her, und zur Abwechslung bedauerte Tom es einmal nicht, seinen kleinen Bruder zu hören. Der Stein unter ihm war kalt geworden, und über ihm waren Wolken aufgezogen.
»Tom!«, rief Joe abermals. Er schrie ihm diesmal fast ins Ohr. Mann, Joe, das ging aber schnell! Tom sprang auf und drehte sich um. Joe war nicht da.
Rund um den Kirchhof begannen die Bäume zu rauschen. Der Wind nahm wieder zu, und wenn der Wind auf dem Hochmoor es wirklich ernst meinte, kam er überall hin, selbst an geschützte Stellen. In den Büschen, die Tom am nächsten waren, bewegte sich etwas.
»Joe«, sagte er leiser, als er eigentlich wollte. Denn der Gedanke, dass sich irgendjemand, und sei es Joe, in diesen Büschen versteckte und ihn beobachtete, gefiel ihm überhaupt nicht. Er starrte die großen, glänzenden grünen Blätter an und wartete darauf, dass sie sich noch einmal rührten. Es waren Lorbeerbüsche, hoch, alt und dicht. Der Wind nahm definitiv an Stärke zu; jetzt konnte er ihn in den Baumwipfeln hören. Die Lorbeerbüsche vor ihm bewegten sich nicht.
Wahrscheinlich war es nur ein komisches Echo gewesen, das ihm vorgegaukelt hatte, Joe sei ganz in der Nähe. Doch Tom hatte wieder dieses Gefühl, jenes Kitzelgefühl, das er immer dann bekam, wenn ihm jemand bei etwas Verbotenem zusah. Und außerdem, hatte er nicht eben Joes Atem im Nacken gespürt?
»Joe?«, versuchte er es abermals.
»Joe?«, kam seine eigene Stimme zurück. Tom machte zwei Schritte rückwärts und prallte gegen den Grabstein. Dann schaute er sich gründlich um, ob auch wirklich niemand in der Nähe war, und kauerte sich hin.
In dieser Höhe waren die Lorbeerbüsche nicht so dicht belaubt. Zwischen Brennnesseln konnte Tom mehrere kahle Zweige des Gesträuchs erkennen. Und er sah noch etwas anderes, einen vagen Umriss, von dem er nur sagen konnte, dass es keine Pflanze war. Es sah ein bisschen so aus wie ... wenn es sich bewegte, würde er es vielleicht besser erkennen können ... ein großer und sehr schmutziger menschlicher Fuß.
»Tom, Tom, komm her und schau dir das an!«, rief sein Bruder und klang diesmal, als sei er kilometerweit weg. Tom ließ sich nicht zweimal bitten. Er sprang auf und rannte in die Richtung, aus der die Stimme kam.
Joe kauerte am Fuß der Mauer, die den Kirchhof vom Garten der Familie trennte. Er betrachtete ein Grab, das neuer zu sein schien als jene, die es umgaben. Am Fußende, dem Grabstein zugewandt, stand eine Statue.
»Schau mal, Tom«, verkündete Joe, noch ehe sein großer Bruder zum Stehen gekommen war. »Das ist ein kleines Mädchen. Mit einer Puppe.«
Tom bückte sich. Die Statue war ungefähr dreißig Zentimeter hoch und stellte ein winziges, rundliches Mädchen mit Locken dar, das ein Partykleidchen trug. Behutsam streckte Tom die Hand aus und kratzte ein wenig von dem Moos ab, das sie überwucherte. Der Bildhauer hatte sie mit vollendet herausgearbeiteten Schuhen ausgestattet, und in den Armen hielt sie eine kleine Puppe.
»Kleine Mädchen«, meinte Joe. »Das ist ein Grab für kleine Mädchen.«
Tom schaute auf und stellte fest, dass Joe recht hatte - beinahe. Nur ein einziges Wort war in den Grabstein eingemeißelt. Lucy. Vielleicht stand da noch mehr, doch alles, was sich möglicherweise darunter befinden mochte, war von Efeu bedeckt. »Nur für ein kleines Mädchen«, erwiderte er. »Lucy.«
Tom zerrte den Efeu weg, der über den Grabstein wucherte, bis er die Daten erkennen konnte. Lucy war vor zehn Jahren gestorben. Sie war erst zwei Jahre alt gewesen. Geliebtes Kind von Jennifer und Michael Pickup lautete die Inschrift. Mehr stand dort nicht.
»Nur für Lucy«, wiederholte er. »Komm, wir gehen.«
Tom machte sich auf den Weg, wand sich vorsichtig durch das hohe Gras, wich Brennnesseln aus, schob Brombeerranken zur Seite. Hinter sich hörte er das Gras rascheln und wusste, dass Joe ihm folgte. Als er den Hügel hinaufstieg, kamen die Mauern der Abteiruine in Sicht.
»Tom«, sagte Joe mit einer Stimme, die sich einfach nicht richtig anhörte.
Tom blieb stehen. Er konnte hören, wie sich direkt hinter ihm das Gras bewegte, doch er drehte sich nicht um. Er blieb einfach, wo er war, und starrte den verfallenen Kirchturm an, ohne ihn zu sehen. Stattdessen fragte er sich, warum er sich plötzlich so davor fürchtete, sich nach seinem Bruder umzudrehen.
Er tat es trotzdem. Da waren nur die hohen Grabsteine. Sonst nichts. Tom merkte, dass seine Hände zu Fäusten geballt waren. Das war wirklich nicht witzig. Dann bewegten sich die Büsche ein paar Meter weiter erneut, und dort war Joe. Er rannte durchs Gras, keuchte und war ganz rot im Gesicht, als hätte er sich mächtig angestrengt, um Schritt zu halten. Er kam näher, erreichte seinen Bruder und blieb stehen.
»Was ist?«, fragte Joe.
»Ich glaube, irgendjemand folgt uns«, flüsterte Tom.
Joe fragte nicht, wer oder wo, oder woher Tom das wusste, er starrte ihn bloß an. Tom streckte die Hand aus und fasste seinen Bruder am Arm. Sie würden nach Hause gehen, und zwar jetzt gleich.
Übersetzung: Marie-Luise Bezzenberger
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2011
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
... weniger
Autoren-Porträt von Sharon J. Bolton
Sharon Bolton wurde im englischen Lancashire geboren, hat eine Schauspielausbildung absolviert und Theaterwissenschaft studiert. Sie arbeitete erfolgreich im Bereich PR und Marketing und begann schließlich mit dem Schreiben. Die Autorin lebt mit ihrem Mann und ihrem Sohn in Oxford.
Bibliographische Angaben
- Autor: Sharon J. Bolton
- 2011, 2, 509 Seiten, Maße: 13,5 x 21,4 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Aus d. Engl. v. Marie-Luise Bezzenberger
- Übersetzer: Marie-Luise Bezzenberger
- Verlag: MANHATTAN
- ISBN-10: 3442546761
- ISBN-13: 9783442546763
Rezension zu „Bluternte “
»Ein grandioser Thriller! Bolton verbindet Unheimliches meisterhaft mit einer vor Spannung knisternden psychologischen Handlung, sodass der Leser bis zur letzten Seite den Atem anhält.«
Kommentare zu "Bluternte"
0 Gebrauchte Artikel zu „Bluternte“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
5 von 5 Sternen
5 Sterne 3Schreiben Sie einen Kommentar zu "Bluternte".
Kommentar verfassen