Bluthatz
Die Staatsanwältin und der Kripomann ermitteln in einem besonders grausamen Mordfall im beschaulichen Städtchen Eltville
Für die beiden Mädchen, die sich in der Halloween-Nacht ins Kloster Eberbach einschleichen,...
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Produktinformationen zu „Bluthatz “
Die Staatsanwältin und der Kripomann ermitteln in einem besonders grausamen Mordfall im beschaulichen Städtchen Eltville
Für die beiden Mädchen, die sich in der Halloween-Nacht ins Kloster Eberbach einschleichen, sollte es eigentlich nur ein Grusel-Event werden. Doch dann wird der Horror real: Sie entdecken einen brennenden Scheiterhaufen mit einer Leiche! Kommisssar Gebert und sein Team stellen fest, dass das Opfer zuvor noch grausam gefoltert worden war. Dann wird deutlich, dass der Tote ein hochrangiger Beamter am Ort war. Ein Mann, der sich jede Menge Feinde gemacht hatte. Ein tödlicher Sumpf aus Spekulation und Korruption bringt auch die Ermittler in Gefahr.
Klappentext zu „Bluthatz “
Kloster Eberbach im Rheingau: In der Halloween-Nacht entdecken zwei junge Mädchen im Keller des Klosters einen Scheiterhaufen mit einer brennenden Leiche. Das Opfer wurde vor seinem Tod auf grausamste Art gefoltert. Staatsanwältin Inga Jäger und Kripohauptkommissar Kai Gebert vermuten dahinter das Werk eines sadistischen Psychopathen. Aber es gibt auch handfeste Motive. Im beschaulichen Städtchen Eltville hatten das Opfer, ein hochgestellter Beamter, jede Menge Feinde – beruflich wie privat. Die Jägerin und Kai Gebert müssen in unterschiedlichste Richtungen ermitteln. Und irgendjemand scheut vor nichts zurück, um ihren Erfolg zu verhindern.
Lese-Probe zu „Bluthatz “
Bluthatz von Richard HagenPROLOG
Wie jeder Mensch hatte Melchior Gietz sich im Laufe seines Lebens oft gefragt und vorgestellt, wie er einmal sterben würde, und ebenfalls wie jeder Mensch erkannte er jetzt, da es so weit war und er, am ganzen Leib zuckend, seinem Blut dabei zusah, wie es aus seinem Hals floss und zu einer immer größeren Lache wurde, dass keine seiner früheren Vorstellungen auch nur annähernd der Wirklichkeit entsprach. Als Kind hatte er sich oft und gerne ausgemalt, als bester der Jedi-Ritter mit einem strahlenden Laserschwert in der Hand ruhmreich im Gefechtsfeuer imperialer Klon-Truppen unterzugehen - oder als wackerer, mit Eisen gerüsteter Kämpe im Drachenfeuer zu verbrennen bei dem Versuch, die jungfräuliche Prinzessin vor dem Lindwurm zu retten. Auch später noch, längst ein Jugendlicher, waren die Bilder des eigenen Todes Bilder von epischen oder doch zumindest großen Heldentaten - da wurde die wunderschöne Freundin bis zum letzten aller Blutstropfen vor einer üblen Motorradgang unerbittlich so lange beschützt, bis sie in Sicherheit war ... um den Rest ihres Lebens keinen anderen Mann zu lieben und Tag für Tag frische Blumen auf sein Grab zu legen. Mit den Jahren jedoch wurden solche martialischen Vorstellungen immer mehr abgelöst von wesentlich alltäglicheren, ja profanen Szenarien: ein Autounfall wegen überhöhter Geschwindigkeit auf nasser Fahrbahn, ein Zugunglück durch einen Weichenstellfehler, ein Flugzeugabsturz durch mangelhafte Wartung unterbezahlter Techniker bei einer der Billig-Airlines. So schrecklich diese Bilder jedes einzelne für sich und allesamt waren, so wurden sie dann doch mit der Zeit und dem damit verbundenen Älterwerden noch übertroffen und schließlich gänzlich ersetzt von Visionen von Krankheiten und einem elenden Dahinsiechen im Krankenhaus - bis sich daraus
... mehr
durch Angst und das Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit Schritt für Schritt die Hoffnung formte, irgendwann und ohne jede Vorwarnung von einem Herzinfarkt blitzartig schnell hinweggerafft zu werden oder besser noch im hohen Alter im eigenen, frisch gemachten Bett zu sterben ... selig im Schlaf oder wahlweise an einem sonnigen Morgen, umgeben von der geliebten Familie. Doch nichts davon kam auch nur im Entferntesten der Art und Weise nahe, in der Melchior Gietz jetzt gerade verreckte.
Trotz oder gerade wegen der unsäglichen Schmerzen in den unzähligen gebrochenen Gliedern erkannte er, dass er sich in all den Jahren nie wirklich das Sterben an sich vorgestellt hatte, sondern immer nur dessen Konsequenz, den Tod - und er betete jetzt unter dreckverschmierten Tränen zu einem Gott, an den er nie auch nur eine Mi-nute lang geglaubt hatte, dass dieser Tod, das Ende des Sterbens, das schon lange begonnen hatte, so bald wie möglich eintreten würde, um ihn endlich, endlich, endlich von seiner Pein zu erlösen. Von seiner Pein, der schrecklichen Demütigung und der gallebitteren Erkenntnis, al-les andere zu sein als ein Held ... oder auch nur ein klein wenig mutig.
In Wahrheit hatte er nicht einmal versucht, sich zu wehren, nicht einmal ansatzweise - aus Angst und in der Annahme, dass er nur durch ein paar Schläge und Tritte eingeschüchtert werden sollte. Aber diese Annahme war nicht weniger falsch gewesen als seine einstmalig romantischen Ansichten über das Ende seiner Existenz.
Der hart geschwungene Klauenhammer hatte ihm gleich mit dem ersten Treffer den Unterkiefer zerschmettert. Vermutlich, damit er nicht um Hilfe schreien konnte. Dann, als er durch den brutalen Schlag und den Schock der höllischen Schmerzen zu Boden ging, kamen die Schienbeine an die Reihe ... wohl um zu verhindern, dass er weglief. Selbst da, und auch nachdem Arme und Hände zertrümmert waren, hatte er noch geglaubt, dass der Überfall nur eine Warnung war, und hatte trotz geschwollener Zunge versucht, stammelnd und stotternd zu versichern, dass er sie verstanden hatte, diese Warnung, und dass er seinen Fehler wiedergutmachen würde. Doch all sein Versichern, sein Flehen und sein Winseln hatten den furchtbaren Hammer nicht von seinen Gliedern und Knochen fernhalten können. Da war kein Mitleid, da war keine Gnade. Aber als Melchior Gietz das endlich erkannte, war es schon lange zu spät, um noch zurückzuschlagen, zu treten oder zu beißen. Die Möglichkeit, sich zu wehren, war inzwischen so weit weg wie der Mond. Da war kein einziger Muskel mehr, der ihm noch gehorchte.
Das war der Moment, in dem ihm die Hose heruntergezogen und er auf den Bauch gedreht worden war ... Jetzt war er beinahe dankbar für den Schnitt durch seine Halsschlagader, für die zweifelsfreie Gewissheit, dass er sterben würde. Er war wie eine Erlösung, denn er wusste, dass er, nach dem, was gerade geschehen war, nicht hätte weiterleben können ... nicht hätte weiterleben wollen. Seine Knochen wären vielleicht wieder geheilt - nicht aber seine Seele, sein Ego und schon gar nicht sein Selbstbewusstsein. Nichts wäre jemals wieder gewesen, wie es zuvor einmal war. Und deshalb sehnte er den Tod jetzt mit aller Macht der Verzweiflung herbei, damit endlich seine höllischen Schmerzen verschwanden ... vor allem aber seine Scham.
All das Schlimme, das Abartige würde schon bald hinter ihm liegen - und, wenn er Glück hatte und es keinen Himmel gab oder ein Paradies, für immer vergessen sein.
Gleich darauf aber fühlte er, wie etwas Kaltes auf ihn gegossen wurde. Er roch das Benzin. Und als er hörte, wie über ihm ein Streichholz angerissen wurde, wusste er, dass er sich erneut geirrt hatte. Dass das Allerschlimmste nicht hinter, sondern noch vor ihm lag. Und er lernte eine letzte Lektion. Die Lektion, dass man mit gebrochenem Kiefer doch noch schreien kann.
ERSTES BLUT
Kloster Eberbach
Im Licht eines sonnigen Tages betrachtet, zeichnen das in einer Mulde über dem Kisselbach gelegene ehemalige Zisterzienserkloster und der östlich davon aufragende, dicht bewaldete Eichberg ein tief anrührendes, zu Herzen gehendes Bild rheinromantischer Idylle - des Nachts jedoch, wenn von der Anhöhe aus betrachtet die einzelnen Gebäude aussehen wie die Sarkophage gigantischer Dämonen und die Klostermauer wie die eines lange vergessenen Gräberfeldes, ist da etwas völlig anderes, das einem das Herz umfasst ... mit kalten knochigen Fingern: Da ist Angst. Denn kaum ein Ort in Deutschland ist in einer Herbstnacht, in der die Wolkenfetzen über den Himmel jagen wie die Reiter einer gewaltigen Geisterarmee, so gespenstisch, einsam und Furcht einflößend wie das vor fast eintausend Jahren auf noch sehr viel älteren heidnischen Hügelgräbern errichtete Kloster Eberbach. Ganz besonders in einer Nacht wie dieser: der Nacht vor Allerheiligen, wenn nach vorchristlichem Glauben die Seelen rastloser Toter auf der Erde umherwandeln, um ihre alten, offenen Rechnungen zu begleichen und unbarmherzig Rache zu üben an ihren Verfolgern und Mördern. Wer die blutige Geschichte des Ortes kennt, weiß, dass hier herab und leuchteten mit ihren Fackeln nach unten. Der Riss führte zu einem Gewölbe unterhalb der Mauer.
»Und du meinst, wir sollten das wirklich tun? «, fragte eine der Gestalten. Die Stimme klang jung, jugendlich -weiblich.
»Natürlich«, antwortete die andere, ebenso weiblich und etwa im gleichen Alter. »Wenn nicht jetzt, dann können wir es erst wieder in dreizehn Jahren versuchen. Aber dann ist es zu spät.«
»Ich weiß nicht ...«
»Du wirst doch jetzt keinen Rückzieher machen und mich hängen lassen.«
»Und wenn man uns erwischt? «
»Hier ist niemand.« Die Sprecherin richtete sich wieder auf und zog die Kapuze vom Kopf. Das Gesicht einer etwa siebzehnjährigen jungen Frau kam zum Vorschein -trotz der altertümlichen Kleidung im New Goth Style geschminkt: schwarzer, dick aufgetragener Lidschatten mit Strichen bis zu den Schläfen, blutrote Lippen, weiß gecremte und noch einmal gepuderte Haut. Das lange Haar war unnatürlich schwarz gefärbt. »Und selbst wenn ... Was soll schon großartig passieren, Silja? Ne Anzeige wegen unbefugten Betretens. Keine große Sache. Sind ja beide noch keine achtzehn.«
»Anke ...«
»Was ?« Anke klang zunehmend ungehalten.
»Glaubst du denn wirklich, dass der Zauber wirkt? «, fragte Silja, und das zittrige Zögern in ihrer Stimme verriet, dass ihr beide Alternativen gleichermaßen Angst machten. Auch sie zog die Kapuze vom Kopf. Sie war auf die gleiche Weise geschminkt wie Anke.
»Es gibt nur einen Weg, das herauszufinden.«
»Aber müssen wir dafür extra in den Keller des Klosters?«
»Das Ritual muss auf geweihtem Boden vollzogen werden.« Anke deutete nach unten in das Gewölbe und wollte gerade als Erste hinabsteigen, als sie ruckartig mitten in der Bewegung verharrte.
»Was ist? «, fragte Silja.
»Hast du das nicht gehört? «
»Was ? «
»Pst! Sei mal leise.« Anke lauschte in Richtung Waldrand.
»Hör auf mit dem Scheiß«, bat Silja eindringlich. »Du willst mir nur noch mehr Angst einjagen, und ich mach mir jetzt schon in die Hose.«
»Pst, hab ich gesagt.« Ankes Stimme war nun nur noch ein Flüstern, und auch ihr Blick war nicht mehr so sorglos wie eben noch.
Silja biss sich auf die Zunge.
»Da war was«, beharrte Anke leise. »Wirklich.« Dann lauschte sie in das Gewölbe hinab.
Siljas Blick wanderte nervös vom Waldrand zu dem Loch im Boden und wieder zurück. »Lass uns von hier verschwinden.«
»Quatsch!«, sagte Anke. »War wahrscheinlich doch nur 'ne Ratte oder ein Fuchs. Wir ziehen das jetzt durch. Los, komm! « Sie stützte sich mit der freien Hand am Rand des Lochs ab und kletterte über Geröll und Schotter in den Keller hinunter.
Silja blieb stehen, wo sie war. »Und wenn es doch was anderes war ?«
Anke klopfte sich den Dreck vom Umhang. »Was soll es schon gewesen sein? Ein perverser Axtmörder vielleicht? Silja, wir sind hier im Rheingau. Hier gibt es so etwas nicht. «
»Aber es ist Halloween ...«
»Samhain! «, unterbrach Anke sie, ungehalten darüber, dass Silja aus ihrer Rolle fiel.
»Die Nacht, in der die Toten wandern«, fuhr Silja unbeirrt fort. »Unser Glaube lehrt uns, dass es die Anderswelt gibt. «
»Natürlich gibt es die«, erwiderte Anke ungeduldig. »Aber keine von uns beiden hat den Menschen, die hier gestorben sind, etwas angetan. Warum also sollten sie uns etwas antun? «
»Vielleicht hat ja einer unserer Vorfahren ...«
»Papperlapapp«, raunzte Anke. »Jetz komm runner oder geh haam un versteck dich unnerm Kisse. Dann mach ich's hald allooh.« Der Ausrutscher ins Hessische kollidierte mit ihrem perfekten Styling, und sie biss sich selbst dafür auf die Unterlippe. Doch Silja merkte daran, wie sehr sie ihre Freundin gerade nervte.
»Ich komm ja schon«, lenkte sie ein und kletterte ebenfalls den Geröllhaufen hinab.
Keine der beiden sah, wie sich ein weiterer, gewandeter Schatten aus der Dunkelheit des Waldrands herausschälte und zu dem Riss in der Mauer schlich, in dem sie gerade verschwunden waren. Er verharrte dort oben - auf einen langen Hirtenstab gestützt -, bis er sicher war, dass die jungen Frauen unten ihren Weg fortgesetzt hatten. Erst dann zog er den Dolch aus dem Strick, der ihm als Gürtel diente, und kletterte ihnen hinterher.
Unten im Gewölbe war es noch kälter als am Waldrand und außerdem feucht. Anke fror trotz des weiten Um-hangs und den dicken Strumpfhosen, die sie unter ihrem schwarzen Rock trug. Sie war erleichtert, dass Silja nicht in letzter Minute kniff, denn sie wusste, sie hätte nicht die Nerven gehabt, das Ding alleine durchzuziehen. Sie war überhaupt froh, hier im Rheingau jemanden gefunden zu haben, der sie für ihre Zugehörigkeit zu den Wicca nicht auslachte oder hänselte und der wie sie mehr darin sah als nur ein schnödes Rollenspiel. Silja ging wie sie auf das Urselinen-Gymnasium in Geisenheim, aber eine Klasse unter ihr. Anke war nicht durch ihre schwarzen Klamotten und ihre Schminke auf sie aufmerksam geworden - Goth Style war, wie jeder andere Trend auch, mit den üblichen fünf bis fünfzehn Jahren Verspätung nun auch im Rhein-gau angekommen, und jede dritte Jugendliche pflegte ihn. Nein, Anke hatte eines Tages auf dem Schulhof gesehen, dass Silja die Bibel der Wicca bei sich trug: Das Metamorphoseon libri X/ von Lucius Apuleius, verfasst im zweiten Jahrhundert nach Christus und Vorlage vieler anderer Wicca-Werke - darunter auch Arbeiten von Leland, Crowley und vor allem Gardner. Anke war beeindruckt davon, dass Silja das Werk im lateinischen Original las, und sie waren fast augenblicklich Freundinnen geworden. Aber jetzt beschloss Anke: Wenn Silja auch in Zukunft so furchtsam und zögerlich blieb wie heute Abend, würde sie sich noch in diesem Spätherbst in Wiesbaden, Mainz und Frankfurt nach Gleichgesinnten umsehen.
Anke ging zielstrebig in den alten Klosterkeller hinein, damit Silja es sich nicht noch einmal anders überlegte. Die zahlreichen Säulen, von denen das frühgotische Kreuzgewölbe getragen wurde, warfen im Licht der beiden flackernden Fackeln weite, unheimlich lebendig anmutende Schatten. Anke fiel auf, dass Silja sich immer wieder umschaute, obwohl sie unmöglich über den Horizont des Lichtkegels hinaus etwas sehen konnte. Dort, wo der endete, war es tiefschwarz.
»Wir müssen noch etwa zweihundert Meter geradeaus«, sagte Anke, »und uns dann rechts halten, bis wir die Stelle finden, an der die Überschwemmung des Bachkanals den größten Schaden angerichtet hat.« Obwohl die Überschwemmung schon einige Zeit zurücklag, waren ihre Spuren noch überall deutlich zu sehen: eine getrocknete Schlammschicht auf dem Boden, Risse in den Bruchsteinwänden, verdreckte Weinflaschen in den Regalen.
»Müssen wir wirklich so weit da rein? «
Anke unterdrückte einen Seufzer. »Wir müssen dahin, wo der von den Mönchen geweihte Boden aufgebrochen ist. Nur da ist die Alte Energie stark genug.«
Nach den angekündigten zweihundert Metern blieb Anke an einem Kreuzgang stehen, um sich nach rechts zu orientieren. Da hörte sie hinter sich ein Geräusch. Es war nur ein kurzes, leises Schaben ... wie ein Schritt, der mitten im Setzen gebremst wurde. Anke richtete ihr Ohr in die Dunkelheit hinter ihnen und hielt den Atem an. Silja wollte etwas sagen, aber Anke hob die Hand, um ihr zu bedeuten, dass sie leise sein sollte. Siljas Augen weiteten sich ängstlich, und sie begann nervös auf den Fußballen vor und zurück zu wippen, ehe Anke schließlich flüsterte: »Ich dachte, ich hätte Schritte gehört. Gar nicht so weit entfernt.«
»Schritte? «
»Ja. Hast du nichts gehört? «
Silja lauschte - und dann schlich sich noch mehr Furcht in ihr blass geschminktes Gesicht. »Doch«, flüsterte sie, »ich höre etwas. Aber aus der anderen Richtung.« Anke sah sie überrascht an, und sie deutete den Gang entlang. »So etwas wie ein Knistern ... oder auch Brutzeln. Als ob jemand ein Lagerfeuer gemacht hat.«
Anke drehte sich um - und dann hörte sie es auch. Es klang tatsächlich wie ein Feuer, und in Verbindung mit dem Geräusch, das sie eben gehört hatte, konnte das nur eines heißen. »Ein Penner«, sagte sie leise.
»Ich glaube, wir sollten nicht hierbleiben, um das herauszufinden«, gab Silja zur Antwort. »Lass uns verschwinden. «
Anke zögerte. Sie waren so weit gekommen. »Aber das Ritual ...«
»Scheiß auf das Ritual.«
»Wenn es nur einer ist, wird er uns nichts tun.« »Und falls doch? «
»Dann werden wir mit ihm schon fertig.« Anke legte die Hand an den Dolch in ihrem Gürtel.
Silja starrte sie ungläubig an. »Du würdest den tatsächlich benutzen? «
Anke ließ die Schultern sacken und nahm die Hand von der Waffe. »Nein«, gab sie zu. Sich zu bewaffnen, um weniger Angst vor dem Dunkel zu haben, war eine Sache -die Vorstellung, diese Waffe dann auch gegen einen anderen Menschen einzusetzen, eine völlig andere. Dennoch weigerte sie sich, jetzt so einfach aufzustecken. »Wenn wir ihn in Ruhe lassen, lässt er uns auch in Ruhe.«
»Anke, du spinnst«, sagte Silja.
»Er hat wahrscheinlich mehr Angst vor uns als wir vor ihm«, sprach sie sich selbst Mut zu.
»Und wenn es mehr als einer ist«, wandte Silja ein. »Und die vielleicht auch noch was getrunken haben ? « Sie zeigte auf die Weinflaschen in den Regalen. »Ich meine, keiner weiß, dass wir hier sind ... und hier hört uns auch niemand schreien.«
Anke war klar, dass Silja recht hatte, und fluchte leise in sich hinein. »Okay«, sagte sie, obwohl alles in ihr dagegen rebellierte. Aber die Aussicht, von einer Gruppe betrunkener Obdachloser vergewaltigt zu werden, war zu erschreckend. »Lass uns von hier abhauen.«
Sie waren noch nicht weit in die Richtung zurückgegangen, aus der sie gekommen waren, als Anke ganz in der Nähe wieder etwas hörte. Ja, es waren Schritte, eindeutig! Jetzt aber waren sie plötzlich so hastig wie ihre eigenen -wer auch immer dort im Dunkel auf sie lauerte, versuchte nicht länger, unentdeckt zu bleiben. Sie schrie auf und begann zu rennen.
»Lauf! «, rief sie Silja zu. »Lauf! «
Sie mussten den Saum ihrer Kutten fassen, um überhaupt schneller laufen zu können, und die in der Hast schwächer flackernden Fackeln spendeten kaum noch brauchbares Licht. Ankes Atem begann unter der Anstrengung schneller zu werden, und sie fühlte, dass ihr Herz heftig pochte. Ihr war mit einem Mal furchtbar heiß unter der Kutte, und es fiel ihr schwer, dem Drang zu widerstehen, für einen Moment innezuhalten und sie sich vom Leib zu reißen. Doch sie wusste, dass sie, wenn sie jetzt stehen blieb, von den Schritten in der Dunkelheit eingeholt werden würde. Ihre Angst war inzwischen so groß, dass sie sich jetzt sogar dabei ertappte, in Gedanken zu einem Gott zu beten, an den zu glauben sie immer aus voller Überzeugung geleugnet hatte. Nein, es war nicht Mutter Erde, die sie jetzt um ihren Beistand anflehte, oder die Kräfte der Natur oder die Geister ihrer Ahnen; es war der Gott aus der Bibel, der Gott ihrer Eltern und Großeltern.
Doch auch der hörte in dieser Nacht nicht zu.
Silja stolperte und riss Anke mit zu Boden. Sie landeten im Dreck, und bei dem panischen Versuch, einander aufzuhelfen, behinderten sie sich in ihren unpraktischen Kutten mehr, als dass sie sich tatsächlich halfen. Schließlich strampelte Anke sich frei und kam auf die Füße. Doch ehe sie wieder losrennen konnte, kam plötzlich aus dem Schwarz vor ihnen etwas mit einem lauten Schrei auf sie zugesprungen. Etwas Großes! Anke kreischte auf und wollte jetzt in die andere Richtung laufen, konnte sich aber vor Schreck nicht rühren. Der Angreifer war kein Penner, wie sie vermutet hatte; er trug eine ähnliche, im Sprung weit wehende Kapuzentracht wie sie, einen langen Stab und in seiner hoch erhobenen Rechten einen Dolch. Etwas in Anke schrie danach, ebenfalls nach ihrem Dolch zu greifen, aber stattdessen stand sie nur wie vom Donner gerührt da, fühlte, wie ihre Beine zitterten und wie etwas Warmes an den Innenseiten ihrer Unterschenkel herab-lief ... ihr eigener Urin.
So also fühlten sich Ausweglosigkeit und Verzweiflung an.
»Bitte!«, kreischte sie mit überschnappender Stimme. »Tun Sie uns nichts! «
Und tatsächlich: Der Angreifer blieb augenblicklich stehen - nur zwei Schritte von ihr entfernt ... und lachte.
gleich dafür sorgt, dass ein Mensch sich in einen anderen verliebt. Die Magie, an die sie glaubte, war die Magie der Natur und des Bewusstseins. Das Ritual, das sie in einem alten Buch gefunden hatte, sollte ihr die innere Kraft geben, die Schüchternheit abzulegen, die sie jedes Mal, wenn sie in Johannes' Nähe war, empfand. Es sollte ihr dabei helfen, an ihre eigene Schönheit zu glauben und sie ihm zu präsentieren - mit ihm über ihre Gefühle ihn betreffend reden zu können, ohne dabei vergeblich nach den richtigen Worten zu suchen oder zu stottern. Silja hatte all das verdorben.
»Hey! «, rief Johannes ihr hinterher. »Lauf doch nicht weg. Ich wollte dich doch nur ein bisschen erschrecken. Ich wär doch gar nicht hier, wenn ich's nicht toll fände, dass du auf mich stehst. «
Fast hätte Anke sich gewünscht, dass das jetzt noch eine Rolle spielen würde ... dass es sie freuen würde, dass Johannes es toll fand, dass sie auf ihn stand. Doch das war nun vorbei. Zerstört durch einen einzigen Augenblick. Wer will denn schon eine Beziehung, die so beginnt? Anke hatte die Verführerin sein wollen und nicht die Lachnummer. Die Zauberin und nicht die Närrin.
»Haut ab! «, sagte sie und schluchzte auf. »Verschwindet und lasst mich einfach in Ruhe! «
»Och, komm schon«, hörte sie Silja rufen. Die beiden kamen hinter ihr her.
»Ich hab gesagt, ihr sollt abhauen! «, schrie Anke und begann zu laufen. Sie wollte jetzt nur noch alleine sein. Da sah sie vor sich am Ende des Gangs ein schwaches, flackerndes Licht. Sofort kam die Erinnerung an die Angst vor den Pennern zurück. Aber selbst das war ihr jetzt egal. Wie zuvor schon hörte sie das Knistern des Feuers und auch dieses seltsame Brutzeln. Es roch, als ob jemand etwas grillen würde und dabei das Fleisch verbrennen ließ.
Der Gang vor ihr führte in einen weiteren Raum, in dem der Boden der ganzen Länge nach aufgebrochen war. Der Bruch gab den Blick frei auf einen ehemals unterirdisch führenden Kanal, in dessen Mitte ein schmaler Bach floss. Der Kisselbach. Er war an beiden Seiten von gemauerten Steigen begleitet. Das Feuer brannte auf dem rechten. Jetzt, da sie näher kam, sah Anke, dass es ein viel größeres Feuer war, als sie vermutet hatte. Es gab nur so wenig Licht, weil es so tief unter dem Boden lag. Der Gestank nach verkohltem Fleisch war hier noch sehr viel stärker als draußen im Gang, und schwarze Rauchschwaden waberten durch die Luft. In einer Mischung aus Neugier und dem Drang, sich so weit wie möglich von Silja und Johannes, die weiter hinten noch immer ihren Namen riefen, zu entfernen, trat Anke nach vorn und lugte über den Rand des Bruchs hinweg nach unten.
Die Form des Feuers kam ihr merkwürdig vertraut vor, ohne dass sie im ersten Moment hätte sagen können, woran es sie erinnerte. Sie kletterte über den Rand auf den Steig nach unten und ging darauf entlang näher an das Feuer heran. Sie war gerade noch vier Meter davon entfernt, da bäumte es sich plötzlich vor ihr auf - wie eine lebendige, brennende Masse. Etwas zischte wie siedendes Fett, und das Krachen klang wie das Brechen großer, trockener Äste. Nein, nicht wie Äste, eher wie Knochen. Mit einem Mal wusste Anke, was es war, worauf sie da blickte ... was sich da gerade vor ihr durch die Hitze aufgebäumt hatte ... was sie jetzt halb aufgerichtet durch die Flammen hindurch aus nass zischenden Höhlen heraus anstarrte ...
... und ein zweites Mal in dieser unseligen Nacht nässte sie sich ein.
2
Auf dem Rhein - bei Rüdesheim
Inga Jäger stand an der Heckreling der MS Rheinfels, wickelte als Schutz gegen die kalte Nachtbrise das wei-te Cape ihres venezianischen Colombina-Kostüms enger um sich und zündete sich eine Zigarette an. Der Wind hier unten im Rheingau war zwar weder so stark noch so kalt, wie sie ihn von Hamburg her gewohnt war, aber kühl genug, um sie in der Verkleidung, die nur aus dünner Seide und Taft bestand, frösteln zu lassen. Schwarz wie flüssiger Obsidian lag der Fluss unter ihr in seinem hier noch breiten Bett, die Lichter Rüdesheims und Bingens spiegelnd, die einander an Nord- und Südufer gegenüberlagen. Aus dem Innern des Partyschiffs drang laut veraltete Musik sowie der Lärm ausgelassener Gäste, die lachten und tanzten. Halloween zu feiern war inzwischen auch in Deutschland zur Mode geworden, und Inga Jäger hatte sich breitschlagen lassen, an einem Maskenball auf dem Wasser teilzunehmen. Doch eigentlich war ihr nicht nach Feiern zumute. Ihre Gedanken waren bei ihrer Tochter Tanya. Esther, die siebzehnjährige Tochter ihrer Tagesmutter Vikki Limpach, hatte sich als Babysitterin angeboten. Tanya hatte sich zwar begeistert darauf eingelassen, aber dennoch hatte Inga ein schlechtes Gewissen. Es war das erste Mal, dass sie seit dem Tod von Tanyas Vater mit einem Mann aus war, und wie jede alleinerziehende Mutter fragte sie sich, wie Tanya wohl darauf reagieren würde. Dabei war sie sich selbst noch gar nicht sicher, was sie von ihm wollte - oder ob sie überhaupt etwas von ihm wollte. Sie vermisste ihren Mann, das war klar; aber sie vermisste nach all der Zeit, die er jetzt nicht mehr da war, auch menschliche Nähe, Zuneigung und Zärtlichkeit. Sie schämte sich dafür, dass es so war, doch gleichzeitig war sie nicht dazu bereit, sich selbst zu belügen und sich einzureden, dass sie sich nicht danach sehnte. Wenn es nur der Sex wäre - damit konnte sie umgehen; dank des Spielzeugs in ihrer abschließbaren Nachttischschublade. Aber mit einem Vibrator kann man nicht kuscheln und ihn auch nicht sanft in den Schlaf streicheln oder mit ihm schmusen. Sicher, am meisten vermisste Inga es, all dies nicht mehr mit ihrem Mann machen zu können, aber im Kern vermisste sie es auch ganz unabhängig von ihm. Sie wusste, dass es unsinnig war, aber sie fühlte sich deswegen wie eine Verräterin - obwohl sie überhaupt noch nichts getan hatte.
»Sie blicken zurück«, vernahm sie plötzlich eine Stimme neben ihr. Es war Max Hoffman, der Journalist, den sie bei ihrem ersten Fall hier bei der Staatsanwaltschaft Wiesbaden kennengelernt hatte. Er trug ein Jack-Sparrow-Kostüm, das ihm verdammt gut stand - auch wenn der Hype um Fluch der Karibik schon lange vorbei war.
Trotz anfänglicher Körbe hatte er nicht damit aufgehört, mit ihr zu flirten, und sie immer wieder zum Essen eingeladen, bis sie schließlich eingewilligt hatte. Das hier war nun ihr drittes Date, und obwohl sie noch immer beim Sie waren, wusste sie, dass er sich für heute Nacht mehr erhoffte als einen Gutenachtkuss zum Abschied auf die Wange. Aber sie wusste nicht, ob auch sie dazu bereit war. Sicher, Max war unglaublich attraktiv mit seinen grünen Augen und den Grübchen; groß, schlank, Ende dreißig, dichtes, dunkles Haar. Außerdem war er, wie sich inzwischen herausgestellt hatte, nicht nur bis an die Grenze der Dreistigkeit kess, sondern auch umwerfend charmant und trotz seiner direkten Art überraschend einfühlsam. Doch all das änderte nichts an ihrer zögerlichen Haltung - im Gegenteil: Dass sie überhaupt wahrnahm, was alles ihn attraktiv machte, ließ ihr schlechtes Gewissen ihrem verstorbenen Mann und Tanya gegenüber nur noch wachsen ... was sie wiederum wütend auf sich selbst machte, weil brüten und in Selbstmitleid schwelgen ganz und gar nicht ihrer Art entsprach. Ein Teil von ihr hoffte deswegen, dass Max heute Abend etwas tat, was sie dermaßen mitreißen würde, dass sie all ihre Bedenken und ihre Zurückhaltung über Bord warf, dass sie sich einließ und sich erst morgen wieder Gedanken machen würde über das, was kommen mochte ... und ob und wie sie es Tanya beibringen sollte.
»Lassen Sie uns zum Bug gehen und nach vorn schauen«, sagte Max nun, nahm sie bei der Hand und führte sie an der Steuerbordreling entlang zum vorderen Teil des Schiffs, vorüber an den großen Fenstern, durch die hindurch Inga im Vorübergehen das ausgelassene Treiben im Tanzsaal betrachtete und sich fragte, wie lange es noch dauern würde, bis sie endlich auch wieder so unbekümmert und unbeschwert sein konnte. Vom Gipfel des Hanges am rechten Ufer blickte das hell erleuchtete Niederwalddenkmal auf sie herab, und Inga konnte hören, dass auch dort oben gefeiert wurde.
»Die Germania«, sagte Max. »Symbol der Einigung Deutschlands zum Kaiserreich anno 187 1. Gebaut im Anschluss an den Deutsch-Französischen Krieg und fertiggestellt 8 83.«
»Aha«, machte Inga und gab sich keinerlei Mühe zu verbergen, dass sie solche historischen Daten und Informationen eher langweilig fand. »Wer von uns blickt jetzt zurück? «
»Das ist ja das Interessante«, erwiderte er. »Geplant und erbaut als Symbol der Unvergänglichkeit. Aber in Wahrheit ist sie, wie eigentlich jedes Denkmal, das perfekte Beispiel dafür, wie vergänglich die Dinge sind. Deutsches Kaiserreich, Weimarer Republik, NS-Regime, BRD, dann die Wiedervereinigung zu Gesamtdeutschland, jetzt die Europäische Union, et cetera, et cetera, et cetera. Nichts bleibt, wie es war, und nur Statuen leben in der Vergangenheit.«
»Jetzt gehen Sie zu weit«, warnte sie ihn und entzog ihm ihre Hand. »Einen gewaltigen Schritt zu weit.«
»Ich weiß«, gab er zu. »Ich schreibe besser, als ich spreche. Wollte in der Hauptsache sagen, dass die Zukunft viel Schönes bringen kann.«
Das brachte sie zum Lachen, gerade weil er es so ernst und mit Würde sprach. »Sie haben mich hierher eingeladen, um mit mir eine Europäische Union zu gründen? «
Jetzt musste auch er lachen - und Inga war froh darüber, dass seine ungewöhnliche Ungeschicktheit nicht den Abend ruiniert hatte. Schon ihre Großmutter Thea hatte ihr beigebracht, dass man es Männern nachsehen sollte, dass sie, egal wie selbstbewusst sie waren, beim entscheidenden Annäherungsversuch immer ein wenig schüchtern und unbeholfen sind. »Und wenn sie es nicht sind«, hatte Thea hinzugefügt, »lass die Finger von ihnen, weil du ihnen dann nicht viel bedeutest. Also ist es zwar anstrengend, aber immer ein gutes Zeichen, wenn sie im entscheidenden Moment auf der eigenen Zunge stehen oder sich selbst im Weg.«
»Na ja«, sagte Max. »Nicht unbedingt die Europäische ... aber Union oder eine andere Art der ...«
»Wenn Sie jetzt Verbindung oder gar Vereinigung sagen, springe ich über Bord«, unterbrach sie ihn und lachte erneut.
Er kratzte sich verlegen am Ohr. »Sie bringen mich völlig aus der Fassung.«
»Das ist etwas Gutes«, sagte sie, schnipste den Rest ihrer Zigarette in den Fluss und schlenderte weiter in Richtung Bug. Mit Unbeholfenheit, die zu Vertrautheit führte, konnte sie sehr viel besser umgehen als mit rein körperlicher Forschheit.
Ihr Blick fiel auf einen ebenfalls hell erleuchteten Turm auf einer winzigen Insel in der Mitte des hier enger werdenden Stroms.
»Der Mäuseturm«, sagte Max.
»Eine weitere Lektion in Geschichte? «, fragte Inga leichthin und täuschte absichtlich schlecht geschauspielert ein Gähnen vor.
»Viel eher eine gruselige Legende«, erwiderte er. »Ein Schauermärchen.«
»Ein Schauermärchen zu Halloween? Das klingt gut«, sagte sie.
»Es war vor über eintausend Jahren ...«, begann er.
»So alt sieht der Turm gar nicht aus«, unterbrach sie ihn.
»Er wurde in der Zwischenzeit einige Male zerstört und immer wieder aufgebaut«, sagte Max, »aber es geht die Sage, dass der Turm schon lange vor den Römern hier auf der Insel stand, also schon vor mehr als zweitausend Jahren.«
»Das Schauermärchen«, erinnerte Inga ihn, als sie merkte, dass er schon wieder in historische Details abzurutschen drohte.
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Trotz oder gerade wegen der unsäglichen Schmerzen in den unzähligen gebrochenen Gliedern erkannte er, dass er sich in all den Jahren nie wirklich das Sterben an sich vorgestellt hatte, sondern immer nur dessen Konsequenz, den Tod - und er betete jetzt unter dreckverschmierten Tränen zu einem Gott, an den er nie auch nur eine Mi-nute lang geglaubt hatte, dass dieser Tod, das Ende des Sterbens, das schon lange begonnen hatte, so bald wie möglich eintreten würde, um ihn endlich, endlich, endlich von seiner Pein zu erlösen. Von seiner Pein, der schrecklichen Demütigung und der gallebitteren Erkenntnis, al-les andere zu sein als ein Held ... oder auch nur ein klein wenig mutig.
In Wahrheit hatte er nicht einmal versucht, sich zu wehren, nicht einmal ansatzweise - aus Angst und in der Annahme, dass er nur durch ein paar Schläge und Tritte eingeschüchtert werden sollte. Aber diese Annahme war nicht weniger falsch gewesen als seine einstmalig romantischen Ansichten über das Ende seiner Existenz.
Der hart geschwungene Klauenhammer hatte ihm gleich mit dem ersten Treffer den Unterkiefer zerschmettert. Vermutlich, damit er nicht um Hilfe schreien konnte. Dann, als er durch den brutalen Schlag und den Schock der höllischen Schmerzen zu Boden ging, kamen die Schienbeine an die Reihe ... wohl um zu verhindern, dass er weglief. Selbst da, und auch nachdem Arme und Hände zertrümmert waren, hatte er noch geglaubt, dass der Überfall nur eine Warnung war, und hatte trotz geschwollener Zunge versucht, stammelnd und stotternd zu versichern, dass er sie verstanden hatte, diese Warnung, und dass er seinen Fehler wiedergutmachen würde. Doch all sein Versichern, sein Flehen und sein Winseln hatten den furchtbaren Hammer nicht von seinen Gliedern und Knochen fernhalten können. Da war kein Mitleid, da war keine Gnade. Aber als Melchior Gietz das endlich erkannte, war es schon lange zu spät, um noch zurückzuschlagen, zu treten oder zu beißen. Die Möglichkeit, sich zu wehren, war inzwischen so weit weg wie der Mond. Da war kein einziger Muskel mehr, der ihm noch gehorchte.
Das war der Moment, in dem ihm die Hose heruntergezogen und er auf den Bauch gedreht worden war ... Jetzt war er beinahe dankbar für den Schnitt durch seine Halsschlagader, für die zweifelsfreie Gewissheit, dass er sterben würde. Er war wie eine Erlösung, denn er wusste, dass er, nach dem, was gerade geschehen war, nicht hätte weiterleben können ... nicht hätte weiterleben wollen. Seine Knochen wären vielleicht wieder geheilt - nicht aber seine Seele, sein Ego und schon gar nicht sein Selbstbewusstsein. Nichts wäre jemals wieder gewesen, wie es zuvor einmal war. Und deshalb sehnte er den Tod jetzt mit aller Macht der Verzweiflung herbei, damit endlich seine höllischen Schmerzen verschwanden ... vor allem aber seine Scham.
All das Schlimme, das Abartige würde schon bald hinter ihm liegen - und, wenn er Glück hatte und es keinen Himmel gab oder ein Paradies, für immer vergessen sein.
Gleich darauf aber fühlte er, wie etwas Kaltes auf ihn gegossen wurde. Er roch das Benzin. Und als er hörte, wie über ihm ein Streichholz angerissen wurde, wusste er, dass er sich erneut geirrt hatte. Dass das Allerschlimmste nicht hinter, sondern noch vor ihm lag. Und er lernte eine letzte Lektion. Die Lektion, dass man mit gebrochenem Kiefer doch noch schreien kann.
ERSTES BLUT
Kloster Eberbach
Im Licht eines sonnigen Tages betrachtet, zeichnen das in einer Mulde über dem Kisselbach gelegene ehemalige Zisterzienserkloster und der östlich davon aufragende, dicht bewaldete Eichberg ein tief anrührendes, zu Herzen gehendes Bild rheinromantischer Idylle - des Nachts jedoch, wenn von der Anhöhe aus betrachtet die einzelnen Gebäude aussehen wie die Sarkophage gigantischer Dämonen und die Klostermauer wie die eines lange vergessenen Gräberfeldes, ist da etwas völlig anderes, das einem das Herz umfasst ... mit kalten knochigen Fingern: Da ist Angst. Denn kaum ein Ort in Deutschland ist in einer Herbstnacht, in der die Wolkenfetzen über den Himmel jagen wie die Reiter einer gewaltigen Geisterarmee, so gespenstisch, einsam und Furcht einflößend wie das vor fast eintausend Jahren auf noch sehr viel älteren heidnischen Hügelgräbern errichtete Kloster Eberbach. Ganz besonders in einer Nacht wie dieser: der Nacht vor Allerheiligen, wenn nach vorchristlichem Glauben die Seelen rastloser Toter auf der Erde umherwandeln, um ihre alten, offenen Rechnungen zu begleichen und unbarmherzig Rache zu üben an ihren Verfolgern und Mördern. Wer die blutige Geschichte des Ortes kennt, weiß, dass hier herab und leuchteten mit ihren Fackeln nach unten. Der Riss führte zu einem Gewölbe unterhalb der Mauer.
»Und du meinst, wir sollten das wirklich tun? «, fragte eine der Gestalten. Die Stimme klang jung, jugendlich -weiblich.
»Natürlich«, antwortete die andere, ebenso weiblich und etwa im gleichen Alter. »Wenn nicht jetzt, dann können wir es erst wieder in dreizehn Jahren versuchen. Aber dann ist es zu spät.«
»Ich weiß nicht ...«
»Du wirst doch jetzt keinen Rückzieher machen und mich hängen lassen.«
»Und wenn man uns erwischt? «
»Hier ist niemand.« Die Sprecherin richtete sich wieder auf und zog die Kapuze vom Kopf. Das Gesicht einer etwa siebzehnjährigen jungen Frau kam zum Vorschein -trotz der altertümlichen Kleidung im New Goth Style geschminkt: schwarzer, dick aufgetragener Lidschatten mit Strichen bis zu den Schläfen, blutrote Lippen, weiß gecremte und noch einmal gepuderte Haut. Das lange Haar war unnatürlich schwarz gefärbt. »Und selbst wenn ... Was soll schon großartig passieren, Silja? Ne Anzeige wegen unbefugten Betretens. Keine große Sache. Sind ja beide noch keine achtzehn.«
»Anke ...«
»Was ?« Anke klang zunehmend ungehalten.
»Glaubst du denn wirklich, dass der Zauber wirkt? «, fragte Silja, und das zittrige Zögern in ihrer Stimme verriet, dass ihr beide Alternativen gleichermaßen Angst machten. Auch sie zog die Kapuze vom Kopf. Sie war auf die gleiche Weise geschminkt wie Anke.
»Es gibt nur einen Weg, das herauszufinden.«
»Aber müssen wir dafür extra in den Keller des Klosters?«
»Das Ritual muss auf geweihtem Boden vollzogen werden.« Anke deutete nach unten in das Gewölbe und wollte gerade als Erste hinabsteigen, als sie ruckartig mitten in der Bewegung verharrte.
»Was ist? «, fragte Silja.
»Hast du das nicht gehört? «
»Was ? «
»Pst! Sei mal leise.« Anke lauschte in Richtung Waldrand.
»Hör auf mit dem Scheiß«, bat Silja eindringlich. »Du willst mir nur noch mehr Angst einjagen, und ich mach mir jetzt schon in die Hose.«
»Pst, hab ich gesagt.« Ankes Stimme war nun nur noch ein Flüstern, und auch ihr Blick war nicht mehr so sorglos wie eben noch.
Silja biss sich auf die Zunge.
»Da war was«, beharrte Anke leise. »Wirklich.« Dann lauschte sie in das Gewölbe hinab.
Siljas Blick wanderte nervös vom Waldrand zu dem Loch im Boden und wieder zurück. »Lass uns von hier verschwinden.«
»Quatsch!«, sagte Anke. »War wahrscheinlich doch nur 'ne Ratte oder ein Fuchs. Wir ziehen das jetzt durch. Los, komm! « Sie stützte sich mit der freien Hand am Rand des Lochs ab und kletterte über Geröll und Schotter in den Keller hinunter.
Silja blieb stehen, wo sie war. »Und wenn es doch was anderes war ?«
Anke klopfte sich den Dreck vom Umhang. »Was soll es schon gewesen sein? Ein perverser Axtmörder vielleicht? Silja, wir sind hier im Rheingau. Hier gibt es so etwas nicht. «
»Aber es ist Halloween ...«
»Samhain! «, unterbrach Anke sie, ungehalten darüber, dass Silja aus ihrer Rolle fiel.
»Die Nacht, in der die Toten wandern«, fuhr Silja unbeirrt fort. »Unser Glaube lehrt uns, dass es die Anderswelt gibt. «
»Natürlich gibt es die«, erwiderte Anke ungeduldig. »Aber keine von uns beiden hat den Menschen, die hier gestorben sind, etwas angetan. Warum also sollten sie uns etwas antun? «
»Vielleicht hat ja einer unserer Vorfahren ...«
»Papperlapapp«, raunzte Anke. »Jetz komm runner oder geh haam un versteck dich unnerm Kisse. Dann mach ich's hald allooh.« Der Ausrutscher ins Hessische kollidierte mit ihrem perfekten Styling, und sie biss sich selbst dafür auf die Unterlippe. Doch Silja merkte daran, wie sehr sie ihre Freundin gerade nervte.
»Ich komm ja schon«, lenkte sie ein und kletterte ebenfalls den Geröllhaufen hinab.
Keine der beiden sah, wie sich ein weiterer, gewandeter Schatten aus der Dunkelheit des Waldrands herausschälte und zu dem Riss in der Mauer schlich, in dem sie gerade verschwunden waren. Er verharrte dort oben - auf einen langen Hirtenstab gestützt -, bis er sicher war, dass die jungen Frauen unten ihren Weg fortgesetzt hatten. Erst dann zog er den Dolch aus dem Strick, der ihm als Gürtel diente, und kletterte ihnen hinterher.
Unten im Gewölbe war es noch kälter als am Waldrand und außerdem feucht. Anke fror trotz des weiten Um-hangs und den dicken Strumpfhosen, die sie unter ihrem schwarzen Rock trug. Sie war erleichtert, dass Silja nicht in letzter Minute kniff, denn sie wusste, sie hätte nicht die Nerven gehabt, das Ding alleine durchzuziehen. Sie war überhaupt froh, hier im Rheingau jemanden gefunden zu haben, der sie für ihre Zugehörigkeit zu den Wicca nicht auslachte oder hänselte und der wie sie mehr darin sah als nur ein schnödes Rollenspiel. Silja ging wie sie auf das Urselinen-Gymnasium in Geisenheim, aber eine Klasse unter ihr. Anke war nicht durch ihre schwarzen Klamotten und ihre Schminke auf sie aufmerksam geworden - Goth Style war, wie jeder andere Trend auch, mit den üblichen fünf bis fünfzehn Jahren Verspätung nun auch im Rhein-gau angekommen, und jede dritte Jugendliche pflegte ihn. Nein, Anke hatte eines Tages auf dem Schulhof gesehen, dass Silja die Bibel der Wicca bei sich trug: Das Metamorphoseon libri X/ von Lucius Apuleius, verfasst im zweiten Jahrhundert nach Christus und Vorlage vieler anderer Wicca-Werke - darunter auch Arbeiten von Leland, Crowley und vor allem Gardner. Anke war beeindruckt davon, dass Silja das Werk im lateinischen Original las, und sie waren fast augenblicklich Freundinnen geworden. Aber jetzt beschloss Anke: Wenn Silja auch in Zukunft so furchtsam und zögerlich blieb wie heute Abend, würde sie sich noch in diesem Spätherbst in Wiesbaden, Mainz und Frankfurt nach Gleichgesinnten umsehen.
Anke ging zielstrebig in den alten Klosterkeller hinein, damit Silja es sich nicht noch einmal anders überlegte. Die zahlreichen Säulen, von denen das frühgotische Kreuzgewölbe getragen wurde, warfen im Licht der beiden flackernden Fackeln weite, unheimlich lebendig anmutende Schatten. Anke fiel auf, dass Silja sich immer wieder umschaute, obwohl sie unmöglich über den Horizont des Lichtkegels hinaus etwas sehen konnte. Dort, wo der endete, war es tiefschwarz.
»Wir müssen noch etwa zweihundert Meter geradeaus«, sagte Anke, »und uns dann rechts halten, bis wir die Stelle finden, an der die Überschwemmung des Bachkanals den größten Schaden angerichtet hat.« Obwohl die Überschwemmung schon einige Zeit zurücklag, waren ihre Spuren noch überall deutlich zu sehen: eine getrocknete Schlammschicht auf dem Boden, Risse in den Bruchsteinwänden, verdreckte Weinflaschen in den Regalen.
»Müssen wir wirklich so weit da rein? «
Anke unterdrückte einen Seufzer. »Wir müssen dahin, wo der von den Mönchen geweihte Boden aufgebrochen ist. Nur da ist die Alte Energie stark genug.«
Nach den angekündigten zweihundert Metern blieb Anke an einem Kreuzgang stehen, um sich nach rechts zu orientieren. Da hörte sie hinter sich ein Geräusch. Es war nur ein kurzes, leises Schaben ... wie ein Schritt, der mitten im Setzen gebremst wurde. Anke richtete ihr Ohr in die Dunkelheit hinter ihnen und hielt den Atem an. Silja wollte etwas sagen, aber Anke hob die Hand, um ihr zu bedeuten, dass sie leise sein sollte. Siljas Augen weiteten sich ängstlich, und sie begann nervös auf den Fußballen vor und zurück zu wippen, ehe Anke schließlich flüsterte: »Ich dachte, ich hätte Schritte gehört. Gar nicht so weit entfernt.«
»Schritte? «
»Ja. Hast du nichts gehört? «
Silja lauschte - und dann schlich sich noch mehr Furcht in ihr blass geschminktes Gesicht. »Doch«, flüsterte sie, »ich höre etwas. Aber aus der anderen Richtung.« Anke sah sie überrascht an, und sie deutete den Gang entlang. »So etwas wie ein Knistern ... oder auch Brutzeln. Als ob jemand ein Lagerfeuer gemacht hat.«
Anke drehte sich um - und dann hörte sie es auch. Es klang tatsächlich wie ein Feuer, und in Verbindung mit dem Geräusch, das sie eben gehört hatte, konnte das nur eines heißen. »Ein Penner«, sagte sie leise.
»Ich glaube, wir sollten nicht hierbleiben, um das herauszufinden«, gab Silja zur Antwort. »Lass uns verschwinden. «
Anke zögerte. Sie waren so weit gekommen. »Aber das Ritual ...«
»Scheiß auf das Ritual.«
»Wenn es nur einer ist, wird er uns nichts tun.« »Und falls doch? «
»Dann werden wir mit ihm schon fertig.« Anke legte die Hand an den Dolch in ihrem Gürtel.
Silja starrte sie ungläubig an. »Du würdest den tatsächlich benutzen? «
Anke ließ die Schultern sacken und nahm die Hand von der Waffe. »Nein«, gab sie zu. Sich zu bewaffnen, um weniger Angst vor dem Dunkel zu haben, war eine Sache -die Vorstellung, diese Waffe dann auch gegen einen anderen Menschen einzusetzen, eine völlig andere. Dennoch weigerte sie sich, jetzt so einfach aufzustecken. »Wenn wir ihn in Ruhe lassen, lässt er uns auch in Ruhe.«
»Anke, du spinnst«, sagte Silja.
»Er hat wahrscheinlich mehr Angst vor uns als wir vor ihm«, sprach sie sich selbst Mut zu.
»Und wenn es mehr als einer ist«, wandte Silja ein. »Und die vielleicht auch noch was getrunken haben ? « Sie zeigte auf die Weinflaschen in den Regalen. »Ich meine, keiner weiß, dass wir hier sind ... und hier hört uns auch niemand schreien.«
Anke war klar, dass Silja recht hatte, und fluchte leise in sich hinein. »Okay«, sagte sie, obwohl alles in ihr dagegen rebellierte. Aber die Aussicht, von einer Gruppe betrunkener Obdachloser vergewaltigt zu werden, war zu erschreckend. »Lass uns von hier abhauen.«
Sie waren noch nicht weit in die Richtung zurückgegangen, aus der sie gekommen waren, als Anke ganz in der Nähe wieder etwas hörte. Ja, es waren Schritte, eindeutig! Jetzt aber waren sie plötzlich so hastig wie ihre eigenen -wer auch immer dort im Dunkel auf sie lauerte, versuchte nicht länger, unentdeckt zu bleiben. Sie schrie auf und begann zu rennen.
»Lauf! «, rief sie Silja zu. »Lauf! «
Sie mussten den Saum ihrer Kutten fassen, um überhaupt schneller laufen zu können, und die in der Hast schwächer flackernden Fackeln spendeten kaum noch brauchbares Licht. Ankes Atem begann unter der Anstrengung schneller zu werden, und sie fühlte, dass ihr Herz heftig pochte. Ihr war mit einem Mal furchtbar heiß unter der Kutte, und es fiel ihr schwer, dem Drang zu widerstehen, für einen Moment innezuhalten und sie sich vom Leib zu reißen. Doch sie wusste, dass sie, wenn sie jetzt stehen blieb, von den Schritten in der Dunkelheit eingeholt werden würde. Ihre Angst war inzwischen so groß, dass sie sich jetzt sogar dabei ertappte, in Gedanken zu einem Gott zu beten, an den zu glauben sie immer aus voller Überzeugung geleugnet hatte. Nein, es war nicht Mutter Erde, die sie jetzt um ihren Beistand anflehte, oder die Kräfte der Natur oder die Geister ihrer Ahnen; es war der Gott aus der Bibel, der Gott ihrer Eltern und Großeltern.
Doch auch der hörte in dieser Nacht nicht zu.
Silja stolperte und riss Anke mit zu Boden. Sie landeten im Dreck, und bei dem panischen Versuch, einander aufzuhelfen, behinderten sie sich in ihren unpraktischen Kutten mehr, als dass sie sich tatsächlich halfen. Schließlich strampelte Anke sich frei und kam auf die Füße. Doch ehe sie wieder losrennen konnte, kam plötzlich aus dem Schwarz vor ihnen etwas mit einem lauten Schrei auf sie zugesprungen. Etwas Großes! Anke kreischte auf und wollte jetzt in die andere Richtung laufen, konnte sich aber vor Schreck nicht rühren. Der Angreifer war kein Penner, wie sie vermutet hatte; er trug eine ähnliche, im Sprung weit wehende Kapuzentracht wie sie, einen langen Stab und in seiner hoch erhobenen Rechten einen Dolch. Etwas in Anke schrie danach, ebenfalls nach ihrem Dolch zu greifen, aber stattdessen stand sie nur wie vom Donner gerührt da, fühlte, wie ihre Beine zitterten und wie etwas Warmes an den Innenseiten ihrer Unterschenkel herab-lief ... ihr eigener Urin.
So also fühlten sich Ausweglosigkeit und Verzweiflung an.
»Bitte!«, kreischte sie mit überschnappender Stimme. »Tun Sie uns nichts! «
Und tatsächlich: Der Angreifer blieb augenblicklich stehen - nur zwei Schritte von ihr entfernt ... und lachte.
gleich dafür sorgt, dass ein Mensch sich in einen anderen verliebt. Die Magie, an die sie glaubte, war die Magie der Natur und des Bewusstseins. Das Ritual, das sie in einem alten Buch gefunden hatte, sollte ihr die innere Kraft geben, die Schüchternheit abzulegen, die sie jedes Mal, wenn sie in Johannes' Nähe war, empfand. Es sollte ihr dabei helfen, an ihre eigene Schönheit zu glauben und sie ihm zu präsentieren - mit ihm über ihre Gefühle ihn betreffend reden zu können, ohne dabei vergeblich nach den richtigen Worten zu suchen oder zu stottern. Silja hatte all das verdorben.
»Hey! «, rief Johannes ihr hinterher. »Lauf doch nicht weg. Ich wollte dich doch nur ein bisschen erschrecken. Ich wär doch gar nicht hier, wenn ich's nicht toll fände, dass du auf mich stehst. «
Fast hätte Anke sich gewünscht, dass das jetzt noch eine Rolle spielen würde ... dass es sie freuen würde, dass Johannes es toll fand, dass sie auf ihn stand. Doch das war nun vorbei. Zerstört durch einen einzigen Augenblick. Wer will denn schon eine Beziehung, die so beginnt? Anke hatte die Verführerin sein wollen und nicht die Lachnummer. Die Zauberin und nicht die Närrin.
»Haut ab! «, sagte sie und schluchzte auf. »Verschwindet und lasst mich einfach in Ruhe! «
»Och, komm schon«, hörte sie Silja rufen. Die beiden kamen hinter ihr her.
»Ich hab gesagt, ihr sollt abhauen! «, schrie Anke und begann zu laufen. Sie wollte jetzt nur noch alleine sein. Da sah sie vor sich am Ende des Gangs ein schwaches, flackerndes Licht. Sofort kam die Erinnerung an die Angst vor den Pennern zurück. Aber selbst das war ihr jetzt egal. Wie zuvor schon hörte sie das Knistern des Feuers und auch dieses seltsame Brutzeln. Es roch, als ob jemand etwas grillen würde und dabei das Fleisch verbrennen ließ.
Der Gang vor ihr führte in einen weiteren Raum, in dem der Boden der ganzen Länge nach aufgebrochen war. Der Bruch gab den Blick frei auf einen ehemals unterirdisch führenden Kanal, in dessen Mitte ein schmaler Bach floss. Der Kisselbach. Er war an beiden Seiten von gemauerten Steigen begleitet. Das Feuer brannte auf dem rechten. Jetzt, da sie näher kam, sah Anke, dass es ein viel größeres Feuer war, als sie vermutet hatte. Es gab nur so wenig Licht, weil es so tief unter dem Boden lag. Der Gestank nach verkohltem Fleisch war hier noch sehr viel stärker als draußen im Gang, und schwarze Rauchschwaden waberten durch die Luft. In einer Mischung aus Neugier und dem Drang, sich so weit wie möglich von Silja und Johannes, die weiter hinten noch immer ihren Namen riefen, zu entfernen, trat Anke nach vorn und lugte über den Rand des Bruchs hinweg nach unten.
Die Form des Feuers kam ihr merkwürdig vertraut vor, ohne dass sie im ersten Moment hätte sagen können, woran es sie erinnerte. Sie kletterte über den Rand auf den Steig nach unten und ging darauf entlang näher an das Feuer heran. Sie war gerade noch vier Meter davon entfernt, da bäumte es sich plötzlich vor ihr auf - wie eine lebendige, brennende Masse. Etwas zischte wie siedendes Fett, und das Krachen klang wie das Brechen großer, trockener Äste. Nein, nicht wie Äste, eher wie Knochen. Mit einem Mal wusste Anke, was es war, worauf sie da blickte ... was sich da gerade vor ihr durch die Hitze aufgebäumt hatte ... was sie jetzt halb aufgerichtet durch die Flammen hindurch aus nass zischenden Höhlen heraus anstarrte ...
... und ein zweites Mal in dieser unseligen Nacht nässte sie sich ein.
2
Auf dem Rhein - bei Rüdesheim
Inga Jäger stand an der Heckreling der MS Rheinfels, wickelte als Schutz gegen die kalte Nachtbrise das wei-te Cape ihres venezianischen Colombina-Kostüms enger um sich und zündete sich eine Zigarette an. Der Wind hier unten im Rheingau war zwar weder so stark noch so kalt, wie sie ihn von Hamburg her gewohnt war, aber kühl genug, um sie in der Verkleidung, die nur aus dünner Seide und Taft bestand, frösteln zu lassen. Schwarz wie flüssiger Obsidian lag der Fluss unter ihr in seinem hier noch breiten Bett, die Lichter Rüdesheims und Bingens spiegelnd, die einander an Nord- und Südufer gegenüberlagen. Aus dem Innern des Partyschiffs drang laut veraltete Musik sowie der Lärm ausgelassener Gäste, die lachten und tanzten. Halloween zu feiern war inzwischen auch in Deutschland zur Mode geworden, und Inga Jäger hatte sich breitschlagen lassen, an einem Maskenball auf dem Wasser teilzunehmen. Doch eigentlich war ihr nicht nach Feiern zumute. Ihre Gedanken waren bei ihrer Tochter Tanya. Esther, die siebzehnjährige Tochter ihrer Tagesmutter Vikki Limpach, hatte sich als Babysitterin angeboten. Tanya hatte sich zwar begeistert darauf eingelassen, aber dennoch hatte Inga ein schlechtes Gewissen. Es war das erste Mal, dass sie seit dem Tod von Tanyas Vater mit einem Mann aus war, und wie jede alleinerziehende Mutter fragte sie sich, wie Tanya wohl darauf reagieren würde. Dabei war sie sich selbst noch gar nicht sicher, was sie von ihm wollte - oder ob sie überhaupt etwas von ihm wollte. Sie vermisste ihren Mann, das war klar; aber sie vermisste nach all der Zeit, die er jetzt nicht mehr da war, auch menschliche Nähe, Zuneigung und Zärtlichkeit. Sie schämte sich dafür, dass es so war, doch gleichzeitig war sie nicht dazu bereit, sich selbst zu belügen und sich einzureden, dass sie sich nicht danach sehnte. Wenn es nur der Sex wäre - damit konnte sie umgehen; dank des Spielzeugs in ihrer abschließbaren Nachttischschublade. Aber mit einem Vibrator kann man nicht kuscheln und ihn auch nicht sanft in den Schlaf streicheln oder mit ihm schmusen. Sicher, am meisten vermisste Inga es, all dies nicht mehr mit ihrem Mann machen zu können, aber im Kern vermisste sie es auch ganz unabhängig von ihm. Sie wusste, dass es unsinnig war, aber sie fühlte sich deswegen wie eine Verräterin - obwohl sie überhaupt noch nichts getan hatte.
»Sie blicken zurück«, vernahm sie plötzlich eine Stimme neben ihr. Es war Max Hoffman, der Journalist, den sie bei ihrem ersten Fall hier bei der Staatsanwaltschaft Wiesbaden kennengelernt hatte. Er trug ein Jack-Sparrow-Kostüm, das ihm verdammt gut stand - auch wenn der Hype um Fluch der Karibik schon lange vorbei war.
Trotz anfänglicher Körbe hatte er nicht damit aufgehört, mit ihr zu flirten, und sie immer wieder zum Essen eingeladen, bis sie schließlich eingewilligt hatte. Das hier war nun ihr drittes Date, und obwohl sie noch immer beim Sie waren, wusste sie, dass er sich für heute Nacht mehr erhoffte als einen Gutenachtkuss zum Abschied auf die Wange. Aber sie wusste nicht, ob auch sie dazu bereit war. Sicher, Max war unglaublich attraktiv mit seinen grünen Augen und den Grübchen; groß, schlank, Ende dreißig, dichtes, dunkles Haar. Außerdem war er, wie sich inzwischen herausgestellt hatte, nicht nur bis an die Grenze der Dreistigkeit kess, sondern auch umwerfend charmant und trotz seiner direkten Art überraschend einfühlsam. Doch all das änderte nichts an ihrer zögerlichen Haltung - im Gegenteil: Dass sie überhaupt wahrnahm, was alles ihn attraktiv machte, ließ ihr schlechtes Gewissen ihrem verstorbenen Mann und Tanya gegenüber nur noch wachsen ... was sie wiederum wütend auf sich selbst machte, weil brüten und in Selbstmitleid schwelgen ganz und gar nicht ihrer Art entsprach. Ein Teil von ihr hoffte deswegen, dass Max heute Abend etwas tat, was sie dermaßen mitreißen würde, dass sie all ihre Bedenken und ihre Zurückhaltung über Bord warf, dass sie sich einließ und sich erst morgen wieder Gedanken machen würde über das, was kommen mochte ... und ob und wie sie es Tanya beibringen sollte.
»Lassen Sie uns zum Bug gehen und nach vorn schauen«, sagte Max nun, nahm sie bei der Hand und führte sie an der Steuerbordreling entlang zum vorderen Teil des Schiffs, vorüber an den großen Fenstern, durch die hindurch Inga im Vorübergehen das ausgelassene Treiben im Tanzsaal betrachtete und sich fragte, wie lange es noch dauern würde, bis sie endlich auch wieder so unbekümmert und unbeschwert sein konnte. Vom Gipfel des Hanges am rechten Ufer blickte das hell erleuchtete Niederwalddenkmal auf sie herab, und Inga konnte hören, dass auch dort oben gefeiert wurde.
»Die Germania«, sagte Max. »Symbol der Einigung Deutschlands zum Kaiserreich anno 187 1. Gebaut im Anschluss an den Deutsch-Französischen Krieg und fertiggestellt 8 83.«
»Aha«, machte Inga und gab sich keinerlei Mühe zu verbergen, dass sie solche historischen Daten und Informationen eher langweilig fand. »Wer von uns blickt jetzt zurück? «
»Das ist ja das Interessante«, erwiderte er. »Geplant und erbaut als Symbol der Unvergänglichkeit. Aber in Wahrheit ist sie, wie eigentlich jedes Denkmal, das perfekte Beispiel dafür, wie vergänglich die Dinge sind. Deutsches Kaiserreich, Weimarer Republik, NS-Regime, BRD, dann die Wiedervereinigung zu Gesamtdeutschland, jetzt die Europäische Union, et cetera, et cetera, et cetera. Nichts bleibt, wie es war, und nur Statuen leben in der Vergangenheit.«
»Jetzt gehen Sie zu weit«, warnte sie ihn und entzog ihm ihre Hand. »Einen gewaltigen Schritt zu weit.«
»Ich weiß«, gab er zu. »Ich schreibe besser, als ich spreche. Wollte in der Hauptsache sagen, dass die Zukunft viel Schönes bringen kann.«
Das brachte sie zum Lachen, gerade weil er es so ernst und mit Würde sprach. »Sie haben mich hierher eingeladen, um mit mir eine Europäische Union zu gründen? «
Jetzt musste auch er lachen - und Inga war froh darüber, dass seine ungewöhnliche Ungeschicktheit nicht den Abend ruiniert hatte. Schon ihre Großmutter Thea hatte ihr beigebracht, dass man es Männern nachsehen sollte, dass sie, egal wie selbstbewusst sie waren, beim entscheidenden Annäherungsversuch immer ein wenig schüchtern und unbeholfen sind. »Und wenn sie es nicht sind«, hatte Thea hinzugefügt, »lass die Finger von ihnen, weil du ihnen dann nicht viel bedeutest. Also ist es zwar anstrengend, aber immer ein gutes Zeichen, wenn sie im entscheidenden Moment auf der eigenen Zunge stehen oder sich selbst im Weg.«
»Na ja«, sagte Max. »Nicht unbedingt die Europäische ... aber Union oder eine andere Art der ...«
»Wenn Sie jetzt Verbindung oder gar Vereinigung sagen, springe ich über Bord«, unterbrach sie ihn und lachte erneut.
Er kratzte sich verlegen am Ohr. »Sie bringen mich völlig aus der Fassung.«
»Das ist etwas Gutes«, sagte sie, schnipste den Rest ihrer Zigarette in den Fluss und schlenderte weiter in Richtung Bug. Mit Unbeholfenheit, die zu Vertrautheit führte, konnte sie sehr viel besser umgehen als mit rein körperlicher Forschheit.
Ihr Blick fiel auf einen ebenfalls hell erleuchteten Turm auf einer winzigen Insel in der Mitte des hier enger werdenden Stroms.
»Der Mäuseturm«, sagte Max.
»Eine weitere Lektion in Geschichte? «, fragte Inga leichthin und täuschte absichtlich schlecht geschauspielert ein Gähnen vor.
»Viel eher eine gruselige Legende«, erwiderte er. »Ein Schauermärchen.«
»Ein Schauermärchen zu Halloween? Das klingt gut«, sagte sie.
»Es war vor über eintausend Jahren ...«, begann er.
»So alt sieht der Turm gar nicht aus«, unterbrach sie ihn.
»Er wurde in der Zwischenzeit einige Male zerstört und immer wieder aufgebaut«, sagte Max, »aber es geht die Sage, dass der Turm schon lange vor den Römern hier auf der Insel stand, also schon vor mehr als zweitausend Jahren.«
»Das Schauermärchen«, erinnerte Inga ihn, als sie merkte, dass er schon wieder in historische Details abzurutschen drohte.
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... weniger
Autoren-Porträt von Richard Hagen
Richard Hagen stammt aus dem Rheingau und lebt jetzt in der Nähe von Berlin. Schon früh entdeckte er seine Leidenschaft für das Schreiben und wurde zu einem erfolgreichen Drehbuchautor. Für die Krimiserie um Staatsanwältin Inga Jäger und Hauptkommissar Kai Gebert hat er sich von seiner Heimat inspirieren lassen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Richard Hagen
- 2013, 1, 416 Seiten, Maße: 14 x 22 cm, Geb. mit Su.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863655885
- ISBN-13: 9783863655884
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