Blutige Anfänger
Eine junge Ärztin packt aus
Da begeistern Ärzte sich für den "schönen Tumor" ihrer Patienten, Hypochonder nerven die Kollegen von der Nachtschicht und störrische Greise mischen die Intensivstation auf: Die Ärztin und Bloggerin Jaddo konfrontiert uns mit den...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Blutige Anfänger “
Da begeistern Ärzte sich für den "schönen Tumor" ihrer Patienten, Hypochonder nerven die Kollegen von der Nachtschicht und störrische Greise mischen die Intensivstation auf: Die Ärztin und Bloggerin Jaddo konfrontiert uns mit den Tücken eines oft absurden Klinikalltags, in dem es gilt, sich jeden Tag aufs Neue zu bewähren.
Klappentext zu „Blutige Anfänger “
Wenn Chefärzte sich für den "schönen Tumor" ihrer Patienten begeistern, Hypochonder die Kollegen von der Nachtschicht nerven und störrische Greise die Intensivstation aufmischen, schlägt die Stunde von Jaddo - Ärztin und Bloggerin aus Leidenschaft. Jaddos Texte sind witzig, schockierend und bewegend. Denn konfrontiert mit den Tücken eines oft absurden Klinikalltags, muss sie sich jeden Tag aufs Neue bewähren. Nicht nur als Ärztin, sondern auch als Mensch.Lese-Probe zu „Blutige Anfänger “
Blutige Anfänger von JaddoWarum ich Ärztin geworden bin
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Bevor ich beschloss, Ärztin zu werden, wollte ich Bären bändigen. Komisch, dass ich mich noch so genau an den Tag erinnere, an dem ich meinen Berufswunsch fasste. Ich muss zwischen sechs und acht Jahre alt gewesen sein, als mich die Erkenntnis eines Morgens im Badezimmer überkam. Ich war noch nicht so richtig wach, und die Sonne blendete mich. Aber dann stellte ich fest, dass mich die Sonne nicht mehr blendete, wenn ich ein Auge zukniff - nur ein Auge, wohlgemerkt.
Und das war also, ganz wortwörtlich, meine Erleuchtung. Denn es konnte nicht mein Auge sein, das geblendet wurde. Es musste etwas dahinter geben, quasi die Summe meiner beiden Augen. Ich stellte fest: Nicht mein Auge wird geblendet, sondern die Summe meiner Augen. Meine Sicht setzt sich aus zwei Teilen zusammen, meine Augen kreuzen sich irgendwo weiter hinten in meinem Kopf, wo dann erst ein vollständiges Bild entsteht. Und genau dort werde ich geblendet. Wow ... MEINE AUGEN TREFFEN SICH IRGENDWO IN MEINEM KOPF!!!
Wenn man mit sieben Jahren entdeckt, dass sich seine Augen irgendwo im Kopf überkreuzen, ist das ein Schock. Deswegen wollte ich es genauer wissen. Ich beschloss, Neurochirurgin zu werden. Später erfuhr ich, dass man nicht unbedingt Chirurg wer8 den musste, um herauszufinden, was im Kopf passiert. Und so beschloss ich, einfach nur Neurologin zu werden. Noch später erfuhr ich, dass man gar nicht genau weiß, was im Kopf alles vor sich geht. Da beschloss ich, erst einmal Medizin zu studieren. Und noch viel, viel später - zu diesem Zeitpunkt hatte ich schon so manche enttäuschende Erfahrung in der Klinik hinter mir - lernte ich zwei Hausärzte kennen, die Medizin so betrieben, wie ich es mir immer vorgestellt hatte, und das mit echter Leidenschaft. Und siehe da, ich hatte eine neue Eingebung: Ich würde Allgemeinmedizinerin werden. Bis heute habe ich diese Entscheidung nicht bereut.
Patient: »Seit ich beim Arzt war, tut mir ständig der rechte Arm weh. Er hat mir irgendwelche Medikamente in einer viereckigen Schachtel verschrieben.«
Gut, wenn auch nachts jemand da ist ... Ach ja, der Bereitschaftsdienst ... Die Uhr, das Wartezimmer, Patienten, Patienten, Patienten. Der Piepser. Telefon, Radio, Stethoskop, wieder die Uhr, Skalpell, Patienten, Wundnaht-Kit, Patienten, die Uhr und so weiter.
Drama, Dreck und Langeweile, Wunder und Wunden und natürlich allerlei absurde Szenen. Ängstliche, Überängstliche, Unterängstliche. Besorgte Mütter, verschüchterte Kinder, Miesepeter und sympathische Hysteriker. Jeder ist anders. Alle sind gleich.
Aber um drei Uhr morgens, nach siebzehn Stunden Dienst, neigen Geduld und Sanftmut leider dazu, sich zu verflüchtigen. Dann betet man nur noch, dass man nicht sagt, was einem auf der Zunge liegt. Zumindest nicht in dieser Nacht ... Zum Beispiel dem Mann, der verlangt, dass man sein Knie röntgt. Um 22 Uhr 30. Es quält ihn nämlich schon seit zwei Wochen, und er hat auch die Überweisung von seinem Hausarzt dabei. Morgen Nachmittag hätte er einen Termin in der Innenstadt. Darauf angesprochen, baut er sich in seiner vollen Größe vor Ihnen auf und schleudert Ihnen ins Gesicht: »Morgen Nachmittag? Da arbeite ich, Madame!« (Ach echt? Und ich laufe morgen Nachmittag nackt durch Wald und Wiese und zupfe Klee.) Oder dem jungen Burschen mit dem Hakenkreuz auf dem Schulterblatt. Ich wollte ihm gerade den Unterkiefer zusammenflicken, als er mir auf den Kittel kotzt, absichtlich. Dann legt er los: Es wäre besser für mich, ihn auf der Stelle gehen zu lassen, denn heute sei definitiv nicht der Tag, an dem man ihn verarschen könne. Außerdem sei das hier ja noch immer eine Demokratie, und er habe freie Arztwahl, und von so einer Tussi würde er sich schon gar nicht ... (Ruhig, Brauner. Wir verstehen uns doch. Ich lege nämlich auch überhaupt keinen Wert darauf, Arschlöcher wie dich zu verarzten.) Und der netten älteren Dame, die nicht weiß, was sie so einnimmt, denn eigentlich kümmert sich ihre Tochter um diese Sachen. Immerhin weiß sie, dass sie jeden Morgen etwas bekommt: »Eine Tablette, Frau Doktor, weiß, aus einer grünweißen Schachtel ...« (Ach so, jetzt ist alles klar! Das sind doch die Tabletten gegen diese Krankheit mit den ganzen komischen Symptomen!) Oder der Frau, die einen »Knoten unter der Achsel« spürt. Seit sechs Wochen. Wenn man sich dann erkundigt, weshalb sie sich ausgerechnet jetzt um halb zwei Uhr morgens untersuchen lässt, wird sie Ihnen mitteilen: »Wissen Sie, ich habe eine Freundin und die hat heute Nachmittag vermutet, das könnte Krebs sein. Da macht man sich natürlich Sorgen. Und dann kann man nicht schlafen. Sie können doch schnell mal einen Ultraschall machen, oder? Und wissen Sie, ich sitze hier schon seit einer halben Stunde. Dauert das noch lange?« ( Ja, einen Moment müssen Sie sich noch gedulden. Wir müssen schließlich noch das CT für Ihren Hirntumor einplanen.) Allen, die sich aufregen, weil sie eine, zwei oder drei Stunden warten müssen - vor allem, wenn sie dann auch noch folgenden, immer wieder gern gehörten Satz zum Besten geben: »Und das hier soll eine Notaufnahme sein?!«
( Ja, aber kein Irrenhaus. Und deswegen halten wir jetzt alle mal still.)
Oder Patienten, die auf die Frage nach der Dauer ihrer Beschwerden erwidern: »Schon eine Weile ...« (Gut, dann kann ich Ihnen auch gleich meine Diagnose mitteilen: Sie sind auf jeden Fall krank.) Und dann war da noch dieser Typ, der sich weigerte, eine Computertomographie machen zu lassen, weil er unbedingt eine Magnetresonanztomographie wollte, und sein Plädoyer mit dem Satz beendet: »Der Kunde ist schließlich König, Madame!«
(Ich bin sprachlos.)
Patient: »Meine Mutter vergisst alles. Sie hat die Eisenhower-Krankheit!« Die ganz normale Feigheit Er ist noch jung, vielleicht sechzig oder fünfundsechzig Jahre. Ich weiß nicht genau, warum er hier ist. Ein Schlaganfall? Er liegt im berühmten »Durchgangszimmer«. Das ist der Flur, auf dem Patienten liegen, denen es zu schlechtgeht, um sie nach Hause zu schicken, aber nicht schlecht genug für die Intensivstation. Fälle, die nicht sofort abzuklären sind und die deswegen nicht so schnell auf die richtige Station verlegt werden können. Das »Durchgangszimmer« hat genau acht Plätze. Wenn es zu Beginn des Bereitschaftsdienstes voll belegt ist, weiß man sofort, dass man für die nette alte Dame, die »einfach nicht mehr atmen« kann, nichts tun kann. Man hängt sich vier Stunden lang ans Telefon, um in den anderen Krankenhäusern nach einem freien Platz zu fragen, und weiß, dass es eine anstrengende Nacht wird. Der Mann ist also hier gestrandet. So ein Glückspilz.
Er schreit, schlägt um sich. Daher wird er angebunden, »immobilisiert«. Er hört einfach nicht auf zu schreien. Es ist nur schwer zu ertragen, am liebsten würde ich mitschreien. Zwei Arten von Sätzen brüllt er in die Welt, nur zwei, immer dieselben, unaufhörlich. Der Erste ist fast wie ein Echo. Schreiend wiederholt er, was er zuletzt gehört hat. Seine Tonhöhe steigt an, wird immer gellender, seine Stimme überschlägt sich.
»Bleiben Sie ganz ruuuuhiiiiiig! BLEIBEN SIE GANZ RUUUHIIIIG! «
Oder: »Legen Sie sich hiiiiiiin! LEGEN SIE SICH HIIIIIIIN!«
Irgendwie ist das sogar witzig. Man könnte sich einen kleinen Spaß erlauben, in sein Zimmer gehen, »Ätschibätsch!« rufen und die Reaktion der Krankenschwestern beobachten, wenn er diese Worte brüllt. Das Zweite ist sein einziger eigener Satz. Er benutzt ihn vermutlich, wenn er vergessen hat, was er gerade schreien wollte: »Der Kopf ist leeeer! DER KOPF IST LEEEEEEEEER!«
Dabei entgleisen ihm seine Gesichtszüge, weil er die Augen so weit aufreißt. Leere Augen starren mich an.
Ja, es stimmt. Sein Kopf ist wirklich leer. Seit vier Tagen ist er leer. Dabei war er so voll, bis ein kleines Blutgerinnsel sich in einer Gehirnarterie festsetzte, um dort seinen Unfug zu treiben. Nun hat er Angst.
Und ich auch.
Ich frage mich: Was geschieht nur in einem Kopf, der gerade noch voll genug ist, um zu erkennen, dass er leer ist? Vor allem aber: Was kann ich ihm sagen? Soll ich seine Hand tätscheln und sagen: »Aber nein, mein Guter. Ihr Kopf ist gar nicht leer, kein bisschen.« Soll ich sagen: »Schsch, ist ja gut, alles wird gut, beruhigen Sie sich.«
Oder: »Jaja, mein Lieber, nichts mehr geboten in der Birne, dumm gelaufen, was?«
Was soll ich tun?
Ich kann ihn nicht beruhigen. Sein Kopf ist leer, und vermutlich ändert sich daran nichts mehr. Auch daran nicht, dass er nach seiner Frau schlägt und sie anspuckt, wenn sie ihn besucht. Noch kommt sie jeden Tag, irgendwann wird sie wegbleiben oder nur noch einmal die Woche vorbeischauen, meist am Sonntag, man will ja eine gute Ehefrau sein.
Wir können ihm bestenfalls einen Platz in einem Pflegeheim beschaffen, wo die Pfleger und Pflegerinnen einen Seufzer ausstoßen werden, sobald sie sein Zimmer betreten müssen. Und dann zum diensthabenden Arzt gehen und ihn um ein Beruhigungsmittel bitten, weil man so schließlich nicht arbeiten kann.
Was soll ich ihm sagen? Ich habe schon daran gedacht, einfach mit ihm zu reden, ihm alles Mögliche zu erzählen, nur um seinen Kopf ein wenig zu füllen. Ihn mit Worten zu wiegen wie ein Neugeborenes. Zu erzählen, dass es regnet und dass seine Frau angerufen hat und ihn grüßen lässt, dass es schon halb zwölf Uhr ist und es bald Mittagessen gibt, heute sei es gar nicht mal so schlecht. Das ist das Einzige, was mir dazu einfällt, nur habe ich leider genau dafür keine Zeit. Außerdem fehlt mir der Mut. Ein Notfall folgt dem anderen, der Piepser piepst ununterbrochen, ich habe nicht einmal zehn Minuten übrig. Ich weiß, dass ich höchstens dafür sorgen kann, dass er sich dreißig oder vierzig Sekunden lang entspannt, und selbst das würde er gleich wieder vergessen.
Also mache ich es wie die anderen. Anfangs betrete ich zwei- oder dreimal das Zimmer und sage etwas, um ihn zu beruhigen. Dann werden meine Sätze immer kürzer, immer dümmlicher. Ich komme mir schon etwas blöd vor dabei. (Richtig blöd aber, wenn er anfängt, Sätze durch den Raum zu brüllen.) Danach gehe ich nicht mehr hinein. Ich gehe an seinem Zimmer vorbei, halte den Blick auf meine Schuhe geheftet, und sage mit gepresster Stimme: »Wirklich tragisch, aber ich habe da noch ein paar Leben zu retten.« Und wenn die Krankenschwester mich bittet, dem Mann ein Beruhigungsmittel zu verschreiben, denn schließlich könne man so nicht arbeiten, unterschreibe ich die Verordnung, und warte förmlich darauf, dass das Mittel endlich wirkt.
Ich würde gern mal wissen, wie man es schafft, sich für eine derartige Verordnung nicht zu schämen. Denn die Medikamente verschreibe ich meinetwegen, nicht um zu helfen. Für ihn tue ich nichts.
Ullstein Verlag
Bevor ich beschloss, Ärztin zu werden, wollte ich Bären bändigen. Komisch, dass ich mich noch so genau an den Tag erinnere, an dem ich meinen Berufswunsch fasste. Ich muss zwischen sechs und acht Jahre alt gewesen sein, als mich die Erkenntnis eines Morgens im Badezimmer überkam. Ich war noch nicht so richtig wach, und die Sonne blendete mich. Aber dann stellte ich fest, dass mich die Sonne nicht mehr blendete, wenn ich ein Auge zukniff - nur ein Auge, wohlgemerkt.
Und das war also, ganz wortwörtlich, meine Erleuchtung. Denn es konnte nicht mein Auge sein, das geblendet wurde. Es musste etwas dahinter geben, quasi die Summe meiner beiden Augen. Ich stellte fest: Nicht mein Auge wird geblendet, sondern die Summe meiner Augen. Meine Sicht setzt sich aus zwei Teilen zusammen, meine Augen kreuzen sich irgendwo weiter hinten in meinem Kopf, wo dann erst ein vollständiges Bild entsteht. Und genau dort werde ich geblendet. Wow ... MEINE AUGEN TREFFEN SICH IRGENDWO IN MEINEM KOPF!!!
Wenn man mit sieben Jahren entdeckt, dass sich seine Augen irgendwo im Kopf überkreuzen, ist das ein Schock. Deswegen wollte ich es genauer wissen. Ich beschloss, Neurochirurgin zu werden. Später erfuhr ich, dass man nicht unbedingt Chirurg wer8 den musste, um herauszufinden, was im Kopf passiert. Und so beschloss ich, einfach nur Neurologin zu werden. Noch später erfuhr ich, dass man gar nicht genau weiß, was im Kopf alles vor sich geht. Da beschloss ich, erst einmal Medizin zu studieren. Und noch viel, viel später - zu diesem Zeitpunkt hatte ich schon so manche enttäuschende Erfahrung in der Klinik hinter mir - lernte ich zwei Hausärzte kennen, die Medizin so betrieben, wie ich es mir immer vorgestellt hatte, und das mit echter Leidenschaft. Und siehe da, ich hatte eine neue Eingebung: Ich würde Allgemeinmedizinerin werden. Bis heute habe ich diese Entscheidung nicht bereut.
Patient: »Seit ich beim Arzt war, tut mir ständig der rechte Arm weh. Er hat mir irgendwelche Medikamente in einer viereckigen Schachtel verschrieben.«
Gut, wenn auch nachts jemand da ist ... Ach ja, der Bereitschaftsdienst ... Die Uhr, das Wartezimmer, Patienten, Patienten, Patienten. Der Piepser. Telefon, Radio, Stethoskop, wieder die Uhr, Skalpell, Patienten, Wundnaht-Kit, Patienten, die Uhr und so weiter.
Drama, Dreck und Langeweile, Wunder und Wunden und natürlich allerlei absurde Szenen. Ängstliche, Überängstliche, Unterängstliche. Besorgte Mütter, verschüchterte Kinder, Miesepeter und sympathische Hysteriker. Jeder ist anders. Alle sind gleich.
Aber um drei Uhr morgens, nach siebzehn Stunden Dienst, neigen Geduld und Sanftmut leider dazu, sich zu verflüchtigen. Dann betet man nur noch, dass man nicht sagt, was einem auf der Zunge liegt. Zumindest nicht in dieser Nacht ... Zum Beispiel dem Mann, der verlangt, dass man sein Knie röntgt. Um 22 Uhr 30. Es quält ihn nämlich schon seit zwei Wochen, und er hat auch die Überweisung von seinem Hausarzt dabei. Morgen Nachmittag hätte er einen Termin in der Innenstadt. Darauf angesprochen, baut er sich in seiner vollen Größe vor Ihnen auf und schleudert Ihnen ins Gesicht: »Morgen Nachmittag? Da arbeite ich, Madame!« (Ach echt? Und ich laufe morgen Nachmittag nackt durch Wald und Wiese und zupfe Klee.) Oder dem jungen Burschen mit dem Hakenkreuz auf dem Schulterblatt. Ich wollte ihm gerade den Unterkiefer zusammenflicken, als er mir auf den Kittel kotzt, absichtlich. Dann legt er los: Es wäre besser für mich, ihn auf der Stelle gehen zu lassen, denn heute sei definitiv nicht der Tag, an dem man ihn verarschen könne. Außerdem sei das hier ja noch immer eine Demokratie, und er habe freie Arztwahl, und von so einer Tussi würde er sich schon gar nicht ... (Ruhig, Brauner. Wir verstehen uns doch. Ich lege nämlich auch überhaupt keinen Wert darauf, Arschlöcher wie dich zu verarzten.) Und der netten älteren Dame, die nicht weiß, was sie so einnimmt, denn eigentlich kümmert sich ihre Tochter um diese Sachen. Immerhin weiß sie, dass sie jeden Morgen etwas bekommt: »Eine Tablette, Frau Doktor, weiß, aus einer grünweißen Schachtel ...« (Ach so, jetzt ist alles klar! Das sind doch die Tabletten gegen diese Krankheit mit den ganzen komischen Symptomen!) Oder der Frau, die einen »Knoten unter der Achsel« spürt. Seit sechs Wochen. Wenn man sich dann erkundigt, weshalb sie sich ausgerechnet jetzt um halb zwei Uhr morgens untersuchen lässt, wird sie Ihnen mitteilen: »Wissen Sie, ich habe eine Freundin und die hat heute Nachmittag vermutet, das könnte Krebs sein. Da macht man sich natürlich Sorgen. Und dann kann man nicht schlafen. Sie können doch schnell mal einen Ultraschall machen, oder? Und wissen Sie, ich sitze hier schon seit einer halben Stunde. Dauert das noch lange?« ( Ja, einen Moment müssen Sie sich noch gedulden. Wir müssen schließlich noch das CT für Ihren Hirntumor einplanen.) Allen, die sich aufregen, weil sie eine, zwei oder drei Stunden warten müssen - vor allem, wenn sie dann auch noch folgenden, immer wieder gern gehörten Satz zum Besten geben: »Und das hier soll eine Notaufnahme sein?!«
( Ja, aber kein Irrenhaus. Und deswegen halten wir jetzt alle mal still.)
Oder Patienten, die auf die Frage nach der Dauer ihrer Beschwerden erwidern: »Schon eine Weile ...« (Gut, dann kann ich Ihnen auch gleich meine Diagnose mitteilen: Sie sind auf jeden Fall krank.) Und dann war da noch dieser Typ, der sich weigerte, eine Computertomographie machen zu lassen, weil er unbedingt eine Magnetresonanztomographie wollte, und sein Plädoyer mit dem Satz beendet: »Der Kunde ist schließlich König, Madame!«
(Ich bin sprachlos.)
Patient: »Meine Mutter vergisst alles. Sie hat die Eisenhower-Krankheit!« Die ganz normale Feigheit Er ist noch jung, vielleicht sechzig oder fünfundsechzig Jahre. Ich weiß nicht genau, warum er hier ist. Ein Schlaganfall? Er liegt im berühmten »Durchgangszimmer«. Das ist der Flur, auf dem Patienten liegen, denen es zu schlechtgeht, um sie nach Hause zu schicken, aber nicht schlecht genug für die Intensivstation. Fälle, die nicht sofort abzuklären sind und die deswegen nicht so schnell auf die richtige Station verlegt werden können. Das »Durchgangszimmer« hat genau acht Plätze. Wenn es zu Beginn des Bereitschaftsdienstes voll belegt ist, weiß man sofort, dass man für die nette alte Dame, die »einfach nicht mehr atmen« kann, nichts tun kann. Man hängt sich vier Stunden lang ans Telefon, um in den anderen Krankenhäusern nach einem freien Platz zu fragen, und weiß, dass es eine anstrengende Nacht wird. Der Mann ist also hier gestrandet. So ein Glückspilz.
Er schreit, schlägt um sich. Daher wird er angebunden, »immobilisiert«. Er hört einfach nicht auf zu schreien. Es ist nur schwer zu ertragen, am liebsten würde ich mitschreien. Zwei Arten von Sätzen brüllt er in die Welt, nur zwei, immer dieselben, unaufhörlich. Der Erste ist fast wie ein Echo. Schreiend wiederholt er, was er zuletzt gehört hat. Seine Tonhöhe steigt an, wird immer gellender, seine Stimme überschlägt sich.
»Bleiben Sie ganz ruuuuhiiiiiig! BLEIBEN SIE GANZ RUUUHIIIIG! «
Oder: »Legen Sie sich hiiiiiiin! LEGEN SIE SICH HIIIIIIIN!«
Irgendwie ist das sogar witzig. Man könnte sich einen kleinen Spaß erlauben, in sein Zimmer gehen, »Ätschibätsch!« rufen und die Reaktion der Krankenschwestern beobachten, wenn er diese Worte brüllt. Das Zweite ist sein einziger eigener Satz. Er benutzt ihn vermutlich, wenn er vergessen hat, was er gerade schreien wollte: »Der Kopf ist leeeer! DER KOPF IST LEEEEEEEEER!«
Dabei entgleisen ihm seine Gesichtszüge, weil er die Augen so weit aufreißt. Leere Augen starren mich an.
Ja, es stimmt. Sein Kopf ist wirklich leer. Seit vier Tagen ist er leer. Dabei war er so voll, bis ein kleines Blutgerinnsel sich in einer Gehirnarterie festsetzte, um dort seinen Unfug zu treiben. Nun hat er Angst.
Und ich auch.
Ich frage mich: Was geschieht nur in einem Kopf, der gerade noch voll genug ist, um zu erkennen, dass er leer ist? Vor allem aber: Was kann ich ihm sagen? Soll ich seine Hand tätscheln und sagen: »Aber nein, mein Guter. Ihr Kopf ist gar nicht leer, kein bisschen.« Soll ich sagen: »Schsch, ist ja gut, alles wird gut, beruhigen Sie sich.«
Oder: »Jaja, mein Lieber, nichts mehr geboten in der Birne, dumm gelaufen, was?«
Was soll ich tun?
Ich kann ihn nicht beruhigen. Sein Kopf ist leer, und vermutlich ändert sich daran nichts mehr. Auch daran nicht, dass er nach seiner Frau schlägt und sie anspuckt, wenn sie ihn besucht. Noch kommt sie jeden Tag, irgendwann wird sie wegbleiben oder nur noch einmal die Woche vorbeischauen, meist am Sonntag, man will ja eine gute Ehefrau sein.
Wir können ihm bestenfalls einen Platz in einem Pflegeheim beschaffen, wo die Pfleger und Pflegerinnen einen Seufzer ausstoßen werden, sobald sie sein Zimmer betreten müssen. Und dann zum diensthabenden Arzt gehen und ihn um ein Beruhigungsmittel bitten, weil man so schließlich nicht arbeiten kann.
Was soll ich ihm sagen? Ich habe schon daran gedacht, einfach mit ihm zu reden, ihm alles Mögliche zu erzählen, nur um seinen Kopf ein wenig zu füllen. Ihn mit Worten zu wiegen wie ein Neugeborenes. Zu erzählen, dass es regnet und dass seine Frau angerufen hat und ihn grüßen lässt, dass es schon halb zwölf Uhr ist und es bald Mittagessen gibt, heute sei es gar nicht mal so schlecht. Das ist das Einzige, was mir dazu einfällt, nur habe ich leider genau dafür keine Zeit. Außerdem fehlt mir der Mut. Ein Notfall folgt dem anderen, der Piepser piepst ununterbrochen, ich habe nicht einmal zehn Minuten übrig. Ich weiß, dass ich höchstens dafür sorgen kann, dass er sich dreißig oder vierzig Sekunden lang entspannt, und selbst das würde er gleich wieder vergessen.
Also mache ich es wie die anderen. Anfangs betrete ich zwei- oder dreimal das Zimmer und sage etwas, um ihn zu beruhigen. Dann werden meine Sätze immer kürzer, immer dümmlicher. Ich komme mir schon etwas blöd vor dabei. (Richtig blöd aber, wenn er anfängt, Sätze durch den Raum zu brüllen.) Danach gehe ich nicht mehr hinein. Ich gehe an seinem Zimmer vorbei, halte den Blick auf meine Schuhe geheftet, und sage mit gepresster Stimme: »Wirklich tragisch, aber ich habe da noch ein paar Leben zu retten.« Und wenn die Krankenschwester mich bittet, dem Mann ein Beruhigungsmittel zu verschreiben, denn schließlich könne man so nicht arbeiten, unterschreibe ich die Verordnung, und warte förmlich darauf, dass das Mittel endlich wirkt.
Ich würde gern mal wissen, wie man es schafft, sich für eine derartige Verordnung nicht zu schämen. Denn die Medikamente verschreibe ich meinetwegen, nicht um zu helfen. Für ihn tue ich nichts.
Ullstein Verlag
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Autoren-Porträt von Jaddo
JaddoJaddo ist das Pseudonym einer jungen Ärztin. Sie ist Anfang 30, lebt in Frankreich und arbeitet dort als Allgemeinmedizinerin im Krankenhaus. Seit 2007 berichtet sie in ihrem Blog www.jaddo.fr aus ihrem Leben mit Ärzten, Schwestern und Patienten.
Bibliographische Angaben
- Autor: Jaddo
- 2012, 4. Aufl., 224 Seiten, Maße: 12 x 19 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Übersetzung:Liebl, Elisabeth
- Übersetzer: Elisabeth Liebl
- Verlag: Ullstein TB
- ISBN-10: 3548374662
- ISBN-13: 9783548374666
- Erscheinungsdatum: 10.08.2012
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