Böser Wolf
Oliver von Bodenstein und Pia Kirchhoff, Band 6
Der sechste Fall von Oliver von Bodenstein und Pia Kirchhoff führt in die Abgründe gepflegter Bürgerlichkeit.
Aus dem Main bei Eddersheim wird die Leiche einer 16-Jährigen geborgen. Sie wurde misshandelt und...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Böser Wolf “
Der sechste Fall von Oliver von Bodenstein und Pia Kirchhoff führt in die Abgründe gepflegter Bürgerlichkeit.
Aus dem Main bei Eddersheim wird die Leiche einer 16-Jährigen geborgen. Sie wurde misshandelt und ermordet, und niemand vermisst sie. Auch nach Wochen hat das K 11 keinen Hinweis auf ihre Identität. Die Spuren führen zu einem Kinderdorf im Taunus und zu einer Fernsehmoderatorin, die bei ihren Recherchen den falschen Leuten zu nahe gekommen ist. Kirchhoff und von Bodenstein stoßen inmitten gepflegter Bürgerlichkeit auf einen Abgrund an Bösartigkeit und Brutalität. Und dann wird der Fall persönlich.
Nele Neuhaus ist mit ihren Romanen seit 2008 in den Bestenlisten zu Hause. Geboren in Münster, Westfalen und aufgewachsen in Paderborn, lebt sie seit ihrer Kindheit im Taunus und schreibt bereits ebenso lange. Sie arbeitete in einer Werbeagentur, studierte einige Semester Jura, Geschichte und Germanistik, bis sie nach ihrer Heirat ihren Mann im familieneigenen Betrieb unterstützte.
In diese Zeit fällt auch die Entstehung ihres ersten Romans "Unter Haien". Im Selbstverlag veröffentlicht, verkaufte sie das Buch "auch über die Wursttheke". Heute gehen ihre Romane weg wie warme Semmeln. Auch im Fernsehen ist Nele Neuhaus erfolgreich: "Schneewittchen muss sterben" lief im ZDF, weitere Verfilmungen sind geplant.
Und das Echo in der Presse über Nele Neuhaus ist eindeutig:
"Neuhaus spielt in der Champions-League."
WAZ.de
"Der häufig gebrauchte Vergleich zu amerikanischen Thrillergrößen drängt sich unweigerlich auf."
Düsseldorfer Anzeiger
"Neuhaus-Leser sind Getriebene."
Frankfurter Rundschau
"Neuhaus lässt ihre Ermittler in menschliche Abgründe blicken."
Frankfurter Neue Presse
Klappentext zu „Böser Wolf “
Juni 2010: Bei Eddersheim in der Nähe von Frankfurt wird eine Leiche aus dem Main geborgen. Ein junges Mädchen, höchstens 16 Jahre alt. Bei der Obduktion stellt sich heraus, dass sie schwer misshandelt wurde. Das Seltsame: Es liegt keine Vermisstenanzeige vor.Vier Wochen später haben Pia Kirchhoff und Oliver von Bodenstein immer noch keinen Hinweis auf die Identität des Mädchens, die Stimmung im Hofheimer K11 ist gedrückt. Da werden sie zu einem neuen Fall gerufen: Die Fernsehmoderatorin Hanna Herzmann wurde brutal zusammengeschlagen und vergewaltigt. Sie überlebt schwer verletzt, ist zunächst aber nicht vernehmungsfähig. Die Ermittlungen ergeben, dass Hanna Herzmann einer brisanten Geschichte für ihre Sendung auf der Spur war, doch niemand weiß, worum es bei ihren Recherchen ging.
Pia und Bodenstein verfolgen Spuren, die in die Vergangenheit zurückreichen. In ihren Ermittlungen kommen sie einem gefährlichen Geheimnis auf die Spur, und Pia weiß nicht mehr, ob sie ihrem Chef noch trauen kann.
Lese-Probe zu „Böser Wolf “
Böser Wolf von Nele Neuhaus Prolog
... mehr
Er stellte die Einkaufstüte ab und verstaute seine Einkäufe in dem winzigen Kühlschrank. Das Eis, ihre Lieblingssorte von Häagen-Dasz, war fast geschmolzen, aber er wusste, dass sie es genau so mochte, so sahnig und cremig mit den knusprigen Gebäckstückchen. Es war Wochen her, dass er sie zuletzt gesehen hatte. Obwohl es ihm schwerfiel, drängte er sie nie. Er durfte nichts überstürzen, musste geduldig sein. Sie musste von sich aus zu ihm kommen wollen. Gestern hatte sie sich schließlich gemeldet, per SMS. Und gleich würde sie da sein! Die Vorfreude ließ sein Herz schneller schlagen.
Sein Blick wanderte durch den Wohnwagen, den er gestern Abend noch ordentlich aufgeräumt hatte, und fiel auf die Uhr über der kleinen Küchenzeile. Schon zwanzig nach sechs! Er musste sich beeilen, denn er wollte nicht, dass sie ihn so sah, so verschwitzt und unrasiert. Nach der Arbeit war er noch schnell beim Frisör gewesen, aber der ranzige Geruch nach Imbissbude klebte in jeder Pore. Rasch zog er sich aus, stopfte die nach Schweiß und Frittenfett stinkenden Klamotten in die leere Einkaufstüte und zwängte sich in die Dusche neben der Miniküche. Auch wenn es eng und der Wasserdruck äußerst bescheiden war, so zog er die Nasszelle des Wohnwagens den unhygienischen öffentlichen Sanitärräumen des Campingplatzes, die zu selten gereinigt wurden, vor.
Er seifte sich von Kopf bis Fuß ein, rasierte sich sorgfältig und putzte die Zähne. Manchmal musste er sich dazu zwingen, denn oft war die Versuchung, sich hängenzulassen und in Selbstmitleid und Lethargie zu versinken, groß. Vielleicht hätte er es getan, wenn sie nicht wäre.
Ein paar Minuten später schlüpfte er in frische Unterwäsche und ein sauberes Polohemd, aus dem Schrank nahm er eine Jeans. Schließlich streifte er die Uhr über sein Handgelenk. Ein Pfandleiher am Hauptbahnhof hatte ihm vor ein paar Monaten hundertfünfzig Euro geboten - eine glatte Unverschämtheit, hatte er vor dreizehn Jahren doch elftausend Mark für dieses Meisterstück aus einer Schweizer Uhrenmanufaktur bezahlt. Er hatte die Uhr behalten. Sie war die letzte Erinnerung an sein altes Leben. Ein prüfender Blick in den Spiegel, dann öffnete er die Tür und trat aus dem Wohnwagen.
Sein Herz machte ein paar raschere Schläge, als er sie draußen auf dem klapprigen Gartenstuhl sitzen sah. Seit Tagen und Wochen hatte er sich auf diesen Augenblick gefreut. Er blieb stehen, um ihren Anblick auf sich wirken zu lassen, ganz in sich aufnehmen zu können.
Wie wunderschön sie war, wie zart und zierlich! Ein kleiner, süßer Engel. Das weiche blonde Haar, von dem er wusste, wie es sich anfühlte und wie es roch, fiel ihr über die Schultern. Sie trug ein ärmelloses Kleid, das ihre leicht gebräunte Haut und die zerbrechlichen Wirbel in ihrem Nacken sehen ließ. Auf ihrem Gesicht lag ein konzentrierter Ausdruck, sie war damit beschäftigt, etwas in ihr Handy einzutippen, und bemerkte ihn nicht. Weil er sie nicht erschrecken wollte, räusperte er sich. Sie blickte auf, ihr Blick begegnete seinem. Das Lächeln begann in den Mundwinkeln und breitete sich dann über ihr ganzes Gesicht aus. Sie sprang auf.
Er musste schlucken, als sie nun auf ihn zukam und vor ihm stehenblieb. Der Ausdruck des Vertrauens in ihren dunklen Augen versetzte ihm einen Stich. Großer Gott, wie süß sie war! Sie war der einzige Grund, weshalb er sich nicht längst vor einen Zug geworfen hatte oder auf eine andere kostengünstige Art und Weise vorzeitig aus seinem elenden Leben geschieden war.
»Hallo, Kleines«, sagte er rau und legte seine Hand auf ihre Schulter. Nur ganz kurz. Ihre Haut fühlte sich samtig und warm an. Am Anfang hatte er immer Hemmungen, sie zu berühren.
»Was hast du deiner Mutter erzählt, wo du bist?«
»Die ist heute Abend mit meinem Stiefvater auf irgend so 'nem Fest, bei der Feuerwehr, glaub ich«, erwiderte sie und steckte das Handy in ihren roten Rucksack. »Ich hab gesagt, ich geh zu Jessie.«
»Gut.«
Mit einem Blick vergewisserte er sich, dass kein neugieriger Nachbar oder zufälliger Passant sie beobachtete. Er vibrierte innerlich vor Aufregung, seine Knie waren ganz weich.
»Ich habe dein Lieblingseis für dich gekauft«, sagte er leise. »Wollen wir reingehen?«
Donnerstag, 10. Juni 2010
Sie hatte das Gefühl, nach hinten wegzukippen. Sobald sie die Augen öffnete, drehte sich alles. Und ihr war übel. Nein, nicht übel, sondern sterbenselend. Es roch nach Erbrochenem. Alina stöhnte und versuchte, den Kopf zu heben. Wo war sie? Was war passiert, und wo waren die anderen?
Eben hatten sie doch noch alle zusammen unter dem Baum gesessen, Mart neben ihr, sein Arm um ihre Schultern. Das hatte sich gut angefühlt. Sie hatten gelacht, und er hatte sie geküsst. Katharina und Mia hatten dauernd wegen der vielen Mücken gemeckert, sie hatten Musik gehört und dieses süße Zeug getrunken - Wodka mit Red Bull.
Alina richtete sich mühsam auf. Ihr Kopf dröhnte. Sie schlug die Augen auf und erschrak. Die Sonne stand schon tief. Wie spät mochte es sein? Und wo war ihr Handy? Sie konnte sich nicht erinnern, wie sie hierhergekommen war und wo sie überhaupt war. Die letzten Stunden waren wie ausgelöscht. Ein echter Filmriss!
»Mart? Mia? Wo seid ihr?«
Sie kroch bis zum Stamm der mächtigen Trauerweide. Es bedurfte ihrer ganzen Kraft, auf die Beine zu kommen und sich umzublicken. Ihre Knie waren weich wie Butter, alles drehte sich um sie herum, und sie konnte nicht richtig klar sehen. Wahrscheinlich hatte sie ihre Kontaktlinsen verloren, als sie gekotzt hatte. Denn das hatte sie. Der Geschmack in ihrem Mund war widerlich, und in ihrem Gesicht klebte Erbrochenes. Das trockene Laub knisterte unter ihren nackten Füßen. Sie blickte an sich herunter. Ihre Schuhe waren auch weg!
»Scheiße, Scheiße, Scheiße«, murmelte sie und kämpfte gegen die aufsteigenden Tränen. Sie würde einen Riesenärger kriegen, wenn sie in diesem Zustand zu Hause auftauchte!
Aus der Ferne wehten Stimmen und Gelächter zu ihr herüber, der Duft von gegrilltem Fleisch drang ihr in die Nase und ließ die Übelkeit wieder stärker werden. Wenigstens war sie nicht irgendwo in der Pampa gelandet; ganz in der Nähe gab es Menschen!
Alina ließ den Baumstamm los und machte ein paar unsichere Schritte. Alles um sie herum drehte sich wie in einem Karussell, aber sie zwang sich, weiterzugehen. Was für Arschlöcher die alle doch waren! Von wegen Freunde! Ließen sie hier einfach besoffen liegen, ohne Schuhe und Handy! Wahrscheinlich hatten die dicke Katharina und die blöde Zicke Mia sich noch köstlich über sie amüsiert. Die konnten was erleben, wenn sie sie morgen in der Schule sah! Und mit Mart würde sie nie mehr im Leben ein Wort reden.
Erst im letzten Augenblick bemerkte Alina die steil abfallende Böschung und blieb stehen. Da unten lag jemand! Zwischen den Brennnesseln, direkt am Wasser. Dunkle Haare, ein gelbes T-Shirt - das war Alex! Verdammt, wie war der dahin gekommen? Was war passiert? Fluchend machte Alina sich an den Abstieg. Sie verbrannte sich die nackten Waden an den Brennnesseln und trat auf irgendetwas Spitzes.
»Alex!« Sie ging neben ihm in die Hocke und rüttelte an seiner Schulter. Er stank auch nach Kotze und stöhnte leise. »Hey, wach auf!«
Mit der Hand verscheuchte sie die Mücken, die aufdringlich um ihr Gesicht schwirrten.
»Alex! Wach auf! Komm schon!« Sie zerrte an seinen Beinen, aber er war so schwer wie Blei und rührte sich nicht.
Auf dem Fluss fuhr ein Motorboot vorbei. Eine Welle schwappte heran, das Wasser gluckerte im Schilf und spülte über Alex' Beine. Alina stockte vor Schreck der Atem. Direkt vor ihren Augen schob sich eine bleiche Hand aus dem Wasser und schien nach ihr zu greifen.
Sie prallte zurück und stieß einen erschrockenen Schrei aus. Im Wasser zwischen den Schilfhalmen - keine zwei Meter von Alex entfernt - lag Mia! Alina glaubte ihr Gesicht unter der Wasseroberfläche zu erkennen, sie sah im diffusen Zwielicht der Abenddämmerung helles, langes Haar und weit geöffnete, tote Augen, die sie direkt anzusehen schienen.
Wie gelähmt starrte Alina auf das grausige Bild. In ihrem Kopf herrschte ein einziges Durcheinander. Was zum Teufel war hier passiert? Eine neue Welle bewegte Mias toten Körper, ihr Arm ragte gespenstisch blass aus dem dunklen Wasser, als ob sie um Hilfe bäte.
Alina zitterte am ganzen Leib, obwohl es noch immer unerträglich heiß war. Ihr Magen rebellierte, sie taumelte, drehte sich um und erbrach sich in die Brennnesseln. Statt Wodka und Red Bull kam aber nur noch bittere Galle. Verzweifelt schluchzend kroch sie auf allen vieren die steile Böschung hoch, das Gestrüpp zerkratzte ihre Knie und Hände. Ach, wäre sie doch nur schon zu Hause, in ihrem Zimmer, im Bett, in Sicherheit! Sie wollte nur weg von diesem schrecklichen Ort und alles vergessen, was sie gesehen hatte.
*
Pia Kirchhoff tippte den letzten Bericht über die Ermittlungen im Todesfall Veronika Meissner in den PC. Die Sonne brannte seit dem frühen Morgen auf das Flachdach des Gebäudes, in dem sich die Büros des Kommissariats 11 befanden, und die digitale Anzeige der Wetterstation, die auf dem Fensterbrett neben Kai Ostermanns Schreibtisch stand, zeigte 31 Grad an. Raumtemperatur. Draußen waren es locker noch drei Grad mehr. In jeder Schule hätte es hitzefrei gegeben. Obwohl alle Fenster und Türen weit geöffnet waren, ging kein Lufthauch, der etwas Linderung gebracht hätte. Pias Unterarm klebte an der Schreibtischplatte, sobald sie ihn darauflegte. Sie seufzte und gab einen Druckbefehl, dann heftete sie den Bericht in den schmalen Ordner. Fehlte nur noch der Obduktionsbericht, aber wo hatte sie ihn hingelegt? Pia stand auf und suchte in ihren Ablagekörben, um den Vorgang endlich abschließen zu können. Sie hielt seit vorgestern allein die Stellung im K11, denn ihr Kollege Kai Ostermann, mit dem sie sich das Büro teilte, war seit Mittwoch auf einer Fortbildung im Bundeskriminalamt in Wiesbaden. Kathrin Fachinger und Cem Altunay nahmen an einem länderübergreifenden Seminar in Düsseldorf teil, und der Chef hatte seit Montag Urlaub und war mit unbekanntem Ziel verreist. Dem akuten Mangel an potentiellen Gästen war deshalb auch die kleine Feierstunde, die Kriminalrätin Dr. Nicola Engel aus Anlass von Pias Ernennung zur Kriminalhauptkommissarin für den frühen Nachmittag anberaumt hatte, zum Opfer gefallen, doch das hatte Pia nicht gestört. Rummel um ihre Person war ihr zuwider, die Änderung des Dienstgrades eine verwaltungstechnische Formalie, mehr nicht.
»Wo ist denn dieser dämliche Bericht?«, murmelte sie ärgerlich. Es war schon kurz vor fünf, und um sieben wollte sie auf das Abi- treffen nach Königstein. Die Arbeit auf dem Birkenhof ließ ihr viel zu selten Zeit, soziale Kontakte zu pflegen, deshalb freute sie sich darauf, die Mitschülerinnen von früher nach fünfundzwanzig Jahren wiederzusehen.
Ein Klopfen an der offenstehenden Tür ließ sie herumfahren.
»Hallo, Pia.«
Pia traute ihren Augen nicht. Vor ihr stand ihr ehemaliger Kollege Frank Behnke. Er sah verändert aus. Seinen üblichen Look - Jeans, T-Shirt und abgelatschte Cowboystiefel - hatte er gegen einen hellgrauen Anzug, Hemd und Krawatte getauscht. Das Haar trug er etwas länger als früher, auch war sein Gesicht nicht mehr so ausgezehrt, was ihm besser stand.
»Hallo, Frank«, erwiderte sie erstaunt. »Lange nicht mehr gesehen. «
»Und doch gleich wiedererkannt.« Er grinste, schob die Hände in die Hosentaschen und musterte sie eingehend von Kopf bis Fuß. »Siehst gut aus. Hab gehört, dass du die Karriereleiter hochgefallen bist. Beerbst den Alten bald, was?«
Wie früher schon schaffte Frank Behnke es auch diesmal mühelos, sie in Sekundenschnelle zu verärgern. Die höfliche Frage nach seinem Befinden blieb Pia im Hals stecken.
»Ich bin mitnichten die Karriereleiter ›hochgefallen‹. Mein Dienstgrad hat sich geändert, sonst nichts«, entgegnete sie kühl. »Und wen meinst du mit dem Alten? Etwa Bodenstein?«
Behnke zuckte nur grinsend die Schultern und kaute auf seinem Kaugummi herum. Das hatte er sich nicht abgewöhnt.
Nach seinem unrühmlichen Abgang aus dem K11 vor zwei Jahren hatte er gegen seine Suspendierung geklagt und vor Gericht Erfolg gehabt. Allerdings war er nach Wiesbaden zum Landeskriminalamt versetzt worden, was bei der Regionalen Kriminalinspektion in Hofheim niemand bedauert hatte.
Er ging an ihr vorbei und ließ sich auf Ostermanns Stuhl nieder.
»Sind alle ausgeflogen, was?«
Pia brummte nur etwas und suchte weiter nach dem Bericht.
»Was verschafft mir die Ehre deines Besuches?«, fragte sie, statt auf seine Frage zu antworten.
Behnke verschränkte die Arme hinter dem Kopf.
»Tja, wie schade, dass ich die frohe Botschaft vorerst nur dir verkünden kann«, sagte er. »Aber die anderen werden es noch früh genug erfahren.«
»Was denn?« Pia warf ihm einen argwöhnischen Blick zu.
»Die Arbeit auf der Straße hatte ich satt. Den Mist hab ich lange genug gemacht«, erwiderte er, ohne sie aus den Augen zu lassen. »SEK, K11, das hab ich alles hinter mir. Ich hatte immer die besten Bewertungen, und man hat mir meinen kleinen Fehltritt verziehen.«
Kleiner Fehltritt! Behnke hatte Kollegin Fachinger in einem Ausbruch unbeherrschten Zorns niedergeschlagen und sich noch andere Verfehlungen geleistet, die eine Suspendierung gerechtfertigt hatten.
»Ich hatte private Probleme zu der Zeit«, fuhr er fort. »Das wurde berücksichtigt. Beim LKA habe ich ein paar Zusatzqualifikationen erworben und bin jetzt beim K134, Dienststelle Interne Ermittlung, zuständig für Strafanzeigen und Verdachtslagen gegen Angehörige der Polizei und für Korruptionsprävention.«
Pia glaubte sich verhört zu haben. Frank Behnke als interner Ermittler? Das war absurd!
»Zusammen mit Kollegen der anderen Bundesländer haben wir in den letzten Monaten ein neues Strategiekonzept entwickelt, das ab dem 1. Juli bundesweit in Kraft tritt. Verbesserung der Dienst- und Fachaufsicht innerhalb der untergeordneten Behörden, Sensibilisierung der Beschäftigten und so weiter ...« Er schlug ein Bein über das andere, wippte mit dem Fuß. »Frau Dr. Engel ist eine kompetente Behördenleiterin, aber aus den einzelnen Kommissariaten wurden uns verschiedentlich immer wieder Verfehlungen von Kollegen zugetragen. Ich selbst kann mich noch lebhaft an Vorfälle hier im Haus erinnern, die durchaus bedenklich sind. Strafvereitelung im Amt, Nichtverfolgung von Straftaten, unberechtigte Datenabfragen, Weitergabe interner Dokumente an Dritte ... um nur ein paar Beispiele zu nennen.«
Pia hielt in ihrer Suche nach dem Obduktionsbericht inne.
»Worauf willst du hinaus?«
Behnkes Lächeln wurde maliziös, in seine Augen trat ein unangenehmes Glitzern, und Pia schwante nichts Gutes. Schon immer hatte er seine Überlegenheit und Macht Schwächeren gegenüber genüsslich ausgespielt, ein Charakterzug, den sie an ihm verachtete. Als Kollege war Behnke mit seiner Missgunst und ewig miesen Laune die reinste Landplage gewesen, als Beauftragter der internen Ermittlung konnte er zur Katastrophe werden.
»Du solltest es doch am besten wissen.« Er stand auf, kam um den Schreibtisch herum und blieb dicht neben ihr stehen. »Du bist doch das erklärte Lieblingskind vom Alten.«
»Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst«, antwortete Pia eisig.
»Tatsächlich nicht?« Behnke trat so nah an sie heran, dass es ihr unangenehm war, aber sie unterdrückte den Impuls, vor ihm zurückzuweichen. »Ich werde hier im Haus ab Montag eine behördeninterne Überprüfung durchführen, und ich muss wohl nicht sehr tief graben, um ein paar Leichen ans Tageslicht zu holen.«
Pia fröstelte trotz der Tropenhitze im Büro, aber sie schaffte es, äußerlich gelassen zu bleiben, obwohl sie innerlich kochte; ihr gelang sogar ein Lächeln. Frank Behnke war ein nachtragender, kleinlicher Mensch, der nichts vergaß. Der alte Frust nagte noch immer an ihm und hatte sich in den letzten Jahren wahrscheinlich verzehnfacht. Er sann auf Rache für vermeintlich erlittenes Unrecht und Demütigungen. Es war nicht klug, ihn sich zum Feind zu machen, aber Pias Verärgerung war stärker als die Vernunft.
»Na dann«, sagte sie spöttisch und wandte sich wieder ihrer Suche zu. »Viel Erfolg in deinem neuen Job als ... Leichenspürhund. «
Copyright © 2012 Ullstein Buchverlage GmbH
Er stellte die Einkaufstüte ab und verstaute seine Einkäufe in dem winzigen Kühlschrank. Das Eis, ihre Lieblingssorte von Häagen-Dasz, war fast geschmolzen, aber er wusste, dass sie es genau so mochte, so sahnig und cremig mit den knusprigen Gebäckstückchen. Es war Wochen her, dass er sie zuletzt gesehen hatte. Obwohl es ihm schwerfiel, drängte er sie nie. Er durfte nichts überstürzen, musste geduldig sein. Sie musste von sich aus zu ihm kommen wollen. Gestern hatte sie sich schließlich gemeldet, per SMS. Und gleich würde sie da sein! Die Vorfreude ließ sein Herz schneller schlagen.
Sein Blick wanderte durch den Wohnwagen, den er gestern Abend noch ordentlich aufgeräumt hatte, und fiel auf die Uhr über der kleinen Küchenzeile. Schon zwanzig nach sechs! Er musste sich beeilen, denn er wollte nicht, dass sie ihn so sah, so verschwitzt und unrasiert. Nach der Arbeit war er noch schnell beim Frisör gewesen, aber der ranzige Geruch nach Imbissbude klebte in jeder Pore. Rasch zog er sich aus, stopfte die nach Schweiß und Frittenfett stinkenden Klamotten in die leere Einkaufstüte und zwängte sich in die Dusche neben der Miniküche. Auch wenn es eng und der Wasserdruck äußerst bescheiden war, so zog er die Nasszelle des Wohnwagens den unhygienischen öffentlichen Sanitärräumen des Campingplatzes, die zu selten gereinigt wurden, vor.
Er seifte sich von Kopf bis Fuß ein, rasierte sich sorgfältig und putzte die Zähne. Manchmal musste er sich dazu zwingen, denn oft war die Versuchung, sich hängenzulassen und in Selbstmitleid und Lethargie zu versinken, groß. Vielleicht hätte er es getan, wenn sie nicht wäre.
Ein paar Minuten später schlüpfte er in frische Unterwäsche und ein sauberes Polohemd, aus dem Schrank nahm er eine Jeans. Schließlich streifte er die Uhr über sein Handgelenk. Ein Pfandleiher am Hauptbahnhof hatte ihm vor ein paar Monaten hundertfünfzig Euro geboten - eine glatte Unverschämtheit, hatte er vor dreizehn Jahren doch elftausend Mark für dieses Meisterstück aus einer Schweizer Uhrenmanufaktur bezahlt. Er hatte die Uhr behalten. Sie war die letzte Erinnerung an sein altes Leben. Ein prüfender Blick in den Spiegel, dann öffnete er die Tür und trat aus dem Wohnwagen.
Sein Herz machte ein paar raschere Schläge, als er sie draußen auf dem klapprigen Gartenstuhl sitzen sah. Seit Tagen und Wochen hatte er sich auf diesen Augenblick gefreut. Er blieb stehen, um ihren Anblick auf sich wirken zu lassen, ganz in sich aufnehmen zu können.
Wie wunderschön sie war, wie zart und zierlich! Ein kleiner, süßer Engel. Das weiche blonde Haar, von dem er wusste, wie es sich anfühlte und wie es roch, fiel ihr über die Schultern. Sie trug ein ärmelloses Kleid, das ihre leicht gebräunte Haut und die zerbrechlichen Wirbel in ihrem Nacken sehen ließ. Auf ihrem Gesicht lag ein konzentrierter Ausdruck, sie war damit beschäftigt, etwas in ihr Handy einzutippen, und bemerkte ihn nicht. Weil er sie nicht erschrecken wollte, räusperte er sich. Sie blickte auf, ihr Blick begegnete seinem. Das Lächeln begann in den Mundwinkeln und breitete sich dann über ihr ganzes Gesicht aus. Sie sprang auf.
Er musste schlucken, als sie nun auf ihn zukam und vor ihm stehenblieb. Der Ausdruck des Vertrauens in ihren dunklen Augen versetzte ihm einen Stich. Großer Gott, wie süß sie war! Sie war der einzige Grund, weshalb er sich nicht längst vor einen Zug geworfen hatte oder auf eine andere kostengünstige Art und Weise vorzeitig aus seinem elenden Leben geschieden war.
»Hallo, Kleines«, sagte er rau und legte seine Hand auf ihre Schulter. Nur ganz kurz. Ihre Haut fühlte sich samtig und warm an. Am Anfang hatte er immer Hemmungen, sie zu berühren.
»Was hast du deiner Mutter erzählt, wo du bist?«
»Die ist heute Abend mit meinem Stiefvater auf irgend so 'nem Fest, bei der Feuerwehr, glaub ich«, erwiderte sie und steckte das Handy in ihren roten Rucksack. »Ich hab gesagt, ich geh zu Jessie.«
»Gut.«
Mit einem Blick vergewisserte er sich, dass kein neugieriger Nachbar oder zufälliger Passant sie beobachtete. Er vibrierte innerlich vor Aufregung, seine Knie waren ganz weich.
»Ich habe dein Lieblingseis für dich gekauft«, sagte er leise. »Wollen wir reingehen?«
Donnerstag, 10. Juni 2010
Sie hatte das Gefühl, nach hinten wegzukippen. Sobald sie die Augen öffnete, drehte sich alles. Und ihr war übel. Nein, nicht übel, sondern sterbenselend. Es roch nach Erbrochenem. Alina stöhnte und versuchte, den Kopf zu heben. Wo war sie? Was war passiert, und wo waren die anderen?
Eben hatten sie doch noch alle zusammen unter dem Baum gesessen, Mart neben ihr, sein Arm um ihre Schultern. Das hatte sich gut angefühlt. Sie hatten gelacht, und er hatte sie geküsst. Katharina und Mia hatten dauernd wegen der vielen Mücken gemeckert, sie hatten Musik gehört und dieses süße Zeug getrunken - Wodka mit Red Bull.
Alina richtete sich mühsam auf. Ihr Kopf dröhnte. Sie schlug die Augen auf und erschrak. Die Sonne stand schon tief. Wie spät mochte es sein? Und wo war ihr Handy? Sie konnte sich nicht erinnern, wie sie hierhergekommen war und wo sie überhaupt war. Die letzten Stunden waren wie ausgelöscht. Ein echter Filmriss!
»Mart? Mia? Wo seid ihr?«
Sie kroch bis zum Stamm der mächtigen Trauerweide. Es bedurfte ihrer ganzen Kraft, auf die Beine zu kommen und sich umzublicken. Ihre Knie waren weich wie Butter, alles drehte sich um sie herum, und sie konnte nicht richtig klar sehen. Wahrscheinlich hatte sie ihre Kontaktlinsen verloren, als sie gekotzt hatte. Denn das hatte sie. Der Geschmack in ihrem Mund war widerlich, und in ihrem Gesicht klebte Erbrochenes. Das trockene Laub knisterte unter ihren nackten Füßen. Sie blickte an sich herunter. Ihre Schuhe waren auch weg!
»Scheiße, Scheiße, Scheiße«, murmelte sie und kämpfte gegen die aufsteigenden Tränen. Sie würde einen Riesenärger kriegen, wenn sie in diesem Zustand zu Hause auftauchte!
Aus der Ferne wehten Stimmen und Gelächter zu ihr herüber, der Duft von gegrilltem Fleisch drang ihr in die Nase und ließ die Übelkeit wieder stärker werden. Wenigstens war sie nicht irgendwo in der Pampa gelandet; ganz in der Nähe gab es Menschen!
Alina ließ den Baumstamm los und machte ein paar unsichere Schritte. Alles um sie herum drehte sich wie in einem Karussell, aber sie zwang sich, weiterzugehen. Was für Arschlöcher die alle doch waren! Von wegen Freunde! Ließen sie hier einfach besoffen liegen, ohne Schuhe und Handy! Wahrscheinlich hatten die dicke Katharina und die blöde Zicke Mia sich noch köstlich über sie amüsiert. Die konnten was erleben, wenn sie sie morgen in der Schule sah! Und mit Mart würde sie nie mehr im Leben ein Wort reden.
Erst im letzten Augenblick bemerkte Alina die steil abfallende Böschung und blieb stehen. Da unten lag jemand! Zwischen den Brennnesseln, direkt am Wasser. Dunkle Haare, ein gelbes T-Shirt - das war Alex! Verdammt, wie war der dahin gekommen? Was war passiert? Fluchend machte Alina sich an den Abstieg. Sie verbrannte sich die nackten Waden an den Brennnesseln und trat auf irgendetwas Spitzes.
»Alex!« Sie ging neben ihm in die Hocke und rüttelte an seiner Schulter. Er stank auch nach Kotze und stöhnte leise. »Hey, wach auf!«
Mit der Hand verscheuchte sie die Mücken, die aufdringlich um ihr Gesicht schwirrten.
»Alex! Wach auf! Komm schon!« Sie zerrte an seinen Beinen, aber er war so schwer wie Blei und rührte sich nicht.
Auf dem Fluss fuhr ein Motorboot vorbei. Eine Welle schwappte heran, das Wasser gluckerte im Schilf und spülte über Alex' Beine. Alina stockte vor Schreck der Atem. Direkt vor ihren Augen schob sich eine bleiche Hand aus dem Wasser und schien nach ihr zu greifen.
Sie prallte zurück und stieß einen erschrockenen Schrei aus. Im Wasser zwischen den Schilfhalmen - keine zwei Meter von Alex entfernt - lag Mia! Alina glaubte ihr Gesicht unter der Wasseroberfläche zu erkennen, sie sah im diffusen Zwielicht der Abenddämmerung helles, langes Haar und weit geöffnete, tote Augen, die sie direkt anzusehen schienen.
Wie gelähmt starrte Alina auf das grausige Bild. In ihrem Kopf herrschte ein einziges Durcheinander. Was zum Teufel war hier passiert? Eine neue Welle bewegte Mias toten Körper, ihr Arm ragte gespenstisch blass aus dem dunklen Wasser, als ob sie um Hilfe bäte.
Alina zitterte am ganzen Leib, obwohl es noch immer unerträglich heiß war. Ihr Magen rebellierte, sie taumelte, drehte sich um und erbrach sich in die Brennnesseln. Statt Wodka und Red Bull kam aber nur noch bittere Galle. Verzweifelt schluchzend kroch sie auf allen vieren die steile Böschung hoch, das Gestrüpp zerkratzte ihre Knie und Hände. Ach, wäre sie doch nur schon zu Hause, in ihrem Zimmer, im Bett, in Sicherheit! Sie wollte nur weg von diesem schrecklichen Ort und alles vergessen, was sie gesehen hatte.
*
Pia Kirchhoff tippte den letzten Bericht über die Ermittlungen im Todesfall Veronika Meissner in den PC. Die Sonne brannte seit dem frühen Morgen auf das Flachdach des Gebäudes, in dem sich die Büros des Kommissariats 11 befanden, und die digitale Anzeige der Wetterstation, die auf dem Fensterbrett neben Kai Ostermanns Schreibtisch stand, zeigte 31 Grad an. Raumtemperatur. Draußen waren es locker noch drei Grad mehr. In jeder Schule hätte es hitzefrei gegeben. Obwohl alle Fenster und Türen weit geöffnet waren, ging kein Lufthauch, der etwas Linderung gebracht hätte. Pias Unterarm klebte an der Schreibtischplatte, sobald sie ihn darauflegte. Sie seufzte und gab einen Druckbefehl, dann heftete sie den Bericht in den schmalen Ordner. Fehlte nur noch der Obduktionsbericht, aber wo hatte sie ihn hingelegt? Pia stand auf und suchte in ihren Ablagekörben, um den Vorgang endlich abschließen zu können. Sie hielt seit vorgestern allein die Stellung im K11, denn ihr Kollege Kai Ostermann, mit dem sie sich das Büro teilte, war seit Mittwoch auf einer Fortbildung im Bundeskriminalamt in Wiesbaden. Kathrin Fachinger und Cem Altunay nahmen an einem länderübergreifenden Seminar in Düsseldorf teil, und der Chef hatte seit Montag Urlaub und war mit unbekanntem Ziel verreist. Dem akuten Mangel an potentiellen Gästen war deshalb auch die kleine Feierstunde, die Kriminalrätin Dr. Nicola Engel aus Anlass von Pias Ernennung zur Kriminalhauptkommissarin für den frühen Nachmittag anberaumt hatte, zum Opfer gefallen, doch das hatte Pia nicht gestört. Rummel um ihre Person war ihr zuwider, die Änderung des Dienstgrades eine verwaltungstechnische Formalie, mehr nicht.
»Wo ist denn dieser dämliche Bericht?«, murmelte sie ärgerlich. Es war schon kurz vor fünf, und um sieben wollte sie auf das Abi- treffen nach Königstein. Die Arbeit auf dem Birkenhof ließ ihr viel zu selten Zeit, soziale Kontakte zu pflegen, deshalb freute sie sich darauf, die Mitschülerinnen von früher nach fünfundzwanzig Jahren wiederzusehen.
Ein Klopfen an der offenstehenden Tür ließ sie herumfahren.
»Hallo, Pia.«
Pia traute ihren Augen nicht. Vor ihr stand ihr ehemaliger Kollege Frank Behnke. Er sah verändert aus. Seinen üblichen Look - Jeans, T-Shirt und abgelatschte Cowboystiefel - hatte er gegen einen hellgrauen Anzug, Hemd und Krawatte getauscht. Das Haar trug er etwas länger als früher, auch war sein Gesicht nicht mehr so ausgezehrt, was ihm besser stand.
»Hallo, Frank«, erwiderte sie erstaunt. »Lange nicht mehr gesehen. «
»Und doch gleich wiedererkannt.« Er grinste, schob die Hände in die Hosentaschen und musterte sie eingehend von Kopf bis Fuß. »Siehst gut aus. Hab gehört, dass du die Karriereleiter hochgefallen bist. Beerbst den Alten bald, was?«
Wie früher schon schaffte Frank Behnke es auch diesmal mühelos, sie in Sekundenschnelle zu verärgern. Die höfliche Frage nach seinem Befinden blieb Pia im Hals stecken.
»Ich bin mitnichten die Karriereleiter ›hochgefallen‹. Mein Dienstgrad hat sich geändert, sonst nichts«, entgegnete sie kühl. »Und wen meinst du mit dem Alten? Etwa Bodenstein?«
Behnke zuckte nur grinsend die Schultern und kaute auf seinem Kaugummi herum. Das hatte er sich nicht abgewöhnt.
Nach seinem unrühmlichen Abgang aus dem K11 vor zwei Jahren hatte er gegen seine Suspendierung geklagt und vor Gericht Erfolg gehabt. Allerdings war er nach Wiesbaden zum Landeskriminalamt versetzt worden, was bei der Regionalen Kriminalinspektion in Hofheim niemand bedauert hatte.
Er ging an ihr vorbei und ließ sich auf Ostermanns Stuhl nieder.
»Sind alle ausgeflogen, was?«
Pia brummte nur etwas und suchte weiter nach dem Bericht.
»Was verschafft mir die Ehre deines Besuches?«, fragte sie, statt auf seine Frage zu antworten.
Behnke verschränkte die Arme hinter dem Kopf.
»Tja, wie schade, dass ich die frohe Botschaft vorerst nur dir verkünden kann«, sagte er. »Aber die anderen werden es noch früh genug erfahren.«
»Was denn?« Pia warf ihm einen argwöhnischen Blick zu.
»Die Arbeit auf der Straße hatte ich satt. Den Mist hab ich lange genug gemacht«, erwiderte er, ohne sie aus den Augen zu lassen. »SEK, K11, das hab ich alles hinter mir. Ich hatte immer die besten Bewertungen, und man hat mir meinen kleinen Fehltritt verziehen.«
Kleiner Fehltritt! Behnke hatte Kollegin Fachinger in einem Ausbruch unbeherrschten Zorns niedergeschlagen und sich noch andere Verfehlungen geleistet, die eine Suspendierung gerechtfertigt hatten.
»Ich hatte private Probleme zu der Zeit«, fuhr er fort. »Das wurde berücksichtigt. Beim LKA habe ich ein paar Zusatzqualifikationen erworben und bin jetzt beim K134, Dienststelle Interne Ermittlung, zuständig für Strafanzeigen und Verdachtslagen gegen Angehörige der Polizei und für Korruptionsprävention.«
Pia glaubte sich verhört zu haben. Frank Behnke als interner Ermittler? Das war absurd!
»Zusammen mit Kollegen der anderen Bundesländer haben wir in den letzten Monaten ein neues Strategiekonzept entwickelt, das ab dem 1. Juli bundesweit in Kraft tritt. Verbesserung der Dienst- und Fachaufsicht innerhalb der untergeordneten Behörden, Sensibilisierung der Beschäftigten und so weiter ...« Er schlug ein Bein über das andere, wippte mit dem Fuß. »Frau Dr. Engel ist eine kompetente Behördenleiterin, aber aus den einzelnen Kommissariaten wurden uns verschiedentlich immer wieder Verfehlungen von Kollegen zugetragen. Ich selbst kann mich noch lebhaft an Vorfälle hier im Haus erinnern, die durchaus bedenklich sind. Strafvereitelung im Amt, Nichtverfolgung von Straftaten, unberechtigte Datenabfragen, Weitergabe interner Dokumente an Dritte ... um nur ein paar Beispiele zu nennen.«
Pia hielt in ihrer Suche nach dem Obduktionsbericht inne.
»Worauf willst du hinaus?«
Behnkes Lächeln wurde maliziös, in seine Augen trat ein unangenehmes Glitzern, und Pia schwante nichts Gutes. Schon immer hatte er seine Überlegenheit und Macht Schwächeren gegenüber genüsslich ausgespielt, ein Charakterzug, den sie an ihm verachtete. Als Kollege war Behnke mit seiner Missgunst und ewig miesen Laune die reinste Landplage gewesen, als Beauftragter der internen Ermittlung konnte er zur Katastrophe werden.
»Du solltest es doch am besten wissen.« Er stand auf, kam um den Schreibtisch herum und blieb dicht neben ihr stehen. »Du bist doch das erklärte Lieblingskind vom Alten.«
»Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst«, antwortete Pia eisig.
»Tatsächlich nicht?« Behnke trat so nah an sie heran, dass es ihr unangenehm war, aber sie unterdrückte den Impuls, vor ihm zurückzuweichen. »Ich werde hier im Haus ab Montag eine behördeninterne Überprüfung durchführen, und ich muss wohl nicht sehr tief graben, um ein paar Leichen ans Tageslicht zu holen.«
Pia fröstelte trotz der Tropenhitze im Büro, aber sie schaffte es, äußerlich gelassen zu bleiben, obwohl sie innerlich kochte; ihr gelang sogar ein Lächeln. Frank Behnke war ein nachtragender, kleinlicher Mensch, der nichts vergaß. Der alte Frust nagte noch immer an ihm und hatte sich in den letzten Jahren wahrscheinlich verzehnfacht. Er sann auf Rache für vermeintlich erlittenes Unrecht und Demütigungen. Es war nicht klug, ihn sich zum Feind zu machen, aber Pias Verärgerung war stärker als die Vernunft.
»Na dann«, sagte sie spöttisch und wandte sich wieder ihrer Suche zu. »Viel Erfolg in deinem neuen Job als ... Leichenspürhund. «
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Autoren-Porträt von Nele Neuhaus
Nele Neuhaus, geboren 1967 in Münster / Westfalen, lebt seit ihrer Kindheit im Taunus und schreibt bereits ebenso lange. Ihr 2010 erschienener Kriminalroman ((kursiv)) Schneewittchen muss sterben (kursiv Ende)) brachte ihr den großen Durchbruch, seitdem gehört sie zu den erfolgreichsten Krimiautorinnen Deutschlands. Ihre Romane wurden bisher in 20 Länder verkauft.
Bibliographische Angaben
- Autor: Nele Neuhaus
- 480 Seiten, Maße: 13,5 x 21,5 cm, Hochw. Broschur mit Klappeinb.
- Verlag: ULLSTEIN BUCHVERLAGE GMBH
- ISBN-10: 3863655761
- ISBN-13: 9783863655761
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