Böses Blut / A-Gruppe Bd.2
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Böses Blutvon Arne Dahl
LESEPROBE
Wortloser Schmerz, dachte er. Jetzt weiß ich, was das ist.
Lernen fürs Leben, dachte er, und das Gelächter, das seinGalgenhumor ihm eingab, war ebenso wortlos. Lernen für den Tod, dachte er, undstatt des Gelächters noch ein stummer Schrei.
Als der Schmerz zu einem neuen Angriff ausholte, wußte ermit einer Art kristallener Klarheit, daß er sein letztes Lachen gelacht hatte.
Der Schmerz wurde nicht mehr schlimmer. Mit einem Gefühl,das er noch als eine Mischung von Erleichterung und Entsetzen ausmachen konnte,spürte er, daß die Intensität ihren Höhepunkt erreicht hatte, und begriff,welcher Prozeß jetzt einsetzte.
Die Talfahrt.
Die Schmerzkurve stieg nicht mehr, sie flachte ab, und dahinterahnte er den steilen Absturz, der unerbittlich wie eine Rutschbahn ins Nichtsführte. Oder - und er sträubte sich gegen den Gedanken - zu Gott.
Die Poren seines Körpers waren weit offen, kleine aufgesperrteMünder, die das große Warum brüllten, das er selbst nicht brüllenkonnte.
Und dann kamen die Bilder, er hatte gewußt, daß sie kommenwürden. Sie hatten schon eingesetzt, als der Schmerz sich in Dimensionensteigerte, die er sich in seiner wildesten Phantasie nicht hätte ausmalenkönnen. Er war verwundert über diese Möglichkeiten, die all die Jahre in ihmverborgen gelegen hatten.
Das gab es also.
Der Mensch trug also ein solches Intensitätspotential insich.
Während sein ganzes Wesen in immer neuen Kaskaden explodierte,schien der Schmerz sich von den Fingern, dem Geschlecht, dem Hals zu einem Punkt außerhalb seinesKörpers zu verlagern. Es wurde irgendwie ein allgemeiner Schmerz, der sich überden Körper erhob und seine - ja, er mußte dieses Wort denken -, seine Seeleokkupierte, und bei alledem versuchte er, klar zu denken. Doch da kamen dieBilder.
Zuerst hatteer gekämpft, um den Kontakt mit der Außenwelt zu behalten, und die Außenweltwar da nichts anderes als gigantische Flugzeugrümpfe, die vor der kleinenFensterluke vorüberschossen - dann und wann glitt auch die schweigendeHenkersgestalt mit ihren todbringenden Werkzeugen vorüber. Allmählichvermischten sich die brüllenden Flugzeuge mit den Bildern, und jetzt begannenauch die Flugzeuge sich in schreiende Höllengeister zu verwandeln.
Er hattekeine Kontrolle über die Bilder, wie sie kamen, ihre Reihenfolge, die Struktur.Er sah das unvergeßliche Interieur des Entbindungssaals seines Sohns, aber erselbst war nicht da, sondern hörte sich, während sein Sohn geboren wurde, wieer sich draußen auf der Toilette erbrach. Aber jetzt war er da, und es warschön, geruchsfrei, lautlos. Das Leben ging in Reinheit weiter. Er begrüßteMenschen, die er als große Autoren erkannte. Er glitt durch ahnenreicheKorridore. Er sah, wie er und seine Frau sich liebten, und ihr Gesichtsausdruckwar von einer Seligkeit, wie er ihn an ihr noch nie gesehen hatte. Er stand aneinem Rednerpult, die Leute, applaudierten wild. Neue Korridore, Begegnungen,Sitzungen. Er war im Fernsehen, und bewundernde Blicke flogen ihm zu. Er sahsich mit glühender Leidenschaft schreiben, sah sich Buch auf Buch lesen,Papierstapel auf Papierstapel. Aber wenn die Schmerzpausen kamen und derFlugzeuglärm ihn zurückholte, merkte er, daß er nur sich selbst sah, lesendund schreibend, nie das, was er las und schrieb. Während der kurzen Atempausenfragte er sich, was das bedeutete.
Jetztbegann die Talfahrt, er spürte es deutlich. Wenn die Stiche kamen,erreichten sie ihn nicht mehr. Er entfloh seinem Quälgeist, er würde siegen. Erwar sogar in der Lage, ihn anzuspucken, und die einzige Antwort war ein Knirschenund eine leichte Steigerung des Schmerzes. Aus der Dunkelheit kam einbrüllender Drache, und der wurde zu einem Flugzeug, das einen Schleier übereinem Fußballfeld zurückließ, auf dem sein Sohn unruhige Blicke zur Seitenliniewarf. Er winkte ihm zu, aber sein Sohn sah ihn nicht, er winkte wilder, schrielauter, aber sein Sohn sah nur noch resignierter aus, bis er aus Verwirrungoder aus Protest ein Eigentor schoß. Dann die junge Frau am Bücherregal, diebewundernden Blicke. Sie gehen die große Straße entlang, eifrig ihregenerationsübergreifende Liebe demonstrierend. Auf der anderen Seite zweivöllig reglose Gestalten, seine Frau und sein Sohn, und er sieht sie, bleibtstehen und gibt ihr einen langen Kuß. Er joggt, trainiert. Die kleine Nadel dringtin die Kopfhaut ein, wieder und wieder, und endlich ist die üppige Mähnewieder am Platz. Sein Mobiltelefon klingelt während der Debatte auf derBuchmesse, neuer Sohn, die Champagnerkorken knallen, und als er nach Hausekommt, sind sie fort. Und wieder liest er, und in einem letztenBewußtseinsschub denkt er, daß etwas von all dem, was er gelesen undgeschrieben hat, vorüberfliegen sollte, doch das einzige, was er sieht, ist erselbst, lesend und schreibend, und in einer letzten glänzenden Klarheit, dieihm das Gefühl eingibt, in Aufrichtigkeit zu sterben, erkennt er, daß nichtsvon dem, was er gelesen und geschrieben hat, irgend etwas bedeutet. Er hätteebensogut etwas ganz anderes tun können.
Er denkt andie Drohungen. »Niemand wird deine Schreie hören können.« Daran, daß er dieDrohungen nicht ernst nahm. Weil er vermutete ... Ein letzter Schmerzschublöscht den letzten Gedankengang aus.
Dannbeginnt das Ende. Der Schmerz verebbt. Die Bilder sind jetzt schnell. Als wärees eilig.
Er geht imDemonstrationszug, der Polizist hebt den Schlagstock über ihm. Er steht imSommergarten, das Pferd kommt immer rascher auf ihn zu. Eine kleineBlindschleiche gleitet in seine Gummistiefel und windet sich zwischen seinenZehen. Der Vater schaut zerstreut auf seine Zeichnung der riesigen Schlange.Die Wolken ziehen über der Kante des Verdecks vorbei, und er meint eineKatze zu sehen, die sich da oben bewegt. Süße Milch spritzt über sein Gesicht.Der dicke hellgrüne Strang weist den Weg, und er treibt durch dunkle, fleischigeKanäle.
Dann treibt er nicht mehr.
Irgendwo denkt es: »Was für eine schäbige Art zu sterben.«
© der deutschsprachigen Ausgabe: 2003 Piper Verlag GmbH,München
Übersetzung: Wolfgang Butt
Wolfgang Butt zählt zu den meistgelesenen Übersetzern aus den nordischen Sprachen, mit Übertragungen von Per Olov Enquist, Henning Mankell, Arne Dahl, Zlatan Ibrahimovic u. a.
- Autor: Arne Dahl
- 2004, 384 Seiten, Maße: 12 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Wolfgang Butt
- Verlag: Piper
- ISBN-10: 3492242855
- ISBN-13: 9783492242851
- Erscheinungsdatum: 23.11.2004
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