Brennen muss die Hexe
Kriminalroman. Originalausgabe
Lemfeld wird Schauplatz einer grausamen Mordserie. Frauen werden erst brutal gefoltert und dann auf einem Scheiterhaufen verbrannt. Zurück bleibt nur die Botschaft "Für immer. A. G.". Den Ermittlern bleibt nicht mehr viel Zeit, denn die Walpurgisnacht steht kurz bevor.
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Produktinformationen zu „Brennen muss die Hexe “
Lemfeld wird Schauplatz einer grausamen Mordserie. Frauen werden erst brutal gefoltert und dann auf einem Scheiterhaufen verbrannt. Zurück bleibt nur die Botschaft "Für immer. A. G.". Den Ermittlern bleibt nicht mehr viel Zeit, denn die Walpurgisnacht steht kurz bevor.
Klappentext zu „Brennen muss die Hexe “
Eine grauenvolle Mordserie versetzt die Bürger von Lemfeld in Angst und Schrecken. Ein Wahnsinniger verbrennt Frauen auf dem Scheiterhaufen, nachdem er sie nach mittelalterlichen Methoden brutal gefoltert hat. "Für immer. A.G." - diese kryptische Botschaft hinterlässt der Mörder am Tatort. Die SOKO "Flammenhimmel" ermittelt unter Hochdruck. Denn Polizeipsychologin Alexandra von Stietencron befürchtet, die bevorstehende Walpurgisnacht könnte in einem Blutbad enden ...
Lese-Probe zu „Brennen muss die Hexe “
Brennen muss die Hexe von Sven Koch1.
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Als sie die Augen öffnete, war es zunächst, als blicke sie durch eine beschlagene oder mit einem öligen Film überzogene Fensterscheibe. Erst langsam wichen die Schlieren. Die blassen und verwischten Farbflächen fügten sich zu einem Muster zusammen, das zunehmend an Details gewann und ihr schließlich verriet, wo sie sich befand. Entsetzen stieg in ihr auf, als ihr bewusst wurde, dass alles, was er ihr bislang angetan hatte, nichts gegen das war, was noch vor ihr lag.
Mit jeder Sekunde, die sie an Klarheit gewann, traten auch die Schmerzen wieder stärker in den Vordergrund. Ihr Körper schien eine einzige Wunde zu sein. Die Schultergelenke fühlten sich an, als seien sie zertrümmert worden. Die Haut brannte an vielen Stellen wie verätzt. Bei jedem Versuch, sich zu bewegen, schnitten Fesseln scharf in ihre Handgelenke. Im Rücken spürte sie die rauhe Rinde eines Baumstamms oder eines Pfahls. Als sie an ihrem nackten Körper hinabblickte, sah sie ihre blutverkrusteten Füße. Sie waren mit einem Metalldraht festgebunden worden. Erst beim zweiten Hinsehen erkannte sie, dass sie auf einem Holzstapel stand, zwischen dessen Scheiten trockenes Reisig steckte.
Ihr Herz schlug schneller, wollte ihr in der Brust zerspringen. Der Atem jagte, und mit hektischen Blicken nach links und rechts suchte sie den Steinkreis ab, in dessen Mitte sie sich befand. Sie erkannte ihn wieder. Oft hatte sie hier gekniet, Rituale an dem jahrtausendealten Kraftort vollzogen. Doch nun wirkten die mit Moos überzogenen Megalithen in der grauen Dämmerung nicht mehr wie Vertraute, sondern wie Ankläger, die dunklen Mitglieder eines Tribunals, das sie zu ewiger Verdammnis verurteilt hatte. Über ihnen kreisten Raben krächzend im fahlen Himmel. Die schwarzen Äste der kahlen Buchen und Eichen bogen sich knarrend im Wind der vom See her wehenden Brise und griffen wie die dürren, knochigen Finger des Todes nach den Vögeln.
Von ihm, dem Richter und Vollstrecker, fehlte jede Spur.
Was sie bereits erlitten hatte, konnte von keinem Wesen begangen worden sein, in dem noch ein Funke Menschlichkeit glomm. Dennoch glaubte sie nicht, dass der Richter wirklich das war, wofür er sich ausgegeben hatte. Hoffte es. Andererseits: Ein Fluch war ein Fluch, und sie wusste, welche Macht ein solcher Zauber haben konnte.
Wer oder was auch immer er letztlich war - er war nun offenbar fort. Möglicherweise hatten Spaziergänger ihn verschreckt, und dann, ja dann wäre ohnehin klar, dass er aus Fleisch und Blut bestehen musste. Dass er Angst kannte. Dass er nur ein extrem gewalttätiger, perverser Vergewaltiger war oder jemand, der ein unmissverständliches Signal setzen wollte - und dass es jetzt eine Chance geben konnte, sich zu befreien.
Sie wollte schreien, brachte aber nicht mehr als ein ersticktes Fiepen zustande. Kein Wunder, denn ein Knebel aus Stoff steckte in ihrem Mund, vollgesogen mit Blut, das ihr bereits warm am Kinn herabtroff.
Da hörte sie hinter sich ein Geräusch. Es klang, als werde ein Bettlaken ausgeschüttelt. Wie eine Fahne, die im Wind schlug. Sie begriff, dass der Richter doch nicht gegangen war. Er war noch immer hier, schwenkte eine Fackel in der Hand und stellte sich nun vor sie hin.
»Du kennst dein Schicksal«, hörte sie seine sonore Stimme wie durch Watte.
Die letzte Chance - vertan. Und ja, sie kannte ihr Schicksal, obwohl sie es immer noch nicht begreifen konnte. Paradoxerweise war ihr mit einem Mal, als sei alle Furcht aus ihr gewichen und nichts als Leere zurückgeblieben. Lethargie nach dem Verschwinden in sich selbst. Sonst die erste Stufe eines entrückten Zustands, den sie aus den Ritualen kannte, wenn sie in die Anderswelt driftete. Doch die Trance, in die sie nun zu gleiten schien, war durch einen Schutzmechanismus hervorgerufen worden, der sich jeder Kontrolle entzog und unter der Bezeichnung »Hexenschlaf« bekannt war. Eine Flucht des Bewusstseins vor dem Schmerz. Der verzweifelte Versuch, sich vor den Qualen des Feuers zu verstecken. »Es wird Zeit.« Der dunkle Schatten, der die hell leuchtende Fackel in der Hand hielt, verwuchs mit den Menhiren des Steinkreises zu einer Einheit.
Sie nickte, neigte das Gesicht nach vorne, schnellte dann zurück und schlug mit aller Kraft den Hinterkopf gegen den Pfahl. Beugte sich nach vorne. Schlug wieder nach hinten. Vor. Zurück. Vor. Zurück. »Du hast mich nach Gründen gefragt, aber es gibt kein Warum.« Vor. Zurück. Vor. Zurück. Sie sah sich über grüne Wiesen tanzen. In einem weißen Kleid. Das rote Haar vom Sommerwind zerzaust. Der Geruch von frischem Gras. Eine Melodie. So süß und glockenhell.
»Ich werde dich nicht auffordern, zu entsagen oder zu widerrufen. Daran habe ich kein Interesse, und dein Urteil war längst gefällt. Ich mache lediglich meine Arbeit und du deinen Frieden mit Gott - oder wem auch immer.«
Vor. Zurück. Vor. Zurück. Etwas Warmes, Klebriges lief ihr über den Nacken.
Er schob die Fackel in das Reisig zwischen den Holzscheiten. Knisternd flammte das Feuer auf. Sein Widerschein strahlte rot von den rauhen Megalithen des Steinkreises, erhellte sein Inneres mit flackernden, tanzenden Schemen und Geistern.
Sie summte nun die Melodie. Sog die Luft durch die Nase ein. Inhalierte den aufsteigenden weißen Rauch so tief wie möglich, um sich zu vergiften, und schlug weiter mit dem Hinterkopf gegen den Pfahl, um sich den Schädel zu brechen. Rote Tränen liefen ihr die Wangen hinab.
»Brenne in der Hölle«, sagte der Mann. Er griff neben sich und hielt nun eine Blume in der Hand. Sie sah aus wie eine Lilie. Er warf sie in die Flammen. Dann ging er.
Vor. Zurück. Vor. Zurück.
Ihre Atemzüge wurden heftiger. Aus ihrem Singen wurde ein Keuchen. Ein hektisches Schnaufen. Sie blickte an sich herab und sah, wie die Flammen aus dem Scheiterhaufen nach oben schlugen.
Sie wollte kreischen, sog verzweifelt an dem Knebel, um sich zu ersticken. Hielt die Luft an, weil es nicht gelang. Doch als das Feuer schließlich ihre Füße erreichte, musste sie erneut schreien. Wieder und wieder.
Der Schmerz hatte seinen eigenen Plan.
2.
Warmes Sonnenlicht beschien die Filiale der Volksbank. Man hätte annehmen können, dass hinter der Schiebetür aus Glas die Kunden und Angestellten ihren Geschäften wie an jedem Tag nachgingen. Es gab keinen Anlass zu vermuten, dass heute etwas anders war als sonst. Doch Alex wusste es besser. In der Filiale war vor wenigen Minuten Alarm ausgelöst worden, und das war nicht grundlos geschehen. Sie fuhr sich mit den Fingern durch die schwarze Mähne. Dann senkte sie die Arme und betrachtete das Gebäude. Wartete. Aber nichts geschah. Noch nicht.
Die beiden Polizisten direkt vor Alex traten einen Schritt vor. Der Mann mit der roten Brille und die Frau mit den blonden Haaren wechselten einen Blick. Dann legten sie die Sicherungsbügel an ihren Holstern um. Instinktiv glitt Alex' rechte Hand ebenfalls an die Hüfte, ertastete dort aber nicht mehr als die Naht einer Jeans. Mit einem Zischen öffnete sich die Glastür. Ein Mann trat heraus. Vor sich schob er eine Geisel her. Eine Kundin oder eine Angestellte. Alex erkannte, dass der Geiselnehmer ihr einen Revolver an den Kopf hielt. Sofort zogen die beiden Kollegen ihre Pistolen und zielten auf den Maskierten.
»Waffe runter!«, riefen beide unisono.
»Verpisst euch, oder ich blase der Frau das Gehirn aus dem Schädel«, brüllte der Mann zurück.
Dann schien der Maskierte neben sich etwas zu bemerken - einen Passanten oder möglicherweise einen weiteren Polizisten. Er löste die Waffe vom Kopf der Frau, zielte nach rechts und hielt seine Geisel weiter wie einen Schutzschild vor sich.
»Haut ab, habe ich gesagt!«, brüllte er jetzt in die andere Richtung. »Zieht Leine, oder ... «
Weiter kam er nicht. Zwei Schüsse krachten. Zwei messingfarbene Hülsen sprangen aus der Dienstwaffe der blonden Polizistin. Der Geiselnehmer stürzte nach hinten und blieb regungslos auf dem Boden liegen. Nur eine Sekunde später stand er mit der gleichen Bewegung wieder auf, als würde ein Film rückwärts abgespielt. Im nächsten Moment hielt er seine Geisel wieder umfangen.
»Cool«, sagte die Polizistin und steckte ihre Dienstwaffe zurück. Zwei rote Kreise auf der Leinwand markierten die beiden Kopftreffer. Daneben erkannte Alex einen weißen Mauszeiger, der sich flink über das Standbild bewegte. Die Stimme des Schießtrainers unterbrach das leise Dauerfiepen in den Kunststoffkapseln über ihren Ohren. »Das war superriskant und eigentlich eher eine Sache für Präzisionsschützen - aber: zwei Prachtschüsse. Beide sauber in den Kopf, Finja.«
Die Kollegin lächelte und nahm ihren Gehörschutz ab. »Klar. Weiß ich.« Dann wendete sie sich zu Alex. »Echt cool, das neue Schießkino, oder?«
Alex nickte und rümpfte die Nase. Es stank nach Schießpulver. Die Anlage gehörte zu den Neuerungen der Behörde. Geiler als jeder Ego-Shooter für die PlayStation, hatte Alex sagen hören. Was es ganz gut traf. Die Kollegen standen geradezu Schlange, um das Kino auszuprobieren und die Videos zu testen, deren Geschehen der Schießtrainer vom Laptop aus je nach Reaktion beeinflussen konnte. Die Technik und die fließenden Bewegungen zwischen den Szenen waren faszinierend, doch Alex interessierte sich vor allem für die Stressbelastung der Kollegen - und die Reaktion der Kollegin Finja, die Alex als Probandin für ihre Untersuchung ausgewählt hatte.
»Nicht schlecht für 'ne Anfängerin«, sagte der andere Streifenpolizist, grinste breit und schob sich die rote Brille auf der Nase zurecht. Finja lachte laut. Alex rollte mit den Augen. »Naturtalent«, entgegnete der Schießtrainer und hackte etwas in die Laptop-Tastatur. Es klickte unnatürlich laut - ein akustischer Effekt der komplexen Schaltung im Gehörschutz. Sie hob den Pegel leiser Geräusche an, ließ Stimmen einigermaßen natürlich klingen und machte im Bruchteil einer Hundertstelsekunde komplett dicht, wenn ein Schuss fiel. Alex nahm die Kapseln ab und wendete sich zu Finja. »Können wir?«
Finja zuckte müde mit den Schultern. »Geht ja wohl nicht anders, oder?«
»Nein. Geht nicht anders.«
»Okay.« Sie nahm ihre Schutzbrille ab.
Wenige Minuten später saß Finja Werner in dem schweren Ledersessel, den Alex für ihr Büro genehmigt bekommen hatte, und versuchte, entspannt zu wirken. Sie glich einem Negativabzug von Alex. Ihr blondes Haar war zu einem dicken Bauernzopf geflochten, die Haut solariumgebräunt, die Fingernägel billig manikürt. Alex hingegen trug ihr langes schwarzes Haar offen sowie statt eines grünen Uniformpullovers eine blutrote Bluse. Ihre Haut war blass und der Mund wie fast immer kirschrot geschminkt, weswegen Alex' beste Freundin Helen ihr schon vor Jahren in der Polizeiausbildung den Spitznamen »Schneewittchen« verpasst hatte. »Wie fühlt es sich für dich an, wenn du so etwas hörst: ›Nicht schlecht für eine Anfängerin‹?« Alex hob fragend eine Augenbraue. Finja rutschte im Sessel herum. Ihre Körpersprache war eindeutig. Sie fühlte sich unwohl, was in der Natur der Sache lag. Polizistinnen waren schwer zu knacken. Der Korpsgeist verbot es, Kollegen in die Pfanne hauen. Zudem reagierten Frauen bei der Polizei gelegentlich dazu, männliche Verhaltensweisen zu adaptieren sowie mögliche Diskriminierungen nicht als herabwürdigenden Angriff, sondern als eigene Schwäche wahrzunehmen, und Schwäche gaben sie ungern zu. Dazu kam die Schwellenangst: Niemand mochte mit einem Psychologen über sich selbst reden, wenn es nicht unbedingt sein musste. Andere könnten ja denken, man habe einen an der Murmel.
Als statt einer Antwort nur ein Schulterzucken von der Polizistin kam, fügte Alex mit einem schwachen Lächeln an: »Du bist eine attraktive Frau, da wird sicher die eine oder andere doofe Zote gerissen.«
»Pff«, machte Finja, lächelte aber wegen des Kompliments. »Ja, sicher«, fügte sie schließlich hinzu »Aber das vorhin war doch nur ein Witz. Die wissen doch eh, dass ich besser schieße als sie.« »Mhm, kann man so oder so sehen.« Alex machte eine Notiz auf dem Fragebogen, während ihr die vielen dummen Sprüche ihrer Anfangszeit wieder in den Sinn kamen. Noch vor fast einem Jahr hatte sie hart kämpfen müssen, um sich bei den Kollegen durchzusetzen. »Und wie ist das draußen?«, fragte sie. »Erlebst du häufiger, dass du bei Verkehrskontrollen, der Aufnahme von Unfällen oder bei anderen Gelegenheiten blöd behandelt wirst?«
Finja, die nach Alex' Unterlagen wie sie selbst knapp über dreißig war, verschränkte die Arme vor der Brust und schlug die Beine übereinander. »Ähm, spreche ich jetzt mit der Gleichstellungsbeauftragten, oder was wird das für eine komische Untersuchung?« Alex lächelte, legte den Kuli auf ihren blitzsauberen Schreibtisch und faltete die Hände. »Nein, ich bin nicht die Gleichstellungsbeauftragte, wie du weißt.« Alex holte Luft, um noch einmal ausführlich zu erklären, dass sie als Polizeipsychologin in Lemfeld ein auf drei Jahre angesetztes Pilotprojekt des Landes NRW betreute, worin es um Teamentwicklung, Coaching, psychosoziale Betreuung, Präventionskonzepte und am Rande um Unterstützung und Fachberatung bei Einsätzen ging. Sie hätte danach ergänzt, dass sie ein paar Semester Medizin studiert, in Psychologie abgeschlossen sowie Praktika in forensischen Psychiatrien und kriminologischen Instituten sowie ein Studium beim BKA inklusive der Polizeiausbildung absolviert hatte, damit sie jetzt und hier sitzen und tussigen Polizistinnen dumme Fragen stellen konnte - aber Finja wedelte abwehrend mit den Händen.
»Dass du Polizeipsychologin bist, weiß ich ja.«
»Eine Polizistin, die auch Psychologin ist, gefällt mir besser«, korrigierte Alex.
Finja lächelte entschuldigend. »Da war doch letztes Jahr auch diese Sache ... «
»... mit dem Purpurdrachen, ja.«
»War heftig, oder?« Finja nickte anerkennend.
»So könnte man es ausdrücken. Aber zurück zu unserem Thema«, sagte Alex und löste ihren Blick von Finjas mit Acryl beklebten Fingernägeln, »zu der Studie des Innenministeriums über die Situation von Frauen bei der Polizei - ich habe sie mir nicht ausgedacht, aber ich muss sie umsetzen, okay?«
»Okay.« Finja ließ es wie eine Frage klingen.
Alex wartete einen Moment, bevor sie wieder nach dem Kugelschreiber griff, auf die Blätter vor sich sah und wie beiläufig fragte: »Dich hat noch kein Besoffener ›dumme Schlampe‹ oder ›blöde Nutte‹ genannt? Es ist noch kein Unfallbeteiligter mit seinen Papieren an dir vorbeigegangen und hat sie lieber einem männlichen Kol legen in die Hand gedrückt? Kein Rentner, der dich ›Fräulein‹ genannt und gesagt hat: Oh, Sie wären aber besser auf dem Laufsteg aufgehoben? Niemand, der deine Handynummer wollte?« Die Polizistin zog an der hellbraunen Uniformhose eine Falte glatt. »Pff, ja sicher, aber das weißt du doch selbst, wie das ist. Außerdem gehen die Kollegen ganz gut damit um, finde ich, und ich kann mich durchaus auch selbst zur Wehr setzen.«
»Ja, ich weiß, wie das ist«, sagte Alex, ohne aufzuschauen, »aber ich gewöhne mich da nicht dran, und um mich geht es hier nicht. Also war das ein Ja?«
»Ähm, ja, sicher, was denn sonst«, lachte die Polizistin auf und schüttelte verständnislos den Kopf.
»Gut.« Alex nickte, machte ein Kreuz auf dem Fragebogen und atmete tief durch.
Die Tür öffnete sich. Bevor Alex dagegen protestieren konnte, dass es sich jemand herausnahm, ohne anzuklopfen ihr Büro zu betreten, erkannte sie durch den Türspalt das runde Gesicht und die kleinen Schweinsäuglein von Rolf Schneider und klappte den Mund wieder zu. Er hatte den Griff mit dem Ellbogen heruntergedrückt, balancierte zwei Kaffeetassen in den Händen und drängte den fülligen Körper durch den Türspalt.
»Mein Gott, das kann doch jetzt wohl nicht wahr sein!« Alex warf entnervt ihren Kuli auf den Schreibtisch.
»Doch«, sagte Rolf. »Ich bin es persönlich.«
»Und deswegen kannst du hier einfach so reinplatzen, oder wie? Hast du schon mal was von Anklopfen gehört? Ich bin gerade mitten in einem Gespräch, und ich schätze es nicht besonders, wenn ...«
»Vielleicht lässt sich das Teekränzchen ja später fortsetzen«, schnitt Schneider Alex das Wort ab, nickte der Polizistin kurz zu und stellte sich mit »Schneider, Kripo« vor, worauf sie knapp mit »Finja Werner, hallo« und Schneider mit »Ich weiß« antwortete.
»Siehst du, Finja«, sagte Alex und strich sich energisch eine Strähne aus dem Gesicht, »genau das habe ich gemeint: Bemerkungen wie Teekränzchen, bloß ... «
»Bin ich fertig?« Finja nahm ihre Chance wahr und stand auf. Alex winkte genervt ab. »Ja, wie es aussieht, schon. Wir setzen das dann ein andermal ... «, begann sie, doch bevor sie den Satz beendet hatte, war Finja schon grußlos aus der Tür geschlüpft und schloss sie fest hinter sich.
Schneider stellte Alex einen Kaffee hin und ließ sich ächzend in den Sessel plumpsen. Er schlug die Beine übereinander, die heute in einer khakifarbenen, weit über den gewaltigen Bauch hochgezogenen Bundfaltenhose steckten. In der Brusttasche seines hellblauen Hemdes klemmte ein Kugelschreiber. Die Ärmel waren aufgekrempelt und offenbarten außer den mit Sommersprossen besprenkelten Unterarmen auch die teure Uhr, die Rolf sich zum fünfundzwanzigjährigen Dienstjubiläum vor drei Monaten im Januar gegönnt hatte. Ihr schwarzes Lederarmband schnitt tief in das speckige Handgelenk ein.
»Wenigstens hat die Kollegin den Sessel mit ihrem knackigen Hintern schön vorgewärmt. Ich hoffe, ich bin nicht mitten in eine Therapiestunde geplatzt?«
»Nein.« Alex legte den Kuli zurück auf den Tisch und griff nach der Tasse. Dünner Polizeikaffee. Dem Geruch nach zu urteilen außerdem in einer Thermoskanne gut gereift. Alex schob die Tasse beiseite. »Natürlich war das keine Therapiestunde. Nur eine Befragung. Es geht um Handlungsempfehlungen für rollenspezifische Probleme, zum Beispiel den Umgang mit Bemerkungen über knackige Hintern.«
»Mhm. Soll ich lieber über dicke Hintern reden?«
Typisch. Rolf führte sich oft auf wie die Axt im Walde, aber Alex wusste mittlerweile, dass sein prolliger Charme nur eine Masche war - vielleicht sogar ein Schutz. Tatsächlich war Schneider hochsensibel, hatte einen feinen Sinn für Ironie, und hinter der Fassade arbeitete ein glasklarer Verstand, den er gelegentlich gut zu verstecken wusste. Alex sparte sich die Antwort auf seine Frage und sah Schneider direkt an. Er ignorierte den Blick, nahm einen Schluck Kaffee und wuschelte sich durch die strohblonden Haare am Hinterkopf. »Tut mir leid, dass ich deine Ermittlungen stören muss.« »Mir ebenfalls.«
»Schon mal von dem Druidenkreis am Stausee gehört?« Alex verneinte.
Schneider leerte die Tasse in einem Zug. »Dann wird's Zeit, Frau Doktor.«
...
© 2012 Knaur Taschenbuch
Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt
Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
Als sie die Augen öffnete, war es zunächst, als blicke sie durch eine beschlagene oder mit einem öligen Film überzogene Fensterscheibe. Erst langsam wichen die Schlieren. Die blassen und verwischten Farbflächen fügten sich zu einem Muster zusammen, das zunehmend an Details gewann und ihr schließlich verriet, wo sie sich befand. Entsetzen stieg in ihr auf, als ihr bewusst wurde, dass alles, was er ihr bislang angetan hatte, nichts gegen das war, was noch vor ihr lag.
Mit jeder Sekunde, die sie an Klarheit gewann, traten auch die Schmerzen wieder stärker in den Vordergrund. Ihr Körper schien eine einzige Wunde zu sein. Die Schultergelenke fühlten sich an, als seien sie zertrümmert worden. Die Haut brannte an vielen Stellen wie verätzt. Bei jedem Versuch, sich zu bewegen, schnitten Fesseln scharf in ihre Handgelenke. Im Rücken spürte sie die rauhe Rinde eines Baumstamms oder eines Pfahls. Als sie an ihrem nackten Körper hinabblickte, sah sie ihre blutverkrusteten Füße. Sie waren mit einem Metalldraht festgebunden worden. Erst beim zweiten Hinsehen erkannte sie, dass sie auf einem Holzstapel stand, zwischen dessen Scheiten trockenes Reisig steckte.
Ihr Herz schlug schneller, wollte ihr in der Brust zerspringen. Der Atem jagte, und mit hektischen Blicken nach links und rechts suchte sie den Steinkreis ab, in dessen Mitte sie sich befand. Sie erkannte ihn wieder. Oft hatte sie hier gekniet, Rituale an dem jahrtausendealten Kraftort vollzogen. Doch nun wirkten die mit Moos überzogenen Megalithen in der grauen Dämmerung nicht mehr wie Vertraute, sondern wie Ankläger, die dunklen Mitglieder eines Tribunals, das sie zu ewiger Verdammnis verurteilt hatte. Über ihnen kreisten Raben krächzend im fahlen Himmel. Die schwarzen Äste der kahlen Buchen und Eichen bogen sich knarrend im Wind der vom See her wehenden Brise und griffen wie die dürren, knochigen Finger des Todes nach den Vögeln.
Von ihm, dem Richter und Vollstrecker, fehlte jede Spur.
Was sie bereits erlitten hatte, konnte von keinem Wesen begangen worden sein, in dem noch ein Funke Menschlichkeit glomm. Dennoch glaubte sie nicht, dass der Richter wirklich das war, wofür er sich ausgegeben hatte. Hoffte es. Andererseits: Ein Fluch war ein Fluch, und sie wusste, welche Macht ein solcher Zauber haben konnte.
Wer oder was auch immer er letztlich war - er war nun offenbar fort. Möglicherweise hatten Spaziergänger ihn verschreckt, und dann, ja dann wäre ohnehin klar, dass er aus Fleisch und Blut bestehen musste. Dass er Angst kannte. Dass er nur ein extrem gewalttätiger, perverser Vergewaltiger war oder jemand, der ein unmissverständliches Signal setzen wollte - und dass es jetzt eine Chance geben konnte, sich zu befreien.
Sie wollte schreien, brachte aber nicht mehr als ein ersticktes Fiepen zustande. Kein Wunder, denn ein Knebel aus Stoff steckte in ihrem Mund, vollgesogen mit Blut, das ihr bereits warm am Kinn herabtroff.
Da hörte sie hinter sich ein Geräusch. Es klang, als werde ein Bettlaken ausgeschüttelt. Wie eine Fahne, die im Wind schlug. Sie begriff, dass der Richter doch nicht gegangen war. Er war noch immer hier, schwenkte eine Fackel in der Hand und stellte sich nun vor sie hin.
»Du kennst dein Schicksal«, hörte sie seine sonore Stimme wie durch Watte.
Die letzte Chance - vertan. Und ja, sie kannte ihr Schicksal, obwohl sie es immer noch nicht begreifen konnte. Paradoxerweise war ihr mit einem Mal, als sei alle Furcht aus ihr gewichen und nichts als Leere zurückgeblieben. Lethargie nach dem Verschwinden in sich selbst. Sonst die erste Stufe eines entrückten Zustands, den sie aus den Ritualen kannte, wenn sie in die Anderswelt driftete. Doch die Trance, in die sie nun zu gleiten schien, war durch einen Schutzmechanismus hervorgerufen worden, der sich jeder Kontrolle entzog und unter der Bezeichnung »Hexenschlaf« bekannt war. Eine Flucht des Bewusstseins vor dem Schmerz. Der verzweifelte Versuch, sich vor den Qualen des Feuers zu verstecken. »Es wird Zeit.« Der dunkle Schatten, der die hell leuchtende Fackel in der Hand hielt, verwuchs mit den Menhiren des Steinkreises zu einer Einheit.
Sie nickte, neigte das Gesicht nach vorne, schnellte dann zurück und schlug mit aller Kraft den Hinterkopf gegen den Pfahl. Beugte sich nach vorne. Schlug wieder nach hinten. Vor. Zurück. Vor. Zurück. »Du hast mich nach Gründen gefragt, aber es gibt kein Warum.« Vor. Zurück. Vor. Zurück. Sie sah sich über grüne Wiesen tanzen. In einem weißen Kleid. Das rote Haar vom Sommerwind zerzaust. Der Geruch von frischem Gras. Eine Melodie. So süß und glockenhell.
»Ich werde dich nicht auffordern, zu entsagen oder zu widerrufen. Daran habe ich kein Interesse, und dein Urteil war längst gefällt. Ich mache lediglich meine Arbeit und du deinen Frieden mit Gott - oder wem auch immer.«
Vor. Zurück. Vor. Zurück. Etwas Warmes, Klebriges lief ihr über den Nacken.
Er schob die Fackel in das Reisig zwischen den Holzscheiten. Knisternd flammte das Feuer auf. Sein Widerschein strahlte rot von den rauhen Megalithen des Steinkreises, erhellte sein Inneres mit flackernden, tanzenden Schemen und Geistern.
Sie summte nun die Melodie. Sog die Luft durch die Nase ein. Inhalierte den aufsteigenden weißen Rauch so tief wie möglich, um sich zu vergiften, und schlug weiter mit dem Hinterkopf gegen den Pfahl, um sich den Schädel zu brechen. Rote Tränen liefen ihr die Wangen hinab.
»Brenne in der Hölle«, sagte der Mann. Er griff neben sich und hielt nun eine Blume in der Hand. Sie sah aus wie eine Lilie. Er warf sie in die Flammen. Dann ging er.
Vor. Zurück. Vor. Zurück.
Ihre Atemzüge wurden heftiger. Aus ihrem Singen wurde ein Keuchen. Ein hektisches Schnaufen. Sie blickte an sich herab und sah, wie die Flammen aus dem Scheiterhaufen nach oben schlugen.
Sie wollte kreischen, sog verzweifelt an dem Knebel, um sich zu ersticken. Hielt die Luft an, weil es nicht gelang. Doch als das Feuer schließlich ihre Füße erreichte, musste sie erneut schreien. Wieder und wieder.
Der Schmerz hatte seinen eigenen Plan.
2.
Warmes Sonnenlicht beschien die Filiale der Volksbank. Man hätte annehmen können, dass hinter der Schiebetür aus Glas die Kunden und Angestellten ihren Geschäften wie an jedem Tag nachgingen. Es gab keinen Anlass zu vermuten, dass heute etwas anders war als sonst. Doch Alex wusste es besser. In der Filiale war vor wenigen Minuten Alarm ausgelöst worden, und das war nicht grundlos geschehen. Sie fuhr sich mit den Fingern durch die schwarze Mähne. Dann senkte sie die Arme und betrachtete das Gebäude. Wartete. Aber nichts geschah. Noch nicht.
Die beiden Polizisten direkt vor Alex traten einen Schritt vor. Der Mann mit der roten Brille und die Frau mit den blonden Haaren wechselten einen Blick. Dann legten sie die Sicherungsbügel an ihren Holstern um. Instinktiv glitt Alex' rechte Hand ebenfalls an die Hüfte, ertastete dort aber nicht mehr als die Naht einer Jeans. Mit einem Zischen öffnete sich die Glastür. Ein Mann trat heraus. Vor sich schob er eine Geisel her. Eine Kundin oder eine Angestellte. Alex erkannte, dass der Geiselnehmer ihr einen Revolver an den Kopf hielt. Sofort zogen die beiden Kollegen ihre Pistolen und zielten auf den Maskierten.
»Waffe runter!«, riefen beide unisono.
»Verpisst euch, oder ich blase der Frau das Gehirn aus dem Schädel«, brüllte der Mann zurück.
Dann schien der Maskierte neben sich etwas zu bemerken - einen Passanten oder möglicherweise einen weiteren Polizisten. Er löste die Waffe vom Kopf der Frau, zielte nach rechts und hielt seine Geisel weiter wie einen Schutzschild vor sich.
»Haut ab, habe ich gesagt!«, brüllte er jetzt in die andere Richtung. »Zieht Leine, oder ... «
Weiter kam er nicht. Zwei Schüsse krachten. Zwei messingfarbene Hülsen sprangen aus der Dienstwaffe der blonden Polizistin. Der Geiselnehmer stürzte nach hinten und blieb regungslos auf dem Boden liegen. Nur eine Sekunde später stand er mit der gleichen Bewegung wieder auf, als würde ein Film rückwärts abgespielt. Im nächsten Moment hielt er seine Geisel wieder umfangen.
»Cool«, sagte die Polizistin und steckte ihre Dienstwaffe zurück. Zwei rote Kreise auf der Leinwand markierten die beiden Kopftreffer. Daneben erkannte Alex einen weißen Mauszeiger, der sich flink über das Standbild bewegte. Die Stimme des Schießtrainers unterbrach das leise Dauerfiepen in den Kunststoffkapseln über ihren Ohren. »Das war superriskant und eigentlich eher eine Sache für Präzisionsschützen - aber: zwei Prachtschüsse. Beide sauber in den Kopf, Finja.«
Die Kollegin lächelte und nahm ihren Gehörschutz ab. »Klar. Weiß ich.« Dann wendete sie sich zu Alex. »Echt cool, das neue Schießkino, oder?«
Alex nickte und rümpfte die Nase. Es stank nach Schießpulver. Die Anlage gehörte zu den Neuerungen der Behörde. Geiler als jeder Ego-Shooter für die PlayStation, hatte Alex sagen hören. Was es ganz gut traf. Die Kollegen standen geradezu Schlange, um das Kino auszuprobieren und die Videos zu testen, deren Geschehen der Schießtrainer vom Laptop aus je nach Reaktion beeinflussen konnte. Die Technik und die fließenden Bewegungen zwischen den Szenen waren faszinierend, doch Alex interessierte sich vor allem für die Stressbelastung der Kollegen - und die Reaktion der Kollegin Finja, die Alex als Probandin für ihre Untersuchung ausgewählt hatte.
»Nicht schlecht für 'ne Anfängerin«, sagte der andere Streifenpolizist, grinste breit und schob sich die rote Brille auf der Nase zurecht. Finja lachte laut. Alex rollte mit den Augen. »Naturtalent«, entgegnete der Schießtrainer und hackte etwas in die Laptop-Tastatur. Es klickte unnatürlich laut - ein akustischer Effekt der komplexen Schaltung im Gehörschutz. Sie hob den Pegel leiser Geräusche an, ließ Stimmen einigermaßen natürlich klingen und machte im Bruchteil einer Hundertstelsekunde komplett dicht, wenn ein Schuss fiel. Alex nahm die Kapseln ab und wendete sich zu Finja. »Können wir?«
Finja zuckte müde mit den Schultern. »Geht ja wohl nicht anders, oder?«
»Nein. Geht nicht anders.«
»Okay.« Sie nahm ihre Schutzbrille ab.
Wenige Minuten später saß Finja Werner in dem schweren Ledersessel, den Alex für ihr Büro genehmigt bekommen hatte, und versuchte, entspannt zu wirken. Sie glich einem Negativabzug von Alex. Ihr blondes Haar war zu einem dicken Bauernzopf geflochten, die Haut solariumgebräunt, die Fingernägel billig manikürt. Alex hingegen trug ihr langes schwarzes Haar offen sowie statt eines grünen Uniformpullovers eine blutrote Bluse. Ihre Haut war blass und der Mund wie fast immer kirschrot geschminkt, weswegen Alex' beste Freundin Helen ihr schon vor Jahren in der Polizeiausbildung den Spitznamen »Schneewittchen« verpasst hatte. »Wie fühlt es sich für dich an, wenn du so etwas hörst: ›Nicht schlecht für eine Anfängerin‹?« Alex hob fragend eine Augenbraue. Finja rutschte im Sessel herum. Ihre Körpersprache war eindeutig. Sie fühlte sich unwohl, was in der Natur der Sache lag. Polizistinnen waren schwer zu knacken. Der Korpsgeist verbot es, Kollegen in die Pfanne hauen. Zudem reagierten Frauen bei der Polizei gelegentlich dazu, männliche Verhaltensweisen zu adaptieren sowie mögliche Diskriminierungen nicht als herabwürdigenden Angriff, sondern als eigene Schwäche wahrzunehmen, und Schwäche gaben sie ungern zu. Dazu kam die Schwellenangst: Niemand mochte mit einem Psychologen über sich selbst reden, wenn es nicht unbedingt sein musste. Andere könnten ja denken, man habe einen an der Murmel.
Als statt einer Antwort nur ein Schulterzucken von der Polizistin kam, fügte Alex mit einem schwachen Lächeln an: »Du bist eine attraktive Frau, da wird sicher die eine oder andere doofe Zote gerissen.«
»Pff«, machte Finja, lächelte aber wegen des Kompliments. »Ja, sicher«, fügte sie schließlich hinzu »Aber das vorhin war doch nur ein Witz. Die wissen doch eh, dass ich besser schieße als sie.« »Mhm, kann man so oder so sehen.« Alex machte eine Notiz auf dem Fragebogen, während ihr die vielen dummen Sprüche ihrer Anfangszeit wieder in den Sinn kamen. Noch vor fast einem Jahr hatte sie hart kämpfen müssen, um sich bei den Kollegen durchzusetzen. »Und wie ist das draußen?«, fragte sie. »Erlebst du häufiger, dass du bei Verkehrskontrollen, der Aufnahme von Unfällen oder bei anderen Gelegenheiten blöd behandelt wirst?«
Finja, die nach Alex' Unterlagen wie sie selbst knapp über dreißig war, verschränkte die Arme vor der Brust und schlug die Beine übereinander. »Ähm, spreche ich jetzt mit der Gleichstellungsbeauftragten, oder was wird das für eine komische Untersuchung?« Alex lächelte, legte den Kuli auf ihren blitzsauberen Schreibtisch und faltete die Hände. »Nein, ich bin nicht die Gleichstellungsbeauftragte, wie du weißt.« Alex holte Luft, um noch einmal ausführlich zu erklären, dass sie als Polizeipsychologin in Lemfeld ein auf drei Jahre angesetztes Pilotprojekt des Landes NRW betreute, worin es um Teamentwicklung, Coaching, psychosoziale Betreuung, Präventionskonzepte und am Rande um Unterstützung und Fachberatung bei Einsätzen ging. Sie hätte danach ergänzt, dass sie ein paar Semester Medizin studiert, in Psychologie abgeschlossen sowie Praktika in forensischen Psychiatrien und kriminologischen Instituten sowie ein Studium beim BKA inklusive der Polizeiausbildung absolviert hatte, damit sie jetzt und hier sitzen und tussigen Polizistinnen dumme Fragen stellen konnte - aber Finja wedelte abwehrend mit den Händen.
»Dass du Polizeipsychologin bist, weiß ich ja.«
»Eine Polizistin, die auch Psychologin ist, gefällt mir besser«, korrigierte Alex.
Finja lächelte entschuldigend. »Da war doch letztes Jahr auch diese Sache ... «
»... mit dem Purpurdrachen, ja.«
»War heftig, oder?« Finja nickte anerkennend.
»So könnte man es ausdrücken. Aber zurück zu unserem Thema«, sagte Alex und löste ihren Blick von Finjas mit Acryl beklebten Fingernägeln, »zu der Studie des Innenministeriums über die Situation von Frauen bei der Polizei - ich habe sie mir nicht ausgedacht, aber ich muss sie umsetzen, okay?«
»Okay.« Finja ließ es wie eine Frage klingen.
Alex wartete einen Moment, bevor sie wieder nach dem Kugelschreiber griff, auf die Blätter vor sich sah und wie beiläufig fragte: »Dich hat noch kein Besoffener ›dumme Schlampe‹ oder ›blöde Nutte‹ genannt? Es ist noch kein Unfallbeteiligter mit seinen Papieren an dir vorbeigegangen und hat sie lieber einem männlichen Kol legen in die Hand gedrückt? Kein Rentner, der dich ›Fräulein‹ genannt und gesagt hat: Oh, Sie wären aber besser auf dem Laufsteg aufgehoben? Niemand, der deine Handynummer wollte?« Die Polizistin zog an der hellbraunen Uniformhose eine Falte glatt. »Pff, ja sicher, aber das weißt du doch selbst, wie das ist. Außerdem gehen die Kollegen ganz gut damit um, finde ich, und ich kann mich durchaus auch selbst zur Wehr setzen.«
»Ja, ich weiß, wie das ist«, sagte Alex, ohne aufzuschauen, »aber ich gewöhne mich da nicht dran, und um mich geht es hier nicht. Also war das ein Ja?«
»Ähm, ja, sicher, was denn sonst«, lachte die Polizistin auf und schüttelte verständnislos den Kopf.
»Gut.« Alex nickte, machte ein Kreuz auf dem Fragebogen und atmete tief durch.
Die Tür öffnete sich. Bevor Alex dagegen protestieren konnte, dass es sich jemand herausnahm, ohne anzuklopfen ihr Büro zu betreten, erkannte sie durch den Türspalt das runde Gesicht und die kleinen Schweinsäuglein von Rolf Schneider und klappte den Mund wieder zu. Er hatte den Griff mit dem Ellbogen heruntergedrückt, balancierte zwei Kaffeetassen in den Händen und drängte den fülligen Körper durch den Türspalt.
»Mein Gott, das kann doch jetzt wohl nicht wahr sein!« Alex warf entnervt ihren Kuli auf den Schreibtisch.
»Doch«, sagte Rolf. »Ich bin es persönlich.«
»Und deswegen kannst du hier einfach so reinplatzen, oder wie? Hast du schon mal was von Anklopfen gehört? Ich bin gerade mitten in einem Gespräch, und ich schätze es nicht besonders, wenn ...«
»Vielleicht lässt sich das Teekränzchen ja später fortsetzen«, schnitt Schneider Alex das Wort ab, nickte der Polizistin kurz zu und stellte sich mit »Schneider, Kripo« vor, worauf sie knapp mit »Finja Werner, hallo« und Schneider mit »Ich weiß« antwortete.
»Siehst du, Finja«, sagte Alex und strich sich energisch eine Strähne aus dem Gesicht, »genau das habe ich gemeint: Bemerkungen wie Teekränzchen, bloß ... «
»Bin ich fertig?« Finja nahm ihre Chance wahr und stand auf. Alex winkte genervt ab. »Ja, wie es aussieht, schon. Wir setzen das dann ein andermal ... «, begann sie, doch bevor sie den Satz beendet hatte, war Finja schon grußlos aus der Tür geschlüpft und schloss sie fest hinter sich.
Schneider stellte Alex einen Kaffee hin und ließ sich ächzend in den Sessel plumpsen. Er schlug die Beine übereinander, die heute in einer khakifarbenen, weit über den gewaltigen Bauch hochgezogenen Bundfaltenhose steckten. In der Brusttasche seines hellblauen Hemdes klemmte ein Kugelschreiber. Die Ärmel waren aufgekrempelt und offenbarten außer den mit Sommersprossen besprenkelten Unterarmen auch die teure Uhr, die Rolf sich zum fünfundzwanzigjährigen Dienstjubiläum vor drei Monaten im Januar gegönnt hatte. Ihr schwarzes Lederarmband schnitt tief in das speckige Handgelenk ein.
»Wenigstens hat die Kollegin den Sessel mit ihrem knackigen Hintern schön vorgewärmt. Ich hoffe, ich bin nicht mitten in eine Therapiestunde geplatzt?«
»Nein.« Alex legte den Kuli zurück auf den Tisch und griff nach der Tasse. Dünner Polizeikaffee. Dem Geruch nach zu urteilen außerdem in einer Thermoskanne gut gereift. Alex schob die Tasse beiseite. »Natürlich war das keine Therapiestunde. Nur eine Befragung. Es geht um Handlungsempfehlungen für rollenspezifische Probleme, zum Beispiel den Umgang mit Bemerkungen über knackige Hintern.«
»Mhm. Soll ich lieber über dicke Hintern reden?«
Typisch. Rolf führte sich oft auf wie die Axt im Walde, aber Alex wusste mittlerweile, dass sein prolliger Charme nur eine Masche war - vielleicht sogar ein Schutz. Tatsächlich war Schneider hochsensibel, hatte einen feinen Sinn für Ironie, und hinter der Fassade arbeitete ein glasklarer Verstand, den er gelegentlich gut zu verstecken wusste. Alex sparte sich die Antwort auf seine Frage und sah Schneider direkt an. Er ignorierte den Blick, nahm einen Schluck Kaffee und wuschelte sich durch die strohblonden Haare am Hinterkopf. »Tut mir leid, dass ich deine Ermittlungen stören muss.« »Mir ebenfalls.«
»Schon mal von dem Druidenkreis am Stausee gehört?« Alex verneinte.
Schneider leerte die Tasse in einem Zug. »Dann wird's Zeit, Frau Doktor.«
...
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Autoren-Porträt von Sven Koch
Koch, SvenSven Koch, geboren 1969, arbeitet als Redakteur bei einer Tageszeitung. Auch als Fotograf und Rockmusiker hat er sich einen Namen gemacht. Sven Koch lebt mit seiner Familie in Detmold.Mehr Infos über den Autor unter: www.sven-koch.com
Bibliographische Angaben
- Autor: Sven Koch
- 2012, 3. Aufl., 408 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426508559
- ISBN-13: 9783426508558
- Erscheinungsdatum: 16.03.2012
Rezension zu „Brennen muss die Hexe “
"Wer ein Faible für Mittelalter und Hexenverfolgung hat, findet hier einen durchweg kurzweiligen Plot, den man in einem Rutsch durchlesen kann." www.krimi-couch.de 20120601
Pressezitat
"Wer ein Faible für Mittelalter und Hexenverfolgung hat, findet hier einen durchweg kurzweiligen Plot, den man in einem Rutsch durchlesen kann." www.krimi-couch.de 20120601
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