Buch der Enttäuschungen
Was aber ist das Leben? Die Kindheit, in der die Möglichkeiten grenzenlos scheinen und wir uns auf Entdeckungsreisen begeben, von unseren Eltern jedoch mißverstanden werden?
Beginnt das Leben mit dreißig, wenn wir unsere Entscheidungen treffen - und...
Was aber ist das Leben? Die Kindheit, in der die Möglichkeiten grenzenlos scheinen und wir uns auf Entdeckungsreisen begeben, von unseren Eltern jedoch mißverstanden werden?
Beginnt das Leben mit dreißig, wenn wir unsere Entscheidungen treffen - und gleichzeitig die Angst lauert, es könnten die falschen sein? Mit fünfzig, wenn wir den Preis für diese Entscheidungen zahlen und zu Nörglern werden?
Margit Schreiners schonungsloser, unbestechlicher Blick dringt tief unter die Oberfläche menschlicher Existenz. Mit virtuoser Erzählkraft und Prägnanz beschreibt das Buch der Enttäuschungen den unaufhaltsamen Prozeß der Desillusionierung, der das Leben charakterisiert.
"Das Sterben war mir, verglichen mit meinem Leben, leichter gefallen als ich gedacht hatte. Zum letzten Mal ausatmen und niemals mehr einatmen bedarf keines großen Aufwands. Es ergibt sich fast von selbst. Wenn man erst einmal einverstanden ist."
Was aber ist das Leben? Die Kindheit, in der die Möglichkeiten grenzenlos scheinen und wir uns auf Entdeckungsreisen begeben, von unseren Eltern jedoch mißverstanden werden?
Beginnt das Leben mit dreißig, wenn wir unsere Entscheidungen treffen - und gleichzeitig die Angst lauert, es könnten die falschen sein? Mit fünfzig, wenn wir den Preis für diese Entscheidungen zahlen und zu Nörglern werden?
Margit Schreiners schonungsloser, unbestechlicher Blick dringt tief unter die Oberfläche menschlicher Existenz. Mit virtuoser Erzählkraft und Prägnanz beschreibt das Buch der Enttäuschungen den unaufhaltsamen Prozeß der Desillusionierung, der das Leben charakterisiert.
"Über Margit Schreiners Sätzen liegt, wie Bitterschokolade, ein Hauch von zartem Zynismus. Ihr Raffinement verdankt sich einer Pseudonaivität, die nicht an der Oberfläche bleibt, sondern das Normale im Abgründigen zeigt und umgekehrt. Nie verliert die Erzählerin das empfindliche Gleichgewicht zwischen Heiterkeit und Trauer, Befremden und Sympathie."
Ulrich Weinzierl, Frankfurter Allgemeine Zeitung
Buch der Enttäuschungen von Margit Schreiner
LESEPROBE
Als meineTante Henriette, dreiundachtzig Jahre alt und bereits einige Jahre so gut wiebewegungsunfähig, senil und im Pflegeheim war, von wo sie im Rollstuhl sitzendalle paar Monate abhauen wollte, einmal zu einer Schwester ihrer Mutter, dieschon vierzig Jahre lang tot war, dann wieder nach Linz in ihre ehemaligeWohnung oder zu den noch lebenden Verwandten im Ruhrgebiet, an die sie sichvage erinnerte, sagte sie kurz vor ihrem Tod den einzigen klugen Satz ihresLebens: »Wer hätte gedacht«, sagte die Tante Henriette zu meiner Mutter, die daauch schon fast siebenundsiebzig Jahre alt war und die mit meinem Vater, derdamals siebenundachtzig Jahre war und Alzheimer hatte, mit dem Zug nach BadZell angereist war, um die Tante im Pflegeheim zu besuchen, »dass unsere Elternuns einmal so im Stich lassen würden.«
Als meine Mutter mir davon noch am selben Abend in Linz, woich kurz zu Besuch war, erzählte, schüttelte sie den Kopf. Ich schüttelte auchden Kopf und lachte, aber eigentlich wunderte ich mich nicht sehr, da die TanteHenriette, wie gesagt, so senil war, dass sie ja auch annahm, irgendeiner ihrerVerwandten würde sie bald bei sich zu Hause aufnehmen und pflegen.
Der Satz derTante ging mir seither nicht mehr aus dem Kopf. Und lachen konnte ich schonbald nicht mehr darüber. Je älter ich wurde, desto klarer wurde mir, wieaußergewöhnlich scharfsichtig die Tante Henriette am Ende ihres Lebens unserezuerst in Einsamkeit und dann in Vernichtung endende Existenz zusammengefassthat. Kurz danach ist sie während einer Weihnachtsfeier in der Kapelle desPflegeheims gestorben, ziemlich unauffällig. Alle dachten, ihr sei während desWeihnachtsevangeliums langweilig geworden oder sie hätte aus Erschöpfungwährend des langen Evangeliums den Kopf zurückgelegt und betrachte nun mit weitgeöffneten Augen die barocke Kuppel der Kapelle des Pflegeheims, von der herabpausbäckige Engel mit Posaunen aus dem Himmel auf sie sahen und wo vor nachtblauemHintergrund Sterne erstrahlten und Monde leuchteten, so dass sie hätte meinenkönnen, sie säße nicht unter der barocken Kuppel der Kapelle des Pflegeheims inBad Zell im Mühlkreis, sondern direkt unter einem unermesslichen Firmament, dassie in das Gewirr und Geblinke der Sonnensysteme und Milchstraßen hochzöge undhineinsaugte mitsamt ihrem Rollstuhl und in die Tiefen eines unbegreiflichenWeltalls zurückkatapultierte, und erst als die Tante im Aufenthaltsraum desPflegeheims das Weihnachtspaket, das auf ihrem Schoß lag, nicht aufmachte,sondern weiter mit geöffneten Augen an die Decke starrte, bemerkte man denIrrtum.
Als ich selbst achtundsiebzig Jahre alt, jünger als meineTante Henriette, auch jünger als meine Mutter und mein Vater, vierundvierzigJahre älter als meine Tochter, an den Folgen einer Gehirnblutung sterbensollte, nachdem ich die letzten zwei Jahre bettlägerig gewesen und von derStädtischen Erwachsenenhilfe versorgt worden war, hinterließ ich einenScherbenhaufen. Das Sterben war mir, verglichen mit meinem Leben, leichtergefallen, als ich gedacht hatte. Zum letzten Mal ausatmen und niemals mehreinatmen bedarf keines großen Aufwands. Es ergibt sich fast von selbst. Wennman erst einmal einverstanden ist. Das allerdings brauchte seine Zeit. Ichhatte noch nie gut loslassen können. Weder Menschen noch Ideen noch meineeigenen Ängste. Am wenigsten hielt ich an Materiellem fest. Auch meine Wohnungan sich war mir egal. Ich wollte aus dem einzigen Grund nicht in einPflegeheim, weil dort niemand rechtzeitig stirbt.
Mir war das Pflegeheim vor meinem Tod dann zwar tatsächlicherspart geblieben, dafür fiel meine Lebensbilanz nach meinem Tod umsokatastrophaler aus. Und das versöhnte mich, posthum, mit meiner TanteHenriette, mit meiner Mutter und mit meinem Vater. Mit den Lehrern undErziehern. Mir war nach meinem Abgang vom Diesseits endgültig klar, dass ichnichts von dem, was ich gewollt, was ich angestrebt, was ich versucht odertrainiert, geschweige denn, was ich erträumt, was ich erhofft oder ersehnt,auch erreicht hatte. Nichts. Ich hatte nur wiederholt, was ich vorgefunden undabgelehnt, ja gehasst hatte, ich hatte mich letztlich eingereiht in die langeKette meiner Vorfahren. Es war mir ein Leben lang nicht gelungen, abzuweichen vondem Vorgegebenen, auszubrechen aus den Zwängen oder es wenigstens einigermaßenanständig zu versuchen. Ich war feig gewesen wie mein Vater. Nicht einmal diegröbsten Dummheiten meiner Mutter hatte ich vermieden. Ich war selbstmitleidiggewesen wie sie, hypochondrisch wie sie, steif und ungelenkig wie sie,unsportlich, faul, besserwisserisch und ignorant.
Zu Lebzeiten habe ich das anders gesehen. Das liegt daran,dass jeder, der lebt, eine Zukunft hat. Nur der Tote kann wirklich Bilanzziehen, weil er nicht mehr weiterleben muss. Derjenige der weiterleben muss,redet sich ein, so unsinnig und unrealistisch es auch immer sein mag, er würdeeines Tages doch noch aus seinen Erfahrungen lernen und dies und das andersmachen. Besser.
Wirlernen gehen, essen und sprechen und fragen uns wozu. Wir lernen Sprachen,Geschichte und Geographie, Mathematik und Physik und fragen uns wozu. Wirverlieben uns oder verlieben uns nicht, heiraten oder heiraten nicht, bringenKinder zur Welt oder bringen keine Kinder zur Welt und fragen uns wozu. Wirlangweilen uns. Liegen herum, gehen spazieren, erfüllen unsere Pflicht, lesenund fragen uns wozu. Wir leben und fragen uns wozu. Nur beim Sterben erübrigtsich jede Frage.
Bevor ich endlich sterben konnte, war ich zwei Jahre lang fastbewegungsunfähig. Obwohl mein Gehirn nach dem Schlaganfall in weiten Teilenzerstört war, lebte ich - absurderweise - fast ausschließlich in meinem Kopf.In einer Art hochaktivem Dämmerzustand. Niemand ahnte, was in mir vor sichging. Großartig! Morgens, mittags und abends kam jemand von der StädtischenErwachsenenhilfe, wusch, wickelte und fütterte mich. Die übrige Zeit war eineGegensprechanlage über meinem Kopf eingeschaltet. Sobald ich etwas vor michhinlallte - der Schlaganfall hatte mein Sprachzentrum fast vollkommen zerstört-, reagierte eine Stimme aus einem Lautsprecher, die mich beruhigen sollte.Wenn ich schrie, kamen sie sofort von der Erwachsenenhilfe. Ich weinte viel.Besonders, wenn meine Tochter mich besuchte. Kaum sah ich meine Tochter, fingich schon zu weinen an. Und hörte nicht mehr auf. Ich weiß, dass ich sie damitsehr belastete, konnte mich aber nicht beherrschen. Ich dachte damals, dass ichweinte, weil ich sie liebte und nicht mehr mit ihr sprechen, essen oderspazieren gehen konnte und weil sie keine Mutter mehr hatte, mit der siesprechen, essen oder spazieren gehen konnte. Heute weiß ich, dass es reinerEgoismus war. Ich weinte, weil sie mich an mich selbst erinnerte.
Wirdenken, größenwahnsinnig, wie wir sind, wir erfänden uns selbst und die ganzeWelt, aber wir wiederholen nur endlos dieselben Muster. Wir denken, wir machenuns eigene Gedanken, aber es sind nur die Gedanken, die immer schon gedachtworden sind. Mit geringfügigen Abweichungen. Wir schauen in die Welt, wir freuenuns, wir lachen oder weinen und glauben, dass wir auf unsere besondere Art indie Welt schauen, uns besonders freuen, besonders lachen oder weinen, aber wirschauen nur in die Welt, wie vor uns schon alle
anderen in die Welt geschaut haben. Wir freuen uns darauf, älter zu werden, wiealle Kinder sich darauf freuen, älter zu werden, wir lachen über die Hunde undweinen über die Männer oder die Frauen oder die Kinder, wir erinnern uns underinnern uns dann wieder nicht, ein Schleier legt sich über die Welt und hebtsich wieder und senkt sich und hebt sich. Wir werden geboren und wir sterben.Alle.
Alles tut weh. Ich wüsste gar nicht, wann das eigentlichangefangen hat. Vielleicht war es schon immer. Irgendjemand - wer war das nur,ein Arzt, eine Ärztin? - hat gesagt, das Leben sei ein Dehnen und einZusammenziehen. Beides tut weh. Das Wachsen tut weh und das Altern tut weh. DerUnterschied ist nur, dass wir anfangs denken, eines Tages könnte alles einmalgut werden, bis wir endlich begreifen, dass alles immer nur schlechter wird.Die Sehkraft lässt nach, das Gedächtnis, das Gehör, der Rücken und der Nackenwerden steif, die Haut spröde. Das beginnt bereits mit dreißig. Vielleichtschon mit fünfundzwanzig. Oder vielleicht noch früher. Es beginnt im Grunde genommenschon bei der Geburt. Wir beginnen zu sterben, wenn wir geboren werden. 8:::9
© SchöfflingVerlag
- Autor: Margit Schreiner
- 2005, 3. Aufl., 176 Seiten, Maße: 13,5 x 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Schöffling
- ISBN-10: 3895612766
- ISBN-13: 9783895612763
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