Cult - Spiel der Toten / Pendergast Bd.9
Ein neuer Fall für Special Agent Pendergast. Thriller
Schock für Special Agent Pendergast: Einer seiner Freunde wird brutal ermordet von einem Mann, der angeblich vor Wochen Selbstmord begangen hat. Was stimmt hier nicht? Pendergast folgt einer Spur, die ihn zu einer gefährlichen Sekte führt.
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Produktinformationen zu „Cult - Spiel der Toten / Pendergast Bd.9 “
Schock für Special Agent Pendergast: Einer seiner Freunde wird brutal ermordet von einem Mann, der angeblich vor Wochen Selbstmord begangen hat. Was stimmt hier nicht? Pendergast folgt einer Spur, die ihn zu einer gefährlichen Sekte führt.
Klappentext zu „Cult - Spiel der Toten / Pendergast Bd.9 “
Schock für Special Agent Pendergast: Einer seiner Freunde wird brutal ermordet - von einem Mann, der bereits vor einer Woche Selbstmord begangen hat. ZOMBIES IN NEW YORK - diese Schlagzeile sorgt in kürzester Zeit für Angst und Schrecken. Aber ist es wirklich möglich, dass die Toten sich aus ihren Gräbern erheben? Pendergast findet eine Spur, die ihn in die Katakomben unter einer alten Kirche führt - den Sitz einer Sekte, die dunkle Ziele verfolgt ...Cult - Spiel der Toten von Douglas Preston · Lincoln Child: Spannung pur!
Lese-Probe zu „Cult - Spiel der Toten / Pendergast Bd.9 “
Spiel der Toten von Douglas Preston & Lincoln Child1
... mehr
»Kannst du das glauben, Bill? Ich kann's nämlich immer noch
nicht. Sie haben es mir vor fast zwölf Stunden mitgeteilt, aber
ich fasse es noch immer nicht.«
»Glaub's nur, Süße.« William Smithback jr. reckte seine schlaksigen
Glieder, streckte sich auf dem Sofa im Wohnzimmer aus
und legte seiner Frau den Arm um die Schultern. »Gibt's noch
einen Schluck von dem Port für mich?«
Nora schenkte nach. Er hielt das Glas ins Licht und bewunderte
die granatrote Farbe. Der gute Tropfen hatte ihn hundert
Dollar gekostet - und er war es wert. Er nippte und atmete
durch die Nase aus. »Du bist der neue Star im Museum. Wart's
ab. In fünf Jahren machen die dich zur Dekanin der naturwissenschaftlichen
Abteilung.«
»Werd nicht albern.«
»Nora, in drei aufeinanderfolgenden Jahren wurde der Etat
gekürzt, und trotzdem hat man deiner Forschungsreise grünes
Licht gegeben. Dein neuer Chef ist doch kein Trottel.« Smithback
schmiegte sein Gesicht an Noras Haar. Obwohl sie nun
schon so lange verheiratet waren, fand er den Geruch - eine
Spur Zimt, ein Hauch Wacholder - jedes Mal aufs Neue erregend.
»Stell dir mal vor, wir wären im kommenden Sommer wieder
in Utah bei einer Ausgrabung! Das heißt, wenn du dir zu der
Zeit freinehmen kannst.«
»Mir stehen für dieses Jahr noch vier Wochen Urlaub zu. Ich
werde den Leuten bei der Times zwar wahnsinnig fehlen, aber
dann müssen sie eben ohne mich klarkommen.« Er trank noch
einen Schluck und schwenkte den Portwein im Mund. »Mit
Nora Kelly auf Expedition Nummer drei gehen. Du hättest
mir kein schöneres Geschenk zum Hochzeitstag machen können.
«
Nora blickte ihn ironisch an. »Ich dachte eigentlich, du hättest
mir das Abendessen heute geschenkt.«
»Stimmt. Das war mein Geschenk.«
»Und es war perfekt. Danke.«
Smithback erwiderte ihr Zwinkern. Er hatte Nora in sein Lieblingsrestaurant
eingeladen, das Café des Artistes in der West
67. Straße. Es gab kein besseres Lokal für ein romantisches
Dinner: die sanfte, verführerische Beleuchtung, die gemütlichen
Polsterbänke, die pikanten Gemälde von Howard Chandler
Christy an den Wänden und schließlich, als Krönung von
allem, die exquisiten Speisen.
Er merkte, dass Nora ihn ansah. In ihren Augen und in dem
schlauen Lächeln lag ein Versprechen, dass er sich auf noch ein
Geschenk zum Hochzeitstag freuen könne. Er küsste sie auf
die Wange und zog sie enger an sich.
Sie seufzte. »Sie haben mir jeden Penny bewilligt, um den ich
gebeten habe.«
Smithback murmelte eine Antwort. Er war's zufrieden, mit seiner
Frau zu schmusen und das Menü, das er vorhin verzehrt
hatte, Revue passieren zu lassen. Als Aperitif hatte er sich für
zwei steife Martinis entschieden, als Vorspeise für den Charcuterie-
Teller. Als Hauptgang konnte er dann dem Steak béarnaise
nicht widerstehen, medium gebraten, mit Pommes frites
und einer großen Portion Rahmspinat. Wobei er sich anschließend
natürlich auch noch ordentlich bei Noras Rehrücken bedient
hatte ...
»Begreifst du eigentlich, was das bedeutet? Ich könnte meine
Untersuchungen zur Verbreitung des Kachina-Kults im Südwesten
abschließen.«
»Das wäre phantastisch.« Zum Dessert hatte es Schokoladen-
Fondue für zwei gegeben und zum Abschluss verschiedene
herrlich stinkige französische Käsesorten. Smithback ließ die
freie Hand leicht auf seinem Bauch ruhen.
Auch Nora verfi el in Schweigen, und so blieben sie eine Weile
ruhig liegen, zufrieden, die Gegenwart des anderen zu genießen.
Smithback warf seiner Frau einen verstohlenen Blick zu.
Ein Gefühl des Behagens breitete sich über ihm aus wie eine
Decke. Er war kein religiöser Mensch, eigentlich nicht, und
doch empfand er es als Segen Gottes, hier zu sein, in dieser
schicken Wohnung in der großartigsten Stadt der Welt, und
genau den Job zu haben, von dem er immer geträumt hatte.
Und in Nora hatte er nicht weniger als die perfekte Partnerin
gefunden. In den Jahren seit ihrem ersten Kennenlernen hatten
sie viel gemeinsam durchgemacht, aber die Schwierigkeiten
und Gefahren hatten sie einander nur noch näher gebracht.
Nora war nicht nur schön und grazil, hatte nicht nur einen
lukrativen Job, der ihr Spaß machte, und war gefeit gegen Nörgeleien,
dazu einfühlsam und intelligent, sie hatte sich auch als
ideale Seelengefährtin entpuppt. Und als er sie so ansah, musste
er unwillkürlich lächeln. Nora war ganz einfach zu gut, um
wahr zu sein.
Sie regte sich. »Ich darf es mir nicht allzu gemütlich machen.
Jedenfalls noch nicht.«
»Wieso denn nicht?«
Sie löste sich von ihm und ging in die Küche, um ihre Handtasche
zu holen. »Weil ich noch etwas besorgen muss.«
Er sah verdutzt drein. »So spät noch?«
»Ich bin in zehn Minuten wieder da.« Sie kehrte zum Sofa
zurück und beugte sich über ihn, strich ihm die Haare aus der
Stirn und gab ihm einen Kuss. »Rühr dich ja nicht vom Fleck,
mein großer Junge«, sagte sie leise.
»Machst du Witze? Ich bin der Fels von Gibraltar.«
Sie lächelte, strich ihm noch einmal übers Haar und ging dann
Richtung Wohnungstür.
»Gib auf dich acht«, rief er ihr hinterher. »Denk an die merkwürdigen
Päckchen, die wir bekommen haben.«
»Keine Sorge. Ich bin ein großes Mädchen.« Kurz darauf fi el
die Tür hinter ihr ins Schloss.
Smithback verschränkte die Hände hinterm Kopf und streckte
sich seufzend auf dem Sofa aus. Er hörte, wie Noras Schritte
auf dem Flur verhallten, dann das Klingeln des Aufzugs.
Schließlich war alles still bis auf das leise Brausen des Stadtverkehrs
draußen.
Er konnte sich schon denken, wohin sie gegangen war - zur
Patisserie an der Ecke. Die hatte bis Mitternacht geöffnet, und
dort gab es seine Lieblingstorten. Eine besondere Vorliebe
hatte Smithback für die praline génoise mit Calvados-Buttercreme.
Mit etwas Glück hatte Nora zur Feier des heutigen Tages
genau diesen Kuchen bestellt.
Und so lag er auf dem Sofa in dem schwach erleuchteten Apartment
und lauschte den Geräuschen Manhattans. Die Cocktails,
die er getrunken hatte, verlangsamten seine Denkvorgänge ein
klein bisschen. Ihm fi el eine Zeile aus einer Kurzgeschichte von
James Thurber ein: auf eine schläfrige, umnebelte Weise glücklich
und zufrieden. Er hatte schon immer eine fraglose, völlig unkritische
Zuneigung zu den Texten seines Journalistenkollegen und
Schriftstellers James Thurber empfunden. Wie auch für die Geschichten
von Robert E. Howard, der großartige Schundromane
geschrieben hatte. Der eine, fand Smithback, hatte sich immer
zu sehr bemüht, der andere zu wenig.
Aus irgendeinem Grund kehrten seine Gedanken zu jenem
Sommertag zurück, an dem er Nora kennengelernt hatte. Die
vielen Erinnerungen tauchten wieder auf: Arizona, Lake Powell,
der heiße Parkplatz, die große Limousine, in der er eingetroffen
war. Er schüttelte den Kopf und lächelte. Nora Kelly
war ihm zunächst wie eine ziemliche Zicke vorgekommen, eine
frischgebackene Dr. phil. mit Komplexen. Andererseits hatte
auch er keinen besonders guten Eindruck gemacht und sich
wie ein Vollidiot aufgeführt, das stand mal fest. Doch das lag
jetzt vier Jahre zurück, oder fünf ... Herrje, war die Zeit wirklich
so schnell vergangen?
Von draußen vor der Wohnungstür war ein Scharren zu hören,
dann das Kratzen eines Schlüssels im Schloss. Nora? Schon
zurück?
Er wartete darauf, dass sich die Tür öffnete, aber stattdessen
kratzte der Schlüssel noch einmal, als habe Nora Schwierigkeiten
mit dem Schloss. Vielleicht balancierte sie ja einen Kuchen
auf dem Arm. Er wollte gerade aufstehen, um ihr zu öffnen, als
die Tür plötzlich knarrend aufging und im Eingangsfl ur Schritte
zu hören waren.
»Wie versprochen, ich bin immer noch da«, rief er. »Mr. Gibraltar
persönlich.«
Er hörte noch einen Schritt. Irgendwie klang das aber nicht
nach Nora. Er war zu langsam und schwer und hörte sich irgendwie
watschelnd, unsicher an.
Smithback setzte sich auf dem Sofa auf. In der kleinen Diele
zeichnete sich undeutlich eine Gestalt ab, erhellt vom Licht
aus dem dahinterliegenden Korridor außerhalb der Wohnung.
Die Gestalt war so groß und breitschultrig, dass es sich unmöglich
um Nora handeln konnte.
»Wer zum Teufel sind Sie?«, rief Smithback.
Rasch griff er nach der Lampe auf dem Beistelltisch neben sich
und knipste sie an. Er erkannte die Person fast auf Anhieb.
Oder meinte doch, sie zu erkennen - aber irgendetwas stimmte
mit dem Gesicht nicht. Es war aschfahl, aufgedunsen, fast
breiig. Es wirkte krank ... oder Schlimmeres.
»Colin?«, rief Smithback. »Sind Sie's? Was zum Teufel machen
Sie in meiner Wohnung?«
In diesem Augenblick sah er das Schlachtermesser.
Sofort sprang er auf. Die Gestalt schlurfte ein paar Schritte
näher und versperrte ihm den Weg. Ein kurzer, furchtbarer
Moment des Stillstands. Dann stach das Messer zu, mit furchterregender
Geschwindigkeit sauste es durch die Luft, dorthin,
wo Smithback vor weniger als einer Sekunde noch gestanden
hatte.
»Was zum Teufel ... ?«, brüllte Smithback.
Wieder stach das Messer zu. Verzweifelt versuchte er, dem
Hieb auszuweichen, fi el über den Beistelltisch und stieß ihn
dabei um. Er rappelte sich auf und schaute seinem Angreifer
mitten ins Gesicht - tief in der Hocke, die Hände abwehrend
geöffnet, die Finger gespreizt und bereit. Rasch blickte er sich
nach einer Waffe um. Nichts. Der Kerl stand zwischen ihm
und der Küche. Wenn er an ihm vorbeikam, könnte er sich ein
Messer schnappen und Waffengleichheit herstellen.
Er zog leicht den Kopf ein, hielt einen Ellbogen nach vorn und
griff an. Der Mann taumelte unter der Attacke zwar nach hinten,
aber im letzten Augenblick zuckte die Hand mit dem Messer
nach vorn und schlitzte Smithback den Arm auf, eine tiefe
Wunde vom Ellbogen bis zur Schulter. Vor Überraschung und
Schmerz schrie Smithback auf und drehte sich zu einer Seite
weg - und empfand gleichzeitig einen extrem kalten Schmerz,
als ihm das Messer tief ins Kreuz gerammt wurde.
Die Klinge schien endlos in ihn einzudringen und seine innersten
Organe zu treffen, so dass ihn ein Schmerz durchzuck-
te, wie er ihn ähnlich nur einmal im Leben verspürt hatte.
Smithback keuchte auf, stürzte zu Boden und versuchte zu fl iehen.
Er spürte, wie das Messer aus ihm herausgezogen, dann
wieder hineingestoßen wurde. Plötzlich war da etwas Feuchtes
auf seinem Rücken, als ob ihn jemand mit warmem Wasser
übergießen würde.
Er mobilisierte all seine Kräfte und rappelte sich auf. Mit dem
Mut der Verzweifl ung ging er auf seinen Angreifer los und
schlug mit den blanken Fäusten auf ihn ein. Wieder und wieder
zerschnitt das Messer Smithbacks Handknöchel, aber das
spürte er schon nicht mehr. Unter seinem wütenden Angriff
taumelte der Mann nach hinten. Das war seine Chance! Blitzartig
machte er kehrt, in der Absicht, sich in die Küche zurückzuziehen.
Aber es kam ihm vor, als ob der Fußboden aus der
Waagerechten kippte, außerdem verspürte er inzwischen bei
jedem Atemzug ein merkwürdiges Brodeln in der Brust. Er
wankte in die Küche. Keuchend und um sein Gleichgewicht
ringend tastete er mit feuchten Händen nach der Schublade
mit den Küchenmessern. Aber noch während er sie aufzog, sah
er einen Schatten auf den Küchentresen fallen ... und dann
traf ihn nochmals ein furchtbar tiefer Messerstich, diesmal
zwischen den Schulterblättern. Er versuchte sich fortzudrehen,
aber immer wieder stieß das Messer zu, hob und senkte sich,
bis die karmesinrote Klinge immer undeutlicher und es rings
um ihn dunkel wurde ...
So hebt mich auf den Scheiterhaufen - alles vergangen, getan; das
Fest ist vorbei, und alle Lichter aus fortan ...
Die Fahrstuhltüren glitten auseinander. Nora trat hinaus in
den Flur. Sie hatte sich beeilt, und mit ein wenig Glück würde
Bill noch auf dem Sofa liegen, vielleicht den Roman von Thackeray
lesen, von dem er ihr schon die ganze Woche vorge-
schwärmt hatte. Behutsam balancierte sie den Kuchen-Karton
auf der Handfl äche, während sie mit der anderen Hand nach
dem Wohnungsschlüssel suchte. Bill hatte bestimmt schon erraten,
wohin sie gegangen war, aber es war eben schwer, den
Partner am ersten Hochzeitstag zu überraschen ...
Irgendetwas stimmte nicht. Sie war so in Gedanken versunken,
dass ihr erst nach einem Moment klar wurde, was sie störte:
Die Wohnungstür stand sperrangelweit offen.
Jemand kam aus der Wohnung. Nora kannte den Mann. Seine
Kleidung war blutdurchtränkt, in der Hand hielt er ein großes
Messer. Und während er stehen blieb und zu ihr hinblickte,
tropfte von seinem Messer Blut auf den Boden.
Instinktiv und ohne nachzudenken ließ Nora den Kuchen-
Karton und den Schlüssel fallen und stürzte sich auf ihn.
Gleichzeitig kamen Nachbarn aus ihren Wohnungen, riefen
vor Angst und Schrecken laut durcheinander. Als sie auf den
Mann losging, hob dieser das Messer, aber sie schlug seine
Hand weg und versetzte ihm einen Schlag in den Solarplexus.
Er holte aus und schleuderte sie gegen die gegenüberliegende
Wand des Flurs, so dass sie mit dem Kopf auf den harten Verputz
prallte. Nora sank zu Boden und sah nur noch Sternchen.
Mit erhobenem Messer schlurfte er auf sie zu. Sie wich der
Klinge aus, mit der er von oben auf sie einstechen wollte, dann
versetzte er ihr einen brutalen Fußtritt gegen den Kopf und
holte nochmals mit dem Messer aus. Schreie hallten auf dem
Korridor wider. Doch Nora hörte sie nicht. Sie konnte nichts
mehr erkennen, sondern sah nur noch verschwommene Bilder.
Und dann verschwanden auch die.
2
Lieutenant Vincent D'Agosta stand in dem proppevollen Korridor
vor der Tür zur Zweizimmerwohnung von Nora Kelly
und Bill Smithback. Er zuckte in seinem braunen Anzug mit
den Schultern und versuchte, die feuchten Arme von seinem
Polyesterhemd zu lösen. Er war sehr zornig, was aber gar nicht
gut war. Es würde nur seine Ermittlungen beeinfl ussen und
ihn daran hindern, alles genau unter die Lupe zu nehmen.
Er holte tief Luft und stieß sie wieder aus, um seine Wut vielleicht
auf diese Weise loszuwerden.
Die Wohnungstür ging auf. Ein hagerer, gebeugter Mann mit
einem kleinen Haarbüschel auf der Glatze trat aus der Wohnung.
Er schleppte einen Sack mit Gerätschaften und schob
einen auf einem Kofferkuli festgezurrten Aluminiumkoffer vor
sich her. »Wir sind fertig, Lieutenant.« Der Mann schnappte
sich von einem anderen Beamten ein Klemmbrett und meldete
sich ab, sein Assistent ebenso.
D'Agosta schaute auf die Uhr: 15 Uhr. Die Leute von der Spurensicherung
hatten lange gebraucht. Sie waren besonders
sorgfältig vorgegangen. Ihnen war klar, dass er und Smithback
sich schon lange kannten. Es ärgerte ihn, dass sie sich mit gesenktem
Kopf an ihm vorbeistahlen, ihn von der Seite ansahen
und sich fragten, wie er mit der Sache wohl fertig werden würde.
Ob er den Fall abgeben würde. Viele Detectives im Morddezernat
würden das tun - und sei es nur deshalb, weil es im
Gerichtssaal zu Fragen kommen würde. Es machte nämlich
gar keinen guten Eindruck, wenn die Verteidigung einen in
den Zeugenstand rief und fragte: »Der Verstorbene war ein
Freund von Ihnen? Also fi nden Sie nicht, dass das ein ziemlich
interessanter Zufall ist?« Auf derlei Komplikationen sollte man
in Gerichtsverfahren tunlichst verzichten, außerdem konnte
kein Bezirksstaatsanwalt es ausstehen, wenn sich so etwas ergab.
Aber D'Agosta dachte nicht daran, diesen Mordfall abzugeben.
Niemals. Außerdem war die Sache glasklar. Der Täter war so
gut wie verurteilt, sie hatten ihn praktisch auf frischer Tat ertappt.
Jetzt mussten sie den Dreckskerl nur noch fi nden.
Der letzte Mitarbeiter des Spurensicherungsteams kam aus
der Wohnung und checkte aus. D'Agosta blieb allein mit
sei nen Gedanken zurück. Eine Minute lang stand er auf dem
inzwischen menschenleeren Flur und bemühte sich, seine
angespannten Nerven zu beruhigen. Dann streifte er ein Paar
Latexhandschuhe über, zog das Haarnetz über seine beginnende
Glatze und ging zur offenen Wohnungstür. Ihm war
leicht übel. Die Leiche war natürlich abtransportiert worden,
aber sonst hatte man nichts angerührt. Dort, wo der Eingangsfl
ur im rechten Winkel abbog, waren ein schmaler Streifen
des dahinterliegenden Zimmers und eine Blutlache zu erkennen,
zudem blutige Fußabdrücke und der Abdruck einer Hand,
die an der cremefarbenen Wand hinuntergezogen worden
war.
D'Agosta machte einen behutsamen Schritt über die Blutlache
und blieb vor dem Wohnzimmer stehen. Ledersofa, zwei Sessel,
umgestürzter Beistelltisch, weitere Blutfl ecken auf dem
Perserteppich. Er ging langsam bis zur Zimmermitte, wobei er
ganz vorsichtig mit seinen Schuhen mit den Kreppsohlen auftrat,
blieb stehen, drehte sich um und versuchte, sich das Tatgeschehen
zu vergegenwärtigen.
D'Agosta hatte das Team gebeten, umfangreiche Proben der
Blutfl ecken zu nehmen; es gab da überlappende Muster von
Blutspritzern, die er abklären wollte, Fußabdrücke, die sich
durchs Blut zogen, übereinanderliegende Abdrücke von Händen.
Smithback hatte sich wie ein Löwe gewehrt; ausgeschlos-
sen, dass der Täter gefl ohen war, ohne DNA-Spuren hinterlassen
zu haben.
Auf den ersten Blick handelte es sich um ein simples Verbrechen,
einen schlecht geplanten, schmutzigen Mord. Der Täter
hatte sich mit einem Hauptschlüssel Zutritt zur Wohnung verschafft.
Smithback hielt sich im Wohnzimmer auf. Der Mörder
stach auf Smithback ein, was diesen sofort stark in die Defensive
drängte. Dann hatten Täter und Opfer gekämpft. Der
Kampf hatte sich in der Küche fortgesetzt - Smithback hatte
versucht, sich zu bewaffnen: Die Messer-Schublade stand halb
offen, am Griff und auf dem Küchentresen befanden sich blutige
Abdrücke von Händen. Er hatte sich aber kein Messer
schnappen können; verdammt schade. Hatte währenddessen
einen Messerstich in den Rücken bekommen. Dann hatten sie
noch einmal gekämpft. Inzwischen musste Smithback ziemlich
übel verletzt gewesen sein, überall auf dem Boden waren Blut
und Rutschfl ecken von nackten Füßen. Aber D'Agosta war sich
ziemlich sicher, dass auch der Täter mittlerweile blutete. Blutete,
Haare und Fasern verlor, keuchte und schnaufte vor Anstrengung,
vielleicht Speichel und Schleim verspritzte. Es war
alles da, und er war überzeugt davon, dass das Spurensicherungsteam
nichts übersehen hatte. Die hatten sogar mehrere
Dielenbretter ausgesägt und mitgenommen, darunter auch
mehrere mit Messerspuren. Sie hatten Stücke aus der Trockenbauwand
herausgeschnitten, Fingerabdrücke von allen Oberfl
ächen genommen, jede Faser eingesammelt, die sie fi nden
konnten, jede Fluse und jedes Fitzelchen Schmutz.
D'Agosta ließ den Blick weiter durch das Zimmer schweifen,
während in seinem Kopf der Film über das Verbrechen weiter
ablief. Schließlich hatte Smithback sehr viel Blut verloren und
war so weit geschwächt gewesen, dass der Mörder ihm den Todesstoß
versetzen konnte. Laut Aussage des Pathologen war
das Messer mitten durchs Herz gestoßen worden und hatte
sich mehr als einen Zentimeter tief in den Fußboden gebohrt.
Der Täter hatte es, um es herauszuziehen, so heftig gedreht,
dass das Holz gesplittert war. D'Agosta merkte, dass er wieder
eine ungeheure Wut und Trauer empfand. Auch dieses Dielenbrett
war herausgesägt worden.
Nicht, dass all die Aufmerksamkeit für Details einen großen
Unterschied machte - sie wussten ja schon, wer der Täter war.
Es konnte dennoch nie schaden, Beweismittel anzuhäufen.
Man wusste ja nie, mit was für Geschworenen man es in dieser
verrückten Stadt zu tun haben würde.
Und dann war da noch dieser bizarre Krempel, den der Mörder
zurückgelassen hatte. Ein zermanschtes Gebinde aus Federn,
verschnürt mit grünem Bindfaden. Ein Kleidungsstück,
bestickt mit knallbunten Pailletten. Ein kleines Beutelchen aus
Backpapier mit einer merkwürdigen Zeichnung darauf. Der
Mörder hatte das alles in die Blutlache gelegt wie Opfergaben.
Die Jungs von der Spurensicherung hatten die Sachen zwar
alle mitgenommen, aber sie standen D'Agosta noch deutlich
vor Augen.
Eine Sache hatten die Spurensicherungsleute allerdings nicht
mitnehmen können: das eilig hingekritzelte Bild an der Wand.
Zwei Schlangen, die sich um irgendein merkwürdiges, stacheliges,
pfl anzenähnliches Etwas wanden, dazu Sterne, Pfeile, komplizierte
Linien und ein Wort, das aussah wie »Dambala«. Das
Bild war ohne Zweifel mit Smithbacks Blut gemalt worden.
D'Agosta ging in das Schlafzimmer und nahm das Bett in Augenschein,
die Kommode, den Spiegel, das Fenster mit Blick
nach Südosten auf die West End Avenue, den Teppich, die
Wände, die Decke. Am gegenüberliegenden Ende des Zimmers
befand sich ein zweites Bad, die Tür war verschlossen.
Aus dem Bad drang ein Geräusch: der Wasserhahn, der auf
und zugedreht wurde. Jemand von der Spurensicherung befand
sich also noch in der Wohnung. D'Agosta ging mit langen
Schritten hin, packte den Türgriff und stellte fest, dass die Tür
abgeschlossen war.
»He, Sie da drin! Was machen Sie da?«
»Nur einen Moment«, ließ sich eine gedämpfte Stimme vernehmen.
D'Agostas Erstaunen verwandelte sich in Verärgerung. Der
Idiot war auf die Toilette gegangen. Und das an einem versiegelten
Tatort. Irre. Unfassbar.
»Machen Sie die Tür auf, mein Freund. Sofort.«
Die Tür sprang auf - und vor ihm stand Special Agent A. X. L.
Pendergast, Reagenzgläser in einem kleinen Gestell in der einen
Hand, Pinzette in der anderen, eine Juwelierlupe an einem
Stirnband auf dem Kopf.
»Vincent«, begann er in seinem vertrauten, seidenweichen
Tonfall. »Es tut mir so leid, dass wir uns unter solch unglücklichen
Umständen wiedersehen.«
D'Agosta starrte ihn entgeistert an. »Pendergast - ich hatte ja
keine Ahnung, dass Sie wieder in der Stadt sind.«
Pendergast steckte die Pinzette geschickt ein und legte das Gestell
mit den Reagenzgläsern, dann die Lupe in seine altmodische
Arzttasche. »Der Mörder war weder hier drin noch im
Schlafzimmer. Eine recht offensichtliche Schlussfolgerung,
aber ich wollte sichergehen.«
»Ist das jetzt ein Fall für das FBI?«, fragte D'Agosta und folgte
Pendergast durch das Schlafzimmer ins Wohnzimmer.
»Streng genommen nicht.«
»Dann arbeiten Sie also wieder frei?«
»So könnte man das ausdrücken. Ich würde es allerdings sehr
begrüßen, wenn wir meine Beteiligung vorerst für uns behielten.
« Er drehte sich um. »Ihre Meinung, Vincent?«
D'Agosta legte seine Rekonstruktion des Verbrechens dar,
während Pendergast zustimmend nickte. »Nicht, dass das einen
großen Unterschied macht«, fasste D'Agosta zusammen.
»Wir wissen ja bereits, wer der Dreckskerl ist. Wir müssen ihn
nur noch fi nden.«
Pendergast hob fragend die Brauen.
»Er wohnt hier im Haus. Wir haben zwei Augenzeugen, die
den Täter gesehen haben, als er das Gebäude betreten, und
zwei, als er es verlassen hat, von oben bis unten mit Blut besudelt,
ein Messer in der Hand. Er hat Nora Kelly attackiert, als
er die Wohnung verließ - hat es versucht, sollte ich sagen, aber
der Kampf hat die Nachbarn alarmiert, und da ist er gefl üchtet.
Sie haben ihn genau erkannt, die Nachbarn, meine ich. Nora
liegt im Moment im Krankenhaus - eine kleine Gehirnerschütterung,
es dürfte ihr aber gut gehen. Na ja, den Umständen
entsprechend gut.«
Pendergast nickte kurz.
»Der Arsch heißt Fearing. Colin Fearing. Arbeitsloser britischer
Schauspieler. Apartment zwei-eins-vier. Er hat Nora ein
paarmal in der Lobby belästigt. Für mich sieht das nach einer
Vergewaltigung aus, die außer Kontrolle geraten ist. Fearing
hatte vermutlich gehofft, Nora allein in der Wohnung anzutreffen,
aber stattdessen war Smithback da. Kann sein, dass er
den Schlüssel aus dem Schlüsselschrank des Hausmeisters entwendet
hat. Ich lasse das gerade von einem Beamten überprüfen.«
Diesmal nickte Pendergast allerdings nicht bestätigend. Nur
der übliche undurchdringliche Ausdruck lag in seinen tiefl iegenden,
blassblauen Augen.
»Wie auch immer, der Fall ist glasklar«, sagte D'Agosta, der
sich trotzdem irgendwie in die Defensive gedrängt fühlte.
»Nicht nur Nora hat ihn identifi ziert. Er ist auf den Videobän-
dern der Security des Gebäudes zu sehen, eine oscarreife Darstellung.
Kommt rein und geht raus. Von dem Moment, als er
das Gebäude verließ, haben wir eine Frontalaufnahme, wie er,
Messer in der Hand, von oben bis unten mit Blut besudelt,
seinen bedauernswerten Hintern durch die Lobby schleppt,
den Doorman bedroht und dann abhaut. Wird bei den Geschworenen
einen klasse Eindruck hinterlassen. Da kann sich
der Dreckskerl nicht rausreden.«
»Ein glasklarer Fall, sagten Sie?«
Wieder hörte D'Agosta einen leisen Zweifel in Pendergasts
Stimme. »Ja«, sagte er bestimmt. »Glasklar.« Er sah auf die
Uhr. »Der Doorman wird im Moment befragt, meine Leute
warten auf mich. Er wird einen fabelhaften Zeugen abgeben,
ein verlässlicher, solider Familienvater, der den Täter seit Jahren
kannte. Möchten Sie ihm irgendwelche Fragen stellen, bevor
wir ihn nach Hause schicken?«
»Mit dem größten Vergnügen. Aber bevor wir nach unten gehen
...« Pendergast unterbrach sich. Mit seinen spinnedünnen
weißen Fingern griff er in die Brusttasche seines schwarzen
Anzugs und zog ein gefaltetes Dokument hervor. Mit eleganter,
knapper Handbewegung hielt er es D'Agosta hin.
»Was ist das?« D'Agosta nahm das Schriftstück entgegen, faltete
es auseinander und betrachtete den roten notariellen
Stempel, das Große Siegel der Stadt New York, den edlen Druck,
die Unterschriften.
»Colin Fearings Sterbeurkunde. Vor zehn Tagen unterschrieben
und datiert.«
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2009
unter dem Titel Cemetery Dance
bei Grand Central Publishing, New York.
Besuchen Sie uns im Internet:
www.knaur.de
Vollständige Taschenbuchausgabe April 2011
Knaur Taschenbuch.
Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt
Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
Copyright © 2009 by Splendide Mendax, Inc., und Lincoln Child
Copyright © 2010 der deutschsprachigen Ausgabe bei Droemer Verlag.
Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt
Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf - auch teilweise -
nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Redaktion: Ralf Reiter
Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Umschlagabbildung: FinePic®, München
Satz: Adobe InDesign im Verlag
Druck und Bindung: CPI - Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany
ISBN 978-3-426-50032-3
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»Kannst du das glauben, Bill? Ich kann's nämlich immer noch
nicht. Sie haben es mir vor fast zwölf Stunden mitgeteilt, aber
ich fasse es noch immer nicht.«
»Glaub's nur, Süße.« William Smithback jr. reckte seine schlaksigen
Glieder, streckte sich auf dem Sofa im Wohnzimmer aus
und legte seiner Frau den Arm um die Schultern. »Gibt's noch
einen Schluck von dem Port für mich?«
Nora schenkte nach. Er hielt das Glas ins Licht und bewunderte
die granatrote Farbe. Der gute Tropfen hatte ihn hundert
Dollar gekostet - und er war es wert. Er nippte und atmete
durch die Nase aus. »Du bist der neue Star im Museum. Wart's
ab. In fünf Jahren machen die dich zur Dekanin der naturwissenschaftlichen
Abteilung.«
»Werd nicht albern.«
»Nora, in drei aufeinanderfolgenden Jahren wurde der Etat
gekürzt, und trotzdem hat man deiner Forschungsreise grünes
Licht gegeben. Dein neuer Chef ist doch kein Trottel.« Smithback
schmiegte sein Gesicht an Noras Haar. Obwohl sie nun
schon so lange verheiratet waren, fand er den Geruch - eine
Spur Zimt, ein Hauch Wacholder - jedes Mal aufs Neue erregend.
»Stell dir mal vor, wir wären im kommenden Sommer wieder
in Utah bei einer Ausgrabung! Das heißt, wenn du dir zu der
Zeit freinehmen kannst.«
»Mir stehen für dieses Jahr noch vier Wochen Urlaub zu. Ich
werde den Leuten bei der Times zwar wahnsinnig fehlen, aber
dann müssen sie eben ohne mich klarkommen.« Er trank noch
einen Schluck und schwenkte den Portwein im Mund. »Mit
Nora Kelly auf Expedition Nummer drei gehen. Du hättest
mir kein schöneres Geschenk zum Hochzeitstag machen können.
«
Nora blickte ihn ironisch an. »Ich dachte eigentlich, du hättest
mir das Abendessen heute geschenkt.«
»Stimmt. Das war mein Geschenk.«
»Und es war perfekt. Danke.«
Smithback erwiderte ihr Zwinkern. Er hatte Nora in sein Lieblingsrestaurant
eingeladen, das Café des Artistes in der West
67. Straße. Es gab kein besseres Lokal für ein romantisches
Dinner: die sanfte, verführerische Beleuchtung, die gemütlichen
Polsterbänke, die pikanten Gemälde von Howard Chandler
Christy an den Wänden und schließlich, als Krönung von
allem, die exquisiten Speisen.
Er merkte, dass Nora ihn ansah. In ihren Augen und in dem
schlauen Lächeln lag ein Versprechen, dass er sich auf noch ein
Geschenk zum Hochzeitstag freuen könne. Er küsste sie auf
die Wange und zog sie enger an sich.
Sie seufzte. »Sie haben mir jeden Penny bewilligt, um den ich
gebeten habe.«
Smithback murmelte eine Antwort. Er war's zufrieden, mit seiner
Frau zu schmusen und das Menü, das er vorhin verzehrt
hatte, Revue passieren zu lassen. Als Aperitif hatte er sich für
zwei steife Martinis entschieden, als Vorspeise für den Charcuterie-
Teller. Als Hauptgang konnte er dann dem Steak béarnaise
nicht widerstehen, medium gebraten, mit Pommes frites
und einer großen Portion Rahmspinat. Wobei er sich anschließend
natürlich auch noch ordentlich bei Noras Rehrücken bedient
hatte ...
»Begreifst du eigentlich, was das bedeutet? Ich könnte meine
Untersuchungen zur Verbreitung des Kachina-Kults im Südwesten
abschließen.«
»Das wäre phantastisch.« Zum Dessert hatte es Schokoladen-
Fondue für zwei gegeben und zum Abschluss verschiedene
herrlich stinkige französische Käsesorten. Smithback ließ die
freie Hand leicht auf seinem Bauch ruhen.
Auch Nora verfi el in Schweigen, und so blieben sie eine Weile
ruhig liegen, zufrieden, die Gegenwart des anderen zu genießen.
Smithback warf seiner Frau einen verstohlenen Blick zu.
Ein Gefühl des Behagens breitete sich über ihm aus wie eine
Decke. Er war kein religiöser Mensch, eigentlich nicht, und
doch empfand er es als Segen Gottes, hier zu sein, in dieser
schicken Wohnung in der großartigsten Stadt der Welt, und
genau den Job zu haben, von dem er immer geträumt hatte.
Und in Nora hatte er nicht weniger als die perfekte Partnerin
gefunden. In den Jahren seit ihrem ersten Kennenlernen hatten
sie viel gemeinsam durchgemacht, aber die Schwierigkeiten
und Gefahren hatten sie einander nur noch näher gebracht.
Nora war nicht nur schön und grazil, hatte nicht nur einen
lukrativen Job, der ihr Spaß machte, und war gefeit gegen Nörgeleien,
dazu einfühlsam und intelligent, sie hatte sich auch als
ideale Seelengefährtin entpuppt. Und als er sie so ansah, musste
er unwillkürlich lächeln. Nora war ganz einfach zu gut, um
wahr zu sein.
Sie regte sich. »Ich darf es mir nicht allzu gemütlich machen.
Jedenfalls noch nicht.«
»Wieso denn nicht?«
Sie löste sich von ihm und ging in die Küche, um ihre Handtasche
zu holen. »Weil ich noch etwas besorgen muss.«
Er sah verdutzt drein. »So spät noch?«
»Ich bin in zehn Minuten wieder da.« Sie kehrte zum Sofa
zurück und beugte sich über ihn, strich ihm die Haare aus der
Stirn und gab ihm einen Kuss. »Rühr dich ja nicht vom Fleck,
mein großer Junge«, sagte sie leise.
»Machst du Witze? Ich bin der Fels von Gibraltar.«
Sie lächelte, strich ihm noch einmal übers Haar und ging dann
Richtung Wohnungstür.
»Gib auf dich acht«, rief er ihr hinterher. »Denk an die merkwürdigen
Päckchen, die wir bekommen haben.«
»Keine Sorge. Ich bin ein großes Mädchen.« Kurz darauf fi el
die Tür hinter ihr ins Schloss.
Smithback verschränkte die Hände hinterm Kopf und streckte
sich seufzend auf dem Sofa aus. Er hörte, wie Noras Schritte
auf dem Flur verhallten, dann das Klingeln des Aufzugs.
Schließlich war alles still bis auf das leise Brausen des Stadtverkehrs
draußen.
Er konnte sich schon denken, wohin sie gegangen war - zur
Patisserie an der Ecke. Die hatte bis Mitternacht geöffnet, und
dort gab es seine Lieblingstorten. Eine besondere Vorliebe
hatte Smithback für die praline génoise mit Calvados-Buttercreme.
Mit etwas Glück hatte Nora zur Feier des heutigen Tages
genau diesen Kuchen bestellt.
Und so lag er auf dem Sofa in dem schwach erleuchteten Apartment
und lauschte den Geräuschen Manhattans. Die Cocktails,
die er getrunken hatte, verlangsamten seine Denkvorgänge ein
klein bisschen. Ihm fi el eine Zeile aus einer Kurzgeschichte von
James Thurber ein: auf eine schläfrige, umnebelte Weise glücklich
und zufrieden. Er hatte schon immer eine fraglose, völlig unkritische
Zuneigung zu den Texten seines Journalistenkollegen und
Schriftstellers James Thurber empfunden. Wie auch für die Geschichten
von Robert E. Howard, der großartige Schundromane
geschrieben hatte. Der eine, fand Smithback, hatte sich immer
zu sehr bemüht, der andere zu wenig.
Aus irgendeinem Grund kehrten seine Gedanken zu jenem
Sommertag zurück, an dem er Nora kennengelernt hatte. Die
vielen Erinnerungen tauchten wieder auf: Arizona, Lake Powell,
der heiße Parkplatz, die große Limousine, in der er eingetroffen
war. Er schüttelte den Kopf und lächelte. Nora Kelly
war ihm zunächst wie eine ziemliche Zicke vorgekommen, eine
frischgebackene Dr. phil. mit Komplexen. Andererseits hatte
auch er keinen besonders guten Eindruck gemacht und sich
wie ein Vollidiot aufgeführt, das stand mal fest. Doch das lag
jetzt vier Jahre zurück, oder fünf ... Herrje, war die Zeit wirklich
so schnell vergangen?
Von draußen vor der Wohnungstür war ein Scharren zu hören,
dann das Kratzen eines Schlüssels im Schloss. Nora? Schon
zurück?
Er wartete darauf, dass sich die Tür öffnete, aber stattdessen
kratzte der Schlüssel noch einmal, als habe Nora Schwierigkeiten
mit dem Schloss. Vielleicht balancierte sie ja einen Kuchen
auf dem Arm. Er wollte gerade aufstehen, um ihr zu öffnen, als
die Tür plötzlich knarrend aufging und im Eingangsfl ur Schritte
zu hören waren.
»Wie versprochen, ich bin immer noch da«, rief er. »Mr. Gibraltar
persönlich.«
Er hörte noch einen Schritt. Irgendwie klang das aber nicht
nach Nora. Er war zu langsam und schwer und hörte sich irgendwie
watschelnd, unsicher an.
Smithback setzte sich auf dem Sofa auf. In der kleinen Diele
zeichnete sich undeutlich eine Gestalt ab, erhellt vom Licht
aus dem dahinterliegenden Korridor außerhalb der Wohnung.
Die Gestalt war so groß und breitschultrig, dass es sich unmöglich
um Nora handeln konnte.
»Wer zum Teufel sind Sie?«, rief Smithback.
Rasch griff er nach der Lampe auf dem Beistelltisch neben sich
und knipste sie an. Er erkannte die Person fast auf Anhieb.
Oder meinte doch, sie zu erkennen - aber irgendetwas stimmte
mit dem Gesicht nicht. Es war aschfahl, aufgedunsen, fast
breiig. Es wirkte krank ... oder Schlimmeres.
»Colin?«, rief Smithback. »Sind Sie's? Was zum Teufel machen
Sie in meiner Wohnung?«
In diesem Augenblick sah er das Schlachtermesser.
Sofort sprang er auf. Die Gestalt schlurfte ein paar Schritte
näher und versperrte ihm den Weg. Ein kurzer, furchtbarer
Moment des Stillstands. Dann stach das Messer zu, mit furchterregender
Geschwindigkeit sauste es durch die Luft, dorthin,
wo Smithback vor weniger als einer Sekunde noch gestanden
hatte.
»Was zum Teufel ... ?«, brüllte Smithback.
Wieder stach das Messer zu. Verzweifelt versuchte er, dem
Hieb auszuweichen, fi el über den Beistelltisch und stieß ihn
dabei um. Er rappelte sich auf und schaute seinem Angreifer
mitten ins Gesicht - tief in der Hocke, die Hände abwehrend
geöffnet, die Finger gespreizt und bereit. Rasch blickte er sich
nach einer Waffe um. Nichts. Der Kerl stand zwischen ihm
und der Küche. Wenn er an ihm vorbeikam, könnte er sich ein
Messer schnappen und Waffengleichheit herstellen.
Er zog leicht den Kopf ein, hielt einen Ellbogen nach vorn und
griff an. Der Mann taumelte unter der Attacke zwar nach hinten,
aber im letzten Augenblick zuckte die Hand mit dem Messer
nach vorn und schlitzte Smithback den Arm auf, eine tiefe
Wunde vom Ellbogen bis zur Schulter. Vor Überraschung und
Schmerz schrie Smithback auf und drehte sich zu einer Seite
weg - und empfand gleichzeitig einen extrem kalten Schmerz,
als ihm das Messer tief ins Kreuz gerammt wurde.
Die Klinge schien endlos in ihn einzudringen und seine innersten
Organe zu treffen, so dass ihn ein Schmerz durchzuck-
te, wie er ihn ähnlich nur einmal im Leben verspürt hatte.
Smithback keuchte auf, stürzte zu Boden und versuchte zu fl iehen.
Er spürte, wie das Messer aus ihm herausgezogen, dann
wieder hineingestoßen wurde. Plötzlich war da etwas Feuchtes
auf seinem Rücken, als ob ihn jemand mit warmem Wasser
übergießen würde.
Er mobilisierte all seine Kräfte und rappelte sich auf. Mit dem
Mut der Verzweifl ung ging er auf seinen Angreifer los und
schlug mit den blanken Fäusten auf ihn ein. Wieder und wieder
zerschnitt das Messer Smithbacks Handknöchel, aber das
spürte er schon nicht mehr. Unter seinem wütenden Angriff
taumelte der Mann nach hinten. Das war seine Chance! Blitzartig
machte er kehrt, in der Absicht, sich in die Küche zurückzuziehen.
Aber es kam ihm vor, als ob der Fußboden aus der
Waagerechten kippte, außerdem verspürte er inzwischen bei
jedem Atemzug ein merkwürdiges Brodeln in der Brust. Er
wankte in die Küche. Keuchend und um sein Gleichgewicht
ringend tastete er mit feuchten Händen nach der Schublade
mit den Küchenmessern. Aber noch während er sie aufzog, sah
er einen Schatten auf den Küchentresen fallen ... und dann
traf ihn nochmals ein furchtbar tiefer Messerstich, diesmal
zwischen den Schulterblättern. Er versuchte sich fortzudrehen,
aber immer wieder stieß das Messer zu, hob und senkte sich,
bis die karmesinrote Klinge immer undeutlicher und es rings
um ihn dunkel wurde ...
So hebt mich auf den Scheiterhaufen - alles vergangen, getan; das
Fest ist vorbei, und alle Lichter aus fortan ...
Die Fahrstuhltüren glitten auseinander. Nora trat hinaus in
den Flur. Sie hatte sich beeilt, und mit ein wenig Glück würde
Bill noch auf dem Sofa liegen, vielleicht den Roman von Thackeray
lesen, von dem er ihr schon die ganze Woche vorge-
schwärmt hatte. Behutsam balancierte sie den Kuchen-Karton
auf der Handfl äche, während sie mit der anderen Hand nach
dem Wohnungsschlüssel suchte. Bill hatte bestimmt schon erraten,
wohin sie gegangen war, aber es war eben schwer, den
Partner am ersten Hochzeitstag zu überraschen ...
Irgendetwas stimmte nicht. Sie war so in Gedanken versunken,
dass ihr erst nach einem Moment klar wurde, was sie störte:
Die Wohnungstür stand sperrangelweit offen.
Jemand kam aus der Wohnung. Nora kannte den Mann. Seine
Kleidung war blutdurchtränkt, in der Hand hielt er ein großes
Messer. Und während er stehen blieb und zu ihr hinblickte,
tropfte von seinem Messer Blut auf den Boden.
Instinktiv und ohne nachzudenken ließ Nora den Kuchen-
Karton und den Schlüssel fallen und stürzte sich auf ihn.
Gleichzeitig kamen Nachbarn aus ihren Wohnungen, riefen
vor Angst und Schrecken laut durcheinander. Als sie auf den
Mann losging, hob dieser das Messer, aber sie schlug seine
Hand weg und versetzte ihm einen Schlag in den Solarplexus.
Er holte aus und schleuderte sie gegen die gegenüberliegende
Wand des Flurs, so dass sie mit dem Kopf auf den harten Verputz
prallte. Nora sank zu Boden und sah nur noch Sternchen.
Mit erhobenem Messer schlurfte er auf sie zu. Sie wich der
Klinge aus, mit der er von oben auf sie einstechen wollte, dann
versetzte er ihr einen brutalen Fußtritt gegen den Kopf und
holte nochmals mit dem Messer aus. Schreie hallten auf dem
Korridor wider. Doch Nora hörte sie nicht. Sie konnte nichts
mehr erkennen, sondern sah nur noch verschwommene Bilder.
Und dann verschwanden auch die.
2
Lieutenant Vincent D'Agosta stand in dem proppevollen Korridor
vor der Tür zur Zweizimmerwohnung von Nora Kelly
und Bill Smithback. Er zuckte in seinem braunen Anzug mit
den Schultern und versuchte, die feuchten Arme von seinem
Polyesterhemd zu lösen. Er war sehr zornig, was aber gar nicht
gut war. Es würde nur seine Ermittlungen beeinfl ussen und
ihn daran hindern, alles genau unter die Lupe zu nehmen.
Er holte tief Luft und stieß sie wieder aus, um seine Wut vielleicht
auf diese Weise loszuwerden.
Die Wohnungstür ging auf. Ein hagerer, gebeugter Mann mit
einem kleinen Haarbüschel auf der Glatze trat aus der Wohnung.
Er schleppte einen Sack mit Gerätschaften und schob
einen auf einem Kofferkuli festgezurrten Aluminiumkoffer vor
sich her. »Wir sind fertig, Lieutenant.« Der Mann schnappte
sich von einem anderen Beamten ein Klemmbrett und meldete
sich ab, sein Assistent ebenso.
D'Agosta schaute auf die Uhr: 15 Uhr. Die Leute von der Spurensicherung
hatten lange gebraucht. Sie waren besonders
sorgfältig vorgegangen. Ihnen war klar, dass er und Smithback
sich schon lange kannten. Es ärgerte ihn, dass sie sich mit gesenktem
Kopf an ihm vorbeistahlen, ihn von der Seite ansahen
und sich fragten, wie er mit der Sache wohl fertig werden würde.
Ob er den Fall abgeben würde. Viele Detectives im Morddezernat
würden das tun - und sei es nur deshalb, weil es im
Gerichtssaal zu Fragen kommen würde. Es machte nämlich
gar keinen guten Eindruck, wenn die Verteidigung einen in
den Zeugenstand rief und fragte: »Der Verstorbene war ein
Freund von Ihnen? Also fi nden Sie nicht, dass das ein ziemlich
interessanter Zufall ist?« Auf derlei Komplikationen sollte man
in Gerichtsverfahren tunlichst verzichten, außerdem konnte
kein Bezirksstaatsanwalt es ausstehen, wenn sich so etwas ergab.
Aber D'Agosta dachte nicht daran, diesen Mordfall abzugeben.
Niemals. Außerdem war die Sache glasklar. Der Täter war so
gut wie verurteilt, sie hatten ihn praktisch auf frischer Tat ertappt.
Jetzt mussten sie den Dreckskerl nur noch fi nden.
Der letzte Mitarbeiter des Spurensicherungsteams kam aus
der Wohnung und checkte aus. D'Agosta blieb allein mit
sei nen Gedanken zurück. Eine Minute lang stand er auf dem
inzwischen menschenleeren Flur und bemühte sich, seine
angespannten Nerven zu beruhigen. Dann streifte er ein Paar
Latexhandschuhe über, zog das Haarnetz über seine beginnende
Glatze und ging zur offenen Wohnungstür. Ihm war
leicht übel. Die Leiche war natürlich abtransportiert worden,
aber sonst hatte man nichts angerührt. Dort, wo der Eingangsfl
ur im rechten Winkel abbog, waren ein schmaler Streifen
des dahinterliegenden Zimmers und eine Blutlache zu erkennen,
zudem blutige Fußabdrücke und der Abdruck einer Hand,
die an der cremefarbenen Wand hinuntergezogen worden
war.
D'Agosta machte einen behutsamen Schritt über die Blutlache
und blieb vor dem Wohnzimmer stehen. Ledersofa, zwei Sessel,
umgestürzter Beistelltisch, weitere Blutfl ecken auf dem
Perserteppich. Er ging langsam bis zur Zimmermitte, wobei er
ganz vorsichtig mit seinen Schuhen mit den Kreppsohlen auftrat,
blieb stehen, drehte sich um und versuchte, sich das Tatgeschehen
zu vergegenwärtigen.
D'Agosta hatte das Team gebeten, umfangreiche Proben der
Blutfl ecken zu nehmen; es gab da überlappende Muster von
Blutspritzern, die er abklären wollte, Fußabdrücke, die sich
durchs Blut zogen, übereinanderliegende Abdrücke von Händen.
Smithback hatte sich wie ein Löwe gewehrt; ausgeschlos-
sen, dass der Täter gefl ohen war, ohne DNA-Spuren hinterlassen
zu haben.
Auf den ersten Blick handelte es sich um ein simples Verbrechen,
einen schlecht geplanten, schmutzigen Mord. Der Täter
hatte sich mit einem Hauptschlüssel Zutritt zur Wohnung verschafft.
Smithback hielt sich im Wohnzimmer auf. Der Mörder
stach auf Smithback ein, was diesen sofort stark in die Defensive
drängte. Dann hatten Täter und Opfer gekämpft. Der
Kampf hatte sich in der Küche fortgesetzt - Smithback hatte
versucht, sich zu bewaffnen: Die Messer-Schublade stand halb
offen, am Griff und auf dem Küchentresen befanden sich blutige
Abdrücke von Händen. Er hatte sich aber kein Messer
schnappen können; verdammt schade. Hatte währenddessen
einen Messerstich in den Rücken bekommen. Dann hatten sie
noch einmal gekämpft. Inzwischen musste Smithback ziemlich
übel verletzt gewesen sein, überall auf dem Boden waren Blut
und Rutschfl ecken von nackten Füßen. Aber D'Agosta war sich
ziemlich sicher, dass auch der Täter mittlerweile blutete. Blutete,
Haare und Fasern verlor, keuchte und schnaufte vor Anstrengung,
vielleicht Speichel und Schleim verspritzte. Es war
alles da, und er war überzeugt davon, dass das Spurensicherungsteam
nichts übersehen hatte. Die hatten sogar mehrere
Dielenbretter ausgesägt und mitgenommen, darunter auch
mehrere mit Messerspuren. Sie hatten Stücke aus der Trockenbauwand
herausgeschnitten, Fingerabdrücke von allen Oberfl
ächen genommen, jede Faser eingesammelt, die sie fi nden
konnten, jede Fluse und jedes Fitzelchen Schmutz.
D'Agosta ließ den Blick weiter durch das Zimmer schweifen,
während in seinem Kopf der Film über das Verbrechen weiter
ablief. Schließlich hatte Smithback sehr viel Blut verloren und
war so weit geschwächt gewesen, dass der Mörder ihm den Todesstoß
versetzen konnte. Laut Aussage des Pathologen war
das Messer mitten durchs Herz gestoßen worden und hatte
sich mehr als einen Zentimeter tief in den Fußboden gebohrt.
Der Täter hatte es, um es herauszuziehen, so heftig gedreht,
dass das Holz gesplittert war. D'Agosta merkte, dass er wieder
eine ungeheure Wut und Trauer empfand. Auch dieses Dielenbrett
war herausgesägt worden.
Nicht, dass all die Aufmerksamkeit für Details einen großen
Unterschied machte - sie wussten ja schon, wer der Täter war.
Es konnte dennoch nie schaden, Beweismittel anzuhäufen.
Man wusste ja nie, mit was für Geschworenen man es in dieser
verrückten Stadt zu tun haben würde.
Und dann war da noch dieser bizarre Krempel, den der Mörder
zurückgelassen hatte. Ein zermanschtes Gebinde aus Federn,
verschnürt mit grünem Bindfaden. Ein Kleidungsstück,
bestickt mit knallbunten Pailletten. Ein kleines Beutelchen aus
Backpapier mit einer merkwürdigen Zeichnung darauf. Der
Mörder hatte das alles in die Blutlache gelegt wie Opfergaben.
Die Jungs von der Spurensicherung hatten die Sachen zwar
alle mitgenommen, aber sie standen D'Agosta noch deutlich
vor Augen.
Eine Sache hatten die Spurensicherungsleute allerdings nicht
mitnehmen können: das eilig hingekritzelte Bild an der Wand.
Zwei Schlangen, die sich um irgendein merkwürdiges, stacheliges,
pfl anzenähnliches Etwas wanden, dazu Sterne, Pfeile, komplizierte
Linien und ein Wort, das aussah wie »Dambala«. Das
Bild war ohne Zweifel mit Smithbacks Blut gemalt worden.
D'Agosta ging in das Schlafzimmer und nahm das Bett in Augenschein,
die Kommode, den Spiegel, das Fenster mit Blick
nach Südosten auf die West End Avenue, den Teppich, die
Wände, die Decke. Am gegenüberliegenden Ende des Zimmers
befand sich ein zweites Bad, die Tür war verschlossen.
Aus dem Bad drang ein Geräusch: der Wasserhahn, der auf
und zugedreht wurde. Jemand von der Spurensicherung befand
sich also noch in der Wohnung. D'Agosta ging mit langen
Schritten hin, packte den Türgriff und stellte fest, dass die Tür
abgeschlossen war.
»He, Sie da drin! Was machen Sie da?«
»Nur einen Moment«, ließ sich eine gedämpfte Stimme vernehmen.
D'Agostas Erstaunen verwandelte sich in Verärgerung. Der
Idiot war auf die Toilette gegangen. Und das an einem versiegelten
Tatort. Irre. Unfassbar.
»Machen Sie die Tür auf, mein Freund. Sofort.«
Die Tür sprang auf - und vor ihm stand Special Agent A. X. L.
Pendergast, Reagenzgläser in einem kleinen Gestell in der einen
Hand, Pinzette in der anderen, eine Juwelierlupe an einem
Stirnband auf dem Kopf.
»Vincent«, begann er in seinem vertrauten, seidenweichen
Tonfall. »Es tut mir so leid, dass wir uns unter solch unglücklichen
Umständen wiedersehen.«
D'Agosta starrte ihn entgeistert an. »Pendergast - ich hatte ja
keine Ahnung, dass Sie wieder in der Stadt sind.«
Pendergast steckte die Pinzette geschickt ein und legte das Gestell
mit den Reagenzgläsern, dann die Lupe in seine altmodische
Arzttasche. »Der Mörder war weder hier drin noch im
Schlafzimmer. Eine recht offensichtliche Schlussfolgerung,
aber ich wollte sichergehen.«
»Ist das jetzt ein Fall für das FBI?«, fragte D'Agosta und folgte
Pendergast durch das Schlafzimmer ins Wohnzimmer.
»Streng genommen nicht.«
»Dann arbeiten Sie also wieder frei?«
»So könnte man das ausdrücken. Ich würde es allerdings sehr
begrüßen, wenn wir meine Beteiligung vorerst für uns behielten.
« Er drehte sich um. »Ihre Meinung, Vincent?«
D'Agosta legte seine Rekonstruktion des Verbrechens dar,
während Pendergast zustimmend nickte. »Nicht, dass das einen
großen Unterschied macht«, fasste D'Agosta zusammen.
»Wir wissen ja bereits, wer der Dreckskerl ist. Wir müssen ihn
nur noch fi nden.«
Pendergast hob fragend die Brauen.
»Er wohnt hier im Haus. Wir haben zwei Augenzeugen, die
den Täter gesehen haben, als er das Gebäude betreten, und
zwei, als er es verlassen hat, von oben bis unten mit Blut besudelt,
ein Messer in der Hand. Er hat Nora Kelly attackiert, als
er die Wohnung verließ - hat es versucht, sollte ich sagen, aber
der Kampf hat die Nachbarn alarmiert, und da ist er gefl üchtet.
Sie haben ihn genau erkannt, die Nachbarn, meine ich. Nora
liegt im Moment im Krankenhaus - eine kleine Gehirnerschütterung,
es dürfte ihr aber gut gehen. Na ja, den Umständen
entsprechend gut.«
Pendergast nickte kurz.
»Der Arsch heißt Fearing. Colin Fearing. Arbeitsloser britischer
Schauspieler. Apartment zwei-eins-vier. Er hat Nora ein
paarmal in der Lobby belästigt. Für mich sieht das nach einer
Vergewaltigung aus, die außer Kontrolle geraten ist. Fearing
hatte vermutlich gehofft, Nora allein in der Wohnung anzutreffen,
aber stattdessen war Smithback da. Kann sein, dass er
den Schlüssel aus dem Schlüsselschrank des Hausmeisters entwendet
hat. Ich lasse das gerade von einem Beamten überprüfen.«
Diesmal nickte Pendergast allerdings nicht bestätigend. Nur
der übliche undurchdringliche Ausdruck lag in seinen tiefl iegenden,
blassblauen Augen.
»Wie auch immer, der Fall ist glasklar«, sagte D'Agosta, der
sich trotzdem irgendwie in die Defensive gedrängt fühlte.
»Nicht nur Nora hat ihn identifi ziert. Er ist auf den Videobän-
dern der Security des Gebäudes zu sehen, eine oscarreife Darstellung.
Kommt rein und geht raus. Von dem Moment, als er
das Gebäude verließ, haben wir eine Frontalaufnahme, wie er,
Messer in der Hand, von oben bis unten mit Blut besudelt,
seinen bedauernswerten Hintern durch die Lobby schleppt,
den Doorman bedroht und dann abhaut. Wird bei den Geschworenen
einen klasse Eindruck hinterlassen. Da kann sich
der Dreckskerl nicht rausreden.«
»Ein glasklarer Fall, sagten Sie?«
Wieder hörte D'Agosta einen leisen Zweifel in Pendergasts
Stimme. »Ja«, sagte er bestimmt. »Glasklar.« Er sah auf die
Uhr. »Der Doorman wird im Moment befragt, meine Leute
warten auf mich. Er wird einen fabelhaften Zeugen abgeben,
ein verlässlicher, solider Familienvater, der den Täter seit Jahren
kannte. Möchten Sie ihm irgendwelche Fragen stellen, bevor
wir ihn nach Hause schicken?«
»Mit dem größten Vergnügen. Aber bevor wir nach unten gehen
...« Pendergast unterbrach sich. Mit seinen spinnedünnen
weißen Fingern griff er in die Brusttasche seines schwarzen
Anzugs und zog ein gefaltetes Dokument hervor. Mit eleganter,
knapper Handbewegung hielt er es D'Agosta hin.
»Was ist das?« D'Agosta nahm das Schriftstück entgegen, faltete
es auseinander und betrachtete den roten notariellen
Stempel, das Große Siegel der Stadt New York, den edlen Druck,
die Unterschriften.
»Colin Fearings Sterbeurkunde. Vor zehn Tagen unterschrieben
und datiert.«
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2009
unter dem Titel Cemetery Dance
bei Grand Central Publishing, New York.
Besuchen Sie uns im Internet:
www.knaur.de
Vollständige Taschenbuchausgabe April 2011
Knaur Taschenbuch.
Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt
Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
Copyright © 2009 by Splendide Mendax, Inc., und Lincoln Child
Copyright © 2010 der deutschsprachigen Ausgabe bei Droemer Verlag.
Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt
Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf - auch teilweise -
nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Redaktion: Ralf Reiter
Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Umschlagabbildung: FinePic®, München
Satz: Adobe InDesign im Verlag
Druck und Bindung: CPI - Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany
ISBN 978-3-426-50032-3
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Autoren-Porträt von Douglas Preston, Lincoln Child
Douglas Preston wurde 1956 in Cambridge, Massachusetts, geboren. Er studierte in Kalifornien zunächst Naturwissenschaften und später Englische Literatur. Nach dem Examen startete er seine Karriere beim »American Museum of Natural History« in New York. Eines Nachts, als Preston seinen Freund Lincoln Child auf eine mitternächtliche Führung durchs Museum einlud, entstand dort die Idee zu ihrem ersten gemeinsamen Thriller, »Relic«, dem viele weitere internationale Bestseller folgten. Douglas Preston schreibt auch Solo-Bücher (»Der Codex«, »Der Canyon«, »Credo«, »Der Krater«). Außerdem arbeitet er als Journalist und schreibt für diverse Magazine. Zudem ist er Präsident der »Authors Guild«, der ältesten und größten Berufsorganisation für amerikanische Schriftsteller*innen. Er lebt an der Ostküste der USA. Lincoln Child wurde 1957 in Westport, Connecticut, geboren. Nach seinem Studium der Englischen Literatur arbeitete er zunächst als Verlagslektor und später für einige Zeit als Programmierer und Systemanalytiker. Während der Recherchen zu einem Buch über das »American Museum of Natural History« in New York lernte er Douglas Preston kennen und entschloss sich nach dem Erscheinen des gemeinsam verfassten Thrillers »Relic«, Vollzeit-Schriftsteller zu werden. Child lebt mit seiner Frau und seiner Tochter in New Jersey.
Bibliographische Angaben
- Autoren: Douglas Preston , Lincoln Child
- 2011, 3. Aufl., 512 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Michael Benthack
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426500329
- ISBN-13: 9783426500323
- Erscheinungsdatum: 28.03.2011
Kommentar zu "Cult - Spiel der Toten / Pendergast Bd.9"
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