Das achte Astrolabium
Das achte Astrolabium von Kathrin Lange
LESEPROBE
1. Kapitel
In der Nacht vor St. Notkerleuchteten die Sterne über Beziers an derHimmelskugel, als habe jemand einen perlenbesetzten Schleier über siegebreitet. Am nördlichen Horizont glänzte Kassiopeia mit solch schimmernderEleganz, dass es Anne schwer fiel, den Blick von ihr abzuwenden. Zwischen zwei Atemzügenwar es ihr, als schwebe sie inmitten all der Sterne, eines festen Halts beraubtund gewichtslos wie ein Engel. Die Milchstraße lag wie ein heller Schal auf demHorizont und umfing die dunklen Schatten der weit entfernten Berge wie mit derzartesten Spitze. Andromeda war vor einer guten Stunde untergegangen, und Perseus, der seiner Geliebten auf alle Ewigkeit folgt,schickte sich gerade an, es ihr gleichzutun.
Anne unterdrückte einen Seufzer derZufriedenheit. Wie immer, wenn sie nachts unter freiem Sternenhimmel stand, aufder Dachterrasse ihres Hauses, die ihr Vater eigens für die Beobachtung derSterne hatte bauen lassen, spürte sie eine große innere Ruhe. Dann glaubte sie,einen winzigen Zipfel der Schöpfung nicht nur mit ihren eigenen Augen sehen zu können,sondern ihn auch zu verstehen. Tief in ihrem Innersten. Es war ein Verstehenmit dem Herzen, und jeden Abend genoss Anne dieses kurze Gefühl aufs Neue,bevor sie sich an ihre Arbeit machte.
Heute jedoch kam sie gar nicht erstdazu, denn hinter ihr auf der Treppe ertönten Schritte. Leichte Schritte warenes, nicht das schwerfällige Poltern, mit dem ihr Vater normalerweise diesteile Stiege erklomm. Eine Frau.
«Anne?» Ein Haarschopf erschien überder Brüstung. Das Gesicht darunter, schmal und ein wenig kantig, schimmerte imLicht der Sterne.
«Ich bin hier, Madeleine.» Anne ließsich auf die Bank fallen, die ihr Vater sich vor einigen Monaten gekauft hatte,damit er sich in den langen Nächten der Sternenbetrachtung hin und wiedersetzen und seine alten, müden Beine ausruhen konnte.
Die Frau überwand die letzten Stufender Treppe und betrat die Dachterrasse. Nach einem kurzen Blick in den Himmelkam sie zu Anne und setzte sich neben sie. Madeleine war, ebenso wie Anne,gerade zwanzig geworden, aber im Gegensatz zu ihr, die noch bei ihrem Vaterlebte, war Madeleine bereits seit einem Jahr Witwe. Ihr Mann, ein angesehenerTuchhändler aus Castres, war auf einer seiner Reisenin den Alpen in einen Fluss gefallen und anschließend an einer Lungenentzündunggestorben. Er hatte Madeleine nicht nur das Haus neben dem von Annes Vatervermacht, sondern dazu zwei prall gefüllte Lagerschuppen, einen in Montpellier undeinen in Albi. Madeleine war durch seinen Tod nicht nurzu einer reichen, sondern auch zu einer höchst begehrten Frau geworden. Beziers Junggesellen standen Schlange, um sie zu ehelichen,doch obwohl das offizielle Trauerjahr seit fast einem Monat abgelaufen war,machte Madeleine nur wenig Anstalten, sich für einenvon ihnen zu interessieren.
«Puh!» Sie blies gegen die Strähnen,die ihr verschwitzt ins Gesicht hingen. «Was für ein Tag!»
Anne lächelte in die Dunkelheit.Madeleine liebte es, wenn ihr Geschäft brummte, aber fast noch mehr liebte siees, darüber zu klagen, wie viel sie zu tun hatte.
«Drei Ballen Croise,drei Ballen Finette, natürlich beides aus Utrecht, dazu ein halber BallenTriester Seide und ein halber Ballen dunkelblauer Samt aus Venedig - und wasmacht der Tölpel? Lässt die Ochsen durchgehen, der Karren kippt um, und alleslandet im Dreck der Ruelle Pezenas!Kannst du dir das vorstellen?»
Anne lachte. Der Tölpel, daskonnte nur Jerome sein, Madeleines Lagerverwalter, über den sie mit solcherHingabe Tag für Tag herzog, dass sich in Anne der Verdacht regte, Madeleinekönne ihn als neuen Ehemann ins Auge gefasst haben. Sie unterdrückte einSeufzen. Insgeheim beneidete sie Madeleine um die Leichtigkeit, mit der siesich damals für den Tuchhändler aus Castresentschieden hatte und mit der sie über kurz oder lang auch einen neuen Mannaussuchen würde. Madeleine verwandte nicht viel Eifer auf die Frage, oh dieMänner sie auch liebten. Sie war durch und durch praktisch veranlagt und würdeden Bewerber wählen, der ihr am meisten Vorteile einbrachte.
«Ich habe heute Nachmittag Charlesauf dem Markt von Maureilhan gesehen», berichtete dieTuchhändlerin, als hätte sie Annes Gedanken gelesen.
Anne brummte etwas Unverständliches.
Madeleine beugte sich vor und spähtein ihr Gesicht, aber es war zu dunkel, um sie etwas erkennen zulassen. Mit einer wegwerfenden Geste lehnte sie sich wieder zurück undstreckte die Beine aus. «Ich frage mich immer wieder, was du gegen ihn hast!»
«Nichts.» Anne hatte wirklich nichtsgegen Charles de Lespignian. Als Sohn einesHauptmanns der Stadtwache diente er seit zwei Jahren selbst dort. Er hatte eineglänzende Karriere vor sich und sah recht gut aus mit seinen tief liegenden,fast glühenden Augen und dem schwarzen, lockigen Haar. Er war charmant,humorvoll und aller Wahrscheinlichkeit nach auch noch treu. Er hatte nur eineneinzigen Nachteil.
Er war dumm.
Anne zog die Nase kraus, denn ihrfiel das letzte Zusammentreffen mit Charles ein. Sie hatten sich zufälliggetroffen, ebenfalls auf dem Markt in Maureilhan.Anne war auf dem Weg zu einem ihrer eigenen Kunden gewesen. Zwar half sie ihremVater bei dessen Tätigkeit als Messingschmied, aber nebenbei verdiente sie sichab und an ein wenig Geld mit der Niederschrift von Briefen für Menschen, diedes Schreibens nicht mächtig waren. Nach einem Augenblick peinlichen Schweigenshatte Charles angeboten, sie zu begleiten, und sie hatte keinen Grund gesehen,es ihm zu verweigern. Bei dem Kunden jedoch, einem steinalten Töpfermeister,hatte er sich dann so dämlich angestellt, dass Anne der Auftrag beinahe durchdie Lappen gegangen wäre. Sie erinnerte sich noch deutlich daran, wie er demAlten jovial auf die Schulter geklopft und gedröhnt hatte, ein Mann habe esnicht nötig, sich mit der niederen Tätigkeit des Lesens und schon gar nicht mitdem Schreiben zu befassen. Er, der Töpfermeister, sei schließlich der besteBeweis dafür, dass man zu Wohlstand und Ansehen gelangen konnte, ohne es zubeherrschen. Anne hatte Charles gegen das Schienbein getreten, aber das hatte ihnnicht davon abgehalten nachzuschieben, das Schreiben sei ohnehin eine Tätigkeitfür Pfaffen und Weibsleute.
Erst nach Annes wütenderZurechtweisung auf der Straße hatte er begriffen, dass der Töpfermeister zeitseines Lebens mit großer Begeisterung gelesen und auch selbst seine Geschäftsbriefegeschrieben hatte. Er war nun bloß halb blind und konnte es zu seinem großenBedauern nicht mehr selbst tun.
Anne lehnte sich zur Seite und grubdie Finger in die Erde eines Topfes, in dem sie im Frühjahr Kräuter zog. « Washat er gesagt? », fragte sie.
«Nicht viel. Ich glaube, seinMissgeschick von neulich ist ihm peinlich. Er will dir offenbar ein Geschenkmachen und hat mich gefragt, was du wohl gerne hättest.»
«Ein hellblaues Seidentuch.»
Madeleine lachte. Sie wusste, dassCharles Anne bereits zwei dieser Tüchlein geschenkt hatte, für die diesekeinerlei Verwendung hatte. Sie zerrissen ihr allenfalls unter den Händen,weil sie durch ihre Arbeit oftmals so raue Haut hatte.
Anne schüttelte sich. «Ich hasseHellblau!»
«Ich weiß. Vielleicht sollte ich ihmsagen, dass du Grün bevorzugst.»
«Wenn du das tust, dann ...» Anneschlug spielerisch nach Madeleine, traf sie aber nicht. «Obwohl ...» Sieüberlegte. «Vielleicht solltest du es doch tun, sonst kommt er nächstens nochmit einem Ring daher.» Sie prustete los, und Madeleine fiel ein.
«Genau», kicherte sie. «Weil du dirkeinen selber machen kannst.»
Robert, Annes Vater, hatte sich alsMessingschmied darauf spezialisiert, aus dem goldähnlichen Metall Schmuckstückeherzustellen, die sich auch weniger wohlhabende Händler und Handwerker für ihreFrauen und Töchter leisten konnten. Im Laufe der letzten acht Jahre hatte er inErmangelung eines Sohns Anne die Feinheiten seines Handwerks beigebracht. Geradevor wenigen Tagen hatte er gestichelt, wenn sie so weitermachen würde wiebisher, würde sie ihn in ihrer Kunstfertigkeit bald überholt haben. Annedrehte an einem schmalen Goldring, den sie an ihrer linken Hand trug. Einefeine Lorbeerranke war in ihn eingraviert. Robert hatte ihn ihr geschenkt,nachdem sie ihr erstes Buch in lateinischer Sprache durchgelesen - und auchverstanden - hatte.
Ein goldener Lorbeer für meinegelehrte Tochter!
Das waren seine Worte gewesen, alser ihn ihr überreicht hatte. Und François, ihr Pate, hatte strahlend vor Stolzdaneben gestanden.
Der Ring war der einzige Schmuck,den Anne trug.
«Nein, dann doch lieber einSeidentuch, schließlich ist meine beste Freundin ja auch keine Tuchhändlerin.»
Sie kicherten noch eine Weile, dochverstummten sie schließlich und saßen schweigend nebeneinander.
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© Kindler Verlag
- Autor: Kathrin Lange
- 2006, 1, 528 Seiten, mit Abbildungen, Maße: 13,5 x 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Kindler
- ISBN-10: 3463404966
- ISBN-13: 9783463404967
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