Das Buch der Namen
Ägypten: Sir Rodney entdeckt ein lange verschollenes Manuskript - kurz darauf ist er tot. Damit beginnt eine rätselhafte Mordserie: Auf der ganzen Welt werden Menschen getötet, die bestimmte Namen tragen. Und nur David Shepherd kann das...
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Ägypten: Sir Rodney entdeckt ein lange verschollenes Manuskript - kurz darauf ist er tot. Damit beginnt eine rätselhafte Mordserie: Auf der ganzen Welt werden Menschen getötet, die bestimmte Namen tragen. Und nur David Shepherd kann das Morden stoppen - denn nur er kennt die Namen.
Lese-Probe zu „Das Buch der Namen “
Das Buch der Namen von Jill Gregory und Karen TintoriPROLOG
7. Januar 1986 Sakkara, Ägypten
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Zwei Männer gruben im Schutz der Dunkelheit mit Schaufeln im Sand. Ihre einzige Lichtquelle in der Höhle war eine Laterne, die sie neben ihren Rucksäcken abgestellt hatten. Dieser Katakomben- und Gräberkomplex gut zwanzig Kilometer außerhalb von Kairo war eine einzige Schatztruhe, voll von Zeugnissen antiker Kunst und Architektur. Seit dreitausend Jahren diente Sakkara, die Stadt der Toten, als Grabstätte für Könige und gemeines Volk - Generationen von Archäologen hatten ihr Leben damit zugebracht, sie zu erkunden, und hatten noch immer nicht alle ihre Geheimnisse entdeckt. Dasselbe galt für Generationen von Grabräubern.
Sir Rodney Davis, in den Ritterstand erhoben für die Entdeckung des Echnaton-Tempels mit seinen atemberaubenden Schätzen, spürte den vertrauten Sog der Erregung. Sie waren dicht vor dem Ziel. Er wusste es. Er konnte die brüchigen Papyri schon regelrecht fühlen.
Das Buch der Namen. In Teilen oder vollständig, er wusste es nicht. Er wusste nur, dass es hier war. Es musste hier sein.
Ihn überlief ein erwartungsvoller Schauer, wie an jenem Abend, als er auf dem Hügel Ketef Hinnom in Israel das Zepter König Salomos ausgegraben hatte.
Es war aus Gold, mit einem aus Elfenbein geschnitzten daumenhohen Granatapfel an der Spitze, in den winzige hebräische Schriftzeichen eingeritzt waren - das erste unversehrt aufgefundene Artefakt, das die kürzlich dort freigelegten Befestigungsanlagen mit dem biblischen König aus dem zehnten Jahrhundert vor Christus in Verbindung brachte. Doch das Buch der Namen wäre ein Fund, der diese und alle anderen Entdeckungen in den Schatten stellen würde. Damit würde Sir Rodney zweifellos in die Geschichte eingehen.
Er vertraute seinen Instinkten. Sie waren wie eine Wünschelrute, die ihn zu unvergleichlichen Schätzen leitete. Und heute Nacht, hier in diesem Sand, über den die Könige des Altertums geschritten waren, grub der Archäologe unermüdlich, getrieben von der Entdeckerlust, dem Nervenkitzel, etwas zutage zu fördern, das seit den Zeiten der Engel und Triumphwagen keines Menschen Auge mehr erblickt hatte.
Neben ihm ließ Raoul die Schaufel fallen, griff nach seiner Feldflasche und trank in großen Zügen.
«Mach eine Pause, Raoul. Du hast schließlich schon eine Stunde vor mir angefangen.»
«Sie sind derjenige, der sich ausruhen sollte, Sir. Was seit Jahrtausenden hier verborgen liegt, wird auch noch weitere drei oder vier Stunden auf uns warten können.»
Sir Rodney hielt inne und warf einen Seitenblick auf den Mann, der seit fast einem Dutzend Jahren sein treuer Gehilfe war. Wie alt war Raoul LaDouceur gewesen, als sie sich kennenlernten? Sechzehn, siebzehn? Er war der unermüdlichste Arbeiter, den Sir Rodney je erlebt hatte. Ein reservierter, würdevoller junger Mann mit olivenfarbenem mediterranem Teint und auffallend tief liegenden Augen, von denen eines die Farbe von Saphiren hatte, das andere den dunklen Mahagoniton türkischer Kaffeebohnen.
«Ich habe mein halbes Leben lang auf diese Entdeckung gewartet, mein Freund. Was kümmert es mich da, noch eine Stunde länger zu arbeiten?» Sir Rodney beförderte eine weitere Ladung Sand aus dem Loch im Boden der Höhle. Raoul beobachtete ihn einen Moment lang schweigend, dann verschloss er seine Feldflasche und griff seinerseits wieder zur Schaufel.
Während der nächsten Stunde wurde die Stille nur von ihren angestrengten Atemzügen und dem dumpfen Knirschen der Schaufeln im Sand durchbrochen. Dann ertönte plötzlich ein hellerer Klang, der Sir Rodney mitten in der Bewegung erstarren ließ. Augenblicklich war alle Erschöpfung vergessen. Er ließ sich auf die Knie nieder und begann den Sand mit seinen von der Anstrengung taub gewordenen Fingern beiseitezuschieben. Raoul kniete sich neben ihn; auch sein Herz schlug heftig vor gespannter Erwartung.
«Die Laterne, Raoul », sagte Sir Rodney leise, während er mit den Händen die Wölbung eines Tongefäßes im Sand freilegte. Behutsam bewegte er es hin und her, bis es sich aus dem Boden löste.
Hinter ihm hielt Raoul die Laterne tiefer - und im Lichtschein wurde eine Papyrusrolle sichtbar, die im Hals des Gefäßes steckte.
«Lieber Gott, das könnte es tatsächlich sein!» Mit zitternder Hand zog Sir Rodney die Papyri aus ihrem Versteck.
Raoul beeilte sich, die Bodenplane auszubreiten, und trat dann zurück, während sein Mentor die vergilbten Blätter darauf entrollte. Beide erkannten die Schriftzeichen, eine frühe Form des Hebräischen, und wussten sofort, was sie da gefunden hatten.
Sir Rodney beugte sich tiefer darüber, betrachtete mit wildklopfendem Herzen eingehend die winzigen Buchstaben. Vor ihm lag der größte Fund seiner Karriere.
«Bei Gott, Raoul, das hier könnte die Welt verändern.» «Allerdings, Sir, das könnte es.»
Raoul stellte die Laterne auf dem Rand der Plane ab, dann trat er zurück und ließ eine Hand in die Tasche gleiten. Lautlos zog er den eingerollten Draht hervor, legte mit sicherem Griff die Schlinge um Sir Rodneys Hals und zog sie zu.
Es ging blitzschnell. Mit einer einzigen raschen Bewegung zerrte Raoul ihn von den kostbaren Schriftstücken weg und brach ihm das Genick.
Der alte Mann hatte wieder einmal recht gehabt, sinnierte Raoul, während er die Papyri aufsammelte: Dieser Fund würde in der Tat die Welt verändern.
In seiner Hochstimmung über diesen Triumph bemerkte Raoul nicht den Bernstein, der am Boden des Tongefäßes lag. In die kugelig geschliffene Oberfläche waren drei hebräische Schriftzeichen eingeritzt.
7. Januar 1986
Hartford Hospital, Connecticut
Dr. Harriet Gardner saß erschöpft auf der unbequemen Couch in der Krankenhauslounge und wollte gerade zum ersten Mal seit zwölf Stunden eine Kleinigkeit essen, als ihr Piepser sie zurück in die Notfallambulanz rief. Sie hastete den Flur entlang, wobei sie im Laufen noch eilig ein paar Bissen von ihrem Apfel verschlang. Das muss ein wirklich schlimmer Notfall sein, dachte sie, sonst wäre Ramirez allein damit fertig geworden. Sie warf den halb aufgegessenen Apfel in einen Abfalleimer und fragte sich, was sie wohl diesmal erwartete. Als sie die weißen Metalltüren zur Notfallambulanz aufstieß, arbeiteten dort bereits drei Trauma-Teams auf Hochtouren. Auf Tragen lagen drei Jugendliche, von denen einer vor Schmerzen schrie. Noch vor fünf Minuten war es in diesem Trakt still gewesen bis auf das leise Summen der Monitore, das regelmäßige Rauschen der Blutdruckmanschetten und das gelegentliche Wimmern des Fünfjährigen in Kabine 6, der mit Verdacht auf Wadenbeinbruch eingeliefert worden war und auf die Röntgenuntersuchung wartete.
Jetzt drängten sich Sanitäter und Polizisten in der Ambulanz, und der chirurgische Assistenzarzt Ramirez führte gerade einem Mädchen im Teenageralter einen Tubus in die Luftröhre ein.
«Den Jungen sofort hoch zum CT», schrie er Ozzie zu, dem Krankenpfleger, der einen der Jugendlichen auf einer blutdurchtränkten Trage in Richtung Aufzug schob. Der Teenager lag reglos da, das Bein in einem unnatürlichen Winkel verdreht. Über seinem rechten Auge klaffte eine Platzwunde, und aus beiden Ohren rann Blut.
«Was ist mit ihm hier?» Harriet wandte sich dem anderen Jungen zu, auf dessen Sweatshirt der Aufdruck «18 Celtics» zu lesen war. Teresa, die medizinische Assistentin, die an der Trage stand, machte ihr Platz. Das Shirt war in der Mitte aufgeschnitten worden, sodass die blutüberströmte Brust des Jungen frei lag.
«Die drei sind von einem Dach gestürzt», erklärte ein Sanitäter. «Drei Stockwerke tief, und da war noch ein Fenstergiebel im Weg.»
Kinder! «Hier sofort einen Astrup machen», ordnete Harriet knapp an. «Und ich brauche ein mobiles Röntgengerät für die Brust, sofort.» Auch nach drei Jahren in der Notaufnahme machte es ihr noch immer zu schaffen, wenn sie Kinder behandeln musste.
Reiß dich zusammen, ermahnte sie sich selbst, während sie einen prüfenden Blick auf den Monitor warf. Puls bei 130, Blutdruck 80 zu 60.
Es stand schlecht um den Jungen.
«Dieser hier ist der Sohn von Senator Shepherd.» Doshi schob das Sauerstoffgerät ans Kopfende der Trage. «Und der, den Ozzie gerade zum CT bringt, ist der Sohn des Schweizer Botschafters.»
«Wie heißt der Junge?»
Doshi warf einen Blick auf die Karte. «David. David Shepherd.»
Harriet untersuchte David Shepherds zerschmetterten Oberkörper. «Das sieht nach mehrfachen Rippenbrüchen aus, Schlüsselbeinbruch, Pneumothorax.»
Doshi führte geschickt einen Beatmungsschlauch in die Luftröhre ein. «Die anderen waren zwischenzeitlich immer wieder kurz bei Bewusstsein, aber der hier nicht.»
Die Manschette zischte erneut. Harriets Blick huschte zum Monitor. Der Blutdruck des Jungen ging rapide in den Keller.
Verfluchter Mist.
Vereinte Nationen, New York City
Donnernder Applaus erfüllte den Saal, als Generalsekretär Alberto Ortega seine Ansprache an die versammelten Delegierten beendet hatte. Lächelnd bahnte sich Ortega einen Weg zwischen den Diplomaten hindurch, hielt ein ums andere Mal inne, um Hände zu schütteln und sich dazu beglückwünschen zu lassen, dass der Zusatzartikel zur 1926 in Genf unterzeichneten Konvention gegen die Sklaverei verabschiedet worden war. Sein Blick schweifte durch den Saal und blieb schließlich an der vertrauten Gestalt seines Attachés hängen.
Ortegas Gesicht verriet keinerlei Regung, auch nicht, als sich Ricardo durch die Menschenmenge bis zu ihm durchschlängelte und ihm unauffällig einen zusammengefalteten Zettel in die Hand schob.
Endlich in seinem Büro angekommen, dem Lärm und Gedränge entronnen, schloss Ortega die geschnitzte Eichenholztür ab und faltete das Papier auseinander. Seine Augen wurden schmal, als er die Botschaft überflog.
LaDouceur hat ein prächtiges Exemplar erbeutet. Die Jagd geht weiter.
Hartford Hospital, Connecticut
Nichts tut mehr weh. David blickte auf seinen Körper hinab, der auf der Krankenhaustrage lag, und sah erstaunt das viele Blut auf seiner Brust. Fünf ... sechs ... sieben ... so viele Menschen, die sich über ihn beugten ... all die Aufregung und Hektik ... Warum konnten sie ihn nicht einfach in Ruhe lassen ... ihn schlafen lassen?
Jetzt kam Crispin auf ihn zu. Seltsam, er hatte keinen Boden unter den Füßen.
Als er David erreicht hatte, beobachteten sie beide von oben, wie sich in der Notfallambulanz die fieberhafte Aktivität zu einem Höhepunkt steigerte.
David hörte, dass jemand seinen Namen rief, doch im selben Moment deutete Crispin nach oben in ein strahlendes Licht.
«Ist das nicht unglaublich?»
Ja, dachte David. Allerdings. Noch phantastischer als die Nordlichter, die ich letzten Sommer gesehen habe.
Crispin bewegte sich auf das Licht zu, und David folgte ihm. Im nächsten Moment umfing sie gleißende Helligkeit. Sie waren in das Licht eingetaucht, gingen fast schwebend durch einen langen Tunnel. Als sie vor sich ein noch strahlenderes Licht sahen, beschleunigten sie ihre Schritte.
David fühlte sich so friedvoll, so glücklich. So sicher.
Plötzlich bemerkte er, dass sich in dem Lichtschein vor ihm etwas bewegte, und ein seltsames Raunen ging durch die gleißende Stille. Crispin blieb hinter ihm zurück, schwebte auf der Stelle, David jedoch wurde näher herangezogen. Wie von einem riesigen Magneten.
Und dann blieb ihm der Mund offen stehen.
Das Raunen steigerte sich zu einem Dröhnen, das seinen ganzen Kopf erfüllte. Vor sich sah er Gesichter. Verschwommene Gesichter mit flehentlichem Ausdruck. Hunderte. Tausende.
O Gott. Wer sind diese Gestalten?
Er hörte einen langgezogenen Schrei. Ein Jahrtausend schien zu vergehen, ehe ihm klar wurde, dass es seine eigene Stimme war.
«Kammerflimmern! Defibrillator!», schrie Harriet.
Doshi platzierte die Pads auf Davids Brust. «Bereit!», rief sie warnend. Dann schockte sie ihn.
«Nochmal! », befahl Harriet. Sie beugte sich über den dunkelhaarigen Jungen. Schweißperlen traten auf ihre Oberlippe. «David, komm zurück. David! Hörst du mich? Komm zurück!»
Doshi stand neben der Trage, die Pads in den Händen, während Harriet stirnrunzelnd die Anzeige des Monitors überprüfte. Noch immer Kammerflimmern. Haarscharf vor der Nulllinie. Verdammt.
«Doshi - nochmal! »
Drei Stunden später war Dr. Harriet Gardner mit dem Papierkram fertig. Was für ein Tag! Angefangen hatte er mit einer fünfunddreißigjährigen Herzinfarktpatientin und einem Kleinkind, in dessen Stirn die Zinken einer Gabel steckten. Und geendet hatte er mit drei Jugendlichen, die ihr Leben aufs Spiel gesetzt hatten, indem sie an einem eisigen Winternachmittag auf ein verdammtes Dach geklettert waren.
Das Mädchen war mit einer Kehlkopfquetschung und einem gebrochenen Arm davongekommen.
Einer der Jungen hatte einen Trümmerbruch am rechten Oberschenkel und lag im Koma.
Und einen hatte sie gerade noch dem Tod entrissen. Sie fragte sich, ob er wohl das Licht gesehen hatte.
Seufzend schob Dr. Harriet Gardner die Unterlagen über die Stationstheke und ging nach Hause, um ihren Hund zu füttern.
...
Übersetzung: Anja Schünemann
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Zwei Männer gruben im Schutz der Dunkelheit mit Schaufeln im Sand. Ihre einzige Lichtquelle in der Höhle war eine Laterne, die sie neben ihren Rucksäcken abgestellt hatten. Dieser Katakomben- und Gräberkomplex gut zwanzig Kilometer außerhalb von Kairo war eine einzige Schatztruhe, voll von Zeugnissen antiker Kunst und Architektur. Seit dreitausend Jahren diente Sakkara, die Stadt der Toten, als Grabstätte für Könige und gemeines Volk - Generationen von Archäologen hatten ihr Leben damit zugebracht, sie zu erkunden, und hatten noch immer nicht alle ihre Geheimnisse entdeckt. Dasselbe galt für Generationen von Grabräubern.
Sir Rodney Davis, in den Ritterstand erhoben für die Entdeckung des Echnaton-Tempels mit seinen atemberaubenden Schätzen, spürte den vertrauten Sog der Erregung. Sie waren dicht vor dem Ziel. Er wusste es. Er konnte die brüchigen Papyri schon regelrecht fühlen.
Das Buch der Namen. In Teilen oder vollständig, er wusste es nicht. Er wusste nur, dass es hier war. Es musste hier sein.
Ihn überlief ein erwartungsvoller Schauer, wie an jenem Abend, als er auf dem Hügel Ketef Hinnom in Israel das Zepter König Salomos ausgegraben hatte.
Es war aus Gold, mit einem aus Elfenbein geschnitzten daumenhohen Granatapfel an der Spitze, in den winzige hebräische Schriftzeichen eingeritzt waren - das erste unversehrt aufgefundene Artefakt, das die kürzlich dort freigelegten Befestigungsanlagen mit dem biblischen König aus dem zehnten Jahrhundert vor Christus in Verbindung brachte. Doch das Buch der Namen wäre ein Fund, der diese und alle anderen Entdeckungen in den Schatten stellen würde. Damit würde Sir Rodney zweifellos in die Geschichte eingehen.
Er vertraute seinen Instinkten. Sie waren wie eine Wünschelrute, die ihn zu unvergleichlichen Schätzen leitete. Und heute Nacht, hier in diesem Sand, über den die Könige des Altertums geschritten waren, grub der Archäologe unermüdlich, getrieben von der Entdeckerlust, dem Nervenkitzel, etwas zutage zu fördern, das seit den Zeiten der Engel und Triumphwagen keines Menschen Auge mehr erblickt hatte.
Neben ihm ließ Raoul die Schaufel fallen, griff nach seiner Feldflasche und trank in großen Zügen.
«Mach eine Pause, Raoul. Du hast schließlich schon eine Stunde vor mir angefangen.»
«Sie sind derjenige, der sich ausruhen sollte, Sir. Was seit Jahrtausenden hier verborgen liegt, wird auch noch weitere drei oder vier Stunden auf uns warten können.»
Sir Rodney hielt inne und warf einen Seitenblick auf den Mann, der seit fast einem Dutzend Jahren sein treuer Gehilfe war. Wie alt war Raoul LaDouceur gewesen, als sie sich kennenlernten? Sechzehn, siebzehn? Er war der unermüdlichste Arbeiter, den Sir Rodney je erlebt hatte. Ein reservierter, würdevoller junger Mann mit olivenfarbenem mediterranem Teint und auffallend tief liegenden Augen, von denen eines die Farbe von Saphiren hatte, das andere den dunklen Mahagoniton türkischer Kaffeebohnen.
«Ich habe mein halbes Leben lang auf diese Entdeckung gewartet, mein Freund. Was kümmert es mich da, noch eine Stunde länger zu arbeiten?» Sir Rodney beförderte eine weitere Ladung Sand aus dem Loch im Boden der Höhle. Raoul beobachtete ihn einen Moment lang schweigend, dann verschloss er seine Feldflasche und griff seinerseits wieder zur Schaufel.
Während der nächsten Stunde wurde die Stille nur von ihren angestrengten Atemzügen und dem dumpfen Knirschen der Schaufeln im Sand durchbrochen. Dann ertönte plötzlich ein hellerer Klang, der Sir Rodney mitten in der Bewegung erstarren ließ. Augenblicklich war alle Erschöpfung vergessen. Er ließ sich auf die Knie nieder und begann den Sand mit seinen von der Anstrengung taub gewordenen Fingern beiseitezuschieben. Raoul kniete sich neben ihn; auch sein Herz schlug heftig vor gespannter Erwartung.
«Die Laterne, Raoul », sagte Sir Rodney leise, während er mit den Händen die Wölbung eines Tongefäßes im Sand freilegte. Behutsam bewegte er es hin und her, bis es sich aus dem Boden löste.
Hinter ihm hielt Raoul die Laterne tiefer - und im Lichtschein wurde eine Papyrusrolle sichtbar, die im Hals des Gefäßes steckte.
«Lieber Gott, das könnte es tatsächlich sein!» Mit zitternder Hand zog Sir Rodney die Papyri aus ihrem Versteck.
Raoul beeilte sich, die Bodenplane auszubreiten, und trat dann zurück, während sein Mentor die vergilbten Blätter darauf entrollte. Beide erkannten die Schriftzeichen, eine frühe Form des Hebräischen, und wussten sofort, was sie da gefunden hatten.
Sir Rodney beugte sich tiefer darüber, betrachtete mit wildklopfendem Herzen eingehend die winzigen Buchstaben. Vor ihm lag der größte Fund seiner Karriere.
«Bei Gott, Raoul, das hier könnte die Welt verändern.» «Allerdings, Sir, das könnte es.»
Raoul stellte die Laterne auf dem Rand der Plane ab, dann trat er zurück und ließ eine Hand in die Tasche gleiten. Lautlos zog er den eingerollten Draht hervor, legte mit sicherem Griff die Schlinge um Sir Rodneys Hals und zog sie zu.
Es ging blitzschnell. Mit einer einzigen raschen Bewegung zerrte Raoul ihn von den kostbaren Schriftstücken weg und brach ihm das Genick.
Der alte Mann hatte wieder einmal recht gehabt, sinnierte Raoul, während er die Papyri aufsammelte: Dieser Fund würde in der Tat die Welt verändern.
In seiner Hochstimmung über diesen Triumph bemerkte Raoul nicht den Bernstein, der am Boden des Tongefäßes lag. In die kugelig geschliffene Oberfläche waren drei hebräische Schriftzeichen eingeritzt.
7. Januar 1986
Hartford Hospital, Connecticut
Dr. Harriet Gardner saß erschöpft auf der unbequemen Couch in der Krankenhauslounge und wollte gerade zum ersten Mal seit zwölf Stunden eine Kleinigkeit essen, als ihr Piepser sie zurück in die Notfallambulanz rief. Sie hastete den Flur entlang, wobei sie im Laufen noch eilig ein paar Bissen von ihrem Apfel verschlang. Das muss ein wirklich schlimmer Notfall sein, dachte sie, sonst wäre Ramirez allein damit fertig geworden. Sie warf den halb aufgegessenen Apfel in einen Abfalleimer und fragte sich, was sie wohl diesmal erwartete. Als sie die weißen Metalltüren zur Notfallambulanz aufstieß, arbeiteten dort bereits drei Trauma-Teams auf Hochtouren. Auf Tragen lagen drei Jugendliche, von denen einer vor Schmerzen schrie. Noch vor fünf Minuten war es in diesem Trakt still gewesen bis auf das leise Summen der Monitore, das regelmäßige Rauschen der Blutdruckmanschetten und das gelegentliche Wimmern des Fünfjährigen in Kabine 6, der mit Verdacht auf Wadenbeinbruch eingeliefert worden war und auf die Röntgenuntersuchung wartete.
Jetzt drängten sich Sanitäter und Polizisten in der Ambulanz, und der chirurgische Assistenzarzt Ramirez führte gerade einem Mädchen im Teenageralter einen Tubus in die Luftröhre ein.
«Den Jungen sofort hoch zum CT», schrie er Ozzie zu, dem Krankenpfleger, der einen der Jugendlichen auf einer blutdurchtränkten Trage in Richtung Aufzug schob. Der Teenager lag reglos da, das Bein in einem unnatürlichen Winkel verdreht. Über seinem rechten Auge klaffte eine Platzwunde, und aus beiden Ohren rann Blut.
«Was ist mit ihm hier?» Harriet wandte sich dem anderen Jungen zu, auf dessen Sweatshirt der Aufdruck «18 Celtics» zu lesen war. Teresa, die medizinische Assistentin, die an der Trage stand, machte ihr Platz. Das Shirt war in der Mitte aufgeschnitten worden, sodass die blutüberströmte Brust des Jungen frei lag.
«Die drei sind von einem Dach gestürzt», erklärte ein Sanitäter. «Drei Stockwerke tief, und da war noch ein Fenstergiebel im Weg.»
Kinder! «Hier sofort einen Astrup machen», ordnete Harriet knapp an. «Und ich brauche ein mobiles Röntgengerät für die Brust, sofort.» Auch nach drei Jahren in der Notaufnahme machte es ihr noch immer zu schaffen, wenn sie Kinder behandeln musste.
Reiß dich zusammen, ermahnte sie sich selbst, während sie einen prüfenden Blick auf den Monitor warf. Puls bei 130, Blutdruck 80 zu 60.
Es stand schlecht um den Jungen.
«Dieser hier ist der Sohn von Senator Shepherd.» Doshi schob das Sauerstoffgerät ans Kopfende der Trage. «Und der, den Ozzie gerade zum CT bringt, ist der Sohn des Schweizer Botschafters.»
«Wie heißt der Junge?»
Doshi warf einen Blick auf die Karte. «David. David Shepherd.»
Harriet untersuchte David Shepherds zerschmetterten Oberkörper. «Das sieht nach mehrfachen Rippenbrüchen aus, Schlüsselbeinbruch, Pneumothorax.»
Doshi führte geschickt einen Beatmungsschlauch in die Luftröhre ein. «Die anderen waren zwischenzeitlich immer wieder kurz bei Bewusstsein, aber der hier nicht.»
Die Manschette zischte erneut. Harriets Blick huschte zum Monitor. Der Blutdruck des Jungen ging rapide in den Keller.
Verfluchter Mist.
Vereinte Nationen, New York City
Donnernder Applaus erfüllte den Saal, als Generalsekretär Alberto Ortega seine Ansprache an die versammelten Delegierten beendet hatte. Lächelnd bahnte sich Ortega einen Weg zwischen den Diplomaten hindurch, hielt ein ums andere Mal inne, um Hände zu schütteln und sich dazu beglückwünschen zu lassen, dass der Zusatzartikel zur 1926 in Genf unterzeichneten Konvention gegen die Sklaverei verabschiedet worden war. Sein Blick schweifte durch den Saal und blieb schließlich an der vertrauten Gestalt seines Attachés hängen.
Ortegas Gesicht verriet keinerlei Regung, auch nicht, als sich Ricardo durch die Menschenmenge bis zu ihm durchschlängelte und ihm unauffällig einen zusammengefalteten Zettel in die Hand schob.
Endlich in seinem Büro angekommen, dem Lärm und Gedränge entronnen, schloss Ortega die geschnitzte Eichenholztür ab und faltete das Papier auseinander. Seine Augen wurden schmal, als er die Botschaft überflog.
LaDouceur hat ein prächtiges Exemplar erbeutet. Die Jagd geht weiter.
Hartford Hospital, Connecticut
Nichts tut mehr weh. David blickte auf seinen Körper hinab, der auf der Krankenhaustrage lag, und sah erstaunt das viele Blut auf seiner Brust. Fünf ... sechs ... sieben ... so viele Menschen, die sich über ihn beugten ... all die Aufregung und Hektik ... Warum konnten sie ihn nicht einfach in Ruhe lassen ... ihn schlafen lassen?
Jetzt kam Crispin auf ihn zu. Seltsam, er hatte keinen Boden unter den Füßen.
Als er David erreicht hatte, beobachteten sie beide von oben, wie sich in der Notfallambulanz die fieberhafte Aktivität zu einem Höhepunkt steigerte.
David hörte, dass jemand seinen Namen rief, doch im selben Moment deutete Crispin nach oben in ein strahlendes Licht.
«Ist das nicht unglaublich?»
Ja, dachte David. Allerdings. Noch phantastischer als die Nordlichter, die ich letzten Sommer gesehen habe.
Crispin bewegte sich auf das Licht zu, und David folgte ihm. Im nächsten Moment umfing sie gleißende Helligkeit. Sie waren in das Licht eingetaucht, gingen fast schwebend durch einen langen Tunnel. Als sie vor sich ein noch strahlenderes Licht sahen, beschleunigten sie ihre Schritte.
David fühlte sich so friedvoll, so glücklich. So sicher.
Plötzlich bemerkte er, dass sich in dem Lichtschein vor ihm etwas bewegte, und ein seltsames Raunen ging durch die gleißende Stille. Crispin blieb hinter ihm zurück, schwebte auf der Stelle, David jedoch wurde näher herangezogen. Wie von einem riesigen Magneten.
Und dann blieb ihm der Mund offen stehen.
Das Raunen steigerte sich zu einem Dröhnen, das seinen ganzen Kopf erfüllte. Vor sich sah er Gesichter. Verschwommene Gesichter mit flehentlichem Ausdruck. Hunderte. Tausende.
O Gott. Wer sind diese Gestalten?
Er hörte einen langgezogenen Schrei. Ein Jahrtausend schien zu vergehen, ehe ihm klar wurde, dass es seine eigene Stimme war.
«Kammerflimmern! Defibrillator!», schrie Harriet.
Doshi platzierte die Pads auf Davids Brust. «Bereit!», rief sie warnend. Dann schockte sie ihn.
«Nochmal! », befahl Harriet. Sie beugte sich über den dunkelhaarigen Jungen. Schweißperlen traten auf ihre Oberlippe. «David, komm zurück. David! Hörst du mich? Komm zurück!»
Doshi stand neben der Trage, die Pads in den Händen, während Harriet stirnrunzelnd die Anzeige des Monitors überprüfte. Noch immer Kammerflimmern. Haarscharf vor der Nulllinie. Verdammt.
«Doshi - nochmal! »
Drei Stunden später war Dr. Harriet Gardner mit dem Papierkram fertig. Was für ein Tag! Angefangen hatte er mit einer fünfunddreißigjährigen Herzinfarktpatientin und einem Kleinkind, in dessen Stirn die Zinken einer Gabel steckten. Und geendet hatte er mit drei Jugendlichen, die ihr Leben aufs Spiel gesetzt hatten, indem sie an einem eisigen Winternachmittag auf ein verdammtes Dach geklettert waren.
Das Mädchen war mit einer Kehlkopfquetschung und einem gebrochenen Arm davongekommen.
Einer der Jungen hatte einen Trümmerbruch am rechten Oberschenkel und lag im Koma.
Und einen hatte sie gerade noch dem Tod entrissen. Sie fragte sich, ob er wohl das Licht gesehen hatte.
Seufzend schob Dr. Harriet Gardner die Unterlagen über die Stationstheke und ging nach Hause, um ihren Hund zu füttern.
...
Übersetzung: Anja Schünemann
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von Karen Tintori, Jill Gregory
Bibliographische Angaben
- Autoren: Karen Tintori , Jill Gregory
- 2012, 1, 400 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868007369
- ISBN-13: 9783868007367
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