Das Erbe der Töchter
Ein antiker keltischer Bernsteinanhänger und ein Tagebuch - das ist alles, was Cari von ihrer Mutter Tamsin geblieben ist. Über ihre Familie hatte Tamsin stets geschwiegen, doch Hinweise in den Aufzeichnungen führen Cari nun an die Riviera. Dort stößt sie...
Ein antiker keltischer Bernsteinanhänger und ein Tagebuch - das ist alles, was Cari von ihrer Mutter Tamsin geblieben ist. Über ihre Familie hatte Tamsin stets geschwiegen, doch Hinweise in den Aufzeichnungen führen Cari nun an die Riviera. Dort stößt sie auf ein Labyrinth. Warum spiegelt es das Muster des Schmuckstücks wider?
Das Erbe der Töchter von Juliet Hall 1927
Hester beobachtete die beiden beim Abstieg über die brüchigen Stufen, die von den Klippen in die kleine Bucht hinunterführten, und wusste sofort Bescheid.
Die junge Frau lehnte sich an ihn, den Blick unverwandt auf ihn gerichtet. Lachend neckte er sie. Er hatte einen Arm in Richtung Ozean ausgestreckt, und es sah aus, als wolle er ihr die Welt zu Füßen legen. Vermutlich würde er das auch tun. Der andere Arm berührte ihren beinahe. Doch nur beinahe. Hester spürte die gegenseitige Anziehung der beiden nahezu körperlich.
Sie seufzte. Sie wusste, dass die Zeit die Wunden der Liebe heilen kann – auch wenn sie sich dies in jenen Monaten, in denen sie am Kiesstrand von Port Isaac auf Gino gewartet hatte, nicht hätte vorstellen können. Gino … Damals war sie noch so jung gewesen und hatte natürlich jemand anderen gefunden. Sie war glücklich geworden. Nein, sie fühlte kein Bedauern. Ihre Sympathie galt dem jungen Paar, das noch ganz am Anfang seiner Beziehung stand, was nicht einfach ist. Außerdem wussten die beiden jungen Leute so wenig über ihre Familiengeschichte.
Damals war die Landschaft für Hester nichts weiter als eine diffuse, unwirkliche Kulisse gewesen. Aber nun sah sie die Dinge anders. Sie sammelte Treibholz für ein neues abstraktes Objekt, das sie gerade in Arbeit hatte und das die Küste Cornwalls symbolisieren sollte, die Küste, an die sie mittlerweile ihr Herz verloren hatte. Sie stolperte beinahe. Liebe …
Als sie sich umwandte, sah sie den jungen Mann unbekümmert und geschmeidig wie ein junger Panther in großen Sätzen den Abhang hinunterstürmen. Grinsend blickte er zurück zu dem Mädchen, das zögerte, ihm zu folgen.
Als der junge Italiener vor ihrer Tür gestanden hatte, war sie, Hester, wie gelähmt gewesen.»Gino?«, hatte sie gemurmelt.
»Mein Vater …«, hatte er zögernd geantwortet. »Er hat vor seinem Tod oft von Ihnen gesprochen.«
Halt suchend hatte sie sich an den Türrahmen gelehnt. Demnach war er tot. Und er hatte oft von ihr gesprochen.
»Sie sollten es erfahren«, hatte er hinzugesetzt.
»Kein Mitgefühl, bitte.« Hester hatte es nicht hören wollen. Sie würde sich ihre Erinnerungen bewahren.»Aber …«»Kein Aber.«
Du lieber Himmel, er war seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten! Sie ahnte, was geschehen würde und weshalb er gekommen war. Er selber hingegen wusste es nicht, was für die Männer der Familie Bianchi typisch war.
Müde bückte Hester sich nach dem letzten Stück Treibholz. Und wenn er gefunden hatte, wonach er gesucht hatte? Was dann? Würde sich der schwarze Panther zähmen lassen?
Sie blickte auf, als er über den knirschenden Kies zurücklief und die Arme ausbreitete.
»Komm!«, rief er der jungen Frau zu. »Bei mir bist du sicher.«
Mein Fels und mein Anker, dachte Hester. Ich durfte das nicht erleben.
Mary machte einen unsicheren Schritt auf ihn zu, ehe sie ihm mit weit aufgerissenen Augen über die morschen Stufen entgegenlief.
Lachend fiel sie in seine Arme, und er zog sie an sich – ein hypnotischer Moment, an den Hester sich noch gut erinnerte.
Unbemerkt wandte sie sich ab. Er hat sie umarmt, ja. Aber hat er auch ihr Herz umarmt? Mit der Zeit würde es sich erweisen.
Samstagabend, 21 Uhr …
Cari löschte das Deckenlicht und versuchte sich zu entspannen. Da dieser Stadtteil mit seinen vielen Geschäften zum Flanieren einlud, ließ sie die Schaufensterbeleuchtung über Nacht an, damit die Passanten jederzeit die mit Perlen oder Ziermünzen bestickten Hochzeitskleider aus cremefarbener Seide, weißem Taft und Chiffon bestaunen konnten. Selbst zu dieser späten Stunde spazierte tatsächlich noch jemand über das Kopfsteinpflaster, um sich die Auslagen anzusehen. Ein Mann – wie ungewöhnlich! Meistens waren es junge Mädchen, die sich an diesen Kleidern nicht sattsehen konnten und Mütter, Freunde oder zukünftige Ehemänner hierherzerrten. Cari musterte den Mann. Er war allein und nicht gerade beeindruckt.
Sie hatte nur einen Wunsch: nach Hause zu gehen. Ein langer Tag lag hinter ihr. Seit dem Besuch der ersten Kundin um neun Uhr dreißig hatte sie den Laden nur einmal verlassen, um sich einen Bagel aus der Bäckerei nebenan zu holen. Ließ sie das Leben etwa an sich vorüberziehen?
Weshalb war dieser Mann so sehr an ihrem Schaufenster interessiert?
Als sie sich abwandte, stieg ihr der Hauch eines betörenden Duftes in die Nase. Auch das noch! Die Lilien brauchten vor dem Wochenende noch frisches Wasser. Sie streifte die Handtasche von der Schulter, trug die Blumenvase in ihr Atelier und füllte sie unter dem Wasserhahn auf.
Nein, heute würde sie nicht kochen, entschied sie. Und mit Dan würde sie sich auch nicht treffen. Sie würde sich beim Chinesen eine Kleinigkeit zu essen holen und dazu den Chardonnay trinken, der bereits gut gekühlt im Eisschrank lag. Es war eine verlockende Aussicht, allein zu sein und früh ins Bett zu gehen. Du meine Güte! Behutsam stellte sie die Vase auf ihren Schreibtisch. Alle Welt, selbst ihre Mutter, ging am Samstagabend aus, um sich zu amüsieren. Und sie? Sie war neunundzwanzig und nicht etwa fünfzig. Sollte sie ihre Zeit nicht lieber in einem Club verbringen oder mit Dan ein romantisches Abendessen in einem eleganten Restaurant genießen? War es nicht beunruhigend, dass sie den Abend lieber allein verbringen wollte? Sie straffte die Schultern. Aber warum eigentlich nicht? Schließlich hatte sie einen anstrengenden Arbeitstag hinter sich und sehnte sich nach Muße und Entspannung.
Sie ordnete die Lilien neu. Sie war seit jeher unabhängig, und wenn Dan kein Verständnis dafür besaß … Es war schließlich nicht gerade ein Zuckerschlecken, ein kleines Unternehmen zu führen und am Samstagabend zu arbeiten, um die Termine einzuhalten. Doch die Selbständigkeit hatte auch gute Seiten. Man besaß völlig freie Hand. Niemand, dem man Rechenschaft schuldete. Cari lächelte versonnen. Ob das auch für ihre Beziehung galt?
Sie blickte auf. Der Passant hatte sich nicht vom Fleck gerührt; er stand immer noch direkt vor dem Schaufenster.
Irgendwie seltsam. Nun ja … Sie nahm ihre braune Wildledertasche und ließ den Blick ein letztes Mal prüfend durch den Raum wandern. Alles war, wie es sein sollte. Die Garne und Stoffe lagen akkurat in den Regalen, die Kleider hingen ordentlich auf Bügeln. Bügeleisen und Nähmaschine waren ausgeschaltet. Wenn es nach Dan ginge, würde er zu ihr ziehen, aber Cari war dazu noch nicht bereit. Sie brauchte das Gefühl von Eigenständigkeit und schätzte den Freiraum, den sie sich oft erkämpfen musste. Sollte sie ihre Freiheit aufgeben? Sie zuckte die Schultern. Andererseits war Dan ihr Freund und besaß somit ein Anrecht darauf, mit ihr zusammen zu sein.
Ein Geräusch von draußen riss sie aus den Gedanken. Der Mann war immer noch da – na, das war ja wohl ein ausgedehnter Schaufensterbummel. Sie runzelte die Stirn. Welcher Mann interessierte sich so sehr für Hochzeitskleider? Plötzlich wurde ihr klar, dass er nicht die Auslage betrachtete, sondern das Ladeninnere. Er hatte das Gesicht an die Scheibe gepresst …
Irgendetwas war faul daran. Instinktiv zog Cari sich aus dem Lichtkegel zurück. Womöglich waren im Verkaufsraum Dinge, die ihn interessierten – weiße Hochzeitsschuhe oder Sandalen, die Vitrine mit dem exklusiven Kopfschmuck. Aber eigentlich war das kaum vorstellbar. Er war relativ jung, vielleicht um die dreißig. So ein interessierter Bräutigam war Cari noch nie begegnet. Um solch ein Exemplar würden sich die Frauen garantiert reißen.
Aber irgendetwas stimmte da nicht. Er schien nach etwas Speziellem Ausschau zu halten – oder auch nach jemand Speziellem.
Lächerlich! Sie benahm sich wirklich albern. Trotzdem warf sie beinahe unwillkürlich einen prüfenden Blick auf die Ladentür. Sie war abgeschlossen. Logisch. Es konnte also gar nichts passieren. Sie war sicher – oder nicht? Ihr Tag war wohl doch etwas zu anstrengend gewesen, sonst würde ihr diese Situation nicht so zusetzen. Die letzte Kundin hatte den Laden um sechs verlassen, selig über das Hochzeitskleid aus Tüll mit dem herzförmigen Ausschnitt, das Cari für sie entworfen hatte. Sie selbst war – wie so oft – noch geblieben, um an Entwürfen zu arbeiten und zu nähen. Tätigkeiten, denen sie sich in den ruhigen Abendstunden widmete, da ihr tagsüber keine Zeit dafür blieb. Dann kamen Kunden und gingen, fragten nach Zubehör oder ließen sich beraten; sie stöberten in Caris Sortiment an Abendgarderobe und Ballkleidern und stolzierten in den Roben in Caris luxuriöser, mit sternenförmigen Lämpchen ausgestatteter Umkleidekabine umher. Unter der mitternachtsblauen, mit Samt dekorierten Garderobendecke tanzten gläserne Feen um silberne Spiegel – beinahe wie eine Szene aus Shakespeares »Sommernachtstraum«.
Sie spähte wieder hinaus. Er stand immer noch da. Kein typischer Brighton-Student. Bestimmt kein Engländer, dieser große Dunkle mit dem südländischen Aussehen und dem intensiven Blick.
Cari vermied jede Bewegung. Wie lange würde sie so reglos wie ihre Schaufensterpuppen dastehen können? Ob sie die Polizei rufen sollte? Klar doch! Um ihr zu erzählen, dass ein Mann ganze sieben Minuten in ihr Schaufenster gestarrt hatte? Das konnte sie sich sparen.
Und wenn sie Dan anriefe? Er würde binnen einer Minute hier aufkreuzen, stets bereit und überglücklich, sie retten zu dürfen. Fragte sich nur, wovor sie eigentlich gerettet werden wollte. Wie war das noch mit der Eigenständigkeit? Ihre Phantasie trieb Blüten. Dass dieser Mann vor dem Schaufenster stand, konnte eine Unzahl von Gründen haben. Trotzdem würde sie warten, bis er gegangen war, und erst danach das Geschäft verlassen. Cari fröstelte.
Sie war wie gelähmt. Nahezu unmerklich machte sie einen Schritt vorwärts und kam sich dabei wie ein Einbrecher im eigenen Haus vor. Der Mann trug ein eng anliegendes weißes T-Shirt, eine Lederjacke und eine eng sitzende Jeans, was ihr geschultes Auge wohlwollend zur Kenntnis nahm. Zugegebenermaßen kein schlechter Körperbau. Dieser Mann wirkte nicht im Geringsten gefährlich – im Gegenteil, eher ziemlich sexy. Aber auch Brighton hatte dunkle Seiten, und Cari wollte nichts herausfordern.
Unvermittelt drehte er sich um und ging davon. Einfach so. Cari sah ihm nach, als er die Straße hinunterspazierte und um die Ecke bog. Erleichtert atmete sie auf. Was war nur los mit ihr?
Sie trat an die Kleiderständer und glättete die Roben ein wenig. Weshalb hatte dieser Mann sie so verwirrt? Sie war sich geradezu entblößt vorgekommen. Irgendwie schutzlos. Weshalb wohl? Aber sie fand keine Erklärung dafür, spürte nur noch dieses eigenartige Gefühl. Ein Gefühl, das weder mit Dan zu tun hatte noch mit ihrer unvorstellbar heimlichtuerischen Mutter, die ihr nichts über ihre Familie erzählte. Ein winziger Funke war in ihr entzündet worden, aber das war auch schon alles.
Ihre Spontaneität hatte – zugegebenermaßen – in den letzten Jahren nachgelassen. Nein, nein, es liegt nicht an Dan, beschwichtigte sie sich rasch. Dank Dans Rechtschaffenheit fühlte sie sich nicht mehr so unsicher. Außer ihm hatte sie nur noch ihre Mutter. Aber heute Abend würde diese coole, mondäne Mutter bis in die Morgenstunden feiern. Sich auf einer Party vergnügen. Leben … Cari runzelte die Stirn. Empfand sie selbst deshalb dieses eigenartig bohrende Gefühl?
Wo mochte ihre Mutter heute Abend sein? Ehe sie aus dem Haus ging, hatte sie Cari angerufen. Arbeite nicht zu viel, Schätzchen!, hatte sie gesagt.
»Pass auf dich auf!«, hatte Cari ihr geantwortet, ohne sich zu erinnern, wann dieser Rollentausch stattgefunden und sie begonnen hatte, sich um ihre Mutter zu sorgen. Ihr war klar, dass Tasmin gefährlich nahe am Abgrund tanzte. Cari konnte es zuweilen an den Augen ihrer Mutter erkennen, die übermäßig funkelten – wie die Klinge eines Messers.
Cari rief sich ihre Termine am Montag in Erinnerung, öffnete die Ladentür und trat in die Nacht hinaus. Eine frische Brise strich über ihre Wangen. Plaudernde, lachende Fußgänger wanderten vorüber; Jazzrhythmen schallten aus der Kensington Bar auf der anderen Straßenseite zu ihr herüber. Brighton an einem Samstagabend. Sie liebte diese Atmosphäre. Alles war wie gewohnt. Cari schloss die Ladentür ab und wandte sich zum Gehen.
Oh, nein! Sie schluckte. Er war wieder da. Der Mann, der sie durch die Scheibe beobachtet hatte, stand plötzlich lächelnd vor ihr.
Tasmin zwängte sich an zahllosen schwitzenden Gästen vorbei, die rauchend, trinkend und flirtend in der Küche standen. Im Laufe der letzten dreißig Jahre hatte sie viele dieser Partys besucht: ein ausgelassenes Völkchen sowie eine beeindruckende Menge an Canapés, Sushi und teuflischen Desserts. Die Musik war so laut, dass sie sich unweigerlich an die Siebzigerjahre erinnert fühlte und die Gegenwart vergaß.
Allmählich stieg die Stimmung. Das Gelächter schwoll an, die Menschen wurden sichtlich lockerer. Kein Aschenbecher weit und breit, Zigarettenkippen schwammen in halb geleerten Biergläsern. Tasmin ergänzte das traurige Sortiment um eine weitere Kippe und öffnete den Kühlschrank, der vor einer Stunde voller Moët gewesen war. Gähnende Leere! Nicht eine einzige Flasche Champagner war übrig geblieben. Dafür kühlten im Waschbecken etliche Flaschen Weißwein in einem großen Eimer mit schmelzendem Eis. Tasmin prüfte die durchweichten Etiketten. Ein Pinot täte es auch – besser als nichts –, wenngleich sie für gewöhnlich alles mied, was mit Italien zu tun hatte. Zu viele Erinnerungen!
Plötzlich fiel ihr das Foto wieder ein. Die zierliche blonde Frau. Ein italienischer Garten. Ein Labyrinth? Tasmin löschte das Bild umgehend aus ihrem Gedächtnis und straffte den Rücken. Den Korkenzieher zu finden war jetzt viel wichtiger. Erinnerungen waren schmerzhaft. Alkohol brachte Vergessen – zumindest für eine Weile.
Tasmin füllte ihr Glas. Wenn sie arbeitete, trank sie nicht. Sie übte sich in Selbstdisziplin, die für sie etwas Beruhigendes hatte: Du schaffst es, Mädchen! Doch am Wochenende lebte sie in den Tag hinein. Da wollte sie sich vergnügen. Das war geradezu ein Muss.
»Schätzchen!« Ariadne tauchte unerwartet aus all dem Marihuana-Nebel, Zigarettenrauch und dem Dunstkreis anderer Leute vor ihr auf. »Da bist du ja!«, rief sie und legte die Hand auf Tasmins Arm. Etwas Anschmiegsames aus lila Chiffon umschmeichelte ihren raffinierten Halsausschnitt. Daumen und Zeigefinger hielten einen Joint. »Amüsierst du dich?« Sie küsste Tasmin überschwänglich auf beide Wangen.
»Und wie!« Das war typisch für die Welt der Künstler und Diven, in der man zuweilen einen Blick hinter das Gehabe werfen muss, um die wahren Juwelen ausfindig zu machen. Tasmin war damit vertraut. In Edwards Galerie hatte sie fast drei Jahrzehnte mit Künstlern dieser Sorte gearbeitet. Deren Partys hatten immer einen Touch von Boheme und waren zum Glück niemals langweilig.
»Wunderbar. Ist dir schon jemand … mmh, Interessantes über den Weg gelaufen?« Mit ihrem charakteristischen Blick musterte Ariadne Tasmins weiße Seidenhose und das dazu passende Oberteil. Tasmin konnte Ariadnes Gedanken förmlich lesen: knochige Schlampe auf der Jagd.
Sie lachte. »Nur keine Eile!« Welche Sorte Mann könnte man auf diesen Partys schon kennenlernen? Und was brächte das überhaupt? Eine flüchtige Begegnung in der Gewissheit, dass er sich schon am Morgen wieder aus ihrem Leben stehlen würde. Mehr durfte man nicht erwarten. Aber das wäre auch das Sicherste.
Tasmin entfernte sich unauffällig. Sie wollte Salsa tanzen, sich voll und ganz der Stimmung hingeben.
»Und was hast du so getrieben?«, erkundigte sich Ariadne mit wiehernder Stimme.
Die Frage bezog sich auf Tasmins kreatives Schaffen. Ariadne betrachtete gewöhnliche, nicht kreativ tätige Menschen ziemlich von oben herab. Da Tasmin als Fotografin in einer Galerie hinter den Kulissen arbeitete und nicht als Künstlerin in Erscheinung trat, bekam sie Ariadnes Verachtung häufig zu spüren. Aber das kümmerte sie nicht. Es gelang ihr ohnehin nur mit Mühe, Edward zu verheimlichen, was sie in Wahrheit tat, und da konnte sie auf Ariadnes Kommentare erst recht verzichten. Tasmins Arbeit erforderte Dunkelheit. Sie war nicht für ein Publikum gedacht. Überdies gab es Tage, die sogar dazu noch zu dunkel waren. Tage, an denen Erinnerungen zu einer Spirale der Hoffnungslosigkeit führten. Spiralen … Nein, nein, über Spiralen wollte sie jetzt nicht nachdenken.
»Nichts Besonderes.« Tasmin atmete die unterschiedlichsten Gerüche ein: von Bier, Rotwein, Gebäck, Parfum, Schweiß und Marihuana. Typische Party-Gerüche. »Bis später«, sagte sie und schlenderte weiter.
»He, Schätzchen, ich muss dir was erzählen. Es gibt jemanden …«
»Später!« Tasmin quetschte sich an einem großen Mann in einem terrakottafarbenen Leinenhemd und Jeans vorbei und warf ihm einen flüchtigen Blick zu. Die Schatten unter seinen Augen besaßen genau die richtige Farbe. Vielleicht … Sie spürte, wie sie gegen ihn geschubst wurde.
»Es war etwas Wichtiges!«, wieherte Ariadne hinter ihr. »Jemand aus deiner Vergangenheit, der dich begrüßen möchte.«Jemand aus meiner Vergangenheit?
»Tut mir leid.« Tasmin lächelte ihr Gegenüber entschuldigend an. Ende vierzig, vermutete sie.Er lächelte zurück. »Mir nicht.«
Sie sah ihm in die Augen. Doch sie gaben nichts preis. Auch das war gut.
»Sind Sie allein hier?« Ein Anflug eines Lächelns umspielte seinen Mund. Könnten Sie vielleicht den Smalltalk beenden und zur Sache kommen? Wer sind Sie? Was beabsichtigen Sie? Wovon träumen Sie?
Sie nickte. »Tanzen?« Aus den Lautsprechern erklang ein Song von Santana. Typisch! Die frühen Siebziger waren genau Ariadnes Zeit gewesen.
»Warum nicht?« Er folgte ihr in eine Nische neben den Verandatüren. Ariadne hatte sie geöffnet, und einige Gäste waren in die kühle Frühlingsnacht hinausgetreten.
Tasmin spürte eine zarte Brise auf der Haut. Sie stellte ihren Drink ab und sah ihn an. An der Art, wie ein Mann tanzt, lässt sich eine Menge ablesen.
Im Stil von John Travolta in Saturday Night Fever zog er sich das Jackett aus.
Tasmin hätte am liebsten losgekichert. Jemand aus der Vergangenheit? Sie wurde wieder nüchtern. Das hörte sich ziemlich ominös an und gefiel ihr gar nicht. © 2007 Verlagsgruppe Lübbe
- Autor: Juliet Hall
- 2007, Aufl., 492 Seiten, Maße: 14,1 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Aus d. Engl. v. Heide Horn u. Petra Hrabak
- Übersetzer: Petra Hrabak
- Verlag: Bastei Lübbe
- ISBN-10: 3785723008
- ISBN-13: 9783785723005
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