Das ferne Echo der Zeit -M
Leidenschaft, Eifersucht, unversöhnlicher Hass und die erlösende Kraft der Liebe
York 1577: Die junge Hawise Aske lächelt einem Fremden auf dem Marktplatz zu. Sie ahnt nicht, dass sie damit ihr Schicksal besiegelt. Denn der Mann wird sie...
York 1577: Die junge Hawise Aske lächelt einem Fremden auf dem Marktplatz zu. Sie ahnt nicht, dass sie damit ihr Schicksal besiegelt. Denn der Mann wird sie...
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Produktinformationen zu „Das ferne Echo der Zeit -M “
Leidenschaft, Eifersucht, unversöhnlicher Hass und die erlösende Kraft der Liebe
York 1577: Die junge Hawise Aske lächelt einem Fremden auf dem Marktplatz zu. Sie ahnt nicht, dass sie damit ihr Schicksal besiegelt. Denn der Mann wird sie nicht mehr vergessen, und eine Geschichte von Liebe, unversöhnlichem Hass, brennendem Begehren und tödlicher Eifersucht nimmt ihren Lauf. Viereinhalb Jahrhunderte später verschlägt es die Weltenbummlerin Grace Trewe ins englische York, wo sie den Hausstand ihrer verstorbenen Patentante auflösen soll. Doch irgendetwas scheint sie dort festzuhalten. In seltsamen Träumen taucht sie ab in die elisabethanische Zeit und das Leben von Hawise. Allmählich beginnen Vergangenheit und Gegenwart zu verschmelzen.
Ein fesselnder Roman, der das Schicksal zweier Frauen über die Jahrhunderte hinweg verbindet.
York 1577: Die junge Hawise Aske lächelt einem Fremden auf dem Marktplatz zu. Sie ahnt nicht, dass sie damit ihr Schicksal besiegelt. Denn der Mann wird sie nicht mehr vergessen, und eine Geschichte von Liebe, unversöhnlichem Hass, brennendem Begehren und tödlicher Eifersucht nimmt ihren Lauf. Viereinhalb Jahrhunderte später verschlägt es die Weltenbummlerin Grace Trewe ins englische York, wo sie den Hausstand ihrer verstorbenen Patentante auflösen soll. Doch irgendetwas scheint sie dort festzuhalten. In seltsamen Träumen taucht sie ab in die elisabethanische Zeit und das Leben von Hawise. Allmählich beginnen Vergangenheit und Gegenwart zu verschmelzen.
Ein fesselnder Roman, der das Schicksal zweier Frauen über die Jahrhunderte hinweg verbindet.
Klappentext zu „Das ferne Echo der Zeit -M “
York 1577: Die junge Hawise Aske lächelt einem Fremden auf dem Marktplatz zu und ahnt nicht, welche Katastrophe sie damit auslöst. Ein einziges falsch verstandenes Lächeln besiegelt nicht nur Hawises Schicksal, es ist auch der Beginn einer Geschichte von Liebe, unversöhnlichem Hass, Eifersucht und brennendem Begehren. Und am Ende bringt es Hawise den Tod. Man beschuldigt sie der Hexerei und ertränkt sie, die nicht fliehen und nirgendwo Zuflucht und Hilfe finden kann, im nahen Fluss. Viereinhalb Jahrhunderte später verschlägt es die Weltenbummlerin Grace Trewe nach York, wo sie das Haus ihrer verstorbenen Patentante auflösen soll. Grace will eigentlich nur kurz in England bleiben, doch schon bald scheint irgendetwas sie dort festzuhalten. In seltsamen Träumen taucht sie ab in das York der elisabethanischen Zeit und in das Leben von Hawise. Allmählich beginnen Vergangenheit und Gegenwart zu verschmelzen, und Grace fürchtet sogar, ihren Verstand zu verlieren. Hilfe findet sie schließlich bei ihrem Nachbarn, der sich nicht nur in der Geschichte von York auskennt, sondern sich auch in Grace verliebt hat …
Lese-Probe zu „Das ferne Echo der Zeit -M “
Das ferne Echo der Zeit von Pamela HartshorneKapitel 1
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Ich verspüre keine Angst, noch nicht. Ich bin nur völlig verblüfft, dass ich mich mit einem Mal in der Luft befinde, hinunterblicke auf das trübe, gurgelnde Wasser des Flusses. Es ist, als würde die Zeit plötzlich stillstehen, als würde ich irgendwo zwischen Himmel und Wasser schweben, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen damals und jetzt. Zwischen Ungläubigkeit und Entsetzen.
Es ist der Tag vor Allerheiligen, und ich werde sterben.
Tief drinnen weiß ich es ganz genau. Aber ein Teil von mir verweigert sich der Erkenntnis, dass dies alles tatsächlich geschieht, dass dies kein böser Traum ist, aus dem ich wieder erwachen werde. Will nicht wahrhaben, dass ich heute Morgen zum letzten Mal die Bodenbretter kühl und glatt unter meinen Füßen spürte, zum letzten Mal das Knarren der Stiege oder das Prasseln des Regens auf dem Hausdach hörte.
Zum letzten Mal meiner Tochter das Haar unter die Haube schob.
»Ich bin bald wieder zurück«, versprach ich ihr.
Aus der Ferne dringt Glockenschlag an mein Ohr. Die Bewohner der Stadt gehen ihren Geschäften nach, wie jeden Tag. Der Markt am Pavement hat geöffnet. Die Händler sind jetzt sicher damit beschäftigt, mit Besenstielen von unten gegen die Planen ihrer Verkaufsstände zu stoßen, damit das Wasser, das sich nach dem Regen heute Morgen darin gesammelt hat, abfließen kann. Gewiss jammern sie über den Morast und die fehlende Kundschaft, denn jeder, der konnte, blieb bei diesem Wetter zu Hause.
Ich sollte jetzt eigentlich dort auf dem Markt sein. Es gibt einiges zu besorgen. Wir brauchen Fisch, wir brauchen Salz. Bess wächst so schnell. Ich habe vor, neue Schuhe für sie zu kaufen. Ich werde heute Nachmittag einkaufen gehen.
Doch das wird nicht geschehen. Stattdessen werde ich sterben.
Seltsam, dass der Gedanke an etwas so Banales wie Schuhe die Zeit wieder vorantreibt, heraus aus diesem eigenartigen Moment des Stillstands, doch genauso ist es. Plötzlich ist jetzt, und alles geschieht viel zu schnell. Ich stürze in die Fluten, und das braune, modrige Wasser schlägt über meinem Kopf zusammen. Ich spüre, wie es durch mein Unterkleid dringt, in meine Ärmel, wie das Gewicht der nassen Kleidung mich nach unten zieht.
Und plötzlich sehe ich ihn vor mir, wie er den Kopf zu mir neigt, mir zuflüstert, dass er nun Bess zu sich nehmen, sie als sein Kind aufziehen wird, und dass niemand Einwände erheben wird.
»Ich kann mit ihr machen, was mir gefällt, Hawise«, hat er gesagt.
Jetzt, wo ich mich daran erinnere, ergreift mich panische Angst.
Jetzt strample ich, zapple ich, während das Grauen, das Entsetzen jeden klaren Gedanken verhindert, doch sie haben mir den Daumen an den großen Zeh gebunden, sodass ich mich nicht über Wasser halten kann, selbst wenn ich schwimmen könnte. Meine Röcke sind zu schwer, das Wasser ist zu kalt, und wenn ich den Mund öffne und schreien will, diesen Mann abermals verfluchen will, dringt Flusswasser hinein, durch den Strumpf, den sie mir über das Gesicht gebunden haben, um mich mundtot zu machen. Es ist kalt und faulig und verschließt meine Kehle. Es ist zu spät. Die Strömung ist stark, wild, reißt mich mit sich fort, als wäre ich ein Fass, immer weiter dem Meer zu, das ich nie gesehen habe und nun nicht mehr sehen werde. Ich bin Treibgut, gefährlicher Ballast, über Bord geworfen, um die Stadt vor Unheil zu bewahren.
Ich sinke, komme wieder an die Oberfläche, sinke abermals, noch tiefer, und je mehr ich würge, desto mehr Wasser dringt in meinen Mund. Ein schrecklicher Schmerz dröhnt in meinen Ohren, hinter meinen Augen, und meine Lunge brennt wie Feuer.
Ich zapple und winde mich, schlage wild um mich, doch ich sinke immer tiefer. Ich weiß nicht mehr, wo oben und unten ist. Ich spüre nur noch Panik und Schmerz und das grauenvolle Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen, und sehe vor mir in erschreckender Klarheit nur noch das Bild, wie Bess vertrauensvoll zu ihm aufschaut und seine Hand ergreift.
Ich muss unbedingt zurück. Ich muss alles anders machen, damit ich meine Tochter vor Unheil bewahren kann.
»Bess«, versuche ich zu sagen, als ob ich sie erreichen, als ob sie mich hören könnte, als ob sie meine Angst und Qualen begreifen könnte.
Aber ich kann nicht sprechen, und ich kann nicht atmen, ich kann nicht atmen. Meine Lunge ist voll Wasser, meine Kehle ist wie abgedrückt. Der Schmerz hinter meinen Augen ist unerträglich, und in meinen Ohren gellt ein Schrei, aber wie kann ich schreien, wenn ich nicht Luft holen kann? Liebster Herr Jesus, ich muss unbedingt Luft bekommen - ich muss an die Oberfläche, unbedingt, oder ich werde sterben -, aber ich weiß nicht, wo oben ist, ich schlage wild, verzweifelt um mich, kämpfe gegen das Grauen an, vergeblich, während der Fluss mich mitleidlos verschlingt, mich hinunterzieht, immer tiefer, immer tiefer, in die unendliche Finsternis.
Keuchend, verzweifelt nach Luft ringend, fuhr ich aus dem Schlaf hoch. Ich riss die Augen auf und starrte in die Finsternis, voller Angst um eine Tochter, die ich nie hatte, während mein Herz bei der Erinnerung raste und meine Kehle vor Panik wie zugeschnürt war. Ich spürte förmlich noch das Gewicht des merkwürdigen Kleides, das ich getragen hatte, die Steifheit der Leinenhaube, unter der mein Haar verborgen war. Der faulige Geschmack des Wassers war so intensiv, dass es mich immer noch würgte.
Ich bin daran gewöhnt zu ertrinken. Ich bin in meinen Träumen so oft ertrunken, dass man meinen möchte, mein Unterbewusstsein hätte inzwischen gelernt, nicht mehr dagegen anzukämpfen, gegen das Entsetzen, das Ersticken, das Bersten der Lunge, den Schmerz, diesen schrecklichen Schmerz, der das Ganze begleitete. Man möchte meinen, es müsste ab einem gewissen Zeitpunkt wissen, dass ich schließlich aufwachen werde, so, wie ich damals mitten im Meer aufgetaucht bin, als mich die Welle endlich ausgespuckt hatte; aber mein Unterbewusstsein ist einfach unbelehrbar.
Meine üblichen Albträume sind mit meinen Erinnerungen an den Tsunami so durchsetzt, dass es manchmal schwer ist, das eine vom anderen zu unterscheiden, doch dieser Traum in jener Nacht in York war etwas völlig anderes. Diesmal sah ich keine Palmen über mir, deren Wedel sich träge im Wind wiegten, wie es normalerweise in meinen Albträumen der Fall war. Ich stand nicht am heißen Strand, und es gab keinen Lucas, der, den schmalen Kinderrücken über seinen kleinen Spaten gebeugt, Gräben durch den Sand zog. Es stand nicht die Entscheidung an: umkehren oder weiter fliehen. Es gab keine falsche Entscheidung. In dem Traum in York brach nicht aus heiterem Himmel das Meer über mich herein, um mich zu verschlingen.
Stattdessen träumte ich von einem Fluss, braun und düster. Ich träumte, dass ich schwere Röcke trug statt Bikini und Sarong. Ich träumte von einer Tochter statt von einem kleinen schwedischen Jungen, den ich kaum kannte.
Nur das Ertrinken war gleich.
Langsam, ganz langsam ließ der quälende Schmerz in meiner Lunge nach, sodass ich wieder normal atmen konnte. Nach dem auch mein Herz sich wieder beruhigt hatte und meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, blinzelte ich, verwirrt von dem merkwürdigen Licht und den gedämpften Geräuschen der Nacht.
Ich lauschte angestrengt auf das träge Rotieren des Deckenventilators, das traurige Rufen des Händlers, der seinen Karren die gang, die schmale Straße, entlangschob und Saté-Spießchen verkaufte. Ich lauschte auf das typische Zirpen der Insekten in einer Tropennacht, doch das Einzige, was ich hörte, war das Surren von Autoreifen auf nassem Asphalt und ein gedämpftes Knacken, als der Fahrer in einen anderen Gang schaltete.
Dieses merkwürdige orangerote Licht, das durch den Vorhang ins Zimmer drang, stammte von einer Straßenlaterne. Ich schüttelte meine Benommenheit vollends ab. Ich war nicht im Begriff, in einem eiskalten Fluss zu ertrinken. Ich befand mich in der Stadt York und lag in dem Bett meiner verstorbenen Patentante.
Es war der Geruch, der mir als Erstes aufgefallen war. Süßlich, faulig, etwas befremdlich. Naserümpfend öffnete ich die Haustür und stieß gegen einen Berg von Werbebroschüren und unbezahlten Rechnungen, der sich dahinter angesammelt hatte. Ächzend hievte ich meinen Koffer über die Schwelle, nahm meinen Rucksack von der Schulter, stellte ihn auf den Fliesenboden und schob mit dem Fuß die Tür hinter mir zu. Ein lautes Knacken durchbrach die Stille, als das Yale-Schloss einschnappte.
Im Haus war es dunkel, abgestandene Luft umfing mich, doch das war schließlich zu erwarten. Es stand leer seit Lucys Tod, der nun über einen Monat zurücklag. Ich tastete die Wand entlang nach dem Lichtschalter und blieb, als plötzlich das Licht anging, wie erstarrt stehen, blinzelte und nahm meine Umgebung in Augenschein. Ich stand in einem schmalen Flur, von dem linkerhand zwei Türen abgingen. Geradeaus führte eine steile Treppe nach oben in die Dunkelheit. Es handelte sich um ein kleines bescheidenes viktorianisches Reihenhaus, und das Einzige, was mich daran an jenem ersten Abend überraschte, war, wie überaus normal es wirkte. Lucy hatte sich immer damit gebrüstet, unkonventionell zu sein.
»Bess.«
Die Stimme klang so nah, dass ich zusammenfuhr. »Hallo?«, sagte ich unsicher.
Stille.
»Hallo?«, versuchte ich es erneut und kam mir dabei ein wenig albern vor. »Ist da jemand?«
Aber natürlich war da niemand. Das Haus war abgesperrt gewesen. Die Nachbarn zu beiden Seiten sahen fern, hatten die Vorhänge zugezogen vor dem nassen unfreundlichen Aprilabend. Das, was ich gehört hatte, war die Stimme von irgendwem, der auf der Straße vorbeigegangen war.
Peinlich berührt, wie laut mein Herz plötzlich klopfte, schaltete ich das Deckenlicht im Wohnzimmer ein. Dieser Raum entsprach schon eher meinem Bild von Lucy, wie ich sie in Erinnerung hatte. Die Wände waren in einem erdrückenden Rotton gestrichen und mit seltsamen symbolträchtigen Bildern dekoriert. In einem der Fenster hing ein Traumfänger, und überall lagen Bergkristalle oder standen staubige Schalen mit irgendwelchen Kräutern.
Ich ging hinüber zum Kaminsims und stöberte in dem Sammelsurium aus Kerzen und Figürchen. Dort, zwischen all dem Krimskrams, entdeckte ich die Ursache des widerwärtigen Geruchs, der mich irgendwie beschäftigt hatte: ein verfaulter Apfel. Er war braun und mit Schimmel überzogen, und bei seinem Anblick gab es mir innerlich einen Ruck.
»Bess.«
Der Klang war flüchtig, wie ein Atemhauch an meiner Wange. Erschrocken hob ich den Kopf und erblickte mein Bild in dem verstaubten Spiegel über dem Kaminsims. Einen kur zen Moment dachte ich, eine andere Frau würde mir aus dem Spiegel entgegensehen, eine Fremde mit dunklem Haar und blassgrauen Augen, genau wie ich, aber mit einem Ausdruck solchen Entsetzens im Gesicht, dass ich nach Luft japste und zurückwich.
Doch es war nur ich. Eine Ader pochte an meinem Hals, und ich hob die Hand und legte den Finger darauf.
Lieber Himmel, du siehst fürchterlich aus, schoss es mir durch den Kopf. Kein Wunder, dass ich mich einen kurzen Moment selbst nicht erkannt hatte. Ich war nun schon sechsunddreißig Stunden auf den Beinen, vom Check-in-Schalter zum Flugsteig, von diversen Gepäckkarussells zu Bahnsteigen, hatte endlose Warteschlangen durchgestanden und nervende Sicherheitskontrollen hinter mich gebracht. Die ganze Zeit eingesperrt in einem Flugzeug oder Zug und ständig künstlichem Licht ausgesetzt, war meine innere Uhr so durcheinandergeraten, dass ich jegliches Zeitgefühl verloren hatte.
Ich streckte meinem Spiegelbild die Zunge heraus und wandte mich ab.
Die andere Tür führte zu einem zweiten Wohnzimmer, ebenfalls beherrscht von aufdringlichen Rot- und Lilatönen, durch das man in eine kleine Küche gelangte, wo ich auf der Arbeitsplatte einen zweiten Apfel entdeckte. Kein Wunder, dass es in dem Haus nach fauligem Obst roch. Lucy musste wohl eine Vorliebe für Äpfel gehabt haben, schloss ich. Dieser hier war gelbbraun mit runzeliger Schale. Angewidert warf ich ihn in den Abfalleimer und ließ den Deckel mit einem lauten Knall zufallen.
Mein Kopf sirrte förmlich vor Erschöpfung, dennoch war ich zu überdreht, um schlafen zu gehen. Ich setzte den Wasserkessel auf und beschloss, bis das Wasser kochte, mein Gepäck nach oben zu schaffen. Doch nachdem ich meinen Rucksack aufgehoben und den Fuß auf die unterste Treppenstufe gesetzt hatte, zögerte ich plötzlich. Es schaute in der Tat sehr dunkel da oben aus.
»Fahr nicht hin«, hatte Mel mir geraten, nachdem ich sie angerufen hatte. »York ist bestimmt langweilig und kalt«, sagte sie. »Komm nach Mexiko, Grace. Ich kann dir einen Job an meiner Schule besorgen. Du wirst es hier himmlisch finden. Stell dir Krüge mit Margaritas vor ...«, sagte sie in einem verführerischen Flüsterton. »Heiße Strände, scharfes Chili, heißblütige Mexikaner. Herz, was willst du mehr«?
Ich musste lachen. »Nichts«, gab ich zu. »Ich komme sehr gerne. Ich muss mich nur zuerst um den Nachlass meiner Patentante kümmern.«
»Übergib doch das alles dem Anwalt«, riet Mel. »Du solltest hier bei mir sein und dich amüsieren, nicht im Haus einer alten Frau herumstöbern.«
»Lucy war noch gar nicht so alt«, protestierte ich, »und der Anwalt hat sich auch angeboten, alles für mich zu regeln.«
»Worauf wartest du dann noch?«
»Es ist nur ... ich habe einfach das Gefühl, ich sollte es selbst tun. Das bin ich Lucy schuldig«, versuchte ich es zu erklären. »Irgendwie hat sie mir vertraut.«
Ich war schockiert gewesen, als John Burnand mich in Jakarta angerufen hatte, um mich über den Tod meiner Patentante in Kenntnis zu setzen. »Die ersten Untersuchungen deuten darauf hin, dass sie ertrunken ist.«
Ertrunken. Das Wort schnürte mir förmlich die Kehle zusammen, und schon war ich wieder in dem Wasser, mit berstendem Trommelfell, brennender Lunge, während die Welle mich packte und herumwirbelte, immer und immer wieder. Es dauerte einen Moment, bis ich mich gefangen hatte.
»Was ist passiert?«, brachte ich schließlich heraus.
»Natürlich wird es eine gerichtliche Untersuchung geben«, erklärte er mir, »aber bis jetzt liegt keinerlei Hinweis vor, dass es sich um etwas anderes als einen Unfall handeln könnte.«
Dann teilte er mir zu meiner Überraschung mit, dass Lucy mich, gemeinsam mit ihm, zum Vollstrecker ihres Nachlasses bestimmt hatte. Ich hatte Lucy seit Jahren nicht mehr gesehen und war überzeugt, dass sich das Ganze um ein Missverständnis handeln musste, doch John Burnands Erläuterungen waren eindeutig und sehr präzise.
»Miss Cartmell hat mehrere finanzielle Verfügungen getroffen, und um sie zu erfüllen, wird wohl das Haus verkauft werden müssen, doch das restliche Vermögen fällt an Sie.«
Gegen eine bestimmte Gebühr, fuhr er fort, würde er die entsprechenden Schritte in die Wege leiten. »Oder ziehen Sie es vor, nach York zu reisen und die Sache persönlich in die Hand zu nehmen?«
Ich hätte Nein sagen können, aber ich tat es nicht. Ich hatte nun zwei Jahre in Indonesien gelebt, wurde langsam unruhig und verspürte den Drang weiterzuziehen. Mel war nach Mexiko gegangen. Wir waren gemeinsam in Japan gewesen, hatten dort Englisch unterrichtet und im Übrigen eine fantastische Zeit zusammen erlebt. Seit Monaten drängte sie mich schon, ihr nach Mexiko zu folgen. Aus John Burnands Erklärungen schloss ich, dass nach dem Verkauf des Hauses und der Auszahlung der Verfügungen keine nennenswerte Summe übrig bleiben würde, doch als er dann eine mögliche Zahl nannte, fiel mir fast der Hörer aus der Hand. Für meine Begriffe war es schrecklich viel Geld. Ich konnte mir damit locker ein Flugticket nach Mexiko leisten und überdies noch eine ganze Weile herumreisen, ohne mir Gedanken um einen neuen Job machen zu müssen.
Und deshalb sagte ich, ohne groß zu überlegen, Ja. Auch noch so kleine Entscheidungen haben ihre Konsequenzen. Das vergisst man nur allzu leicht.
Doch als ich nun am Fuß der Treppe stand, wünschte ich einen Moment lang, ich hätte auf Mel gehört. Dann riss ich mich am Riemen. Ich war einfach todmüde und erschöpft. Wenn es mir da oben am Treppenabsatz zu dunkel vorkam, brauchte ich doch bloß das Licht einzuschalten.
Ich stellte meinen Rucksack ab, sah mich suchend um, entdeckte einen Schalter, der mir richtig erschien, und drückte. Prompt und mit einem gewaltigen Knall gingen alle Lichter aus. Das Herz rutschte mir in die Hose.
»Mist!«
Ich spürte ein schreckliches Pochen in meiner Brust, ein Klingeln in den Ohren. Ich zwang mich, tief durchzuatmen. Eine Sicherung war durchgebrannt, weiter nichts. Ich musste nur eine Taschenlampe auftreiben und den Sicherungskasten suchen. Alles kein Grund zur Panik.
Als ich mich umdrehte, um mich zurück in die Küche zu tasten, stolperte ich über meinen Rucksack und fiel der Länge nach hin.
»Mist«, sagte ich erneut, als ich beim Aufstehen meinen Koffer umstieß. »Mist, Mist, Mist!«
Kaum hatte ich mich wieder aufgerappelt, stolperte ich erneut über den Rucksack und tapste anschließend blindlings für ein paar Minuten in der Dunkelheit herum, bis ich schließlich völlig die Orientierung verlor. Als ich dann abermals stürzte, schlug ich mit dem Knie auf dem harten Fliesenboden auf, was richtig wehtat, doch zumindest brachte es mich endlich zur Besinnung. Ich hörte auf mit dem Herumgetapse und nahm mich zusammen.
Mit der Hand über mein schmerzendes Knie reibend, blickte ich missmutig in die Dunkelheit. Jetzt, wo ich aufgehört hatte, wie eine Irre herumzustolpern, drang durch die Wand zum Nachbarhaus leise klassische Musik an mein Ohr. Also musste zumindest einer meiner Nachbarn noch wach sein. Und dann merkte ich, dass es gar nicht so stockfinster war. Ein gedämpft orangeroter Lichtschein von der Straßenlaterne vor dem Haus fiel durch das Buntglasfenster über der Haustüre in den Flur, sodass ich mich wieder zurechtfand. Ich stützte mich auf den Koffer, rappelte mich hoch und humpelte auf das Licht zu. Ein typischer Wesenszug von mir war das sture Beharren auf Unabhängigkeit, eine Beschreibung, die mir in der Vergangenheit von mehr als einem Exfreund an den Kopf geworfen wurde, doch heute, an diesem kohlschwarzen Abend, war ich bereit, eine Ausnahme zu machen.
Sein Name war Drew Dyer. Auf mein Klingeln hin öffnete mir ein Mann mittleren Alters mit Brille und schon leicht schütterem Haar mit zerstreuter Miene die Tür. Einzeln betrachtet waren seine Züge nicht attraktiv, doch insgesamt gesehen wirkte sein Gesicht heiter, was wohl bedeutete, dass er irgendwie auch heiter war, und bei seinem Anblick machte mein Herz so einen komischen Satz.
»Sie müssen eine Verwandte von Lucy sein«, sagte er, nachdem ich mich für die Störung entschuldigt und ihm erklärt hatte, dass ich gerade erst im Haus nebenan angekommen war.
»Ihre Patentochter. Ich bin Grace Trewe.«
Wir gaben uns die Hand. Sein Händedruck war warm, und bei der Berührung verspürte ich einen kleinen Schauer, als würde ich den Mann bereits kennen. Doch wahrscheinlich fror ich nur. Das Wetter in jener Nacht war nicht sehr freundlich, eine garstige Mischung aus Regen und Graupel, und in meinem T-Shirt und der dünnen Kapuzenjacke zitterte ich vor Kälte. Seit sieben Jahren hatte ich England nicht mehr besucht, sodass ich für die Launen eines nordenglischen Frühlings denkbar schlecht gerüstet war.
»Ich wollte Sie nur kurz fragen, ob Sie mir eine Taschenlampe leihen könnten«, sagte ich, steckte die Hände in die Achselhöhlen und versuchte, nicht allzu sehnsüchtig in die helle warme Diele hinter Drew zu blicken. »Eine Sicherung ist durchgebrannt drüben im Haus, und ich finde mich dort im Dunkeln überhaupt nicht zurecht.«
Ich bin nicht sicher, ob es mein Zittern war oder ob er meinen sehnsüchtigen Blick bemerkt hatte, jedenfalls machte er die Tür weit auf für mich. »Kommen Sie herein«, sagte er, und ich ließ mich nicht lang bitten und humpelte ins Haus.
»Danke.«
Er führte mich ins Wohnzimmer, deutete mit der Hand auf einen abgewetzten Sessel und bat mich, Platz zu nehmen. Das Zimmer wirkte viel einladender als das von Lucy. Die Wände waren vom Boden bis zur Decke mit Bücherregalen bedeckt, und auf dem Schreibtisch gegenüber dem Kamin schimmerte bläulich der Monitor eines Computers. Als ich mich hinsetzen wollte, tat mein Knie so weh, dass ich unwillkürlich aufstöhnte.
»Haben Sie sich verletzt?« Drew beobachtete mich, wie ich die schmerzende Stelle rieb, und so ließ ich verlegen die Hand wieder sinken.
»Nichts Schlimmes. Ich bin nur über meinen Koffer gefallen. Ich hoffe, ich habe Sie nicht gestört mit meinen Flüchen«, fügte ich hinzu. »Normalerweise bin ich ja durch nichts zu erschüttern, aber da habe ich mich wohl einen kurzen Moment gehen lassen.«
»Ich habe nichts gehört«, versicherte Drew mir. »Ich war im York des sechzehnten Jahrhunderts.«
Ich starrte ihn verständnislos an. »Wie bitte?«
»Ich bin Historiker.« Er hatte dieses gewisse Lächeln, das eigentlich kein richtiges Lächeln ist, sondern nur ein kaum merkliches Vertiefen der Linie zwischen Nase und Mund, ein Hervortreten der Fältchen in den Augenwinkeln. »Ich war ganz versunken in meine Aufzeichnungen«, erklärte er. »Ich arbeite an einem Vortrag für eine Historikerkonferenz, zumindest versuche ich es.«
»Oh, bitte entschuldigen Sie die Störung«, sagte ich ein bisschen förmlich, peinlich berührt, weil meine perplexe Miene ihm verraten hatte, dass ich tatsächlich eine Sekunde lang geglaubt hatte, er rede über Zeitreisen. Gewöhnlich war ich schneller von Begriff.
»Ganz ehrlich, ich bin froh über diese Unterbrechung«, sagte er sich meiner erbarmend. »Es läuft gerade nicht so gut. Ehrlich gesagt, geht es überhaupt nicht voran.«
Ich lehnte mich entspannt in meinen Sessel zurück, und es tat mir überhaupt nicht leid, dass ich den Moment, wenn ich wieder zurückgehen musste in Lucys dunkles, leeres Haus, noch ein wenig hinauszögern konnte.
»Wovon handelt Ihr Vortrag denn?«, fragte ich, während ich mit Bedauern feststellte, dass Drew Dyer es vorzog, an seinen Schreibtisch gelehnt stehen zu bleiben, statt es sich in dem anderen Sessel bequem zu machen. Trotz seiner Behauptung, die Ablenkung würde ihm guttun, sah er nicht so aus, als wollte er sich auf einen kleinen Plausch einlassen. Aber immerhin antwortete er bereitwillig.
»Ich untersuche nachbarschaftliches Verhalten in York im Elisabethanischen Zeitalter.«
»Haben denn die Leute damals auch schon mitten in der Nacht einfach beim Nachbarn geklopft, um sich eine Taschenlampe auszuleihen?«
Hinter seinen Brillengläsern traten die Lachfältchen um die Augen deutlicher hervor. »Wahrscheinlicher ist, dass sie nachts beim Nachbarn gelauscht haben, um hinter irgendwelche schmutzige Geheimnisse zu kommen.«
»Hört sich interessant an.«
»Eigentlich haben sie die meiste Zeit damit zugebracht, sich um den Zustand der Straßen oder die Entsorgung der Abfälle Gedanken zu machen. Im Grunde gar nicht so viel anders als heute, wie Sie noch feststellen werden, wenn Sie erst mal die Bekanntschaft mit Ann Parsons in Nummer vier gemacht haben. Sie führt eine Ein-Frau-Kampagne gegen die städtische Müllabfuhr und wird garantiert versuchen, Sie für die Idee zu gewinnen, einen Beschwerdebrief an die Stadt zu schreiben; deshalb sollten Sie immer so tun, als wären sie in Eile, wenn Sie an ihrem Haus vorbeigehen.«
»Danke für die Warnung«, erwiderte ich grinsend. Ich hatte bisher noch nie einen Gedanken an Abfallentsorgung verschwendet. Ich mietete mich immer nur für sechs Monate irgendwo ein, hielt mich also nie allzu lange an einem Ort auf, und obwohl ich liebend gern zu allem Möglichen meinen Senf dazugab, gehörte die Müllabfuhr nicht zu den Themen, über die ich mich lang und breit auslassen konnte. Nichtsdestotrotz hätte es mir gefallen, in der Lage zu sein, dieses Gespräch mit Drew noch ein wenig auszudehnen.
»Es tat mir furchtbar leid, als ich das mit Lucy hörte«, wechselte Drew das Thema. »Es muss ein Schock für Sie gewesen sein.«
»Ja, schon«, antwortete ich nach einigem Zögern, »aber ehrlich gesagt war der schlimmste Schock für mich zu erfahren, dass sie mich zu ihrem Nachlassvollstrecker ernannt hat. Ich hatte sie jahrelang nicht gesehen, Sie kannten sie wahrscheinlich viel besser als ich.«
»Das würde ich so nicht sagen.« Mir fiel auf, dass er seine Worte mit Bedacht wählte. »Wir grüßten uns, redeten vielleicht über das Wetter, wenn wir uns zufällig auf der Straße begegneten, aber das war auch schon alles. Sophie hingegen hat Lucy sehr gemocht«, fügte er hinzu.
»Sophie?«
»Meine Tochter. Sie war ganz begeistert von Lucys versponnenen Ideen«, erklärte er, und aus einer gewissen Starre in seiner Miene schloss ich, dass die Freundschaft seiner Tochter mit Lucy wohl der Anlass für so manchen Konflikt gewesen war. »Sophie hat sehr viel Zeit mit Lucy verbracht«, fuhr Drew fort. »Sie war sehr traurig, als sie erfuhr, was geschehen ist.«
»Der Gedanke tröstet mich, dass zumindest einer um sie getrauert hat«, bemerkte ich vorsichtig. »Ich weiß ja, dass Lucy ein bisschen exzentrisch war, aber sie hatte ein gutes Herz, wie zumindest meine Mutter immer behauptet hat. Allerdings hätte ich nie erwartet, dass sie mir die Regelung ihres Nachlasses anvertrauen würde. Ich habe jetzt ein schlechtes Gewissen, weil ich mich zu ihren Lebzeiten nicht mehr um sie gekümmert habe«, gestand ich. »Ich habe ihr zwar hin und wieder eine Ansichtskarte geschickt, aber das war auch schon alles.«
Mitten im Satz musste ich auf einmal gähnen, sehr zu meinem Bedauern, denn Drew fasste dies als klares Signal auf, dass ich aufbrechen wollte.
»Na, dann wollen wir mal sehen, ob ich nicht irgendwo eine Taschenlampe für Sie finde.«
Ein paar Minuten später kam er mit einer Taschenlampe zurück, die aussah, als würde sie ihren Zweck erfüllen. Mittlerweile schlief ich schon halb in dem bequemen Sessel, in der Sicherheit und Geborgenheit dieses Hauses.
Sicherheit und Geborgenheit? Wie kam ich denn plötzlich auf so einen Gedanken?
»Vielen Dank.« Ich brachte ein Lächeln zustande, während ich mich widerstrebend aus dem Sessel erhob und die Taschenlampe entgegennahm. »Ich bringe sie Ihnen gleich wieder zurück. «
»Ich komme mit und helfe Ihnen«, sagte er und zog sich ein Sweatshirt über.
Natürlich protestierte ich, aber nicht allzu heftig. Ich würde morgen wieder auf meiner Unabhängigkeit beharren, schwor ich mir. Doch jetzt war es dunkel und kalt, ich war hundemüde, und mein Knie schmerzte, also gestattete ich Drew Dyer, mir nachbarliche Hilfe zu leisten.
Er fand den Sicherungskasten und drückte den Schalter, und prompt gingen alle Lichter wieder an und offenbarten, dass mein schwerer Koffer umgekippt auf den Fliesen lag und mein Rucksack irgendwo am Boden, wo ich das letzte Mal darübergestolpert war.
»Soll ich den Koffer für Sie die Treppe hinauftragen?«, fragte er, während er das Gepäckstück beäugte.
Ich folgte ihm nach oben ins Schlafzimmer. Lucy hatte die Wände in einem satten Dunkelblau tapeziert und Sterne an der Decke angebracht. Genau richtig für eine Halbwüchsige, etwas befremdlich für eine Frau in den Fünfzigern, wie ich fand, aber es passte zu Lucy.
»Vielen herzlichen Dank«, sagte ich zu Drew, doch dann stutzte ich plötzlich, weil ich wieder dieses Flüstern hörte.
»Bess ...«
Ich runzelte die Stirn. »Wer ist Bess?«, fragte ich Drew.
»Wer?«
»Haben Sie es nicht gehört?«
»Was soll ich denn gehört haben?«
»Dauernd denke ich, dass jemand hier nach einer Bess ruft.« Er schüttelte den Kopf. »Ich habe nichts gehört.«
»Ja, nun, dann muss ich es mir wohl eingebildet haben«, sagte ich nach kurzem Zögern.
»Sie müssen todmüde sein«, meinte Drew.
Es stimmte, ich war müde. Auf alle Fälle zu müde, um noch einen klaren Gedanken fassen zu können.
Ich verabschiedete Drew an der Haustür und bedankte mich noch einmal bei ihm, und als er fragte, ob ich nun allein zurechtkäme, zögerte ich keine Sekunde. »Natürlich«, erwiderte ich. »Ich komme schon klar.«
Übersetzung: Renate Reinhold
© 2014 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Ich verspüre keine Angst, noch nicht. Ich bin nur völlig verblüfft, dass ich mich mit einem Mal in der Luft befinde, hinunterblicke auf das trübe, gurgelnde Wasser des Flusses. Es ist, als würde die Zeit plötzlich stillstehen, als würde ich irgendwo zwischen Himmel und Wasser schweben, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen damals und jetzt. Zwischen Ungläubigkeit und Entsetzen.
Es ist der Tag vor Allerheiligen, und ich werde sterben.
Tief drinnen weiß ich es ganz genau. Aber ein Teil von mir verweigert sich der Erkenntnis, dass dies alles tatsächlich geschieht, dass dies kein böser Traum ist, aus dem ich wieder erwachen werde. Will nicht wahrhaben, dass ich heute Morgen zum letzten Mal die Bodenbretter kühl und glatt unter meinen Füßen spürte, zum letzten Mal das Knarren der Stiege oder das Prasseln des Regens auf dem Hausdach hörte.
Zum letzten Mal meiner Tochter das Haar unter die Haube schob.
»Ich bin bald wieder zurück«, versprach ich ihr.
Aus der Ferne dringt Glockenschlag an mein Ohr. Die Bewohner der Stadt gehen ihren Geschäften nach, wie jeden Tag. Der Markt am Pavement hat geöffnet. Die Händler sind jetzt sicher damit beschäftigt, mit Besenstielen von unten gegen die Planen ihrer Verkaufsstände zu stoßen, damit das Wasser, das sich nach dem Regen heute Morgen darin gesammelt hat, abfließen kann. Gewiss jammern sie über den Morast und die fehlende Kundschaft, denn jeder, der konnte, blieb bei diesem Wetter zu Hause.
Ich sollte jetzt eigentlich dort auf dem Markt sein. Es gibt einiges zu besorgen. Wir brauchen Fisch, wir brauchen Salz. Bess wächst so schnell. Ich habe vor, neue Schuhe für sie zu kaufen. Ich werde heute Nachmittag einkaufen gehen.
Doch das wird nicht geschehen. Stattdessen werde ich sterben.
Seltsam, dass der Gedanke an etwas so Banales wie Schuhe die Zeit wieder vorantreibt, heraus aus diesem eigenartigen Moment des Stillstands, doch genauso ist es. Plötzlich ist jetzt, und alles geschieht viel zu schnell. Ich stürze in die Fluten, und das braune, modrige Wasser schlägt über meinem Kopf zusammen. Ich spüre, wie es durch mein Unterkleid dringt, in meine Ärmel, wie das Gewicht der nassen Kleidung mich nach unten zieht.
Und plötzlich sehe ich ihn vor mir, wie er den Kopf zu mir neigt, mir zuflüstert, dass er nun Bess zu sich nehmen, sie als sein Kind aufziehen wird, und dass niemand Einwände erheben wird.
»Ich kann mit ihr machen, was mir gefällt, Hawise«, hat er gesagt.
Jetzt, wo ich mich daran erinnere, ergreift mich panische Angst.
Jetzt strample ich, zapple ich, während das Grauen, das Entsetzen jeden klaren Gedanken verhindert, doch sie haben mir den Daumen an den großen Zeh gebunden, sodass ich mich nicht über Wasser halten kann, selbst wenn ich schwimmen könnte. Meine Röcke sind zu schwer, das Wasser ist zu kalt, und wenn ich den Mund öffne und schreien will, diesen Mann abermals verfluchen will, dringt Flusswasser hinein, durch den Strumpf, den sie mir über das Gesicht gebunden haben, um mich mundtot zu machen. Es ist kalt und faulig und verschließt meine Kehle. Es ist zu spät. Die Strömung ist stark, wild, reißt mich mit sich fort, als wäre ich ein Fass, immer weiter dem Meer zu, das ich nie gesehen habe und nun nicht mehr sehen werde. Ich bin Treibgut, gefährlicher Ballast, über Bord geworfen, um die Stadt vor Unheil zu bewahren.
Ich sinke, komme wieder an die Oberfläche, sinke abermals, noch tiefer, und je mehr ich würge, desto mehr Wasser dringt in meinen Mund. Ein schrecklicher Schmerz dröhnt in meinen Ohren, hinter meinen Augen, und meine Lunge brennt wie Feuer.
Ich zapple und winde mich, schlage wild um mich, doch ich sinke immer tiefer. Ich weiß nicht mehr, wo oben und unten ist. Ich spüre nur noch Panik und Schmerz und das grauenvolle Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen, und sehe vor mir in erschreckender Klarheit nur noch das Bild, wie Bess vertrauensvoll zu ihm aufschaut und seine Hand ergreift.
Ich muss unbedingt zurück. Ich muss alles anders machen, damit ich meine Tochter vor Unheil bewahren kann.
»Bess«, versuche ich zu sagen, als ob ich sie erreichen, als ob sie mich hören könnte, als ob sie meine Angst und Qualen begreifen könnte.
Aber ich kann nicht sprechen, und ich kann nicht atmen, ich kann nicht atmen. Meine Lunge ist voll Wasser, meine Kehle ist wie abgedrückt. Der Schmerz hinter meinen Augen ist unerträglich, und in meinen Ohren gellt ein Schrei, aber wie kann ich schreien, wenn ich nicht Luft holen kann? Liebster Herr Jesus, ich muss unbedingt Luft bekommen - ich muss an die Oberfläche, unbedingt, oder ich werde sterben -, aber ich weiß nicht, wo oben ist, ich schlage wild, verzweifelt um mich, kämpfe gegen das Grauen an, vergeblich, während der Fluss mich mitleidlos verschlingt, mich hinunterzieht, immer tiefer, immer tiefer, in die unendliche Finsternis.
Keuchend, verzweifelt nach Luft ringend, fuhr ich aus dem Schlaf hoch. Ich riss die Augen auf und starrte in die Finsternis, voller Angst um eine Tochter, die ich nie hatte, während mein Herz bei der Erinnerung raste und meine Kehle vor Panik wie zugeschnürt war. Ich spürte förmlich noch das Gewicht des merkwürdigen Kleides, das ich getragen hatte, die Steifheit der Leinenhaube, unter der mein Haar verborgen war. Der faulige Geschmack des Wassers war so intensiv, dass es mich immer noch würgte.
Ich bin daran gewöhnt zu ertrinken. Ich bin in meinen Träumen so oft ertrunken, dass man meinen möchte, mein Unterbewusstsein hätte inzwischen gelernt, nicht mehr dagegen anzukämpfen, gegen das Entsetzen, das Ersticken, das Bersten der Lunge, den Schmerz, diesen schrecklichen Schmerz, der das Ganze begleitete. Man möchte meinen, es müsste ab einem gewissen Zeitpunkt wissen, dass ich schließlich aufwachen werde, so, wie ich damals mitten im Meer aufgetaucht bin, als mich die Welle endlich ausgespuckt hatte; aber mein Unterbewusstsein ist einfach unbelehrbar.
Meine üblichen Albträume sind mit meinen Erinnerungen an den Tsunami so durchsetzt, dass es manchmal schwer ist, das eine vom anderen zu unterscheiden, doch dieser Traum in jener Nacht in York war etwas völlig anderes. Diesmal sah ich keine Palmen über mir, deren Wedel sich träge im Wind wiegten, wie es normalerweise in meinen Albträumen der Fall war. Ich stand nicht am heißen Strand, und es gab keinen Lucas, der, den schmalen Kinderrücken über seinen kleinen Spaten gebeugt, Gräben durch den Sand zog. Es stand nicht die Entscheidung an: umkehren oder weiter fliehen. Es gab keine falsche Entscheidung. In dem Traum in York brach nicht aus heiterem Himmel das Meer über mich herein, um mich zu verschlingen.
Stattdessen träumte ich von einem Fluss, braun und düster. Ich träumte, dass ich schwere Röcke trug statt Bikini und Sarong. Ich träumte von einer Tochter statt von einem kleinen schwedischen Jungen, den ich kaum kannte.
Nur das Ertrinken war gleich.
Langsam, ganz langsam ließ der quälende Schmerz in meiner Lunge nach, sodass ich wieder normal atmen konnte. Nach dem auch mein Herz sich wieder beruhigt hatte und meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, blinzelte ich, verwirrt von dem merkwürdigen Licht und den gedämpften Geräuschen der Nacht.
Ich lauschte angestrengt auf das träge Rotieren des Deckenventilators, das traurige Rufen des Händlers, der seinen Karren die gang, die schmale Straße, entlangschob und Saté-Spießchen verkaufte. Ich lauschte auf das typische Zirpen der Insekten in einer Tropennacht, doch das Einzige, was ich hörte, war das Surren von Autoreifen auf nassem Asphalt und ein gedämpftes Knacken, als der Fahrer in einen anderen Gang schaltete.
Dieses merkwürdige orangerote Licht, das durch den Vorhang ins Zimmer drang, stammte von einer Straßenlaterne. Ich schüttelte meine Benommenheit vollends ab. Ich war nicht im Begriff, in einem eiskalten Fluss zu ertrinken. Ich befand mich in der Stadt York und lag in dem Bett meiner verstorbenen Patentante.
Es war der Geruch, der mir als Erstes aufgefallen war. Süßlich, faulig, etwas befremdlich. Naserümpfend öffnete ich die Haustür und stieß gegen einen Berg von Werbebroschüren und unbezahlten Rechnungen, der sich dahinter angesammelt hatte. Ächzend hievte ich meinen Koffer über die Schwelle, nahm meinen Rucksack von der Schulter, stellte ihn auf den Fliesenboden und schob mit dem Fuß die Tür hinter mir zu. Ein lautes Knacken durchbrach die Stille, als das Yale-Schloss einschnappte.
Im Haus war es dunkel, abgestandene Luft umfing mich, doch das war schließlich zu erwarten. Es stand leer seit Lucys Tod, der nun über einen Monat zurücklag. Ich tastete die Wand entlang nach dem Lichtschalter und blieb, als plötzlich das Licht anging, wie erstarrt stehen, blinzelte und nahm meine Umgebung in Augenschein. Ich stand in einem schmalen Flur, von dem linkerhand zwei Türen abgingen. Geradeaus führte eine steile Treppe nach oben in die Dunkelheit. Es handelte sich um ein kleines bescheidenes viktorianisches Reihenhaus, und das Einzige, was mich daran an jenem ersten Abend überraschte, war, wie überaus normal es wirkte. Lucy hatte sich immer damit gebrüstet, unkonventionell zu sein.
»Bess.«
Die Stimme klang so nah, dass ich zusammenfuhr. »Hallo?«, sagte ich unsicher.
Stille.
»Hallo?«, versuchte ich es erneut und kam mir dabei ein wenig albern vor. »Ist da jemand?«
Aber natürlich war da niemand. Das Haus war abgesperrt gewesen. Die Nachbarn zu beiden Seiten sahen fern, hatten die Vorhänge zugezogen vor dem nassen unfreundlichen Aprilabend. Das, was ich gehört hatte, war die Stimme von irgendwem, der auf der Straße vorbeigegangen war.
Peinlich berührt, wie laut mein Herz plötzlich klopfte, schaltete ich das Deckenlicht im Wohnzimmer ein. Dieser Raum entsprach schon eher meinem Bild von Lucy, wie ich sie in Erinnerung hatte. Die Wände waren in einem erdrückenden Rotton gestrichen und mit seltsamen symbolträchtigen Bildern dekoriert. In einem der Fenster hing ein Traumfänger, und überall lagen Bergkristalle oder standen staubige Schalen mit irgendwelchen Kräutern.
Ich ging hinüber zum Kaminsims und stöberte in dem Sammelsurium aus Kerzen und Figürchen. Dort, zwischen all dem Krimskrams, entdeckte ich die Ursache des widerwärtigen Geruchs, der mich irgendwie beschäftigt hatte: ein verfaulter Apfel. Er war braun und mit Schimmel überzogen, und bei seinem Anblick gab es mir innerlich einen Ruck.
»Bess.«
Der Klang war flüchtig, wie ein Atemhauch an meiner Wange. Erschrocken hob ich den Kopf und erblickte mein Bild in dem verstaubten Spiegel über dem Kaminsims. Einen kur zen Moment dachte ich, eine andere Frau würde mir aus dem Spiegel entgegensehen, eine Fremde mit dunklem Haar und blassgrauen Augen, genau wie ich, aber mit einem Ausdruck solchen Entsetzens im Gesicht, dass ich nach Luft japste und zurückwich.
Doch es war nur ich. Eine Ader pochte an meinem Hals, und ich hob die Hand und legte den Finger darauf.
Lieber Himmel, du siehst fürchterlich aus, schoss es mir durch den Kopf. Kein Wunder, dass ich mich einen kurzen Moment selbst nicht erkannt hatte. Ich war nun schon sechsunddreißig Stunden auf den Beinen, vom Check-in-Schalter zum Flugsteig, von diversen Gepäckkarussells zu Bahnsteigen, hatte endlose Warteschlangen durchgestanden und nervende Sicherheitskontrollen hinter mich gebracht. Die ganze Zeit eingesperrt in einem Flugzeug oder Zug und ständig künstlichem Licht ausgesetzt, war meine innere Uhr so durcheinandergeraten, dass ich jegliches Zeitgefühl verloren hatte.
Ich streckte meinem Spiegelbild die Zunge heraus und wandte mich ab.
Die andere Tür führte zu einem zweiten Wohnzimmer, ebenfalls beherrscht von aufdringlichen Rot- und Lilatönen, durch das man in eine kleine Küche gelangte, wo ich auf der Arbeitsplatte einen zweiten Apfel entdeckte. Kein Wunder, dass es in dem Haus nach fauligem Obst roch. Lucy musste wohl eine Vorliebe für Äpfel gehabt haben, schloss ich. Dieser hier war gelbbraun mit runzeliger Schale. Angewidert warf ich ihn in den Abfalleimer und ließ den Deckel mit einem lauten Knall zufallen.
Mein Kopf sirrte förmlich vor Erschöpfung, dennoch war ich zu überdreht, um schlafen zu gehen. Ich setzte den Wasserkessel auf und beschloss, bis das Wasser kochte, mein Gepäck nach oben zu schaffen. Doch nachdem ich meinen Rucksack aufgehoben und den Fuß auf die unterste Treppenstufe gesetzt hatte, zögerte ich plötzlich. Es schaute in der Tat sehr dunkel da oben aus.
»Fahr nicht hin«, hatte Mel mir geraten, nachdem ich sie angerufen hatte. »York ist bestimmt langweilig und kalt«, sagte sie. »Komm nach Mexiko, Grace. Ich kann dir einen Job an meiner Schule besorgen. Du wirst es hier himmlisch finden. Stell dir Krüge mit Margaritas vor ...«, sagte sie in einem verführerischen Flüsterton. »Heiße Strände, scharfes Chili, heißblütige Mexikaner. Herz, was willst du mehr«?
Ich musste lachen. »Nichts«, gab ich zu. »Ich komme sehr gerne. Ich muss mich nur zuerst um den Nachlass meiner Patentante kümmern.«
»Übergib doch das alles dem Anwalt«, riet Mel. »Du solltest hier bei mir sein und dich amüsieren, nicht im Haus einer alten Frau herumstöbern.«
»Lucy war noch gar nicht so alt«, protestierte ich, »und der Anwalt hat sich auch angeboten, alles für mich zu regeln.«
»Worauf wartest du dann noch?«
»Es ist nur ... ich habe einfach das Gefühl, ich sollte es selbst tun. Das bin ich Lucy schuldig«, versuchte ich es zu erklären. »Irgendwie hat sie mir vertraut.«
Ich war schockiert gewesen, als John Burnand mich in Jakarta angerufen hatte, um mich über den Tod meiner Patentante in Kenntnis zu setzen. »Die ersten Untersuchungen deuten darauf hin, dass sie ertrunken ist.«
Ertrunken. Das Wort schnürte mir förmlich die Kehle zusammen, und schon war ich wieder in dem Wasser, mit berstendem Trommelfell, brennender Lunge, während die Welle mich packte und herumwirbelte, immer und immer wieder. Es dauerte einen Moment, bis ich mich gefangen hatte.
»Was ist passiert?«, brachte ich schließlich heraus.
»Natürlich wird es eine gerichtliche Untersuchung geben«, erklärte er mir, »aber bis jetzt liegt keinerlei Hinweis vor, dass es sich um etwas anderes als einen Unfall handeln könnte.«
Dann teilte er mir zu meiner Überraschung mit, dass Lucy mich, gemeinsam mit ihm, zum Vollstrecker ihres Nachlasses bestimmt hatte. Ich hatte Lucy seit Jahren nicht mehr gesehen und war überzeugt, dass sich das Ganze um ein Missverständnis handeln musste, doch John Burnands Erläuterungen waren eindeutig und sehr präzise.
»Miss Cartmell hat mehrere finanzielle Verfügungen getroffen, und um sie zu erfüllen, wird wohl das Haus verkauft werden müssen, doch das restliche Vermögen fällt an Sie.«
Gegen eine bestimmte Gebühr, fuhr er fort, würde er die entsprechenden Schritte in die Wege leiten. »Oder ziehen Sie es vor, nach York zu reisen und die Sache persönlich in die Hand zu nehmen?«
Ich hätte Nein sagen können, aber ich tat es nicht. Ich hatte nun zwei Jahre in Indonesien gelebt, wurde langsam unruhig und verspürte den Drang weiterzuziehen. Mel war nach Mexiko gegangen. Wir waren gemeinsam in Japan gewesen, hatten dort Englisch unterrichtet und im Übrigen eine fantastische Zeit zusammen erlebt. Seit Monaten drängte sie mich schon, ihr nach Mexiko zu folgen. Aus John Burnands Erklärungen schloss ich, dass nach dem Verkauf des Hauses und der Auszahlung der Verfügungen keine nennenswerte Summe übrig bleiben würde, doch als er dann eine mögliche Zahl nannte, fiel mir fast der Hörer aus der Hand. Für meine Begriffe war es schrecklich viel Geld. Ich konnte mir damit locker ein Flugticket nach Mexiko leisten und überdies noch eine ganze Weile herumreisen, ohne mir Gedanken um einen neuen Job machen zu müssen.
Und deshalb sagte ich, ohne groß zu überlegen, Ja. Auch noch so kleine Entscheidungen haben ihre Konsequenzen. Das vergisst man nur allzu leicht.
Doch als ich nun am Fuß der Treppe stand, wünschte ich einen Moment lang, ich hätte auf Mel gehört. Dann riss ich mich am Riemen. Ich war einfach todmüde und erschöpft. Wenn es mir da oben am Treppenabsatz zu dunkel vorkam, brauchte ich doch bloß das Licht einzuschalten.
Ich stellte meinen Rucksack ab, sah mich suchend um, entdeckte einen Schalter, der mir richtig erschien, und drückte. Prompt und mit einem gewaltigen Knall gingen alle Lichter aus. Das Herz rutschte mir in die Hose.
»Mist!«
Ich spürte ein schreckliches Pochen in meiner Brust, ein Klingeln in den Ohren. Ich zwang mich, tief durchzuatmen. Eine Sicherung war durchgebrannt, weiter nichts. Ich musste nur eine Taschenlampe auftreiben und den Sicherungskasten suchen. Alles kein Grund zur Panik.
Als ich mich umdrehte, um mich zurück in die Küche zu tasten, stolperte ich über meinen Rucksack und fiel der Länge nach hin.
»Mist«, sagte ich erneut, als ich beim Aufstehen meinen Koffer umstieß. »Mist, Mist, Mist!«
Kaum hatte ich mich wieder aufgerappelt, stolperte ich erneut über den Rucksack und tapste anschließend blindlings für ein paar Minuten in der Dunkelheit herum, bis ich schließlich völlig die Orientierung verlor. Als ich dann abermals stürzte, schlug ich mit dem Knie auf dem harten Fliesenboden auf, was richtig wehtat, doch zumindest brachte es mich endlich zur Besinnung. Ich hörte auf mit dem Herumgetapse und nahm mich zusammen.
Mit der Hand über mein schmerzendes Knie reibend, blickte ich missmutig in die Dunkelheit. Jetzt, wo ich aufgehört hatte, wie eine Irre herumzustolpern, drang durch die Wand zum Nachbarhaus leise klassische Musik an mein Ohr. Also musste zumindest einer meiner Nachbarn noch wach sein. Und dann merkte ich, dass es gar nicht so stockfinster war. Ein gedämpft orangeroter Lichtschein von der Straßenlaterne vor dem Haus fiel durch das Buntglasfenster über der Haustüre in den Flur, sodass ich mich wieder zurechtfand. Ich stützte mich auf den Koffer, rappelte mich hoch und humpelte auf das Licht zu. Ein typischer Wesenszug von mir war das sture Beharren auf Unabhängigkeit, eine Beschreibung, die mir in der Vergangenheit von mehr als einem Exfreund an den Kopf geworfen wurde, doch heute, an diesem kohlschwarzen Abend, war ich bereit, eine Ausnahme zu machen.
Sein Name war Drew Dyer. Auf mein Klingeln hin öffnete mir ein Mann mittleren Alters mit Brille und schon leicht schütterem Haar mit zerstreuter Miene die Tür. Einzeln betrachtet waren seine Züge nicht attraktiv, doch insgesamt gesehen wirkte sein Gesicht heiter, was wohl bedeutete, dass er irgendwie auch heiter war, und bei seinem Anblick machte mein Herz so einen komischen Satz.
»Sie müssen eine Verwandte von Lucy sein«, sagte er, nachdem ich mich für die Störung entschuldigt und ihm erklärt hatte, dass ich gerade erst im Haus nebenan angekommen war.
»Ihre Patentochter. Ich bin Grace Trewe.«
Wir gaben uns die Hand. Sein Händedruck war warm, und bei der Berührung verspürte ich einen kleinen Schauer, als würde ich den Mann bereits kennen. Doch wahrscheinlich fror ich nur. Das Wetter in jener Nacht war nicht sehr freundlich, eine garstige Mischung aus Regen und Graupel, und in meinem T-Shirt und der dünnen Kapuzenjacke zitterte ich vor Kälte. Seit sieben Jahren hatte ich England nicht mehr besucht, sodass ich für die Launen eines nordenglischen Frühlings denkbar schlecht gerüstet war.
»Ich wollte Sie nur kurz fragen, ob Sie mir eine Taschenlampe leihen könnten«, sagte ich, steckte die Hände in die Achselhöhlen und versuchte, nicht allzu sehnsüchtig in die helle warme Diele hinter Drew zu blicken. »Eine Sicherung ist durchgebrannt drüben im Haus, und ich finde mich dort im Dunkeln überhaupt nicht zurecht.«
Ich bin nicht sicher, ob es mein Zittern war oder ob er meinen sehnsüchtigen Blick bemerkt hatte, jedenfalls machte er die Tür weit auf für mich. »Kommen Sie herein«, sagte er, und ich ließ mich nicht lang bitten und humpelte ins Haus.
»Danke.«
Er führte mich ins Wohnzimmer, deutete mit der Hand auf einen abgewetzten Sessel und bat mich, Platz zu nehmen. Das Zimmer wirkte viel einladender als das von Lucy. Die Wände waren vom Boden bis zur Decke mit Bücherregalen bedeckt, und auf dem Schreibtisch gegenüber dem Kamin schimmerte bläulich der Monitor eines Computers. Als ich mich hinsetzen wollte, tat mein Knie so weh, dass ich unwillkürlich aufstöhnte.
»Haben Sie sich verletzt?« Drew beobachtete mich, wie ich die schmerzende Stelle rieb, und so ließ ich verlegen die Hand wieder sinken.
»Nichts Schlimmes. Ich bin nur über meinen Koffer gefallen. Ich hoffe, ich habe Sie nicht gestört mit meinen Flüchen«, fügte ich hinzu. »Normalerweise bin ich ja durch nichts zu erschüttern, aber da habe ich mich wohl einen kurzen Moment gehen lassen.«
»Ich habe nichts gehört«, versicherte Drew mir. »Ich war im York des sechzehnten Jahrhunderts.«
Ich starrte ihn verständnislos an. »Wie bitte?«
»Ich bin Historiker.« Er hatte dieses gewisse Lächeln, das eigentlich kein richtiges Lächeln ist, sondern nur ein kaum merkliches Vertiefen der Linie zwischen Nase und Mund, ein Hervortreten der Fältchen in den Augenwinkeln. »Ich war ganz versunken in meine Aufzeichnungen«, erklärte er. »Ich arbeite an einem Vortrag für eine Historikerkonferenz, zumindest versuche ich es.«
»Oh, bitte entschuldigen Sie die Störung«, sagte ich ein bisschen förmlich, peinlich berührt, weil meine perplexe Miene ihm verraten hatte, dass ich tatsächlich eine Sekunde lang geglaubt hatte, er rede über Zeitreisen. Gewöhnlich war ich schneller von Begriff.
»Ganz ehrlich, ich bin froh über diese Unterbrechung«, sagte er sich meiner erbarmend. »Es läuft gerade nicht so gut. Ehrlich gesagt, geht es überhaupt nicht voran.«
Ich lehnte mich entspannt in meinen Sessel zurück, und es tat mir überhaupt nicht leid, dass ich den Moment, wenn ich wieder zurückgehen musste in Lucys dunkles, leeres Haus, noch ein wenig hinauszögern konnte.
»Wovon handelt Ihr Vortrag denn?«, fragte ich, während ich mit Bedauern feststellte, dass Drew Dyer es vorzog, an seinen Schreibtisch gelehnt stehen zu bleiben, statt es sich in dem anderen Sessel bequem zu machen. Trotz seiner Behauptung, die Ablenkung würde ihm guttun, sah er nicht so aus, als wollte er sich auf einen kleinen Plausch einlassen. Aber immerhin antwortete er bereitwillig.
»Ich untersuche nachbarschaftliches Verhalten in York im Elisabethanischen Zeitalter.«
»Haben denn die Leute damals auch schon mitten in der Nacht einfach beim Nachbarn geklopft, um sich eine Taschenlampe auszuleihen?«
Hinter seinen Brillengläsern traten die Lachfältchen um die Augen deutlicher hervor. »Wahrscheinlicher ist, dass sie nachts beim Nachbarn gelauscht haben, um hinter irgendwelche schmutzige Geheimnisse zu kommen.«
»Hört sich interessant an.«
»Eigentlich haben sie die meiste Zeit damit zugebracht, sich um den Zustand der Straßen oder die Entsorgung der Abfälle Gedanken zu machen. Im Grunde gar nicht so viel anders als heute, wie Sie noch feststellen werden, wenn Sie erst mal die Bekanntschaft mit Ann Parsons in Nummer vier gemacht haben. Sie führt eine Ein-Frau-Kampagne gegen die städtische Müllabfuhr und wird garantiert versuchen, Sie für die Idee zu gewinnen, einen Beschwerdebrief an die Stadt zu schreiben; deshalb sollten Sie immer so tun, als wären sie in Eile, wenn Sie an ihrem Haus vorbeigehen.«
»Danke für die Warnung«, erwiderte ich grinsend. Ich hatte bisher noch nie einen Gedanken an Abfallentsorgung verschwendet. Ich mietete mich immer nur für sechs Monate irgendwo ein, hielt mich also nie allzu lange an einem Ort auf, und obwohl ich liebend gern zu allem Möglichen meinen Senf dazugab, gehörte die Müllabfuhr nicht zu den Themen, über die ich mich lang und breit auslassen konnte. Nichtsdestotrotz hätte es mir gefallen, in der Lage zu sein, dieses Gespräch mit Drew noch ein wenig auszudehnen.
»Es tat mir furchtbar leid, als ich das mit Lucy hörte«, wechselte Drew das Thema. »Es muss ein Schock für Sie gewesen sein.«
»Ja, schon«, antwortete ich nach einigem Zögern, »aber ehrlich gesagt war der schlimmste Schock für mich zu erfahren, dass sie mich zu ihrem Nachlassvollstrecker ernannt hat. Ich hatte sie jahrelang nicht gesehen, Sie kannten sie wahrscheinlich viel besser als ich.«
»Das würde ich so nicht sagen.« Mir fiel auf, dass er seine Worte mit Bedacht wählte. »Wir grüßten uns, redeten vielleicht über das Wetter, wenn wir uns zufällig auf der Straße begegneten, aber das war auch schon alles. Sophie hingegen hat Lucy sehr gemocht«, fügte er hinzu.
»Sophie?«
»Meine Tochter. Sie war ganz begeistert von Lucys versponnenen Ideen«, erklärte er, und aus einer gewissen Starre in seiner Miene schloss ich, dass die Freundschaft seiner Tochter mit Lucy wohl der Anlass für so manchen Konflikt gewesen war. »Sophie hat sehr viel Zeit mit Lucy verbracht«, fuhr Drew fort. »Sie war sehr traurig, als sie erfuhr, was geschehen ist.«
»Der Gedanke tröstet mich, dass zumindest einer um sie getrauert hat«, bemerkte ich vorsichtig. »Ich weiß ja, dass Lucy ein bisschen exzentrisch war, aber sie hatte ein gutes Herz, wie zumindest meine Mutter immer behauptet hat. Allerdings hätte ich nie erwartet, dass sie mir die Regelung ihres Nachlasses anvertrauen würde. Ich habe jetzt ein schlechtes Gewissen, weil ich mich zu ihren Lebzeiten nicht mehr um sie gekümmert habe«, gestand ich. »Ich habe ihr zwar hin und wieder eine Ansichtskarte geschickt, aber das war auch schon alles.«
Mitten im Satz musste ich auf einmal gähnen, sehr zu meinem Bedauern, denn Drew fasste dies als klares Signal auf, dass ich aufbrechen wollte.
»Na, dann wollen wir mal sehen, ob ich nicht irgendwo eine Taschenlampe für Sie finde.«
Ein paar Minuten später kam er mit einer Taschenlampe zurück, die aussah, als würde sie ihren Zweck erfüllen. Mittlerweile schlief ich schon halb in dem bequemen Sessel, in der Sicherheit und Geborgenheit dieses Hauses.
Sicherheit und Geborgenheit? Wie kam ich denn plötzlich auf so einen Gedanken?
»Vielen Dank.« Ich brachte ein Lächeln zustande, während ich mich widerstrebend aus dem Sessel erhob und die Taschenlampe entgegennahm. »Ich bringe sie Ihnen gleich wieder zurück. «
»Ich komme mit und helfe Ihnen«, sagte er und zog sich ein Sweatshirt über.
Natürlich protestierte ich, aber nicht allzu heftig. Ich würde morgen wieder auf meiner Unabhängigkeit beharren, schwor ich mir. Doch jetzt war es dunkel und kalt, ich war hundemüde, und mein Knie schmerzte, also gestattete ich Drew Dyer, mir nachbarliche Hilfe zu leisten.
Er fand den Sicherungskasten und drückte den Schalter, und prompt gingen alle Lichter wieder an und offenbarten, dass mein schwerer Koffer umgekippt auf den Fliesen lag und mein Rucksack irgendwo am Boden, wo ich das letzte Mal darübergestolpert war.
»Soll ich den Koffer für Sie die Treppe hinauftragen?«, fragte er, während er das Gepäckstück beäugte.
Ich folgte ihm nach oben ins Schlafzimmer. Lucy hatte die Wände in einem satten Dunkelblau tapeziert und Sterne an der Decke angebracht. Genau richtig für eine Halbwüchsige, etwas befremdlich für eine Frau in den Fünfzigern, wie ich fand, aber es passte zu Lucy.
»Vielen herzlichen Dank«, sagte ich zu Drew, doch dann stutzte ich plötzlich, weil ich wieder dieses Flüstern hörte.
»Bess ...«
Ich runzelte die Stirn. »Wer ist Bess?«, fragte ich Drew.
»Wer?«
»Haben Sie es nicht gehört?«
»Was soll ich denn gehört haben?«
»Dauernd denke ich, dass jemand hier nach einer Bess ruft.« Er schüttelte den Kopf. »Ich habe nichts gehört.«
»Ja, nun, dann muss ich es mir wohl eingebildet haben«, sagte ich nach kurzem Zögern.
»Sie müssen todmüde sein«, meinte Drew.
Es stimmte, ich war müde. Auf alle Fälle zu müde, um noch einen klaren Gedanken fassen zu können.
Ich verabschiedete Drew an der Haustür und bedankte mich noch einmal bei ihm, und als er fragte, ob ich nun allein zurechtkäme, zögerte ich keine Sekunde. »Natürlich«, erwiderte ich. »Ich komme schon klar.«
Übersetzung: Renate Reinhold
© 2014 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Autoren-Porträt von Pamela Hartshorne
Pamela Hartshorne hat als Redaktionsassistentin für den Observer gearbeitet, als Köchin auf einer Farm im australischen Outback und als Produktionsassistentin des Open Air Theatre in Regent's Park. Um ihre Promotion im Bereich Mediävistik zu finanzieren, wandte sie sich schließlich dem Schreiben zu. In den vergangenen fünfzehn Jahren gelang es Pamela Hartshorne, ihre historischen Forschungen mit einer Karriere als Schriftstellerin zu kombinieren, und sie wurde bereits mit zwei der renommiertesten Preise im Genre der romantischen Unterhaltung ausgezeichnet: dem RITA®, der Romance Writers of America sowie dem begehrten Romance Prize, der von der britischen Romantic Novelists’ Association verliehen wird. Die Autorin lebt im englischen York.
Bibliographische Angaben
- Autor: Pamela Hartshorne
- 512 Seiten, Maße: 14,5 x 22 cm, Geb. mit Su.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10:
- ISBN-13: 2100000143993
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