Das flandrische Siegel
Roman
Die packende Geschichte einer jungen Frau im Kampf um Liebe und Freiheit inmitten der aufregenden europäischen Welt des Spätmittelalters. Brügge im 15. Jahrhundert. Christina, einzige Tochter im Handelshaus Contarini, weigert sich standhaft, eine...
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Produktinformationen zu „Das flandrische Siegel “
Die packende Geschichte einer jungen Frau im Kampf um Liebe und Freiheit inmitten der aufregenden europäischen Welt des Spätmittelalters. Brügge im 15. Jahrhundert. Christina, einzige Tochter im Handelshaus Contarini, weigert sich standhaft, eine Vernunftehe einzugehen. Hals über Kopf flieht sie mit ihrem jüdischen Geliebten und gerät auf ein Schiff, dessen Mannschaft durch eine rätselhafte Seuche dahingerafft wird. Vierzig Tage lang ist sie an Bord gefangen ein Alptraum, der aus dem ungestümen Mädchen eine klarsichtige junge Frau macht...
Klappentext zu „Das flandrische Siegel “
Brügge im 15. Jahrhundert. Christina, einzige Tochter im Handelshaus Contarini, weigert sich standhaft, eine Vernunftehe einzugehen. Hals über Kopf flieht sie mit ihrem jüdischen Geliebten und gerät auf ein Schiff, dessen Mannschaft durch eine rätselhafte Seuche dahingerafft wird. Vierzig Tage lang ist sie an Bord gefangen - ein Alptraum, der aus dem ungestümen Mädchen eine klarsichtige junge Frau macht, gerüstet für ein Schicksal voller Überraschungen ...
Lese-Probe zu „Das flandrische Siegel “
Das flandrische Siegel von Marie CristenProlog
Freiheit ist der Schlüssel zum Glück und Mut der Schlüssel zur Freiheit. Perikles
Brügge, am letzten Tag des Jahres 1411
Christina konnte es nicht begreifen. Wie sollte ihr Leben weitergehen? Großvater lag stumm in dem großen Alkoven. Die Familie hatte sich um sein Bett versammelt. Niemand achtete auf sie. Langsam zog sie sich aus dem Raum zurück, um der bedrückenden Stille zu entgehen. Sie verließ das Haus und ging ziellos durch das Portal auf den Hof. Kein Sonnenstrahl erreichte sie mehr. Alles um sie herum war in einen grauen Nebel getaucht. Warum musste Großvater sterben? Er war der Einzige, der immer ein offenes Ohr für sie gehabt hatte. Geschichten und Träume, große und kleine Nöte, alles vertraute sie nur ihm an. Wenn sie aufgeregt in sein Kontor stürzte, nahm er sie zu jeder Zeit liebevoll in die Arme, um sie zu beruhigen. »Mein lieber kleiner Feuerkopf, in der Ruhe liegt die Kraft. Und nun erzähle mir schön eins nach dem anderen. Wo drückt dich der Schuh? Ich glaube, wir werden eine Lösung finden.« Er fand sie immer. »Großvater, wie kannst du mich alleinlassen!«, schrie es in ihr. »Du weißt, wie sehr ich dich brauche.« Christina war völlig in Gedanken versunken. Sie verließ den Hof so blind, wie sie ihn betreten hatte. Erst im Kontor ihres Großvaters nahm sie ihre Umwelt wieder wahr. Sie sah ihn im Geiste in seinem Armstuhl sitzen; lebendig, spöttisch, streng und nachgiebig zugleich.
In dem vertrauten Raum verlor das Bild des Fiebernden, der um jeden Atemzug kämpfte, ein wenig von seinem Schrecken. Sie umklammerte die Lehne des hohen Stuhls. SEINES Stuhles. Ihre Augen flogen über den Tisch. Alles stand bereit, wie er es wünschte. Das Tintengefäß und die Federn neben der
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Münzwaage, Siegelwachs und Kerze, die Schreibtäfelchen für schnelle Notizen, ein rechteckiger Kasten mit kostbaren Papierbögen. Das gewohnte Bild, aber das Wichtigste fehlte. ER. »Christina! Da bist du ja. Endlich habe ich dich gefunden.« Keine Regung verriet der Mutter, ob sie gehört worden war. »Warum hast du dich entfernt? Dein geliebter Großvater ist gestorben. Ich weiß, wie sehr du leidest, aber du musst der Wahrheit ins Auge sehen.« Sie löste die Hände des Kindes gewaltsam vom Schnitzwerk des Stuhls. Christina in Bewegung zu bringen brachte sie außer Atem. Es wurde ihr warm dabei, denn das Mädchen war mit elf Jahren schon fast so groß wie ihre Brüder. Mit hölzernen Schritten stolperte Christina neben der Mutter zur Todeskammer zurück. Sie hörte nicht ihre Stimme, sie vernahm nur die ihres Großvaters. »Beherrsche deine Gefühle, Feuerkopf. Folge der Stimme deines Herzens, aber gebrauche auch deinen Verstand. Nur so kannst du deine Ziele im Leben erreichen.« Wozu, Großvater? Wozu brauche ich Erfolg, wenn du nicht länger da bist, um stolz auf mich zu sein. »Bete für deinen Großvater«, forderte ihre Mutter sie auf. »Der Herr hat ihn von seinen Leiden erlöst. Er ist in Frieden gegangen.«
Gebete. Als ob sie etwas bewirken konnten. Nie zuvor hatte sie so viel gebetet wie in den vergangenen Tagen. Christina schluckte hart. Die gesenkten Köpfe ihrer Brüder und die Miene ihres Vaters sprachen für sich. Jeder von ihnen bekämpfte Trauer und Schmerz auf seine Weise. Simon Contarini stand wie versteinert. Matthis, sein Ältester, ahmte ihn nach. Lucas trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. Von ihnen konnte sie keinen Trost erwarten. In diesem Augenblick nicht einmal von Großmutter, die sie, wie ihren Großvater, über alles verehrte und liebte. Christina wandte sich verzweifelt an den Menschen, der für immer schweigend vor ihr lag. Seine Hände ruhten still über dem Herzen gefaltet. Sie kannte sie nur in ständiger Bewegung, die Worte beim Reden unterstreichend, an ihren roten Zöpfen ziehend oder auf ihrer Schulter liegend. Seine Ratschläge, so zahllos wie die Glocken von Brügge, wirbelten durch ihre Gedanken. Ihre Augen brannten. Sie machte einen Schritt auf den Alkoven zu und küsste seine Hände. »Großvater, ich verspreche dir, deine Ratschläge nie zu vergessen.«
Erster Teil Die Flucht
1. Kapitel
Brügge, 30. August 1419
Die Liebenden fuhren erschrocken auseinander. Das Bild brannte sich in Christinas Augen. Lucas und seine Mädchen. Sie machten es ihm stets leicht. Ein Lächeln, ein Scherz und sie waren sein. Hier also fanden seine Eroberungen statt. Die Decke auf dem Diwan funkelte in allen Farben des Orients. Ihre Seidenfransen fielen bis auf den gefliesten Boden. Obwohl das große Gartenfenster die Sonne hereinließ, brannten überall Kerzen und Öllampen. In ihrem Schein wirkten die Brüste, die Schultern und das Gesicht des Mädchens wie aus Elfenbein geschnitzt. Sie war nackt. Nackt wie Eva im Paradies, und Lucas war ihr Adam. Christina schwankte zwischen Entrüstung und Faszination. Sie waren schön in ihrer Nacktheit. Leidenschaftlich. Unerhört. Verführerisch. »Bist du von Sinnen? Was tust du hier?« Ihr Bruder fasste sich als Erster und zog die Decke über seine Männlichkeit. Nicht schnell genug, denn Christinas Pupillen weiteten sich in unverhohlenem Erstaunen. Lucas fluchte unterdrückt. »Deine Neugier wird dich eines Tages umbringen, Schwester. Woher weißt du von diesem Haus?« »Großmutter schickt mich zu dir.«
Lucas hatte sich fern vom Hause Contarini eine Zuflucht geschaffen, die nicht nur ein Liebesnest, sondern auch eine Bilderwerkstatt war. Sein Vater hatte ihm das Hantieren mit Farben und Kreiden zu Hause, nach dem letzten Streit, strikt untersagt. Hier fand Christina die Schweinsblasen voller Farben, die Töpfchen mit Pigmentstaub, die bauchigen Ölflaschen, Pinsel, Holzleisten und Leinwandballen wieder, die er auf Befehl des Vaters fortgebracht hatte. Simon Contarini erwartete, dass sein Sohn die Familientradition fortsetzte und Kaufmann wurde. Dass Lucas hinter seinem Rücken sein Ziel weiterverfolgte, Bildermacher zu werden, überraschte Christina keineswegs. In diesem Moment entdeckte sie auch das angefangene Porträt auf der Staffelei. Bekleidet erkannte sie die Frau auf Anhieb. Sie hatte sie oft genug gesehen. Auf Festen, Turnieren, Empfängen, Banketten ... »Madame«, hauchte sie verlegen und versank in einen verspäteten Hofknicks. So nahe hatte sie der künftigen Herzogin von Flandern nie kommen wollen. Michelle von Frankreich, die Schwiegertochter des Herzogs Johann von Burgund, dem die Kaltblütigkeit im Umgang mit seinen Feinden den Beinamen Ohnefurcht eingetragen hatte, schlüpfte mit Lucas' Hilfe hastig in ihre Kleider. Sie stieß einen Seufzer aus. »Keine Angst, sie wird schweigen«, hörte Christina Lucas beschwörend raunen. »Wenn es einen Menschen gibt, auf dessen Verschwiegenheit man sich verlassen kann, dann ist es meine Schwester.« Was die junge Prinzessin flüsternd antwortete, konnte sie zwar nicht verstehen, aber dass sie sich sorgte, lag auf der Hand. Ihr Gemahl, Philipp von Burgund, Graf von Charolais, war der Statthalter seines Vaters Johann Ohnefurcht in Flandern. Obwohl Philipp seine Frau laufend betrog, erwartete er von ihr bedingungslose Treue. Umso mehr, als ihre Ehe bislang kinderlos geblieben war. Sollte ruchbar werden, dass sie ihn mit einem Patriziersohn aus Brügge hinterging, würde das einen Skandal entfachen, der schwerwiegende Folgen am burgundischen und französischen Hof, bis hin zu den Geschäften des Hauses Contarini haben würde. »Ihr müsst fort.« Christina entsann sich endlich ihres Auftrags. »Vater ist auf dem Weg hierher. Du weißt, dass er deine Malerei für Zeitverschwendung hält. Kannst du dir vorstellen, was er sagt, wenn er dich zudem in solcher Gesellschaft antrifft? Auch musst du das Bild von der Staffelei verschwinden lassen.« Lucas riss die Leinwand aus dem Rahmen, während er gleichzeitig mit einem Fuß nach seinem Schuh angelte. »Von wem weiß Vater, wo ich bin? Wer hat mich verraten? Matthis? Seit er Hendrik van der Molen seinen Freund nennt, ist ihm nicht mehr zu trauen.« Christina konnte ihren ältesten Bruder nicht anschwärzen. Wenn Hendrik van der Molen den Contarinis schaden wollte, dann war dies ihre Schuld und nicht die von Matthis. »Großmutter hat zufällig erfahren, dass Vater hierherkommen will. Ich weiß nicht, von wem. Er darf dich hier auf keinen Fall finden. Sie hat mich geschickt, dich zu warnen.« Sie half Michelle, den schmucklosen Kapuzenumhang zu schließen, und mied dabei ihren Blick. Stattdessen flogen ihre Augen zum offenen Skizzenbuch des Bruders, das neben dem Diwan auf dem Boden lag. Mit präzisen Strichen hatte Lucas die zarten Züge und das verträumte Lächeln der Königstochter festgehalten. Das Haar gelöst, die Schultern bloß. Niemand, außer dem eigenen Gemahl, durfte sie so sehen. Schon gar nicht ein Kaufmannssohn, dem eine Laune des Schicksals das Talent eines Künstlers verliehen hatte, das er nicht gebrauchen durfte. »Schenkt mir das Blatt«, bat Michelle, nahm es und faltete es sorgsam zusammen. »Es wird mich immer an diese Stunden erinnern.« Sie tauschte einen innigen Blick mit Lucas, der Christina ausschloss. War das Liebe? Wie typisch, dass er sich in eine solche Leidenschaft verstrickte. Im Gegensatz zu Matthis tat er nie das Erlaubte, das Statthafte. Er strebte nach dem Idealen, dem Schönen, und versuchte es in Skizzen und Bildern festzuhalten. Dass er die bezaubernde, empfindsame Gräfin anbetete, konnte sie verstehen. Ihr Vater jedoch würde die Sache anders beurteilen. Sie drehte sich noch einmal um, während ihr Bruder Michelle hinausgeleitete. Im Gegensatz zu ihrem Vater bewunderte Christina die Arbeiten ihres Bruders. Sie hätte gerne mehr Zeit gehabt, all die Zeichnungen genauer zu betrachten. Das Fenster öffnete sich auf einen Kanalarm der Reie hin. Es ließ so viel Licht ein, dass Lucas bei jedem Wetter malen konnte. Die Wände waren über und über mit Skizzenblättern bedeckt. Sie hingen an Schnüren, waren mit Nägeln befestigt oder rollten sich bereits in der feuchten Luft: Porträts seiner Freunde, seiner Familie, von Kranmännern und Bootsleuten. Ländliche Szenen am Kanal und Aktskizzen von angewinkelten Armen, Beinen in vollem Lauf. Er musste unendlich viele Stunden für alles aufgewandt haben. »Christina, wo bleibst du?« Lucas hielt ihr ungeduldig die Hoftür auf. Michelle saß in dem Kahn, der soeben vom Kanalufer ablegte. Christina bemerkte erleichtert, dass es sich um eine Barke mit geschlossenem Heckaufbau handelte. Auch trug der Mann am Ruder keinerlei Livrée. Die Prinzessin war außer Gefahr. Was man von Lucas weniger sagen konnte. »Hast du nicht schon genügend Schwierigkeiten?«, machte sie ihrem Herzen empört Luft. »Alle Mädchen von Brügge sind hinter dir her. Musst du ausgerechnet die Gräfin von Charolais umwerben? Du bringst dich um Kopf und Kragen mit dieser Liebschaft.« »Wie könnte ich ihr widerstehen? Du hast sie gesehen. Sie muss nur lächeln, und man tut alles, was sie sich wünscht. Sie will von mir gemalt werden.« »Du bist ein Narr, Lucas Contarini«, schalt Christina und betrachtete den Bruder. Wie Matthis war er blond und blauäugig. Aber im Gegensatz zum Älteren hatte er ein so strahlendes Lächeln, dass er auch den letzten Griesgram damit gewinnen konnte. »Schlag dir die Gemahlin des Herzogssohnes ein für alle Mal aus dem Kopf. Sag mir lieber, wie wir von hier wegkommen, ohne dass wir unserem Vater direkt in die Arme laufen.« Lucas deutete auf die Mauer zum Nachbargrundstück und war schon halb hinüber, ehe Christina die Röcke raffen konnte. Dank eines Apfelbaums mit tief herabhängenden Ästen gelangte auch sie problemlos in den Gemüsegarten des Nebenhauses. An der Seite ihres Bruders hastete sie durch die anschließenden Hinterhöfe, an Ställen und Verschlägen vorbei, ehe sie in das Netz verwinkelter Gassen tauchten, die in ein noch schäbigeres Viertel der Stadt führten. Es blieb Christina kaum der Atem für ihre bruchstückhaften Erklärungen, mit denen sie gestand, dass sie der eigentliche Grund des väterlichen Zornes war, der nun auch Lucas treffen sollte. »Du hast dich geweigert, Hendrik van der Molen zu heiraten?«, wunderte sich Lucas schwer atmend. »Warum nur? Der Mann ist reich, sieht gut aus und wird von allen hofiert. Was passt dir nicht an ihm? Irgendwann und irgendwen musst du schließlich heiraten. Du kannst nicht alle Freier zum Teufel schicken.« »Vermutlich«, entgegnete sie knapp. »Aber Hendrik van der Molen wird es bestimmt nicht sein, den ich mir zum Mann nehme. Ich bin mir sicher, dass er und sein habgieriger Erzeuger ihren Einfluss geltend gemacht haben, um Vaters Kandidatur für den Vorsitz im Schöffenrat im letzten Augenblick zu verhindern. Winkelzüge dieser Art passen zu ihm. Er ist ein Ränkeschmied, und er führt etwas im Schilde.« »Sei vorsichtig mit solchen Verdächtigungen. Die van der Molens sind mächtig und einflussreich.« »Meinetwegen. Es wird mich trotzdem nicht daran hindern, einen Wolf im Schafspelz bei seinem richtigen Namen zu nennen.« »Hendrik ist völlig vernarrt in dich, das weiß inzwischen halb Brügge.
Copyright © 2009 by Knaur Verlag
Gebete. Als ob sie etwas bewirken konnten. Nie zuvor hatte sie so viel gebetet wie in den vergangenen Tagen. Christina schluckte hart. Die gesenkten Köpfe ihrer Brüder und die Miene ihres Vaters sprachen für sich. Jeder von ihnen bekämpfte Trauer und Schmerz auf seine Weise. Simon Contarini stand wie versteinert. Matthis, sein Ältester, ahmte ihn nach. Lucas trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. Von ihnen konnte sie keinen Trost erwarten. In diesem Augenblick nicht einmal von Großmutter, die sie, wie ihren Großvater, über alles verehrte und liebte. Christina wandte sich verzweifelt an den Menschen, der für immer schweigend vor ihr lag. Seine Hände ruhten still über dem Herzen gefaltet. Sie kannte sie nur in ständiger Bewegung, die Worte beim Reden unterstreichend, an ihren roten Zöpfen ziehend oder auf ihrer Schulter liegend. Seine Ratschläge, so zahllos wie die Glocken von Brügge, wirbelten durch ihre Gedanken. Ihre Augen brannten. Sie machte einen Schritt auf den Alkoven zu und küsste seine Hände. »Großvater, ich verspreche dir, deine Ratschläge nie zu vergessen.«
Erster Teil Die Flucht
1. Kapitel
Brügge, 30. August 1419
Die Liebenden fuhren erschrocken auseinander. Das Bild brannte sich in Christinas Augen. Lucas und seine Mädchen. Sie machten es ihm stets leicht. Ein Lächeln, ein Scherz und sie waren sein. Hier also fanden seine Eroberungen statt. Die Decke auf dem Diwan funkelte in allen Farben des Orients. Ihre Seidenfransen fielen bis auf den gefliesten Boden. Obwohl das große Gartenfenster die Sonne hereinließ, brannten überall Kerzen und Öllampen. In ihrem Schein wirkten die Brüste, die Schultern und das Gesicht des Mädchens wie aus Elfenbein geschnitzt. Sie war nackt. Nackt wie Eva im Paradies, und Lucas war ihr Adam. Christina schwankte zwischen Entrüstung und Faszination. Sie waren schön in ihrer Nacktheit. Leidenschaftlich. Unerhört. Verführerisch. »Bist du von Sinnen? Was tust du hier?« Ihr Bruder fasste sich als Erster und zog die Decke über seine Männlichkeit. Nicht schnell genug, denn Christinas Pupillen weiteten sich in unverhohlenem Erstaunen. Lucas fluchte unterdrückt. »Deine Neugier wird dich eines Tages umbringen, Schwester. Woher weißt du von diesem Haus?« »Großmutter schickt mich zu dir.«
Lucas hatte sich fern vom Hause Contarini eine Zuflucht geschaffen, die nicht nur ein Liebesnest, sondern auch eine Bilderwerkstatt war. Sein Vater hatte ihm das Hantieren mit Farben und Kreiden zu Hause, nach dem letzten Streit, strikt untersagt. Hier fand Christina die Schweinsblasen voller Farben, die Töpfchen mit Pigmentstaub, die bauchigen Ölflaschen, Pinsel, Holzleisten und Leinwandballen wieder, die er auf Befehl des Vaters fortgebracht hatte. Simon Contarini erwartete, dass sein Sohn die Familientradition fortsetzte und Kaufmann wurde. Dass Lucas hinter seinem Rücken sein Ziel weiterverfolgte, Bildermacher zu werden, überraschte Christina keineswegs. In diesem Moment entdeckte sie auch das angefangene Porträt auf der Staffelei. Bekleidet erkannte sie die Frau auf Anhieb. Sie hatte sie oft genug gesehen. Auf Festen, Turnieren, Empfängen, Banketten ... »Madame«, hauchte sie verlegen und versank in einen verspäteten Hofknicks. So nahe hatte sie der künftigen Herzogin von Flandern nie kommen wollen. Michelle von Frankreich, die Schwiegertochter des Herzogs Johann von Burgund, dem die Kaltblütigkeit im Umgang mit seinen Feinden den Beinamen Ohnefurcht eingetragen hatte, schlüpfte mit Lucas' Hilfe hastig in ihre Kleider. Sie stieß einen Seufzer aus. »Keine Angst, sie wird schweigen«, hörte Christina Lucas beschwörend raunen. »Wenn es einen Menschen gibt, auf dessen Verschwiegenheit man sich verlassen kann, dann ist es meine Schwester.« Was die junge Prinzessin flüsternd antwortete, konnte sie zwar nicht verstehen, aber dass sie sich sorgte, lag auf der Hand. Ihr Gemahl, Philipp von Burgund, Graf von Charolais, war der Statthalter seines Vaters Johann Ohnefurcht in Flandern. Obwohl Philipp seine Frau laufend betrog, erwartete er von ihr bedingungslose Treue. Umso mehr, als ihre Ehe bislang kinderlos geblieben war. Sollte ruchbar werden, dass sie ihn mit einem Patriziersohn aus Brügge hinterging, würde das einen Skandal entfachen, der schwerwiegende Folgen am burgundischen und französischen Hof, bis hin zu den Geschäften des Hauses Contarini haben würde. »Ihr müsst fort.« Christina entsann sich endlich ihres Auftrags. »Vater ist auf dem Weg hierher. Du weißt, dass er deine Malerei für Zeitverschwendung hält. Kannst du dir vorstellen, was er sagt, wenn er dich zudem in solcher Gesellschaft antrifft? Auch musst du das Bild von der Staffelei verschwinden lassen.« Lucas riss die Leinwand aus dem Rahmen, während er gleichzeitig mit einem Fuß nach seinem Schuh angelte. »Von wem weiß Vater, wo ich bin? Wer hat mich verraten? Matthis? Seit er Hendrik van der Molen seinen Freund nennt, ist ihm nicht mehr zu trauen.« Christina konnte ihren ältesten Bruder nicht anschwärzen. Wenn Hendrik van der Molen den Contarinis schaden wollte, dann war dies ihre Schuld und nicht die von Matthis. »Großmutter hat zufällig erfahren, dass Vater hierherkommen will. Ich weiß nicht, von wem. Er darf dich hier auf keinen Fall finden. Sie hat mich geschickt, dich zu warnen.« Sie half Michelle, den schmucklosen Kapuzenumhang zu schließen, und mied dabei ihren Blick. Stattdessen flogen ihre Augen zum offenen Skizzenbuch des Bruders, das neben dem Diwan auf dem Boden lag. Mit präzisen Strichen hatte Lucas die zarten Züge und das verträumte Lächeln der Königstochter festgehalten. Das Haar gelöst, die Schultern bloß. Niemand, außer dem eigenen Gemahl, durfte sie so sehen. Schon gar nicht ein Kaufmannssohn, dem eine Laune des Schicksals das Talent eines Künstlers verliehen hatte, das er nicht gebrauchen durfte. »Schenkt mir das Blatt«, bat Michelle, nahm es und faltete es sorgsam zusammen. »Es wird mich immer an diese Stunden erinnern.« Sie tauschte einen innigen Blick mit Lucas, der Christina ausschloss. War das Liebe? Wie typisch, dass er sich in eine solche Leidenschaft verstrickte. Im Gegensatz zu Matthis tat er nie das Erlaubte, das Statthafte. Er strebte nach dem Idealen, dem Schönen, und versuchte es in Skizzen und Bildern festzuhalten. Dass er die bezaubernde, empfindsame Gräfin anbetete, konnte sie verstehen. Ihr Vater jedoch würde die Sache anders beurteilen. Sie drehte sich noch einmal um, während ihr Bruder Michelle hinausgeleitete. Im Gegensatz zu ihrem Vater bewunderte Christina die Arbeiten ihres Bruders. Sie hätte gerne mehr Zeit gehabt, all die Zeichnungen genauer zu betrachten. Das Fenster öffnete sich auf einen Kanalarm der Reie hin. Es ließ so viel Licht ein, dass Lucas bei jedem Wetter malen konnte. Die Wände waren über und über mit Skizzenblättern bedeckt. Sie hingen an Schnüren, waren mit Nägeln befestigt oder rollten sich bereits in der feuchten Luft: Porträts seiner Freunde, seiner Familie, von Kranmännern und Bootsleuten. Ländliche Szenen am Kanal und Aktskizzen von angewinkelten Armen, Beinen in vollem Lauf. Er musste unendlich viele Stunden für alles aufgewandt haben. »Christina, wo bleibst du?« Lucas hielt ihr ungeduldig die Hoftür auf. Michelle saß in dem Kahn, der soeben vom Kanalufer ablegte. Christina bemerkte erleichtert, dass es sich um eine Barke mit geschlossenem Heckaufbau handelte. Auch trug der Mann am Ruder keinerlei Livrée. Die Prinzessin war außer Gefahr. Was man von Lucas weniger sagen konnte. »Hast du nicht schon genügend Schwierigkeiten?«, machte sie ihrem Herzen empört Luft. »Alle Mädchen von Brügge sind hinter dir her. Musst du ausgerechnet die Gräfin von Charolais umwerben? Du bringst dich um Kopf und Kragen mit dieser Liebschaft.« »Wie könnte ich ihr widerstehen? Du hast sie gesehen. Sie muss nur lächeln, und man tut alles, was sie sich wünscht. Sie will von mir gemalt werden.« »Du bist ein Narr, Lucas Contarini«, schalt Christina und betrachtete den Bruder. Wie Matthis war er blond und blauäugig. Aber im Gegensatz zum Älteren hatte er ein so strahlendes Lächeln, dass er auch den letzten Griesgram damit gewinnen konnte. »Schlag dir die Gemahlin des Herzogssohnes ein für alle Mal aus dem Kopf. Sag mir lieber, wie wir von hier wegkommen, ohne dass wir unserem Vater direkt in die Arme laufen.« Lucas deutete auf die Mauer zum Nachbargrundstück und war schon halb hinüber, ehe Christina die Röcke raffen konnte. Dank eines Apfelbaums mit tief herabhängenden Ästen gelangte auch sie problemlos in den Gemüsegarten des Nebenhauses. An der Seite ihres Bruders hastete sie durch die anschließenden Hinterhöfe, an Ställen und Verschlägen vorbei, ehe sie in das Netz verwinkelter Gassen tauchten, die in ein noch schäbigeres Viertel der Stadt führten. Es blieb Christina kaum der Atem für ihre bruchstückhaften Erklärungen, mit denen sie gestand, dass sie der eigentliche Grund des väterlichen Zornes war, der nun auch Lucas treffen sollte. »Du hast dich geweigert, Hendrik van der Molen zu heiraten?«, wunderte sich Lucas schwer atmend. »Warum nur? Der Mann ist reich, sieht gut aus und wird von allen hofiert. Was passt dir nicht an ihm? Irgendwann und irgendwen musst du schließlich heiraten. Du kannst nicht alle Freier zum Teufel schicken.« »Vermutlich«, entgegnete sie knapp. »Aber Hendrik van der Molen wird es bestimmt nicht sein, den ich mir zum Mann nehme. Ich bin mir sicher, dass er und sein habgieriger Erzeuger ihren Einfluss geltend gemacht haben, um Vaters Kandidatur für den Vorsitz im Schöffenrat im letzten Augenblick zu verhindern. Winkelzüge dieser Art passen zu ihm. Er ist ein Ränkeschmied, und er führt etwas im Schilde.« »Sei vorsichtig mit solchen Verdächtigungen. Die van der Molens sind mächtig und einflussreich.« »Meinetwegen. Es wird mich trotzdem nicht daran hindern, einen Wolf im Schafspelz bei seinem richtigen Namen zu nennen.« »Hendrik ist völlig vernarrt in dich, das weiß inzwischen halb Brügge.
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Autoren-Porträt von Marie Cristen
Marie Cristen lebt mit ihrer Familie in der Nähe von München.
Bibliographische Angaben
- Autor: Marie Cristen
- 2009, 557 Seiten, Maße: 15,2 x 21,8 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Knaur
- ISBN-10: 3426662205
- ISBN-13: 9783426662205
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