Das gefrorene Licht
Sommer 2006, im Westen von Island. Auf der Halbinsel Snæfellsnes wird die Architektin eines Wellness-Hotels tot am Strand aufgefunden. Sie wurde vergewaltigt und brutal erschlagen, in ihren Fußsohlen stecken Nadeln. Rechtsanwältin Dóra Guðmundsdóttir...
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Sommer 2006, im Westen von Island. Auf der Halbinsel Snæfellsnes wird die Architektin eines Wellness-Hotels tot am Strand aufgefunden. Sie wurde vergewaltigt und brutal erschlagen, in ihren Fußsohlen stecken Nadeln. Rechtsanwältin Dóra Guðmundsdóttir findet heraus, dass die Ermordete sich sehr für die Geschichte der verlassenen Gegend interessiert hat. Vor vielen Jahrzehnten standen auf dem Hotelgrundstück die Höfe zweier Brüder. Offenbar ist sie auf ein unaussprechliches Familiengeheimnis gestoßen.
"Yrsa Sigurdardóttir schreibt überaus spannende, vielschichtige und klug entwickelte Thriller, die selbst verwöhnte Krimifans überzeugen werden."
dpa
Das gefrorene Licht von Yrsa Sigurdardóttir
LESEPROBE
Prolog
FEBRUAR1945
Das kleineMädchen spürte, wie ihm die Kälte die Beine hinauf bis in den Rücken kroch. Sieversuchte, sich auf dem Vordersitz hochzurecken, um besser hinausschauen zukönnen. Konzentriert betrachtete sie die schneeweiße Landschaft, konnte aberkein Vieh entdecken. Draußen ist es zu kalt für die Tiere, dachte sie undwünschte sich, aus dem Auto steigen und wieder ins Haus gehen zu dürfen. Abersie traute sich nicht, etwas zu sagen. Eine Träne rann langsam über ihre Wange,während der Mann neben ihr sich mühte, den Motor in Gang zu bringen. Siepresste die Lippen aufeinander und wandte ihr Gesicht von ihm ab, damit er esnicht sah. Er würde sehr wütend werden. Sie beobachtete das Haus, vor dem derWagen stand, und versuchte, das andere Mädchen zu erspähen, aber das einzigesichtbare Geschöpf war der Hofhund Snúður. Er lagschlafend auf den Stufen vor der Haustür. Plötzlich hob er den Kopf und blicktesie starr an. Betrübt lächelte sie ihm zu.
Das Autosprang an, und der Mann richtete sich im Sitz auf. »Na endlich«, sagte er mittiefer, rauer Stimme und fuhr los. Er warf dem Mädchen, das sich wieder zurFrontscheibe gedreht hatte, einen raschen Blick zu. »So, jetzt machen wir einenkleinen Ausflug.« Als sie über den holprigenZufahrtsweg vom Hof wegfuhren, wurde das Mädchen auf dem Sitz durchgeschüttelt.»Halt dich fest«, sagte er, ohne sie anzuschauen.
Schließlicherreichte das Auto die Straße, und sie fuhren eine Weile schweigend. DasMädchen schaute aus dem Fenster, in der Hoffnung, ein paar Pferde zu sehen,aber alles war öde und leer. Ihr Herz machte jedoch einen Sprung, als sie dieGegend erkannte. »Fahren wir zu mir nach Hause?«,fragte sie mit dünner Stimme und großen Augen.
»Könnte manvielleicht so sagen.« Das Mädchen reckte sich nochmehr und musterte die Umgebung genauer. Vor ihnen lag der vertraute Landstrich:In der Ferne war der Felsen zu erkennen, von dem Mama erzählt hatte, er seieine versteinerte Trollfrau. Instinktiv beugte sie sich vor, um besser sehen zukönnen. Auf einer kleinen Anhöhe tauchte ein Auto auf, das ihnen entgegenkam.Das Mädchen glaubte, ein Militärfahrzeug zu erkennen. Der Mann bremste ab undbefahl ihr, sich zu ducken. Sie tat es widerspruchslos; sie war es gewohnt,sich zu verstecken. Anscheinend war der Mann derselben Meinung wie Großvater,dass das Militär nichts Gutes brächte. Ihre Mama hatte ihr zugeflüstert, die Soldatenseien ganz normale Männer, genau wie Großvater. Nur jünger. Und hübscher. »Sowie du.« Wie lieb ihre Mama sie dabei angelächelt hatte.
Das kleineMädchen hörte, wie sich das Motorengeräusch des anderen Wagens näherte,anschwoll, bis die beiden Fahrzeuge aneinander vorbeifuhren, und dann wiederschwächer wurde, als sie sich entfernten. Sie rutschte auf dem Sitz herum. »Dudarfst dich wieder hinsetzen«, sagte der Fahrer, und sie setzte sich auf.»Weißt du, wie alt du bist?«, fragte er.
»VierJahre«, antwortete sie.
Der Mannschnaubte. »Du bist furchtbar schmächtig für eine Vierjährige.«Das Mädchen verstand das Wort nicht, wusste aber, dass es nicht gut war, so zusein. Sie antwortete nicht. Schweigen. »Willst du deine Mama wiedersehen?«
Das kleineMädchen riss die Augen auf und starrte den Mann an. Fuhren sie etwa zu Mama?Sie spürte, wie allein bei dem Gedanken daran alles besser wurde. Eifrig nicktesie.
»Dachte ichmir«, sagte der Mann und glotzte auf die vor ihnen liegende Straße. »Du wirstsie wiedertreffen.«
Das Mädchenspürte vor Kälte seine Beine nicht mehr. Sie bogen in einen Weg, den sie genaukannte. Sie sah ihren Hof und lächelte das erste Mal seit langer Zeit. Jetztwürde alles wieder gut werden. Das Auto fuhr langsam auf den Hof zu und hieltan. Verzückt starrte das Mädchen das große, stattliche Haus an. Irgendwiewirkte es einsam und traurig. Kein Licht und kein Rauch über dem Schornstein.»Ist Mama hier?«, fragte sie ungläubig. Irgendetwasstimmte nicht. Als sie Mama zum letzten Mal gesehen hatte, lag sie im Bett, ineinem Zimmer im Haus von diesem Mann. Krank. So wie Großvater. Krank, undniemand wollte Mama helfen, außer ihr. Ob Mama in der Nacht, als sie aus demBett verschwand, zurück nach Hause gegangen war? Aber warum hatte sie sie dannbei dem Mann zurückgelassen? Das hätte sie nie getan.
»Deine Mamaist nicht genau hier. Aber du wirst sie treffen. Von jetzt an könnt ihr immerzusammen sein.« Er grinste, und das dämpfte die Freude des Mädchens ein wenig.Trotzdem traute sie sich nicht, Fragen zu stellen. Der Mann stieß die Wagentürauf und stieg aus. Er ging um das Auto herum und hielt ihr die Tür auf. »Komm.Du musst eine kleine Reise machen, bevor du deine Mama wiedersiehst.« Vorsichtig stieg das Mädchen aus dem Wagen. Sie schaute nachallen Seiten und hoffte, jemanden oder etwas zu sehen, das sie ermutigen würde,konnte aber nichts entdecken.
Der Mannbeugte sich hinunter und griff nach der behandschuhten Hand des Mädchens.»Komm, ich will dir was zeigen.« Er zog sie mit sich.Sie musste fast laufen, um mit seinen großen Schritten mithalten zu können. Siegingen hinter das Haus in Richtung Stall. Ein grässlicher Gestank kam auf undwurde immer stärker, je näher sie dem Viehstall kamen. Sie hätte sich gerne dieNase zugehalten, traute sich aber nicht. Als sie den Stall erreicht hatten,trat der Mann an das Gebäude heran und schaute durchs Fenster. Das Mädchen warzu klein, es ihm gleichzutun.
Der Mannwich zurück und schlug sich die Hand vor den Mund. Sie hoffte, dass den Kühennichts Schlimmes zugestoßen war. Aus dem Stall waren keine Geräusche zu hören.Wahrscheinlich schliefen die Tiere. Der Mann zog sie weiter.
»Verdammtekelhaft«, sagte er. Sie entfernten sich ein kleines Stück vom Stall, bis derMann stehen blieb und über die Schneedecke spähte. Er ließ die Hand desMädchens los. »Wo zum Teufel war es nochmal?«, murmelte er ungeduldig. Mit den Schuhen schob er denSchnee beiseite.
Still standsie da, während der Mann weiter im Schnee herumwühlte. Sie war nicht mehr froh.Mama war nicht hier. Sie konnte doch nicht unter dem Schnee sein. Sie warkrank. Das Mädchen schluckte den Kloß im Hals hinunter und fragte leise: »Woist Mama?«
»Sie istbei Gott«, antwortete er, ohne seine Suche zu unterbrechen.
»Bei Gott?«, fragte Kristín verwirrt. »Wasmacht sie da?«
Daschnaubte der Mann verächtlich. »Sie ist tot. Dann geht man zu Gott.«
Das Mädchenwusste nicht genau, was das bedeutete. Sie hatte noch nie jemanden getroffen,der tot war. »Gott ist gut, oder?« Sie war sich nichtsicher, warum sie den Mann danach fragte. Sie kannte die Antwort genau. IhreMama und Großvater hatten ihr das oft gesagt. Gott war gut. Sehr gut. »Kommtsie von Gott wieder zurück?«, fragte siehoffnungsvoll.
Der Mannstieß einen Jubelschrei aus und hörte auf zu wühlen. »Hier ist es! Endlich.« Erbeugte sich hinunter und begann, mit seinen behandschuhten Händen den Schneevon der Erde zu schaufeln. »Nein, von Gott kommt niemand zurück. Du musst zuihm gehen, wenn du deine Mama wiedersehen willst.«
Das Mädchenerstarrte. Was meinte er? Sie beobachtete, wie der Mann eine eiserne Luke inder Wiese freilegte. Hier hatte Mama ihr verboten, zu spielen. Gott konnte dochnicht da drin sein?
Der Mannstraffte seinen Rücken, bevor er sich wieder hinunterbeugte, um die schwereFalltür zu öffnen. Er warf dem Mädchen einen Blick zu und lächelte erneut. Siewünschte, er würde damit aufhören. Er gab ihr ein Zeichen, zu ihm zu kommen.Zögernd ging sie auf den Mann und die große schwarze Öffnung zu, die unter derFalltür zum Vorschein gekommen war. »Ist Gott mit Mama da drin?«, fragte sie mit zitternder Stimme.
Der Mannlächelte immer noch. »Nein, ist er nicht, aber er holt dich da ab. Komm her.« Er umfasste die schmächtigen Schultern des Mädchens undzog es zu der Öffnung. »Es ist besser, wenn du getauft bist. Gott nimmt keineUngetauften zu sich. Wir wollen hoffen, dass Gott sich an dich erinnert, denner wird dich im Kirchenbuch nicht finden können.« DerMann lachte leise.
Das Mädchenverstand nicht, was er meinte, und starrte wie hypnotisiert in den Abgrund.Alles schwarz und kalt und still. Wenn es irgendwo dort unten einmal ein Lichtgegeben hat, muss es wohl längst erfroren sein, dachte sie. Ihre Mama würdeniemals in ein solches Loch klettern. Sie hörte den Mann etwas Undeutliches über»Nottaufe« murmeln und schaute erst wieder auf, als er sie zu sich drehte, ihreine Handvoll Schnee auf die Stirn legte, die Augen schloss und sagte: »Ichtaufe dich im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.« Eröffnete die Augen und stierte das Mädchen an. Obwohl ihr die Kälte auf derStirn furchtbar wehtat, schmerzte sein Blick noch mehr. Sie schaute weg undsteckte die Hände in ihre Jackentaschen. Inzwischen war ihr eiskalt, und dieWollfäustlinge halfen bei dem frostigen Wind nicht viel. Als ihre Hand in derrechten Jackentasche auf etwas stieß, fiel ihr der Umschlag wieder ein. Eintiefer Schmerz durchfuhr sie und verdrängte einen Moment lang die Angst vor demMann. Sie hatte ihrer Mama versprochen, den Umschlag zu überbringen, und jetztsah es so aus, als würde sie es nicht erfüllen können. Es war das Letztegewesen, worüber sie gesprochen hatten, und das Mädchen konnte sich gut daranerinnern, wie wichtig es ihrer Mama gewesen war. Sie spürte, wie ihr eine Träneüber die Wange lief. Dem Mann konnte sie den Umschlag nicht geben, denn Mamahatte ganz deutlich gesagt, dass sie das auf keinen Fall tun dürfe. Sieknabberte an der Unterlippe und wusste nicht, ob sie etwas sagen oder schweigensollte. Deshalb schloss sie die Augen und wünschte sich, nicht länger dort zustehen, sondern neben ihrer Mama zu liegen, und alles wäre so wie früher. Alssie die Augen wieder öffnete, standen sie immer noch an derselben Stelle, sieund der Mann. Hoffnungslosigkeit durchfuhr sie. Lautlos weinte das Mädchen,ließ die Tränen einfach die Wangen hinabströmen und in den Schal tropfen. ( )
© FischerVerlag
Übersetzung:Tina Flecken
- Autor: Yrsa Sigurdardóttir
- 2007, 9. Aufl., 400 Seiten, Maße: 12,3 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Flecken, Tina
- Übersetzer: Tina Flecken
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596175992
- ISBN-13: 9783596175994
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