Das Geheimnis der Herzkirschen
Roman
Nach einer zerbrochenen Liebe fürchtet Isabel, nie mehr den richtigen Mann zu finden. Ihre Ängste werden verstärkt durch ihre Mutter, eine bis ins Herz kalte Frau, die ihr erzählt, dass in ihrer Familie die Liebe nie eine Rolle gespielt...
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Produktinformationen zu „Das Geheimnis der Herzkirschen “
Nach einer zerbrochenen Liebe fürchtet Isabel, nie mehr den richtigen Mann zu finden. Ihre Ängste werden verstärkt durch ihre Mutter, eine bis ins Herz kalte Frau, die ihr erzählt, dass in ihrer Familie die Liebe nie eine Rolle gespielt habe. Isabel ist zutiefst verletzt. Doch dann stirbt die Mutter - und Isabel steht vor einer überraschenden Hinterlassenschaft: Eine fremde Frau hat sie im Jahr ihrer Geburt als Erbin eines Grundstücks auf einer schwedischen Insel eingesetzt. Wer ist diese Frau?
Klappentext zu „Das Geheimnis der Herzkirschen “
Nach einer zerbrochenen Liebe fürchtet Isabel, nie mehr den richtigen Mann zu finden. Ihre Ängste werden verstärkt durch ihre Mutter, eine bis ins Herz kalte Frau, die ihr erzählt, dass in ihrer Familie die Liebe nie eine Rolle gespielt habe. Isabel ist zutiefst verletzt. Doch dann stirbt die Mutter - und Isabel steht vor einer überraschenden Hinterlassenschaft: Eine fremde Frau hat sie im Jahr ihrer Geburt als Erbin eines Grundstücks auf einer schwedischen Insel eingesetzt. Wer ist diese Frau?
Lese-Probe zu „Das Geheimnis der Herzkirschen “
Das Geheimnis der Herzkirschen von Katryn BerlingerKapitel I
1
Nacht im Hafen von Swakopmund,
Kolonie Deutsch-Südwestafrika,
Januar 1904
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Er hatte ihr ein Geschenk versprochen. War es vor zehn Minuten, vor hundert Stunden gewesen? Agnes hatte den Klang seiner Stimme noch im Ohr, die ihr bis zu diesem Moment die Gewissheit gegeben hatte, Paul würde zu ihr zurückkehren. Eine Ewigkeit schien das her zu sein. Nervös glitt ihr Blick über Passagiere und Lastenträger, die von der Mole her mit Brandungsbooten am Schiff anlegten.
Paul aber war nicht unter ihnen.
Sie hörte, wie sich einige Männer darüber beschwerten, dass der Kaiser noch immer kein Geld bereitgestellt habe, damit Swakopmund einen richtigen Hafen bekäme. Denn in halb undichten Nussschalen an Bord eines Schiffes geschaukelt zu werden, sei eines deutschen Kolonisten unwürdig. Angestrengt starrte Agnes zur Mole. Das Unbehagen, das der Anblick der starken Brandungswellen in ihr auslöste, war nichts gegen die Angst, die sie um Paul empfand. Er hatte ihr keine Erklärung gegeben, woher dieser Dampfer kam und warum er nur wenige Stunden nach seiner Anlandung wieder in See stechen würde. Nein, keine Erklärung, aber die Versicherung seiner Liebe. Und deshalb hatte er sie schließlich davon überzeugen können, wie wichtig es sei, wenn sie noch heute Nacht die Kolonie verließen.
Wo aber blieb er?
Noch während des Festes hatte er sie an Bord gebracht. Sie waren sich schon länger über eine gemeinsame Abreise einig gewesen, hatten nur auf eine günstige Gelegenheit gehofft. Und jetzt war es so weit. Agnes versuchte, sich an Einzelheiten des Abends zu erinnern, doch in ihrem Inneren klang nur Pauls Stimme. Auf diesem Schiff, hatte er ihr versichert, würde niemand sie vermuten, und sie brauche keine Angst haben, verfolgt zu werden.
Wer aber, fragte sie sich, hätte sie verfolgen wollen? Sie hatte keine Feinde. Arthur, ihr Ehemann, wäre der Einzige, der Grund hätte, sie aufzuhalten. Doch er kannte die Wahrheit nicht. Und das, was er gesehen hatte, hatte ihm Anlass gegeben, Paul sogar dankbar zu sein. Schließlich sorgte Paul sich um ihre Sicherheit und nahm Arthur ein wenig von der Sorge um seine junge Ehefrau. Es war einfach nicht auszudenken, würde sie Opfer der aufständischen Herero werden. Denn Arthur, der mit Geist und Seele dem deutschen Kaiser ergeben war, hätte selbst den von einem Herero aufgewirbelten Staub auf ihren Stiefelspitzen als persönliche Kränkung empfunden.
Das war der eine Teil der Wahrheit. Vom anderen wusste Arthur nichts. Er ahnte nicht einmal, was sie in den letzten Wochen erlebt hatte.
Agnes' Herz krampfte sich zusammen, als sie sich dem Moment stellte, in dem sie mit Paul die gemeinsame Kabine betreten hatte. Ihm war eingefallen, dass er noch seinen Geschäftskoffer aus dem Hotel holen müsse. Wie selbstverständlich hatte er dem Kapitän ein Bündel Geldscheine in die Hand gedrückt, mit der eindringlichen Anweisung, erst abzulegen, wenn er wieder zurück sei.
Und schon in diesem Augenblick hatte sie die aufkeimende Angst, dass irgendetwas schieflaufen könne, verdrängt.
Sie erinnerte sich, dass der Kapitän, ein fettleibiger, x-beiniger Mann mit dröhnendem Bass, widerwillig zugestimmt hatte. Immer noch trieb er, Befehle bellend, die Mannschaften an, die erst schwere Gewehr- und Munitionskisten entladen hatten und nun leere Bier- und Weinfässer, riesige Schafwollgebinde und Tonnen voller afrikanischer Kunstgegenstände von den Brandungsbooten hinauf an Deck und hinab in den Bauch dieses Dampfers schleppten.
Von Minute zu Minute flößte ihr diese Karikatur eines Kapitäns mehr Furcht ein. Er hatte versprochen, auf Pauls Rückkehr zu warten. Noch konnte sie sich einreden, Pauls Geld besäße genügend Macht, dass alles gutgehen würde.
Warum aber kam er nicht endlich zurück? Was, um Himmels willen, war geschehen? Wer konnte es wagen, ihn aufzuhalten? Ihn, der das Meer so liebte wie die Steppe, die seine Heimat war. Der die wichtigsten Hafenstädte der Welt ebenso gut kannte wie die Eitelkeiten ihrer Regierenden.
Er war erst vor kurzem aus New York zurückgekehrt - und hatte die kaisertreu und national gesinnten Kolonialbeamten schockiert, weil er drei dunkelhäutige Männer mit seltsamen Instrumenten mitgebracht hatte. Nur, weil ihre Musik ihn so fasziniert hatte. Noch immer erschien es Agnes traumhaft, dass diese fremden Klänge ihr ganzes Sein von einem Atemzug auf den nächsten verändert hatten. Das eigentliche Wunder war jedoch, dass ausgerechnet dieser weltgewandte Mann, Paul Henrik Söder, sich in sie, die Ehefrau eines einfachen Schutztruppen-Feldwebels, verliebt hatte. Ja, Paul hatte ihr ein Geschenk versprochen.
Agnes lauschte in sich hinein.
Ein Geschenk, das sie, wie er ihr versichert hatte, immer aneinander erinnern, für ewig miteinander verbinden würde. Noch über den Tod hinaus.
Und sie glaubte ihm.
Ein kühler Wind von Nordost blies feinen Wüstensand über die Reling. Er legte sich auf Agnes' Gesicht, erinnerte sie an die Schönheit einer rauhen Landschaft, an unendliche Weiten, an Farmen, zu denen einsame Köcherbäume den Weg markierten. Gegen ihre Tränen anblinzelnd, hob sie den Kopf und schaute einem niedrig fliegenden Schwarm Kapscharben nach, zuckte zusammen, als in der Nähe laut ein Brillenpinguin rief.
Nachtschwärze umhüllte die Hafenstadt, hatte längst den Ausblick auf die flache Küste mit ihren endlos langen Dünenketten und die Gebirgsschemen des Landesinneren verschluckt. Selbst die imposanten Gebäude des Kaiserlichen Bezirksgerichts und der Woermann-Schifffahrtslinie waren kaum noch zu erkennen. Nur der Leuchtturm unweit der Mole verbreitete ein hoffnungsvolles Licht.
Die Luft roch nach Meer, gegerbten Häuten, feuchtem Holz und einer eigenartigen kühlen Süße von Baumharz und kaltem Sand. Klar glitzerten die Sterne durch die Schwärze der Nacht. Unter ihr ertönte ein Rumpeln aus dem Bauch des Schiffes, als sei eine schwere Tonne umgefallen und hätte drei kleinere Tonnen mit sich gerissen. Die dumpfen Schläge erweckten wieder den Klang dieser leidenschaftlichen, rhythmischen Musik, die bereits in ihr ruhte wie ein zweites Herz, das nur darauf wartete, schlagen zu dürfen.
Rumba. Rumba hieß der Tanz, den Paul sie gelehrt hatte. Schritte, aufreizend langsam, dann wieder schnell, wiegender Hüftschwung, ohne Innehalten. Ein erotisches Spiel zwischen Mann und Frau, das sie nicht kannte, nie vom Leben erwartet hätte.
Und doch war es geschehen.
Agnes lehnte sich gegen die Bordwand, suchte nach dem Halt, der sie noch vor wenigen Stunden so glücklich gemacht hatte. Sie schloss die Augen, um noch einmal Pauls werbende Bewegungen zu spüren. Sanft hatte er sie geführt, ihr bedeutet, wie sie sich um ihn, von ihm fortdrehen solle. »Dime que no«, hatte er ihr zugeflüstert. »Sag mir ›nein‹.« Er war es, der sie erobern, sie umwerben wollte. Dabei hatten seine Augen geblitzt, und sie hatte das Gefühl gehabt, aus feuriger Seide zu bestehen, die Paul voller Begehren in ihren Bann zog.
Sie hatten sich auf den ersten Blick ineinander verliebt. Doch Paul hatte es verstanden, seine Sehnsucht geschickt zu verbergen. Am ersten Abend hatte er, der Etikette gehorchend, zunächst der Rangfolge nach die anwesenden Kolonialbeamten um die Erlaubnis eines Tanzes mit ihren Ehefrauen gebeten. Nachdem aber eine nach der anderen, teils aus Unvermögen, teils aus Schüchternheit, dankend abgelehnt hatte, war Paul schließlich mit einem eleganten Scherz auf Arthur zugetreten. Sie hatte ihrem Mann angesehen, wie er mit sich gekämpft hatte, weil er sich der ungewöhnlichen Beachtung durch einen weltgewandten Herrn durchaus bewusst war, sich aber schon im Voraus für das Unvermögen seiner jungen, unerfahrenen Ehefrau glaubte schämen zu müssen.
Wie schon so oft hatte Arthur sich in ihr getäuscht. Sie hatte es besser gewusst und ihm ihre Zuversicht mit einem bedeutungsvollen Blick zu verstehen gegeben. Da hatte Arthur sich, hochrot im Gesicht, von seinem Stuhl erhoben, vor Paul verbeugt und ihm für die außergewöhnliche Ehre gedankt.
Noch im gleichen Moment hatte sie Pauls dargebotenen Arm ergriffen - und Arthur vergessen. Schon bei der ersten Berührung wusste sie, dass sie und Paul füreinander geschaffen waren und sie diesen Tanz schnell lernen würde. Schneller, als jeder der erwartungsvollen Zuschauer es erwartet hätte, bewegten sich ihre Körper harmonisch im Takt der Musik. Trotzdem verstanden beide sich sofort darauf, nach außen hin Distanz zu wahren, um vor der Welt ihr stummes und doch so wortreiches Liebesgeflüster zu verbergen.
Wie mühelos hatten sie einander umtänzelt. Ihre Körper lockten und verzögerten die lustvolle Spannung, mal spielerisch streng, mal glutvoll gelassen.
Noch einmal glaubte Agnes, das Applaudieren der Gäste zu hören, erinnerte sich, dass Hauptmann Höchst, Arthurs Vorgesetzter, befremdet und zigaretterauchend auf die Terrasse hinausgetreten war.
Dem ersten Auftritt der fremden Musiker waren hitzige Gespräche über die Moral und Schändlichkeit dieser aufreizenden Klänge gefolgt. Agnes entsann sich, wie einer der Kolonialbeamten von primitiven »Urwaldtrommeln« sprach, die Sittlichkeit und Anstand einer christlichen Gesellschaft verletzen würden. Paul war daraufhin ans Klavier getreten, hatte, ungerührt von der Kritik, ein bekanntes Salonstück gespielt und nebenbei das Gespräch geschickt auf sein eigentliches Anliegen gelenkt. Überzeugend hatte er die günstigen Voraussetzungen der deutschen Farmer für sein Projekt hervorgehoben, zukünftige Profite in die rauchgeschwängerte Luft gemalt. Man brauche nur zuzugreifen. Agnes hörte noch deutlich die begeisterten Hochrufe des Farmers Martin Grevenstein auf den Kaiser, der als Erster Pauls Idee in die Tat umsetzen wollte und dem die »Negermusik« genauso gefiel wie Paul.
Und das war ihr beider Glück - und gleichzeitig Geheimnis, das sie vor Arthur hatten verbergen können.
In den Tagen danach hatte sie eine Nachricht erhalten, dass Martin Grevenstein ihr, Paul, den Musikern und einigen verschwiegenen Tanzbegeisterten eine leerstehende Scheune anbieten könnte, wo sie heimlich Rumba tanzen konnten. Offiziell hatte Grevenstein erklärt, nach der Augenoperation seiner Frau sei eine vernünftige Haushaltsführung ohne Agnes nicht mehr möglich. Natürlich war auch das nur die halbe Wahrheit. Zwar hatte sie wirklich im Grevensteinschen Haushalt mit angepackt, anschließend aber war sie zur Scheune hinübergeeilt, wo die anderen bereits tanzten.
Wie sehr hatte sie diese Stunden genossen.
Wie oft hatte sie sich klopfenden Herzens von Paul fortgedreht, um sich von ihm lodernd vor Sehnsucht zurückziehen zu lassen. »Du wirst mir nie einen Korb geben, Agnes, nicht?« Er hatte ihr im flackernden Licht der Lampions tief in die Augen gesehen. Seine Fingerkuppen setzten magische Punkte auf ihren Rücken, tänzelten, zogen sie an seinen Körper.
»Que sera, wer weiß«, hatte sie leise erwidert und wie beiläufig mit ihrem Mittelfinger sein Handgelenk gestreift. Lächelnd hatte er sie daraufhin um sich herumgelenkt. Sie tanzten im schwingenden Takt heißer, nach Weihrauch duftender Luftwirbel. Es war ein Ineinanderfließen intimster Gefühle. Kein Kampf, sondern unermüdliches Bejahen gegenseitigen Begehrens.
Das Gebrüll des Kapitäns riss Agnes aus ihren Gedanken. Neue Passagiere drängten auf das Schiff, heimreisende Kaufleute, Händler, zahlreiche deutsche Siedler mit ihren aufgeregten Kindern, Missionsschwestern in grauem Habit.
Gelangweilt machten sich die Schiffsjungen daran, die Strickleitern zu halten und nach den ausgestreckten Händen zu fassen. Schon wurde die erste Leiter eingeholt.
Wenig später bot sich die letzte Möglichkeit, in eines der Brandungsboote zu steigen, an Land zu gehen und nach Paul zu suchen. Hatte sie nicht schon viel zu lang hier gestanden und in Erinnerungen geschwelgt?
Und wenn Paul im allerletzten Augenblick auf das Schiff zuschwimmen würde? Agnes beugte sich über die Reling, bildete sich ein, kraftvolle Schwimmstöße, seinen Atem zu hören. Doch unter ihr schlug das Wasser nur kalt und gleichgültig gegen die Bordwand.
Der Kapitän schloss eine Luke, ohrfeigte einen Schiffsjungen und lief fluchend die Reling entlang, wobei er mit einem Stock gegen die Bordwand schlug. Hastig zerrten die Schiffsjungen unter hartem Scheppern die letzten Leitern an Deck, während im Schiffsinneren die Dampfturbinen anliefen und die Planken vibrieren ließen.
Eine nie gekannte Verzweiflung breitete sich in Agnes aus. Ihr war, als glitte sie auf fremden Füßen davon, fort von einer vertrauten Vergangenheit und zugleich fort von ihrer einzigen Hoffnung auf Glück.
Eine Träne nach der anderen lief ihr übers Gesicht. Ohnmächtig starrte sie in die Schwärze der Nacht, die den flachen Küstenstreifen unerbittlich einsog. Und wenn sie dies alles nur träumte? Vielleicht erlebte sie gerade ein Märchen? Ein Märchen, in dem die unglückliche Frau eines kaiserlichen Soldaten einen Prinzen trifft, der sie wach küsst und mit all ihren Sehnsüchten wieder allein lässt.
Doch anders als im Märchenbuch wollte dieses Märchen kein gutes Ende nehmen. Agnes stieß einen dumpfen Laut aus, umklammerte mit der einen Hand die Reling, ballte die andere zur Faust und presste sie auf ihre Lippen.
Der Schmerz, die große Liebe ihres Lebens gefunden und wieder verloren zu haben, raubte ihr fast den Verstand. Für kurze Momente tröstete sie sich mit der Vorstellung, gutmeinende Mächte hätten Paul wieder an den Platz seines Lebens zurückbeordert. Doch schließlich redete sie sich ein, dass sie gesündigt hatte. Dann war dies jetzt die Stunde, in der sie akzeptieren musste, von einem gerechten, aber grausamen Gott bestraft zu werden. Je weiter das Schiff sie in die dunkle Unendlichkeit des Atlantiks hinausführte, desto mehr glaubte sie, an diesem Schuldgefühl ersticken zu müssen. Und auch, wenn sie sich nicht eigentlich verantwortlich fühlte: Bald kam sie sich so tot und ab gestorben vor wie die Viehhäute und Felle, Hörner und Straußenfedern, die der Bauch dieses Dampfschiffes vor Stunden noch verschlungen hatte.
Es war ihr Lebenstraum gewesen. Der Traum, zu tanzen und zu lieben.
In einem Anflug trotzigen Mutes beschloss sie, Arthur eines Tages die Wahrheit zu erzählen. Sie würde ihn bitten, ihr ihre Lüge zu verzeihen und ihr zu glauben, dass sie ihn nicht mit Paul betrogen hatte. Schließlich schuldete sie Arthur zu viel, mehr noch, sie musste einsehen, einer solch großen Liebe wie der zu Paul gar nicht würdig zu sein. So war es das Beste, heimzukehren und das alte Leben wieder aufzunehmen. Bestimmt würde Arthur zu Weihnachten seinen ersten Heimaturlaub erhalten. Und wenn sie erst ein Kind hätten ...
Ein eigenartiges Erschauern durchfuhr sie, und sie fragte sich erschrocken, woher es kam. Irgendwo an Deck schlug eine Bordtür auf und entließ langgezogene Akkorde eines Schifferklaviers. Eine brüchige Männerstimme hob zu einer melancholischen Melodie an, brach sie ab und führte sie auf höherer Tonlage weiter.
Nein, sie würde ihn nie vergessen können.
Aber was blieb ihr? Auch, wenn sie ihn niemals wiedersehen dürfte, wuchs in ihr der Wunsch, zu erfahren, welcher Art Pauls Geschenk gewesen wäre, das sie beide über den Tod hinaus mitein ander verbunden hätte.
Sie kehrte zu ihrer Kabine zurück. Ein Streifen fahlen Mondlichts durchschnitt die stickige, von Scheuerwasser und Schweiß getränkte Luft. Agnes starrte auf die Koje, tastete taumelnd nach einem Halt. Wie ein durchsichtiges Feenband bedeckte ein kleiner Lichtstreifen Pauls Koffer. Und in diesem Moment wurde ihr bewusst, dass sie einen Fehler gemacht hatte.
2
Schweden, auf der Insel Visingsö,
am Ufer des Vätternsees,
August 1978
Den ganzen Juli über war es trocken gewesen, Mitte August aber änderte sich das Wetter über Nacht. Es wurde schwül, dann setzte tagelanger Regen ein. Als er nachgelassen hatte, schwirrten Tausende von Mücken zwischen den Beeten und Hecken des Gartens, der sich bis an das Ufer des Sees erstreckte. Trotz ihres hohen Alters hörte Linnea das geisterhafte Sirren deutlich, ihre welke Haut jedoch spürte die Stiche kaum noch. Heute allerdings schienen die Schwärme sogar den Ausblick auf den geliebten See zu trüben. Trotzdem wusste Linnea, dass er glatt, wie ermattet, vor ihr ruhte ... wie erkaltetes Glas. Sie musste nicht mehr alles sehen, und das war für eine alte Frau wie sie Trost genug. So würde sie auch niemanden darüber täuschen können, dass dies ihr letzter Sommer war. Schon jetzt war sie müde und fast zu schwach, das Telegramm unter ihren zittrigen Händen zu glätten.
Dessen einzige Zeile aber sah sie deutlich vor sich: Das Kind ist da. Ein Mädchen.
Ein Mädchen, murmelte sie vor sich hin. Ob es wohl eines Tages ... ihr gleichen würde?
Linnea bildete sich ein, ein Mädchen in blütenweißem Kleid im flachen Wasser zu sehen. An seinen Ohren baumelten Pärchen reifer, blutroter Herzkirschen. Es winkte ihr zu, raffte sein Kleid und lief jauchzend an ihr vorbei. Zurück in den Obsthain.
Aber warum, fragte sie sich, war dieses Kind erst jetzt, kurz vor ihrem Tod, geboren worden? Warum nicht vor zwanzig Jahren? Einen kurzen Moment lang flammte Ärger in ihr auf. Aber natürlich war dies unsinnig. Gott hatte es eben so gewollt, und er würde auch diesem Kind seine Lebensaufgabe nicht ersparen. Was für sie zählte, war, dass das Mädchen überhaupt auf die Welt gekommen war.
Ein Entenpaar landete platschend am Ufer. Linnea beugte sich ein wenig vor, sank wieder zurück und stieß einen langen Seufzer aus. Wie gerne hätte sie jetzt mit der Mutter gesprochen. Und wäre es möglich gewesen, hätte sie alle, Verstorbene wie noch Lebende, um sich versammelt, um die Geburt dieses Kindes zu feiern.
Linnea seufzte wieder. Welche Kapriolen das Leben doch schlug. Mit einem Mal wurde ihr bewusst, wie sehr sie unter der Ohnmacht ihres hohen Alters litt. Selbst wenn sie in zehn Jahren ihren hundertsten Geburtstag erleben würde, wäre das Kind noch zu jung, um diese große Geschichte zu verstehen. Dabei hatte das Leben gerade sie Geduld gelehrt, Geduld, aber auch Nachsicht.
Gesichter glitten vor ihrem inneren Auge vorüber. Gesichter, die sie einmal vor langer Zeit geliebt hatte. Lebensfäden tauchten auf, gingen verloren, rissen ab. Sie hatte sie nicht zu dem Muster verweben können, das ihr gefallen hatte. Und wenn sie ehrlich war, war alles nur bei einer Papierzeichnung geblieben, und selbst diese war mit der Zeit verblasst.
Nur die Geburt des Kindes erinnerte sie wieder daran, dass Leben Hoffnung bedeuten konnte. Ob wohl wenigstens dieses Kind eines Tages als Frau glücklich werden würde?
Eine eigenartige Unruhe ergriff von ihr Besitz. Noch immer tanzten am Seeufer im Dunst die Mücken. Ihr Sirren war wie eine monotone Musik, die zu den blassen Bildern der Vergangenheit spielte. Mal näher, mal ferner klangen die Stimmen längst Verstorbener, glichen dem wechselhaften Gemurmel eines Gebirgsbaches. Linnea atmete flacher, hoffte, irgendein Wort zu verstehen, einen Satz. Vergeblich. Erst nach einer Weile stellte sie fest, dass das Einzige, was sie hörte, ihre eigene Stimme war: die Stimme ihrer Schuld.
An diesem See hatte sie einmal einem Menschen das Versprechen gegeben, ein Geheimnis zu hüten. Und hier hatte sie denselben Menschen betrogen.
Ein Geräusch ließ sie zusammenzucken. Plötzlich verspürte sie eine seltsame Angst. Vage ahnte sie, dass sie etwas mit der Geburt des Kindes zu tun hatte. Und je stärker diese Angst sie quälte wie ein falscher Akkord, desto deutlicher verspürte sie den Wunsch, etwas gegen sie zu tun. Am besten noch heute, dachte sie. Denn die Stunden waren gezählt, in denen ihr Verstand noch ungetrübt war. Linnea hüstelte und zog ihr kupferfarbenes Wolltuch über ihren Schoß. Dann blinzelte sie einem flatterigen Schemen nach, dessen chräik-Schreie sie daran erinnerten, dass der September nahte und die ersten Graureiher gen Süden zogen.
Gleich nachher würde sie telefonieren. Die Zeit war gekommen, dass sie endlich ihr Schweigen brach. Buchstäblich im letzten Moment würde sie den Schutt von Fehlern und Versagen beiseiteräumen. Noch war Zeit, ihrer Freundin endlich Abbitte zu leisten, um deren Erbe zu retten.
Linnea atmete auf, strich über das Telegramm. Ihr war schwindelig, gleichzeitig aber war sie erleichtert, dass sie endlich wusste, was sie zu tun hatte. Etwas blitzte vor ihrem Auge auf, gleichzeitig verspürte sie einen Stich im Kopf. Wollten die Mücken sie vertreiben? Als griffe sie ein Schwarm Glühwürmchen an, schreckte sie vor den vielen hellen Punkten zurück, die auf einmal vor ihr flirrten. Panik stieg in ihr auf, plötzlich wurde ihr eng um die Brust. Vielleicht ist es besser, dachte sie beunruhigt, wenn ich meinen Plan notiere ...
Sie fingerte hastig einen Bleistiftstummel aus der Seitentasche ihres Kleides und stellte sich vor, was sie Agnes unbedingt sagen wollte.
Ich hole das Kind. Bringe es hierher. Sorge dich nicht. Sie wird ...
Die Bleistiftspitze brach ab, dennoch vollendete Linnea den Satz, ohne zu merken, dass sie die letzten Worte nur ins Papier drückte.
Motorengeräusch schreckte sie auf. Ein weißes Boot schoss über den See, ließ Wellen ans Ufer schwappen. Dumpfe Taktschläge drangen an ihre Ohren.
Dieser Lärm, dachte sie halb benommen und wischte zittrig eine Haarsträhne von der Lippe. Hirnbetäubend. Der Rhythmus. Alles.
Sie versuchte, die Musik fortzuwischen, blinzelte, erinnerte sich daran, was sie jetzt unbedingt erledigen wollte. Ja, gleich würde sie Agnes anrufen. Auch, wenn es schon spät war. Gleich ... wenn ihr Herz sich beruhigt hatte. Sie würde noch eine Weile sitzen bleiben und atmen. Einfach nur atmen.
War Nebel aufgezogen? Alles schien plötzlich so hell.
Sie musste die Augen schließen, dachte an das kleine Mädchen. Und wie von allein fügten sich ihre Finger zum Gebet zusammen.
Copyright © 2013 by Knaur Taschenbuch
Er hatte ihr ein Geschenk versprochen. War es vor zehn Minuten, vor hundert Stunden gewesen? Agnes hatte den Klang seiner Stimme noch im Ohr, die ihr bis zu diesem Moment die Gewissheit gegeben hatte, Paul würde zu ihr zurückkehren. Eine Ewigkeit schien das her zu sein. Nervös glitt ihr Blick über Passagiere und Lastenträger, die von der Mole her mit Brandungsbooten am Schiff anlegten.
Paul aber war nicht unter ihnen.
Sie hörte, wie sich einige Männer darüber beschwerten, dass der Kaiser noch immer kein Geld bereitgestellt habe, damit Swakopmund einen richtigen Hafen bekäme. Denn in halb undichten Nussschalen an Bord eines Schiffes geschaukelt zu werden, sei eines deutschen Kolonisten unwürdig. Angestrengt starrte Agnes zur Mole. Das Unbehagen, das der Anblick der starken Brandungswellen in ihr auslöste, war nichts gegen die Angst, die sie um Paul empfand. Er hatte ihr keine Erklärung gegeben, woher dieser Dampfer kam und warum er nur wenige Stunden nach seiner Anlandung wieder in See stechen würde. Nein, keine Erklärung, aber die Versicherung seiner Liebe. Und deshalb hatte er sie schließlich davon überzeugen können, wie wichtig es sei, wenn sie noch heute Nacht die Kolonie verließen.
Wo aber blieb er?
Noch während des Festes hatte er sie an Bord gebracht. Sie waren sich schon länger über eine gemeinsame Abreise einig gewesen, hatten nur auf eine günstige Gelegenheit gehofft. Und jetzt war es so weit. Agnes versuchte, sich an Einzelheiten des Abends zu erinnern, doch in ihrem Inneren klang nur Pauls Stimme. Auf diesem Schiff, hatte er ihr versichert, würde niemand sie vermuten, und sie brauche keine Angst haben, verfolgt zu werden.
Wer aber, fragte sie sich, hätte sie verfolgen wollen? Sie hatte keine Feinde. Arthur, ihr Ehemann, wäre der Einzige, der Grund hätte, sie aufzuhalten. Doch er kannte die Wahrheit nicht. Und das, was er gesehen hatte, hatte ihm Anlass gegeben, Paul sogar dankbar zu sein. Schließlich sorgte Paul sich um ihre Sicherheit und nahm Arthur ein wenig von der Sorge um seine junge Ehefrau. Es war einfach nicht auszudenken, würde sie Opfer der aufständischen Herero werden. Denn Arthur, der mit Geist und Seele dem deutschen Kaiser ergeben war, hätte selbst den von einem Herero aufgewirbelten Staub auf ihren Stiefelspitzen als persönliche Kränkung empfunden.
Das war der eine Teil der Wahrheit. Vom anderen wusste Arthur nichts. Er ahnte nicht einmal, was sie in den letzten Wochen erlebt hatte.
Agnes' Herz krampfte sich zusammen, als sie sich dem Moment stellte, in dem sie mit Paul die gemeinsame Kabine betreten hatte. Ihm war eingefallen, dass er noch seinen Geschäftskoffer aus dem Hotel holen müsse. Wie selbstverständlich hatte er dem Kapitän ein Bündel Geldscheine in die Hand gedrückt, mit der eindringlichen Anweisung, erst abzulegen, wenn er wieder zurück sei.
Und schon in diesem Augenblick hatte sie die aufkeimende Angst, dass irgendetwas schieflaufen könne, verdrängt.
Sie erinnerte sich, dass der Kapitän, ein fettleibiger, x-beiniger Mann mit dröhnendem Bass, widerwillig zugestimmt hatte. Immer noch trieb er, Befehle bellend, die Mannschaften an, die erst schwere Gewehr- und Munitionskisten entladen hatten und nun leere Bier- und Weinfässer, riesige Schafwollgebinde und Tonnen voller afrikanischer Kunstgegenstände von den Brandungsbooten hinauf an Deck und hinab in den Bauch dieses Dampfers schleppten.
Von Minute zu Minute flößte ihr diese Karikatur eines Kapitäns mehr Furcht ein. Er hatte versprochen, auf Pauls Rückkehr zu warten. Noch konnte sie sich einreden, Pauls Geld besäße genügend Macht, dass alles gutgehen würde.
Warum aber kam er nicht endlich zurück? Was, um Himmels willen, war geschehen? Wer konnte es wagen, ihn aufzuhalten? Ihn, der das Meer so liebte wie die Steppe, die seine Heimat war. Der die wichtigsten Hafenstädte der Welt ebenso gut kannte wie die Eitelkeiten ihrer Regierenden.
Er war erst vor kurzem aus New York zurückgekehrt - und hatte die kaisertreu und national gesinnten Kolonialbeamten schockiert, weil er drei dunkelhäutige Männer mit seltsamen Instrumenten mitgebracht hatte. Nur, weil ihre Musik ihn so fasziniert hatte. Noch immer erschien es Agnes traumhaft, dass diese fremden Klänge ihr ganzes Sein von einem Atemzug auf den nächsten verändert hatten. Das eigentliche Wunder war jedoch, dass ausgerechnet dieser weltgewandte Mann, Paul Henrik Söder, sich in sie, die Ehefrau eines einfachen Schutztruppen-Feldwebels, verliebt hatte. Ja, Paul hatte ihr ein Geschenk versprochen.
Agnes lauschte in sich hinein.
Ein Geschenk, das sie, wie er ihr versichert hatte, immer aneinander erinnern, für ewig miteinander verbinden würde. Noch über den Tod hinaus.
Und sie glaubte ihm.
Ein kühler Wind von Nordost blies feinen Wüstensand über die Reling. Er legte sich auf Agnes' Gesicht, erinnerte sie an die Schönheit einer rauhen Landschaft, an unendliche Weiten, an Farmen, zu denen einsame Köcherbäume den Weg markierten. Gegen ihre Tränen anblinzelnd, hob sie den Kopf und schaute einem niedrig fliegenden Schwarm Kapscharben nach, zuckte zusammen, als in der Nähe laut ein Brillenpinguin rief.
Nachtschwärze umhüllte die Hafenstadt, hatte längst den Ausblick auf die flache Küste mit ihren endlos langen Dünenketten und die Gebirgsschemen des Landesinneren verschluckt. Selbst die imposanten Gebäude des Kaiserlichen Bezirksgerichts und der Woermann-Schifffahrtslinie waren kaum noch zu erkennen. Nur der Leuchtturm unweit der Mole verbreitete ein hoffnungsvolles Licht.
Die Luft roch nach Meer, gegerbten Häuten, feuchtem Holz und einer eigenartigen kühlen Süße von Baumharz und kaltem Sand. Klar glitzerten die Sterne durch die Schwärze der Nacht. Unter ihr ertönte ein Rumpeln aus dem Bauch des Schiffes, als sei eine schwere Tonne umgefallen und hätte drei kleinere Tonnen mit sich gerissen. Die dumpfen Schläge erweckten wieder den Klang dieser leidenschaftlichen, rhythmischen Musik, die bereits in ihr ruhte wie ein zweites Herz, das nur darauf wartete, schlagen zu dürfen.
Rumba. Rumba hieß der Tanz, den Paul sie gelehrt hatte. Schritte, aufreizend langsam, dann wieder schnell, wiegender Hüftschwung, ohne Innehalten. Ein erotisches Spiel zwischen Mann und Frau, das sie nicht kannte, nie vom Leben erwartet hätte.
Und doch war es geschehen.
Agnes lehnte sich gegen die Bordwand, suchte nach dem Halt, der sie noch vor wenigen Stunden so glücklich gemacht hatte. Sie schloss die Augen, um noch einmal Pauls werbende Bewegungen zu spüren. Sanft hatte er sie geführt, ihr bedeutet, wie sie sich um ihn, von ihm fortdrehen solle. »Dime que no«, hatte er ihr zugeflüstert. »Sag mir ›nein‹.« Er war es, der sie erobern, sie umwerben wollte. Dabei hatten seine Augen geblitzt, und sie hatte das Gefühl gehabt, aus feuriger Seide zu bestehen, die Paul voller Begehren in ihren Bann zog.
Sie hatten sich auf den ersten Blick ineinander verliebt. Doch Paul hatte es verstanden, seine Sehnsucht geschickt zu verbergen. Am ersten Abend hatte er, der Etikette gehorchend, zunächst der Rangfolge nach die anwesenden Kolonialbeamten um die Erlaubnis eines Tanzes mit ihren Ehefrauen gebeten. Nachdem aber eine nach der anderen, teils aus Unvermögen, teils aus Schüchternheit, dankend abgelehnt hatte, war Paul schließlich mit einem eleganten Scherz auf Arthur zugetreten. Sie hatte ihrem Mann angesehen, wie er mit sich gekämpft hatte, weil er sich der ungewöhnlichen Beachtung durch einen weltgewandten Herrn durchaus bewusst war, sich aber schon im Voraus für das Unvermögen seiner jungen, unerfahrenen Ehefrau glaubte schämen zu müssen.
Wie schon so oft hatte Arthur sich in ihr getäuscht. Sie hatte es besser gewusst und ihm ihre Zuversicht mit einem bedeutungsvollen Blick zu verstehen gegeben. Da hatte Arthur sich, hochrot im Gesicht, von seinem Stuhl erhoben, vor Paul verbeugt und ihm für die außergewöhnliche Ehre gedankt.
Noch im gleichen Moment hatte sie Pauls dargebotenen Arm ergriffen - und Arthur vergessen. Schon bei der ersten Berührung wusste sie, dass sie und Paul füreinander geschaffen waren und sie diesen Tanz schnell lernen würde. Schneller, als jeder der erwartungsvollen Zuschauer es erwartet hätte, bewegten sich ihre Körper harmonisch im Takt der Musik. Trotzdem verstanden beide sich sofort darauf, nach außen hin Distanz zu wahren, um vor der Welt ihr stummes und doch so wortreiches Liebesgeflüster zu verbergen.
Wie mühelos hatten sie einander umtänzelt. Ihre Körper lockten und verzögerten die lustvolle Spannung, mal spielerisch streng, mal glutvoll gelassen.
Noch einmal glaubte Agnes, das Applaudieren der Gäste zu hören, erinnerte sich, dass Hauptmann Höchst, Arthurs Vorgesetzter, befremdet und zigaretterauchend auf die Terrasse hinausgetreten war.
Dem ersten Auftritt der fremden Musiker waren hitzige Gespräche über die Moral und Schändlichkeit dieser aufreizenden Klänge gefolgt. Agnes entsann sich, wie einer der Kolonialbeamten von primitiven »Urwaldtrommeln« sprach, die Sittlichkeit und Anstand einer christlichen Gesellschaft verletzen würden. Paul war daraufhin ans Klavier getreten, hatte, ungerührt von der Kritik, ein bekanntes Salonstück gespielt und nebenbei das Gespräch geschickt auf sein eigentliches Anliegen gelenkt. Überzeugend hatte er die günstigen Voraussetzungen der deutschen Farmer für sein Projekt hervorgehoben, zukünftige Profite in die rauchgeschwängerte Luft gemalt. Man brauche nur zuzugreifen. Agnes hörte noch deutlich die begeisterten Hochrufe des Farmers Martin Grevenstein auf den Kaiser, der als Erster Pauls Idee in die Tat umsetzen wollte und dem die »Negermusik« genauso gefiel wie Paul.
Und das war ihr beider Glück - und gleichzeitig Geheimnis, das sie vor Arthur hatten verbergen können.
In den Tagen danach hatte sie eine Nachricht erhalten, dass Martin Grevenstein ihr, Paul, den Musikern und einigen verschwiegenen Tanzbegeisterten eine leerstehende Scheune anbieten könnte, wo sie heimlich Rumba tanzen konnten. Offiziell hatte Grevenstein erklärt, nach der Augenoperation seiner Frau sei eine vernünftige Haushaltsführung ohne Agnes nicht mehr möglich. Natürlich war auch das nur die halbe Wahrheit. Zwar hatte sie wirklich im Grevensteinschen Haushalt mit angepackt, anschließend aber war sie zur Scheune hinübergeeilt, wo die anderen bereits tanzten.
Wie sehr hatte sie diese Stunden genossen.
Wie oft hatte sie sich klopfenden Herzens von Paul fortgedreht, um sich von ihm lodernd vor Sehnsucht zurückziehen zu lassen. »Du wirst mir nie einen Korb geben, Agnes, nicht?« Er hatte ihr im flackernden Licht der Lampions tief in die Augen gesehen. Seine Fingerkuppen setzten magische Punkte auf ihren Rücken, tänzelten, zogen sie an seinen Körper.
»Que sera, wer weiß«, hatte sie leise erwidert und wie beiläufig mit ihrem Mittelfinger sein Handgelenk gestreift. Lächelnd hatte er sie daraufhin um sich herumgelenkt. Sie tanzten im schwingenden Takt heißer, nach Weihrauch duftender Luftwirbel. Es war ein Ineinanderfließen intimster Gefühle. Kein Kampf, sondern unermüdliches Bejahen gegenseitigen Begehrens.
Das Gebrüll des Kapitäns riss Agnes aus ihren Gedanken. Neue Passagiere drängten auf das Schiff, heimreisende Kaufleute, Händler, zahlreiche deutsche Siedler mit ihren aufgeregten Kindern, Missionsschwestern in grauem Habit.
Gelangweilt machten sich die Schiffsjungen daran, die Strickleitern zu halten und nach den ausgestreckten Händen zu fassen. Schon wurde die erste Leiter eingeholt.
Wenig später bot sich die letzte Möglichkeit, in eines der Brandungsboote zu steigen, an Land zu gehen und nach Paul zu suchen. Hatte sie nicht schon viel zu lang hier gestanden und in Erinnerungen geschwelgt?
Und wenn Paul im allerletzten Augenblick auf das Schiff zuschwimmen würde? Agnes beugte sich über die Reling, bildete sich ein, kraftvolle Schwimmstöße, seinen Atem zu hören. Doch unter ihr schlug das Wasser nur kalt und gleichgültig gegen die Bordwand.
Der Kapitän schloss eine Luke, ohrfeigte einen Schiffsjungen und lief fluchend die Reling entlang, wobei er mit einem Stock gegen die Bordwand schlug. Hastig zerrten die Schiffsjungen unter hartem Scheppern die letzten Leitern an Deck, während im Schiffsinneren die Dampfturbinen anliefen und die Planken vibrieren ließen.
Eine nie gekannte Verzweiflung breitete sich in Agnes aus. Ihr war, als glitte sie auf fremden Füßen davon, fort von einer vertrauten Vergangenheit und zugleich fort von ihrer einzigen Hoffnung auf Glück.
Eine Träne nach der anderen lief ihr übers Gesicht. Ohnmächtig starrte sie in die Schwärze der Nacht, die den flachen Küstenstreifen unerbittlich einsog. Und wenn sie dies alles nur träumte? Vielleicht erlebte sie gerade ein Märchen? Ein Märchen, in dem die unglückliche Frau eines kaiserlichen Soldaten einen Prinzen trifft, der sie wach küsst und mit all ihren Sehnsüchten wieder allein lässt.
Doch anders als im Märchenbuch wollte dieses Märchen kein gutes Ende nehmen. Agnes stieß einen dumpfen Laut aus, umklammerte mit der einen Hand die Reling, ballte die andere zur Faust und presste sie auf ihre Lippen.
Der Schmerz, die große Liebe ihres Lebens gefunden und wieder verloren zu haben, raubte ihr fast den Verstand. Für kurze Momente tröstete sie sich mit der Vorstellung, gutmeinende Mächte hätten Paul wieder an den Platz seines Lebens zurückbeordert. Doch schließlich redete sie sich ein, dass sie gesündigt hatte. Dann war dies jetzt die Stunde, in der sie akzeptieren musste, von einem gerechten, aber grausamen Gott bestraft zu werden. Je weiter das Schiff sie in die dunkle Unendlichkeit des Atlantiks hinausführte, desto mehr glaubte sie, an diesem Schuldgefühl ersticken zu müssen. Und auch, wenn sie sich nicht eigentlich verantwortlich fühlte: Bald kam sie sich so tot und ab gestorben vor wie die Viehhäute und Felle, Hörner und Straußenfedern, die der Bauch dieses Dampfschiffes vor Stunden noch verschlungen hatte.
Es war ihr Lebenstraum gewesen. Der Traum, zu tanzen und zu lieben.
In einem Anflug trotzigen Mutes beschloss sie, Arthur eines Tages die Wahrheit zu erzählen. Sie würde ihn bitten, ihr ihre Lüge zu verzeihen und ihr zu glauben, dass sie ihn nicht mit Paul betrogen hatte. Schließlich schuldete sie Arthur zu viel, mehr noch, sie musste einsehen, einer solch großen Liebe wie der zu Paul gar nicht würdig zu sein. So war es das Beste, heimzukehren und das alte Leben wieder aufzunehmen. Bestimmt würde Arthur zu Weihnachten seinen ersten Heimaturlaub erhalten. Und wenn sie erst ein Kind hätten ...
Ein eigenartiges Erschauern durchfuhr sie, und sie fragte sich erschrocken, woher es kam. Irgendwo an Deck schlug eine Bordtür auf und entließ langgezogene Akkorde eines Schifferklaviers. Eine brüchige Männerstimme hob zu einer melancholischen Melodie an, brach sie ab und führte sie auf höherer Tonlage weiter.
Nein, sie würde ihn nie vergessen können.
Aber was blieb ihr? Auch, wenn sie ihn niemals wiedersehen dürfte, wuchs in ihr der Wunsch, zu erfahren, welcher Art Pauls Geschenk gewesen wäre, das sie beide über den Tod hinaus mitein ander verbunden hätte.
Sie kehrte zu ihrer Kabine zurück. Ein Streifen fahlen Mondlichts durchschnitt die stickige, von Scheuerwasser und Schweiß getränkte Luft. Agnes starrte auf die Koje, tastete taumelnd nach einem Halt. Wie ein durchsichtiges Feenband bedeckte ein kleiner Lichtstreifen Pauls Koffer. Und in diesem Moment wurde ihr bewusst, dass sie einen Fehler gemacht hatte.
2
Schweden, auf der Insel Visingsö,
am Ufer des Vätternsees,
August 1978
Den ganzen Juli über war es trocken gewesen, Mitte August aber änderte sich das Wetter über Nacht. Es wurde schwül, dann setzte tagelanger Regen ein. Als er nachgelassen hatte, schwirrten Tausende von Mücken zwischen den Beeten und Hecken des Gartens, der sich bis an das Ufer des Sees erstreckte. Trotz ihres hohen Alters hörte Linnea das geisterhafte Sirren deutlich, ihre welke Haut jedoch spürte die Stiche kaum noch. Heute allerdings schienen die Schwärme sogar den Ausblick auf den geliebten See zu trüben. Trotzdem wusste Linnea, dass er glatt, wie ermattet, vor ihr ruhte ... wie erkaltetes Glas. Sie musste nicht mehr alles sehen, und das war für eine alte Frau wie sie Trost genug. So würde sie auch niemanden darüber täuschen können, dass dies ihr letzter Sommer war. Schon jetzt war sie müde und fast zu schwach, das Telegramm unter ihren zittrigen Händen zu glätten.
Dessen einzige Zeile aber sah sie deutlich vor sich: Das Kind ist da. Ein Mädchen.
Ein Mädchen, murmelte sie vor sich hin. Ob es wohl eines Tages ... ihr gleichen würde?
Linnea bildete sich ein, ein Mädchen in blütenweißem Kleid im flachen Wasser zu sehen. An seinen Ohren baumelten Pärchen reifer, blutroter Herzkirschen. Es winkte ihr zu, raffte sein Kleid und lief jauchzend an ihr vorbei. Zurück in den Obsthain.
Aber warum, fragte sie sich, war dieses Kind erst jetzt, kurz vor ihrem Tod, geboren worden? Warum nicht vor zwanzig Jahren? Einen kurzen Moment lang flammte Ärger in ihr auf. Aber natürlich war dies unsinnig. Gott hatte es eben so gewollt, und er würde auch diesem Kind seine Lebensaufgabe nicht ersparen. Was für sie zählte, war, dass das Mädchen überhaupt auf die Welt gekommen war.
Ein Entenpaar landete platschend am Ufer. Linnea beugte sich ein wenig vor, sank wieder zurück und stieß einen langen Seufzer aus. Wie gerne hätte sie jetzt mit der Mutter gesprochen. Und wäre es möglich gewesen, hätte sie alle, Verstorbene wie noch Lebende, um sich versammelt, um die Geburt dieses Kindes zu feiern.
Linnea seufzte wieder. Welche Kapriolen das Leben doch schlug. Mit einem Mal wurde ihr bewusst, wie sehr sie unter der Ohnmacht ihres hohen Alters litt. Selbst wenn sie in zehn Jahren ihren hundertsten Geburtstag erleben würde, wäre das Kind noch zu jung, um diese große Geschichte zu verstehen. Dabei hatte das Leben gerade sie Geduld gelehrt, Geduld, aber auch Nachsicht.
Gesichter glitten vor ihrem inneren Auge vorüber. Gesichter, die sie einmal vor langer Zeit geliebt hatte. Lebensfäden tauchten auf, gingen verloren, rissen ab. Sie hatte sie nicht zu dem Muster verweben können, das ihr gefallen hatte. Und wenn sie ehrlich war, war alles nur bei einer Papierzeichnung geblieben, und selbst diese war mit der Zeit verblasst.
Nur die Geburt des Kindes erinnerte sie wieder daran, dass Leben Hoffnung bedeuten konnte. Ob wohl wenigstens dieses Kind eines Tages als Frau glücklich werden würde?
Eine eigenartige Unruhe ergriff von ihr Besitz. Noch immer tanzten am Seeufer im Dunst die Mücken. Ihr Sirren war wie eine monotone Musik, die zu den blassen Bildern der Vergangenheit spielte. Mal näher, mal ferner klangen die Stimmen längst Verstorbener, glichen dem wechselhaften Gemurmel eines Gebirgsbaches. Linnea atmete flacher, hoffte, irgendein Wort zu verstehen, einen Satz. Vergeblich. Erst nach einer Weile stellte sie fest, dass das Einzige, was sie hörte, ihre eigene Stimme war: die Stimme ihrer Schuld.
An diesem See hatte sie einmal einem Menschen das Versprechen gegeben, ein Geheimnis zu hüten. Und hier hatte sie denselben Menschen betrogen.
Ein Geräusch ließ sie zusammenzucken. Plötzlich verspürte sie eine seltsame Angst. Vage ahnte sie, dass sie etwas mit der Geburt des Kindes zu tun hatte. Und je stärker diese Angst sie quälte wie ein falscher Akkord, desto deutlicher verspürte sie den Wunsch, etwas gegen sie zu tun. Am besten noch heute, dachte sie. Denn die Stunden waren gezählt, in denen ihr Verstand noch ungetrübt war. Linnea hüstelte und zog ihr kupferfarbenes Wolltuch über ihren Schoß. Dann blinzelte sie einem flatterigen Schemen nach, dessen chräik-Schreie sie daran erinnerten, dass der September nahte und die ersten Graureiher gen Süden zogen.
Gleich nachher würde sie telefonieren. Die Zeit war gekommen, dass sie endlich ihr Schweigen brach. Buchstäblich im letzten Moment würde sie den Schutt von Fehlern und Versagen beiseiteräumen. Noch war Zeit, ihrer Freundin endlich Abbitte zu leisten, um deren Erbe zu retten.
Linnea atmete auf, strich über das Telegramm. Ihr war schwindelig, gleichzeitig aber war sie erleichtert, dass sie endlich wusste, was sie zu tun hatte. Etwas blitzte vor ihrem Auge auf, gleichzeitig verspürte sie einen Stich im Kopf. Wollten die Mücken sie vertreiben? Als griffe sie ein Schwarm Glühwürmchen an, schreckte sie vor den vielen hellen Punkten zurück, die auf einmal vor ihr flirrten. Panik stieg in ihr auf, plötzlich wurde ihr eng um die Brust. Vielleicht ist es besser, dachte sie beunruhigt, wenn ich meinen Plan notiere ...
Sie fingerte hastig einen Bleistiftstummel aus der Seitentasche ihres Kleides und stellte sich vor, was sie Agnes unbedingt sagen wollte.
Ich hole das Kind. Bringe es hierher. Sorge dich nicht. Sie wird ...
Die Bleistiftspitze brach ab, dennoch vollendete Linnea den Satz, ohne zu merken, dass sie die letzten Worte nur ins Papier drückte.
Motorengeräusch schreckte sie auf. Ein weißes Boot schoss über den See, ließ Wellen ans Ufer schwappen. Dumpfe Taktschläge drangen an ihre Ohren.
Dieser Lärm, dachte sie halb benommen und wischte zittrig eine Haarsträhne von der Lippe. Hirnbetäubend. Der Rhythmus. Alles.
Sie versuchte, die Musik fortzuwischen, blinzelte, erinnerte sich daran, was sie jetzt unbedingt erledigen wollte. Ja, gleich würde sie Agnes anrufen. Auch, wenn es schon spät war. Gleich ... wenn ihr Herz sich beruhigt hatte. Sie würde noch eine Weile sitzen bleiben und atmen. Einfach nur atmen.
War Nebel aufgezogen? Alles schien plötzlich so hell.
Sie musste die Augen schließen, dachte an das kleine Mädchen. Und wie von allein fügten sich ihre Finger zum Gebet zusammen.
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Autoren-Porträt von Katryn Berlinger
Berlinger, KatrynKatryn Berlinger hat Literatur- und Musikwissenschaft studiert und in einem Schallplattenunternehmen in Hamburg gearbeitet. Einige Jahre später tauschte sie dann den Beruf gegen ihre Familie ein. Heute lebt und arbeitet sie als Schriftstellerin in Norddeutschland.
Bibliographische Angaben
- Autor: Katryn Berlinger
- 2013, 3. Aufl., 464 Seiten, Maße: 12,5 x 19,1 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426512629
- ISBN-13: 9783426512623
- Erscheinungsdatum: 26.04.2013
Rezension zu „Das Geheimnis der Herzkirschen “
"Spannend ist diese wundervoll erzählte, zauberhafte und packende Geschichte um Liebe und Glück, die 1904 beginnt, Kontinente und ein Jahrhundert umspannt." www.maerkische-lebensart.de
Pressezitat
"Spannend ist diese wundervoll erzählte, zauberhafte und packende Geschichte um Liebe und Glück, die 1904 beginnt, Kontinente und ein Jahrhundert umspannt." www.maerkische-lebensart.de
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