Das Geheimnis der Monduhr
Eine geheimnisvolle Monduhr und eine Entscheidung, die schwerer nicht sein könnte: Ein Leben für ein Leben. Ein faszinierender Roman, den Sie nicht mehr aus der Hand legen können.
Holly und ihr Mann ziehen von der Stadt in...
Holly und ihr Mann ziehen von der Stadt in...
Leider schon ausverkauft
Ladenpreis 10.99 €
Als Mängelexemplar
Als Mängelexemplar
Buch -55%
4.99 €
Produktdetails
Produktinformationen zu „Das Geheimnis der Monduhr “
Eine geheimnisvolle Monduhr und eine Entscheidung, die schwerer nicht sein könnte: Ein Leben für ein Leben. Ein faszinierender Roman, den Sie nicht mehr aus der Hand legen können.
Holly und ihr Mann ziehen von der Stadt in den idyllischen Vorort Fincross, um sich in einem alten Torhaus ihr neues Zuhause einzurichten. In dem verwilderten Garten entdecken sie eine sonderbare Einrichtung: eine Uhr, die sich am Mond orientiert. Eines Nachts bei Vollmond fühlt sich Holly wie magisch von der Monduhr angezogen. Aber als sie die Kugel berührt, erleidet sie einen Stromschlag und wird bewusstlos. Als sie wieder erwacht, ist irgendetwas anders. Was ist nur passiert? Wo ist sie? Und warum sieht sie Tom im Haus sitzen, unendlich traurig, mit einem Baby auf dem Arm?
"Magisch."
KATIE FFORDE
Holly und ihr Mann ziehen von der Stadt in den idyllischen Vorort Fincross, um sich in einem alten Torhaus ihr neues Zuhause einzurichten. In dem verwilderten Garten entdecken sie eine sonderbare Einrichtung: eine Uhr, die sich am Mond orientiert. Eines Nachts bei Vollmond fühlt sich Holly wie magisch von der Monduhr angezogen. Aber als sie die Kugel berührt, erleidet sie einen Stromschlag und wird bewusstlos. Als sie wieder erwacht, ist irgendetwas anders. Was ist nur passiert? Wo ist sie? Und warum sieht sie Tom im Haus sitzen, unendlich traurig, mit einem Baby auf dem Arm?
"Magisch."
KATIE FFORDE
Lese-Probe zu „Das Geheimnis der Monduhr “
Das Geheimnis der Monduhr von Amanda BrookeAus dem Englischen von Annette Wetzel
Prolog
Die Zeiger der Uhr schoben sich übereinander, für den flüchtigen und unaufhaltsamen Augenblick, der einen Tag vom anderen trennt. Holly lag im Bett und strich zärtlich über ihren gewölbten Bauch, versuchte, das ungeborene Kind vor den Panikattacken zu schützen, die sie so regelmäßig überkamen, wie die Zeiger auf der Uhr vorrückten. Es kostete sie beträchtliche Mühe, sich vom Rücken auf die Seite zu wälzen. Behutsam und ohne das übliche Ächzen und Stöhnen schob sie ihren dicken Bauch zu Tom hin, der von ihr abgewandt leise schnarchte. Holly kuschelte sich näher an ihn, bis sie das vertraute Kitzeln seiner widerspenstigen Locken an der Nase spürte, und sog gierig seinen warmen, wohligen Duft ein.
»Ich liebe dich«, flüsterte sie kaum hörbar. So viele Nächte schon hatte sie wach neben ihm gelegen und dem Drang widerstanden, ihr Schweigen zu brechen und ihm zu sagen, dass der Tag, an dem sie ihn verlassen würde, immer näher rückte.
»Heute ist es so weit«, wisperte sie. »Du wirst Vater. Und ein ganz fantastischer sogar. Aber es wird nicht einfach sein. Du wirst bezweifeln, ob du die Kraft hast, unsere Tochter allein großzuziehen, aber die hast du. Du wirst böse auf mich sein, weil ich euch beide allein lasse, doch irgendwann wirst du verstehen, warum. Eines Tages siehst du deine Tochter an und weißt, was ich weiß - dass sich das Opfer gelohnt hat.«
... mehr
Tom bewegte sich unruhig im Schlaf, und sie hielt die Luft an. Sie durfte ihn nicht wecken, noch nicht. Sie versuchte, sich zu rechtfertigen, wollte aber nicht, dass er sie hörte. Das war einer der letzten offenen Punkte auf ihrer Liste. Das und die Geburt natürlich.
Holly hatte sich die letzten beiden Monate auf die Ankunft ihrer Tochter vorbereitet und, was genauso wichtig war, auf den Abschied von beiden. Tom liebte Hollys Leidenschaft für Pläne, eine Besessenheit, die fast ans Neurotische grenzte, aber selbst er wäre bestürzt, wenn er wüsste, wie gut sie auf diesen Tag vorbereitet war. Doch wie sollte sie sonst in Frieden sterben?
»Ich liebe dich«, wiederholte Holly. Eine Träne lief ihr über die Wange. Das Wissen, was mit ihr geschehen würde, belastete sie mehr als das Kind in ihrem Bauch. »Es tut mir leid, dass ich es dir nicht gesagt habe, nicht sagen konnte. Für mich ist die Situation schon schrecklich genug, aber du wärst daran verzweifelt. Ich habe mir die Entscheidung nicht leichtgemacht und dabei die bittere Erfahrung machen müssen, dass die beste Entscheidung nicht unbedingt die naheliegende ist. Und ich habe noch mehr gelernt. Ich habe gelernt, dass Liebe unvergänglich ist, manchmal auf höchst seltsame Weise. Ich verspreche dir, dass ich an deiner Seite bin, wenn du traurig bist und vor lauter Kummer nicht mehr weiterweißt.«
Sie seufzte auf, diesmal laut genug, um Tom zu wecken.
Schlaftrunken drehte er sich um. »Alles in Ordnung?«, murmelte er benommen und fuhr plötzlich erschrocken hoch. »Ist es so weit?«
»Noch nicht ganz«, beruhigte sie ihn mit einem wehmütigen Lächeln. Ihr blieb noch ein wenig Zeit.
Die Zeit war ihr Feind gewesen von dem Augenblick an, als sie in das Torhaus eingezogen waren. Eineinhalb Jahre war das jetzt her, und Hollys Gedanken kehrten unweigerlich wieder zu jenem folgenschweren Geschehnis zurück, als für sie der Wettlauf mit der Zeit begonnen hatte.
1
Holly schloss die Haustür und lehnte sich erschöpft dagegen. Erleichtert seufzte sie auf. Die Möbelpacker hatten wahre Wunder vollbracht und den leeren Kasten, den sie beide am Morgen vorgefunden hatten, in ein annehmbares Zuhause verwandelt. Das Haus war früher ein beeindruckendes Torhaus gewesen, das den Eingang zum stattlichen Landsitz Hardmonton Hall bewacht hatte.
Vom Herrenhaus selbst war nur noch eine ausgebrannte Ruine übrig geblieben, und für das Torhaus hatte sich niemand mehr interessiert, da es etwas außerhalb der kleinen Ortschaft Fincross lag. Trotz der grauen Steinmauern, die unter dem blätternden Putz zum Vorschein kamen, hatte Holly sich in das Haus verliebt. Es schien der ideale Ort zu sein, um sich niederzulassen, vielleicht für immer.
Von ihrem Platz an der Haustür warf Holly einen verstohlenen Blick in den großen Spiegel, der noch an der Wand lehnte und darauf wartete, aufgehängt zu werden.
Das Haus war im Lauf des Tages immer ansehnlicher geworden, während man das von ihr selbst nicht sagen konnte. Ihre langen blonden Haare, die sonst ihr eher durchschnittliches Aussehen herausrissen, waren zu einem nachlässigen Pferdeschwanz zurückgebunden. Von dem spärlichen Make-up, das sie morgens aufgelegt hatte, war kaum noch etwas übrig; und das Wenige hatte sich in die Fältchen um ihre blauen, mandelförmigen Augen verflüchtigt.
Sie hoffte, dass sie müde und nicht etwa alt aussah. Immerhin war sie erst neunundzwanzig und hatte das Gefühl, ihr Leben habe gerade erst angefangen. Tom und sie waren nun seit zwei Jahren verheiratet, und hier hatten sie beide zum ersten Mal ein eigenes Haus und die Möglichkeit, wirklich Wurzeln zu schlagen.
Sie kümmerte sich nicht weiter um ihr Spiegelbild und nahm lieber ihre neue Umgebung in Augenschein. Der Flur erstreckte sich durch das gesamte Haus, auf der linken Seite führte eine Tür zu einer kleinen Pförtnerloge, die Toms Arbeitszimmer werden sollte. Eine Tür auf der rechten Seite führte in ein geräumigeres Zimmer, das als Wohnzimmer vorgesehen war, die halb geöffnete Tür gab den Blick auf die vertrauten Möbelstücke in der fremden Umgebung frei. Das großstädtische Mobiliar stach auffallend von der altmodischen, geblümten Tapete und dem Dielenboden ab, aber Holly hatte ein Faible für alles Ausgefallene und liebte Stilbrüche.
»Ich bin die Liste durchgegangen, alles erledigt, soweit ich sehe«, sagte Tom, der in der Tür aufgetaucht war, die zur Küche führte.
In seinen abgetragenen Jeans und dem T-Shirt sah er sogar noch ramponierter aus als Holly. Sein Aufzug brachte weder seine große, sportliche Erscheinung zur Geltung, noch ließ sie etwas von seinem wohlgeformten Körper erahnen, der sich, wie Holly wusste, darunter versteckte. Im Unterschied zu ihr war dieser Stil bei Tom der Normalzustand. Er war viel zu sehr an der Welt und den Menschen interessiert, als dass er sich auch noch um sich selbst kümmern konnte. Was wahrscheinlich auch der Grund war, warum er ein so ausgezeichneter Journalist war. Seine verbindliche, offene Art, die nie die Grenze zur Anbiederung oder zur Taktlosigkeit überschritt, verschaffte ihm problemlos Zugang zu den Menschen.
Holly hatte der Versuchung widerstanden, ihn herauszuputzen, nicht zuletzt, weil ihr der Kontrast zu ihrer eigenen Erscheinung gefiel. Holly war bildende Künstlerin, und wenn sie nicht gerade knöcheltief in Gips und Farbe steckte, kleidete sie sich mit Vorliebe in einer eigenwilligen Mischung aus klassischen und modischen Teilen, ein Stil, der sich auch in ihren Kunstwerken widerspiegelte. Der zweite Grund, warum sie Toms nachlässiges Äußeres tolerierte, war absolut eigennützig. Er war beruflich viel unterwegs, und wenn er auf die Damenwelt nicht allzu großen Eindruck machte, umso besser.
»Welche Liste?«, erkundigte Holly sich misstrauisch. »Es gibt noch jede Menge zu tun. Wir werden noch Wochen brauchen, bis alles ausgepackt und verstaut ist, vom Renovieren ganz zu schweigen.«
»Nicht die Umzugsliste«, winkte Tom ab. »Die Liste«. Er näherte sich langsam, wobei er ein unsichtbares Blatt Papier in seiner ausgestreckten linken Hand musterte, und blieb einen Schritt vor ihr stehen.
»Dir ist klar, dass deine Hand leer ist?«, fragte Holly.
Tom beachtete sie nicht. »Freund finden. Erledigt! Galerie finden, um Kunstwerke auszustellen. Erledigt! Heiraten. Erledigt! Kundenstamm aufbauen, um besagte Kunstwerke zu verkaufen. Erledigt! Ausreichendes Einkommen, um davon leben zu können. Erledigt!« Bei jedem »Erledigt!« setzte Tom mit dem rechten Zeigefinger wie mit einem unsichtbarerem Stift einen Haken hinter den jeweiligen Posten.
»Und zum Schluss?«, lächelte Holly, die die Antwort schon kannte.
Tom trat einen Schritt näher. »Aufs Land ziehen und bis ans selige Ende dort leben.«
»Erledigt«, flüsterte Holly, bevor Tom sie küsste.
Es dauerte unanständig lange, bis Tom Luft holte. »Gehe ich recht in der Annahme, Mrs Corrigan, dass Sie ihr Soll schon ein halbes Jahr im Voraus erfüllt haben?«
»Sie liegen goldrichtig, Mr Corrigan antwortete Holly selbstgefällig.
Selbstgefällig war vielleicht nicht der richtige Ausdruck. Von ganzem Herzen dankbar passte besser. Holly hatte sich in den vergangenen fünf Jahren mächtig ins Zeug gelegt, aber den Mann ihrer Träume und den Erfolg als Künstlerin hatte sie eher dem Glück als der Planung zu verdanken. Um genau zu sein, einem betrunkenen Steuerberater.
Als Fünfundzwanzigjährige hatte sie sich mit zahllosen Aushilfsjobs durchgeschlagen, um überhaupt über die Runden zu kommen. Die Kunsthochschule hatte sie mit diversen Auszeichnungen, aber ohne konkrete Ideen verlassen, wie sie mit ihrem Talent Geld verdienen sollte. Sie hatte sich ihr Studium mühsam erkämpft, doch nach dem Abschluss verschlangen die vielen Aushilfsjobs, die sie gleichzeitig unterhielt, so viel Zeit, dass die Bildhauerei zu einem Luxus wurde, den sie sich kaum leisten konnte, von der nötigen Muße und dem fehlenden Antrieb ganz zu schweigen.
Die Erleuchtung erschien eines Abends in Gestalt eines Büromenschen um die vierzig, der in angeheitertem Zustand in die Hinterhofkneipe stolperte, in der sie arbeitete. Nach mehreren Anläufen schaffte es ihr Held auf einen Barhocker und belegte sie unvermittelt mit einem weitschweifigen Monolog über seine fabelhafte Karriere - dass er kürzlich erst in einer der großen Steuerkanzleien befördert worden sei. Erst als der Mann in seinem Rausch behauptete, er habe das alles einem Fünfjahresplan zu verdanken, wurde Holly aufmerksam. Plötzlich wurde ihr bewusst, wie ziellos sie selber durchs Leben stolperte. Wenn sogar dieser lächerliche Trunkenbold Erfolg hatte, warum sollte sie es nicht auch schaffen? In der Nacht darauf konnte sie nicht einschlafen, bis sie schließlich schwarz auf weiß die Ziele notiert hatte, die sie in den nächsten fünf Jahren erreichen wollte.
Ein Jahr später hatte Holly ihr Leben umgekrempelt. Die diversen Aushilfsjobs hatte sie gegen eine feste Stelle beim Fernsehen eingetauscht, wo sie hinter den Kulissen bei der Produktion assistierte und ihre Fähigkeiten sinnvoll einsetzen konnte. Außerdem blieb ihr noch genügend freie Zeit für ihre Skulpturen. Und hin und wieder bekam sie sogar einen Auftrag von einer Kunstgalerie und konnte etwas Geld dazuverdienen.
Der zweite Punkt auf ihrer Liste betraf ihr Privatleben. Tom tauchte vorzeitig auf, eigentlich war er nicht vor dem dritten Jahr eingeplant. Er war zu einem Bewerbungsgespräch ins Fernsehstudio gekommen und verließ es ein paar Stunden später nicht nur mit einem neuen Job, sondern auch mit einer neuen Freundin.
Vor lauter Begeisterung, von nun an als freier Korrespondent für Umweltthemen arbeiten zu können, hatte er eine Spritztour durch das Studio unternommen, aus der schnell ein endloser Irrweg durch ein Labyrinth geworden war. In der Requisitenabteilung war er schließlich Holly in die Arme gelaufen.
Tom Corrigan entsprach keineswegs dem Ehemann, den sie sich vorgestellt hatte. Rein äußerlich konnten sie nicht unterschiedlicher sein. Er war groß und dunkel, ein attraktiver Mann, neben dem sie wie eine graue Maus wirkte. Außerdem waren sie vom Wesen her grundverschieden. Sie plante, er nicht. Sie war auf Misserfolge gefasst und kalkulierte sie ein, Tom sah in jeder Schlappe eine neue Chance. Sie gab zu, wenn sie Hilfe brauchte. Tom, der Mann, dem man soeben die Gelegenheit gegeben hatte, um die ganze Welt zu reisen, wollte um keinen Preis eingestehen, dass er sich verirrt hatte. Nachdem er Holly auf seiner schicksalsträchtigen Tour durchs Studio über den Weg gelaufen war, hielt er das Geständnis für überflüssig, dass er die Orientierung verloren hatte, lungerte stattdessen herum und bot ihr seine Hilfe an, bis sie Feierabend machen konnte. Und dann würde er sie, bitte schön, zum Essen einladen.
»Das Räderwerk ist bereits wieder angeworfen, ich sehe es dir an«, warnte Tom. »Ist der nächste Fünfjahresplan schon in Arbeit?«
»Ich bin so weit zufrieden mit der Abarbeitung meiner gegenwärtigen Liste, danke der Nachfrage«, sagte Holly. »Auspacken, renovieren, mein neues Atelier einrichten, von meinem Auftrag für Mrs Bronson ganz zu schweigen.«
»So weit zufrieden?«, hakte Tom in gespielter Empörung nach.
Holly musste lächeln. »Überaus zufrieden. Überaus glücklich, glücklicher geht's nicht.«
»Glücklicher geht's nicht?«
»Hör auf«, schimpfte Holly. »Wollen wir hier im Flur Wurzeln schlagen und über den Grad meines Glücks diskutieren oder es uns lieber woanders gemütlich machen?«
»Gute Idee. Wie wär's, wenn ich den Champagner hole und wir uns pünktlich in zwei Minuten im Schlafzimmer wieder treffen?«
»Hört sich fast wie ein Plan an«, bemerkte Holly, aber Tom war schon auf dem Weg in die Küche.
Am nächsten Morgen fanden Tom und Holly so schwer aus dem Bett, wie sie am Abend zuvor nicht schnell genug hatten hineinhüpfen können. Tom hatte sich vierzehn Tage freigenommen, so dass kein Wecker sie aufscheuchte, keine Morgenroutine absolviert werden musste. Nichts Wichtiges stand an - nur die Kartons auspacken und das neue Heim in Besitz nehmen.
Vom Bett aus sah man aus dem Fenster, das bis zum Boden reichte. Der Blick reichte über eine große Wiese, die an einen weitläufigen Obstgarten grenzte, und dahinter breitete sich die englische Landschaft aus. Es war ein klarer Frühlingsmorgen, und die Sonne gab sich alle Mühe, die neuen Bewohner des Torhauses aus dem Tiefschlaf zu erwecken. Das Licht der Sonne zeichnete Muster auf den weißen Baumwollgardinen, tanzte über die blassblauen Wände, huschte über den gebohnerten Dielenfußboden und kroch langsam über Hollys Gesicht und kitzelte sie wach.
Ihre Gedanken sortierten sich augenblicklich zu einer Liste aller Arbeiten, die anstanden, eine dringender als die andere. Sie verscheuchte diese Gedanken, indem sie im Geiste die Seiten ihrer neuen Liste zusammenfaltete. Sollten sie warten. Holly wollte sich wenigstens einen einzigen Tag mit ihrem Mann und ihrem neuen Zuhause gönnen, an dem nur ihre eigenen Bedürfnisse zählten. Denn in den kommenden Monaten würde sie Tom nicht oft zu sehen bekommen, und die Zeit zu zweit war kostbar.
Sie hatten kaum den Kaufvertrag für das Haus unterzeichnet, für das vor allem die Tatsache gesprochen hatte, dass man nach London pendeln konnte, als Tom eine neue Stelle angeboten wurde. Ein Angebot, das er unmöglich ausschlagen konnte, zumal der Sender bei einer Umstrukturierung harte Schnitte gemacht hatte und Tom mit einem blauen Auge davongekommen war. Auch wenn er in Zukunft mehr vor der Kamera arbeiten musste, sich neben den Umweltthemen auch mit Politik befassen und mit größeren Reportageaufträgen im Ausland rechnen musste, war er wenigstens nicht arbeitslos geworden. Ein solcher Auslandseinsatz kam schneller als gedacht. Sein erster Auftrag führte ihn gleich für sechs Wochen nach Belgien, was die Pendelstrecke ein wenig länger gestaltete, als sie es sich vorgestellt hatten.
»Bist du wach?«, fragte Tom.
»Hm«, brummte Holly und drehte sich zu ihm um, so dass ihre Nasen sich berührten.
»Puh, du riechst nach ungeputzten Zähnen«, neckte Tom sie.
»Du hast gut reden, du riechst wie ein Mann.«
»Danke.«
»Ich war noch nicht fertig«, belehrte ihn Holly. »Du riechst wie ein Mann, der die ganze Nacht den versifften Läufer in einer fiesen alten Kneipe abgeleckt hat. Das Zeug klebt noch an deiner Zunge, ich seh's.«
»Du willst also keinen Kuss?«
»Wenn du meine ungeputzten Zähne aushältst ...«, lachte Holly und hauchte ihm absichtlich jedes Wort mitten ins Gesicht.
»Wenn du das Risiko in Kauf nimmst, den Mund voller versiffter Teppichflusen zu haben, ist es einen Versuch wert.«
»Ich hatte schon Schlimmeres im Mund.«
»Was du nicht sagst!«, grinste Tom.
»Du hast nicht nur eine dreckige Zunge, sondern auch eine dreckige Fantasie.«
Tom rückte näher an Holly, ließ seine Hand über ihren Körper gleiten und schob seine Beine zwischen ihre. Ein eingespieltes, vertrautes Manöver.
»Ich kenn auch ein paar dreckige Sachen, soll ich?«, bot Tom an.
Holly schlang die Arme um seinen Hals und ließ ihre Finger über sein Rückgrat gleiten. Hinter der dunklen Silhouette seines Körpers konnte sie die tanzenden Flecken der Morgensonne auf seinem Rücken erahnen.
»Wie dreckig?«
»Nun ja ...« Tom dehnte jedes Wort genüsslich in die Länge, dann lächelte er. Oder war es ein spöttisches Grinsen? »Ich rede hier nicht über Fünfjahrespläne.«
»Das will ich hoffen«, erwiderte Holly. Sie musterte den Umriss seines Mundes, die feuchten Lippen, die Zungenspitze. Sie presste herausfordernd ihren Körper an seinen.
»Keine Sorge«, sagte Tom und reagierte nicht auf ihr unverhohlenes Verlangen. »Auch nicht über sieben Jahre.« Er küsste ihre Nasenspitze. »Nicht mal über zehn.«
Holly fuhr ihm durch die üppigen Locken. Sie beugte sich vor, um ihn zu küssen, aber er wich ihr aus.
»Es geht eher um die nächsten zwanzig Jahre. Nein, zum Teufel, ich bin so pervers, dass ich an vierzig Jahre denke.«
»Ja, du hast nicht alle Tassen im Schrank, Tom Corrigan «, bestätigte Holly. Ihr Körper bebte vor Verlangen, und sie wand sich erregt unter seinem Gewicht.
»Ich denke an ein Projekt, mit dem wir alt und senil werden, in diesem Haus, umgeben von unserer Familie, unseren Kinder, unseren Kindeskindern und vielleicht den Kindern unserer Kindeskinder.«
Für den Bruchteil einer Sekunde wurde Holly stocksteif. Sie zwinkerte heftig, um die Angst zu verscheuchen, die in ihr aufflackerte. Sie zwang sich zu einem Lächeln, in der Hoffnung, dass Tom ihre Reaktion nicht bemerkt hatte, aber ihre Leidenschaft war verflogen.
»Was ist?« Tom sah sie mit einem eigenartigen Blick an, der sie mitten ins Herz traf. »Hast du solche Angst davor, Kinder zu haben?«
»Nein«, log Holly.
»Doch«, beharrte Tom, wälzte sich auf die Seite und stützte den Arm auf. Auch ihm war plötzlich jede Lust vergangen.
»Ich will schon Kinder haben«, beharrte sie. »Ich kann mir mich nur so schlecht als Mutter vorstellen.«
»Du willst mir Kinder schenken. Das ist was anderes, als selber Kinder zu wollen«, stellte Tom in einer Mischung aus Sorge und Enttäuschung fest. »Aber du wirst bestimmt eine gute Mutter werden. So was ist schließlich nicht erblich. «
Tom spielte damit auf ihre Kindheit an. Holly stammte aus äußerst schwierigen Familienverhältnissen, die schon lange vor der Scheidung ihrer Eltern zerrüttet waren. Ihre Mutter war von zu Hause ausgezogen, als Holly erst acht Jahre alt gewesen war, und sie erinnerte sich, wie die Erleichterung damals größer gewesen war als das Gefühl, verlassen worden zu sein. Ihre Mutter hatte seltsame Vorstellungen, was ihre Mutterrolle anging, und ersetzte Liebe durch Brutalität, Fürsorge durch Bitterkeit und Hohn. Nach der Scheidung sah Holly ihre Mutter nur noch gelegentlich, und als sie ein junges Mädchen geworden war, hatte ihre Mutter sich bereits zu Tode getrunken. Ihr Vater dagegen war unnahbar und zeigte nicht das geringste Interesse an seiner Tochter, was auf andere Weise ebenso brutal war. Holly musste selber sehen, wie sie zurechtkam, und als sie mit achtzehn in eine Studentenbude zog, brach sie jeden Kontakt ab und kam nicht einmal zu seiner Beerdigung.
»Ich weiß, es ist nicht erblich, aber man wird von den Verhältnissen geprägt. Du weißt gar nicht, was für ein Glück du mit deiner Familie hast. Deine ist so ... so ...« Holly fand nicht die richtigen Worte. Tom wusste zwar über ihre Kindheit Bescheid, aber er würde niemals nachempfinden können, was es hieß, ohne die Sicherheit einer liebevollen Familie aufzuwachsen. »Sie ist so ohne Brüche«, brachte sie schließlich heraus.
»Ohne Brüche?« Tom lachte. »Was meinst du damit?«
»Du hast eine Mutter und einen Vater, die dich lieben und zu dir stehen, und sie hatten Eltern, die sie liebten und zu ihnen standen. Deine Großeltern hatten bestimmt auch fabelhafte Eltern und so weiter und so fort, über Generationen weitergegeben.«
In Hollys Augen waren Toms Eltern fabelhaft. Manchmal konnte sie es kaum fassen, wie selbstverständlich sie in die Familie aufgenommen worden war und wie eine eigene Tochter geliebt wurde. Für Holly war es ein mühsamer und aufwühlender Lernprozess gewesen, Teil einer traditionellen Familienstruktur zu sein. Als kürzlich Toms Großmutter Edith gestorben war, hatte sie unmittelbar miterlebt, wie sie funktionierte: wie alle sich gegenseitig aufrichteten, wie die Liebe, mit der alle an Edith hingen, gleichsam eine Brücke über die Leere spannte, die ihr Tod hinterlassen hatte.
»So perfekt sind wir nun auch wieder nicht«, meinte Tom. »Bei uns gibt es auch das berühmte schwarze Schaf in der Familie.«
»Doch, doch. Im Vergleich zu meiner Familie seid ihr perfekt.« Holly berührte zärtlich Toms Wange. »Und wenn ich nun das schwache Glied bin, das die Kette in eurer Familie brechen lässt? Wenn ich es nicht schaffe, die Sorte Mutter zu werden, die deine Familie über Generationen hervorgebracht hat?«
»Du bist doch nicht schwach. Deine Eltern waren schwach, ja, und das hat dich geprägt, aber es hat genau das Gegenteil bewirkt. Du bist der stärkste Mensch, den ich kenne. Deine Eltern haben ihre Aufgabe denkbar schlecht erfüllt, doch genau das wird dich zur besten Mutter machen, die man sich vorstellen kann. Glaub mir.«
Tom wirkte plötzlich angespannt, und Holly spürte seinen wachsenden Groll. Groll, der sich gegen ihre Eltern, aber auch gegen sich selbst richtete, weil er nicht in der Lage war, ihre Wunden zu heilen und die Dämonen ihrer Vergangenheit zu bannen.
»Ich weiß, es fehlt mir an Selbstvertrauen«, gab Holly zu, obwohl sie bezweifelte, dass sich daran jemals etwas ändern würde. Aber Tom würde keine Ruhe geben, bis sie ihren nächsten Fünfjahresplan aufgestellt und den Punkt darin untergebracht hatte. Nicht dass er auf Pläne angewiesen war. Er war eher ein spontaner Mensch, der die Dinge auf sich zukommen ließ, doch er war bereits zweiunddreißig und wollte unbedingt Kinder haben oder zumindest wissen, ob er eines Tages welche haben würde.
Hollys Augen füllten sich mit Tränen, das Sonnenlicht um Toms Kopf verschwamm zu einem unscharfen Heiligenschein. Nur seine blassgrünen Augen konnte sie noch deutlich erkennen.
»He, du weinst ja«, sagte Tom erschrocken.
Holly zwinkerte, um die Tränen zu vertreiben. »Ich weine nicht«, log sie trotzig.
»Ach ja. Du weinst ja nie. Hab ich ganz vergessen.«
»Ich weine schon. Nicht jetzt, aber manchmal weine ich schon.«
»Wann?«
Holly zögerte und suchte fieberhaft nach einem Beweis aus der jüngsten Vergangenheit. »Dieser Film neulich, wo der Hund gestorben ist.«
Tom runzelte die Stirn, als er in seinem Gedächtnis kramte. Dann prustete er vor Lachen. »Das muss schon über zwei Jahre her sein, da waren wir noch nicht mal verheiratet, glaube ich.«
»Aber ich habe geweint, basta.«
»Okay. Basta.«, gab Tom nach. »Hör zu, ich will dich zu nichts drängen, was du nicht selber willst. Ich hatte gehofft, dass du auf den Geschmack kommen würdest, als Lisa und dann Penny ihre Babys gekriegt haben, aber ich sehe, dass die Sache komplizierter ist. Wenn du noch keine Lust auf das Thema Kinder hast, verstehe ich das.«
Lisa und Penny waren in London ihre engsten Freundinnen gewesen. Sie hatten im selben Jahr ihre Kinder bekommen. Es war Holly nicht entgangen, wie enttäuscht Tom gewesen war, als sie beim Anblick der Säuglinge nicht wie durch Zauberkraft Muttergefühle entwickelt hatte. Er ahnte sicher nicht, dass ihre Begeisterung, aufs Land zu ziehen, zum Teil auch damit zu tun hatte, dem endlosen Babygeschwätz zu entrinnen, das offenbar jedes vernünftige Gespräch mit ihren Freundinnen ersetzt hatte.
»Lass mich erst das Haus fertig einrichten, dann können wir den nächsten Fünfjahresplan machen. Diesmal wird definitiv unser gemeinsames Projekt ›Baby‹ auf der Liste stehen«, sagte sie.
»Baby? Nur eins?«, sagte Tom. Die Spannung war von ihm abgefallen, und er war wieder zu Scherzen aufgelegt. »Hier, sieh dir diesen Körper an. Die beste Babyproduktionsmaschine aller Zeiten. Da wirst du schon vom bloßen Hinsehen schwanger.«
»Halt die Luft an, Tiger«, lachte Holly und entspannte sich auch. »Ich glaube, deine Babyproduktionsmaschine könnte noch ein bisschen Übung vertragen.«
»Dein Wunsch ist mir Befehl.«
Es war bereits Mittag, als sie endlich dazu kamen, ihr neues Heim in Augenschein zu nehmen.
Die Tage vergingen wie im Flug, und Toms Abreise rückte unerbittlich näher. Alles war ausgepackt und geputzt, und Unbrauchbares war durch Neues ersetzt worden, jedenfalls soweit sie es sich leisten konnten. Was an Ersparnissen noch übrig war, hatten sie bereits für die Renovierung eines kleinen Nebengebäudes beiseitegelegt, das Hollys Atelier werden sollte.
Toms Eltern waren zu Besuch gekommen, die Arme voller Geschenke, und hatten sogar mit angepackt, um das Torhaus in ein gemütliches Heim zu verwandeln. Bezeichnenderweise waren Diane und Jack gerade lange genug geblieben, um eine Hilfe zu sein, sie hatten ihren Besuch aber nicht unnötig in die Länge gezogen. Sie wussten auch ohne Worte, dass Holly und Tom die vierzehn Tage, die ihnen noch blieben, für sich selber brauchten.
Vor der Abfahrt hatte Diane dafür gesorgt, dass die Küche betriebsbereit und mit allem, was man zum Kochen brauchte, ausgestattet war. Sie war ganz erpicht darauf, Holly bei einem ihrer neuen Projekte unter die Arme zu greifen. Holly wollte kochen lernen. Ihr Vater hatte ihr nur das Nötigste beigebracht, vermutlich vor allem, um seine eigene Versorgung sicherzustellen, aber diese Grundlagen beschränkten sich darauf, wie man Doseneintöpfe öffnete, wie man Löcher in die Folie piekste, bevor man das Fertigessen in die Mikrowelle schob, wie man Instantnudeln zubereitete und dergleichen. Jetzt, wo Holly und Tom außerhalb jeglicher Reichweite bequemer Fastfood-Imbisse und Restaurants an jeder Straßenecke lebten, wollte Holly unbedingt richtig kochen lernen. Mit dem Umzug aufs Land sollte sich mehr ändern als nur ihre Adresse; auch ihre Lebensgewohnheiten sollten anders werden.
»Ein bezauberndes Haus, Holly. Jack und ich freuen uns sehr für euch«, sagte Diane, als sie mit Holly eine schwindelerregende Sammlung von Küchenutensilien auspackte. »Und Mum hätte auch ihre Freude. Es tröstet uns ein bisschen, dass ihr das Erbe so gut gebrauchen und damit das Haus kaufen konntet.«
»Nur schade, dass Grandma Edith nicht hier ist und sehen kann, wie gut ihr Geld angelegt ist. Für Tom und mich ist es wichtig zu wissen, dass ihr einverstanden seid, wie wir die Erbschaft verwendet haben.«
»Das ist eine Investition in die Zukunft. Es ist euer gemeinsamer Anfang. Hier werdet ihr eure Familie gründen. «
Diane nahm Holly in die Arme und konnte die dunkle Wolke nicht sehen, die über Hollys Gesicht huschte. Holly hätte auch gerne etwas von dem Selbstvertrauen gehabt, an dem es den Corrigans offenbar allen nicht mangelte.
Drei Tage vor Toms geplanter Abreise hatte Holly ihre Aufgabenliste abgearbeitet, und das Haus war in einem bewohnbaren Zustand. Die Handwerker hatten bereits ihre Arbeit im Nebengebäude aufgenommen. Während Holly sich zufrieden zurücklehnte und ihnen einfach zusah, empfand Tom die Handwerker offenbar als eine Art Angriff auf seine Männlichkeit und stürzte sich ebenfalls in körperliche Arbeit, indem er dem verwilderten Garten zu Leibe rückte.
Holly überließ den Männern das Feld und blieb im Haus, um mit den Entwurfszeichnungen für ihren neuen Auftrag zu beginnen. Mrs Bronson war die junge Ehefrau eines sehr wohlhabenden und sehr viel älteren Mannes. Die Geburt ihres ersten gemeinsamen Kindes wollte Mrs Bronson mit einer Skulptur würdigen und damit angesichts der zahlreichen Kinder, die ihr Mann in diversen früheren Ehen und Affären gezeugt hatte, ein Zeichen setzen. Es sollte ein relativ großes Kunstwerk werden und in der Eingangshalle ihrer Nobelvilla einen schwer zu übersehenen Platz finden.
Das Thema war natürlich Mutter und Kind. Angesichts des Sujets hätte Holly den Auftrag, der bestimmt ein halbes Jahr in Anspruch nehmen würde, am liebsten abgelehnt, aber die Bezahlung war einfach zu verlockend.
Sie hatte sich am Morgen ihre Skizzenbücher bereitgelegt, voller guter Absichten, doch ohne jegliche Inspiration. Geld allein ließ ihre Kreativität nicht sprudeln. Ihr fehlte einfach das Einfühlungsvermögen, auf das sie sonst zurückgreifen konnte. Von der geheimnisvollen Bindung zwischen Mutter und Kind, von der alle Welt unentwegt redete, hatte sie nicht die geringste Ahnung.
Holly konnte sich nicht erinnern, als Kind jemals etwas von dieser Art Bindung empfunden zu haben. Die entscheidenden Jahre hatte sie nur Einsamkeit und Angst gespürt. Ihre Mutter war noch keine zwanzig gewesen, als sie schwanger wurde. Eine überstürzte Heirat und ein ungewolltes Kind machten ihr einen Strich durch die Rechnung, und sie war nicht in der Lage oder willens, ihre Unabhängigkeit aufzugeben.
Mit einem kleinen Kind, um das sie sich kümmern musste, war das gesellschaftliche Leben ihrer Mutter stark eingeschränkt, so dass sie ihr Bohemeleben, von dem sie nicht lassen wollte, kurzerhand nach Hause verlegte. Holly konnte sich noch gut an all die Schmarotzer erinnern, die sich im Haus eingenistet hatten, um sich von einer Party zu erholen oder auf die nächste zu warten. Ihre Mutter stand immer im Mittelpunkt, tänzelte barfuss durchs Haus, mit oder ohne Musik im Hintergrund. Wenn sie tanzte, wirkte sie am glücklichsten und zog die Menschen in ihren Bann, auch Holly, wie das Licht die Motten, und jeder wollte sich in ihrem Glanz sonnen. Holly meinte sich erinnern zu können, wie ihre Mutter sie einmal geschnappt und zu ihrem Entzücken im Zimmer herumgewirbelt hatte, aber Holly war sich nicht sicher, ob es sich wirklich so zugetragen hatte. Möglicherweise war es nur die Erinnerung an einen Wunschtraum. Die verlässlichen Erinnerungen sahen anders aus: Ihre Mutter unterbrach ihren Tanz, zeigte vorwurfsvoll mit dem Finger auf ihre Tochter und erklärte der versammelten Meute, dass dieses Geschöpf ihr Leben ruiniert habe. Aus ihrer Miene sprach offene Abscheu, und das war das Bild, das Holly vor Augen stand, wenn sie ans Mutterwerden dachte.
Bis sie mit Tom zusammenkam, kannte sie verantwortungsvolle Eltern nur vom Hörensagen. Als kleines Mädchen hatte sie keinen Kontakt zu anderen Kindern, deren Eltern Holly wegen ihres Elternhauses bereits als Problemkind abgestempelt hatten. Als Jugendliche fühlte sie sich dann von all den anderen verwaisten, vorzeitig aus dem Nest gefallenen Küken angezogen. Ihre Kunst war in mehrfacher Hinsicht ihr Rettungsanker geworden. Eine Art Fluchtburg, ein Platz in ihrem Leben, wo sie nicht hilflos ausgeliefert war, wo sie etwas leisten konnte, und die, wie sich im Nachhinein zeigte, zugleich eine erfolgreiche Therapie war. In ihren frühen Arbeiten hatte sie eine Menge Aggressionen verarbeitet, und erst als sie Tom kennenlernte, entdeckte sie, dass sie auch positive Gefühle in ihrer Kunst zum Ausdruck bringen konnte. Die Liebe zwischen Mann und Frau war ihr inzwischen ein Begriff, die zwischen Mutter und Kind aber nicht. Ein leeres Blatt Papier, im wahrsten Sinn des Wortes.
Zwei Stunden lang hatte sie mechanisch Skizzen angefertigt, ohne einen einigermaßen originellen oder aussagekräftigen Entwurf zustande zu bringen. Sie hatte ein paar naheliegende Motive skizziert, eine Mutter mit ihrem Kind auf dem Arm, eine Mutter, die ihr Kind stillt, eine Mutter, die ihr Kind küsste. In ihrer Verzweiflung hatte sie sogar den Augenblick der Geburt skizziert, was Mrs Bronson aber mit Sicherheit nicht als Willkommensgruß in ihrer Eingangshalle vorschwebte.
Holly hatte in einer knappen Woche einen Termin mit Mrs Bronson, und sie erwog inzwischen ernsthaft, die Sache ganz abzublasen. Wenn es so weiterlief, und sie ein mittelmäßiges Werk ablieferte, würde das ihrer Karriere, die ohnehin in den Kinderschuhen steckte, nur schaden. Auf der anderen Seite wäre ein Vertragsbruch genauso fatal für ihren Ruf.
Holly legte den Skizzenblock beiseite und machte sich auf den Weg in die Küche. Der Raum war groß genug, dass man einen Esstisch in die Mitte stellen konnte. Man sollte annehmen, dass das Nebengebäude Holly ins Auge gestochen war, aber es war letztlich die Küche, die für sie und Tom den Ausschlag gegeben hatte, das Anwesen zu kaufen. Die Einbauten aus Holz waren weiß gestrichen, die Wände grün, und der Terrakottaboden setzte sich auch draußen auf der Terrasse fort, hinter der der riesige, ziemlich verwilderte Garten begann, der in die freie Landschaft überging.
Holly spähte aus dem Küchenfenster in der Hoffnung, Tom zu entdecken. Vor lauter Büschen und Bäumen war er nicht zu sehen, doch knackende Äste und gelegentliche Flüche verrieten, wo er steckte. Am liebsten hätte sie ihn ein wenig kontrolliert, aber sie zwang sich zum Gemüse- putzen und machte sich an die Arbeit, Tom und die Handwerker als Versuchskaninchen mit einem Eintopf zu überraschen.
»Was soll das denn werden?«
Holly fuhr vor Schreck zusammen und hätte mit dem Messer fast ihren Finger statt die Karotte erwischt. Zwei Arme schlossen sich um ihre Taille. Tom hatte sie vom Garten aus gesehen und war ins Haus geschlichen.
»Ich warne dich«, sagte Holly und fuchtelte mit dem Küchenmesser in der Luft herum. »Bewaffnete Frauen zu erschrecken ist gefährlich.«
»Du bist immer gefährlich. Du kannst mich immer kleinkriegen, mit oder ohne Messer.« Er beugte sich vor und küsste ihren Nacken.
»Keine Ablenkungsmanöver! Ich möchte, dass der Garten tipptopp aussieht, wenn du hier den Abflug machst.«
»Mensch, jetzt guck doch erst mal«, schnappte Tom empört nach Luft. »Sieht doch schon ganz anders aus, oder?«
Holly spähte in den Garten hinaus, indem sie die Augen mit einer Hand beschattete. »Nein, überhaupt nicht«, lachte sie.
»Ich habe Berge von Gestrüpp aufgetürmt. Ich bin sogar deinem kleinen Dickicht zu Leibe gerückt.«
»Da gilt dieser Mann als Meister der Schreibkunst und vergreift sich immer wieder im Ton mit seinen kindischen Anspielungen. Und der Garten sieht für meine Begriffe immer noch wüst aus.«
»Na ja, wenn der ganze Gartenabfall mal weggeschafft ist, sieht er sicher besser aus«, brummte Tom gekränkt. »Ich bräuchte nur jemanden, der die Handwerker mit seinem weiblichen Charme bezirzt, damit sie mir beim Aufräumen helfen.«
»Wie du vielleicht bemerkt hast, bin ich beschäftigt.
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2012 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Tom bewegte sich unruhig im Schlaf, und sie hielt die Luft an. Sie durfte ihn nicht wecken, noch nicht. Sie versuchte, sich zu rechtfertigen, wollte aber nicht, dass er sie hörte. Das war einer der letzten offenen Punkte auf ihrer Liste. Das und die Geburt natürlich.
Holly hatte sich die letzten beiden Monate auf die Ankunft ihrer Tochter vorbereitet und, was genauso wichtig war, auf den Abschied von beiden. Tom liebte Hollys Leidenschaft für Pläne, eine Besessenheit, die fast ans Neurotische grenzte, aber selbst er wäre bestürzt, wenn er wüsste, wie gut sie auf diesen Tag vorbereitet war. Doch wie sollte sie sonst in Frieden sterben?
»Ich liebe dich«, wiederholte Holly. Eine Träne lief ihr über die Wange. Das Wissen, was mit ihr geschehen würde, belastete sie mehr als das Kind in ihrem Bauch. »Es tut mir leid, dass ich es dir nicht gesagt habe, nicht sagen konnte. Für mich ist die Situation schon schrecklich genug, aber du wärst daran verzweifelt. Ich habe mir die Entscheidung nicht leichtgemacht und dabei die bittere Erfahrung machen müssen, dass die beste Entscheidung nicht unbedingt die naheliegende ist. Und ich habe noch mehr gelernt. Ich habe gelernt, dass Liebe unvergänglich ist, manchmal auf höchst seltsame Weise. Ich verspreche dir, dass ich an deiner Seite bin, wenn du traurig bist und vor lauter Kummer nicht mehr weiterweißt.«
Sie seufzte auf, diesmal laut genug, um Tom zu wecken.
Schlaftrunken drehte er sich um. »Alles in Ordnung?«, murmelte er benommen und fuhr plötzlich erschrocken hoch. »Ist es so weit?«
»Noch nicht ganz«, beruhigte sie ihn mit einem wehmütigen Lächeln. Ihr blieb noch ein wenig Zeit.
Die Zeit war ihr Feind gewesen von dem Augenblick an, als sie in das Torhaus eingezogen waren. Eineinhalb Jahre war das jetzt her, und Hollys Gedanken kehrten unweigerlich wieder zu jenem folgenschweren Geschehnis zurück, als für sie der Wettlauf mit der Zeit begonnen hatte.
1
Holly schloss die Haustür und lehnte sich erschöpft dagegen. Erleichtert seufzte sie auf. Die Möbelpacker hatten wahre Wunder vollbracht und den leeren Kasten, den sie beide am Morgen vorgefunden hatten, in ein annehmbares Zuhause verwandelt. Das Haus war früher ein beeindruckendes Torhaus gewesen, das den Eingang zum stattlichen Landsitz Hardmonton Hall bewacht hatte.
Vom Herrenhaus selbst war nur noch eine ausgebrannte Ruine übrig geblieben, und für das Torhaus hatte sich niemand mehr interessiert, da es etwas außerhalb der kleinen Ortschaft Fincross lag. Trotz der grauen Steinmauern, die unter dem blätternden Putz zum Vorschein kamen, hatte Holly sich in das Haus verliebt. Es schien der ideale Ort zu sein, um sich niederzulassen, vielleicht für immer.
Von ihrem Platz an der Haustür warf Holly einen verstohlenen Blick in den großen Spiegel, der noch an der Wand lehnte und darauf wartete, aufgehängt zu werden.
Das Haus war im Lauf des Tages immer ansehnlicher geworden, während man das von ihr selbst nicht sagen konnte. Ihre langen blonden Haare, die sonst ihr eher durchschnittliches Aussehen herausrissen, waren zu einem nachlässigen Pferdeschwanz zurückgebunden. Von dem spärlichen Make-up, das sie morgens aufgelegt hatte, war kaum noch etwas übrig; und das Wenige hatte sich in die Fältchen um ihre blauen, mandelförmigen Augen verflüchtigt.
Sie hoffte, dass sie müde und nicht etwa alt aussah. Immerhin war sie erst neunundzwanzig und hatte das Gefühl, ihr Leben habe gerade erst angefangen. Tom und sie waren nun seit zwei Jahren verheiratet, und hier hatten sie beide zum ersten Mal ein eigenes Haus und die Möglichkeit, wirklich Wurzeln zu schlagen.
Sie kümmerte sich nicht weiter um ihr Spiegelbild und nahm lieber ihre neue Umgebung in Augenschein. Der Flur erstreckte sich durch das gesamte Haus, auf der linken Seite führte eine Tür zu einer kleinen Pförtnerloge, die Toms Arbeitszimmer werden sollte. Eine Tür auf der rechten Seite führte in ein geräumigeres Zimmer, das als Wohnzimmer vorgesehen war, die halb geöffnete Tür gab den Blick auf die vertrauten Möbelstücke in der fremden Umgebung frei. Das großstädtische Mobiliar stach auffallend von der altmodischen, geblümten Tapete und dem Dielenboden ab, aber Holly hatte ein Faible für alles Ausgefallene und liebte Stilbrüche.
»Ich bin die Liste durchgegangen, alles erledigt, soweit ich sehe«, sagte Tom, der in der Tür aufgetaucht war, die zur Küche führte.
In seinen abgetragenen Jeans und dem T-Shirt sah er sogar noch ramponierter aus als Holly. Sein Aufzug brachte weder seine große, sportliche Erscheinung zur Geltung, noch ließ sie etwas von seinem wohlgeformten Körper erahnen, der sich, wie Holly wusste, darunter versteckte. Im Unterschied zu ihr war dieser Stil bei Tom der Normalzustand. Er war viel zu sehr an der Welt und den Menschen interessiert, als dass er sich auch noch um sich selbst kümmern konnte. Was wahrscheinlich auch der Grund war, warum er ein so ausgezeichneter Journalist war. Seine verbindliche, offene Art, die nie die Grenze zur Anbiederung oder zur Taktlosigkeit überschritt, verschaffte ihm problemlos Zugang zu den Menschen.
Holly hatte der Versuchung widerstanden, ihn herauszuputzen, nicht zuletzt, weil ihr der Kontrast zu ihrer eigenen Erscheinung gefiel. Holly war bildende Künstlerin, und wenn sie nicht gerade knöcheltief in Gips und Farbe steckte, kleidete sie sich mit Vorliebe in einer eigenwilligen Mischung aus klassischen und modischen Teilen, ein Stil, der sich auch in ihren Kunstwerken widerspiegelte. Der zweite Grund, warum sie Toms nachlässiges Äußeres tolerierte, war absolut eigennützig. Er war beruflich viel unterwegs, und wenn er auf die Damenwelt nicht allzu großen Eindruck machte, umso besser.
»Welche Liste?«, erkundigte Holly sich misstrauisch. »Es gibt noch jede Menge zu tun. Wir werden noch Wochen brauchen, bis alles ausgepackt und verstaut ist, vom Renovieren ganz zu schweigen.«
»Nicht die Umzugsliste«, winkte Tom ab. »Die Liste«. Er näherte sich langsam, wobei er ein unsichtbares Blatt Papier in seiner ausgestreckten linken Hand musterte, und blieb einen Schritt vor ihr stehen.
»Dir ist klar, dass deine Hand leer ist?«, fragte Holly.
Tom beachtete sie nicht. »Freund finden. Erledigt! Galerie finden, um Kunstwerke auszustellen. Erledigt! Heiraten. Erledigt! Kundenstamm aufbauen, um besagte Kunstwerke zu verkaufen. Erledigt! Ausreichendes Einkommen, um davon leben zu können. Erledigt!« Bei jedem »Erledigt!« setzte Tom mit dem rechten Zeigefinger wie mit einem unsichtbarerem Stift einen Haken hinter den jeweiligen Posten.
»Und zum Schluss?«, lächelte Holly, die die Antwort schon kannte.
Tom trat einen Schritt näher. »Aufs Land ziehen und bis ans selige Ende dort leben.«
»Erledigt«, flüsterte Holly, bevor Tom sie küsste.
Es dauerte unanständig lange, bis Tom Luft holte. »Gehe ich recht in der Annahme, Mrs Corrigan, dass Sie ihr Soll schon ein halbes Jahr im Voraus erfüllt haben?«
»Sie liegen goldrichtig, Mr Corrigan antwortete Holly selbstgefällig.
Selbstgefällig war vielleicht nicht der richtige Ausdruck. Von ganzem Herzen dankbar passte besser. Holly hatte sich in den vergangenen fünf Jahren mächtig ins Zeug gelegt, aber den Mann ihrer Träume und den Erfolg als Künstlerin hatte sie eher dem Glück als der Planung zu verdanken. Um genau zu sein, einem betrunkenen Steuerberater.
Als Fünfundzwanzigjährige hatte sie sich mit zahllosen Aushilfsjobs durchgeschlagen, um überhaupt über die Runden zu kommen. Die Kunsthochschule hatte sie mit diversen Auszeichnungen, aber ohne konkrete Ideen verlassen, wie sie mit ihrem Talent Geld verdienen sollte. Sie hatte sich ihr Studium mühsam erkämpft, doch nach dem Abschluss verschlangen die vielen Aushilfsjobs, die sie gleichzeitig unterhielt, so viel Zeit, dass die Bildhauerei zu einem Luxus wurde, den sie sich kaum leisten konnte, von der nötigen Muße und dem fehlenden Antrieb ganz zu schweigen.
Die Erleuchtung erschien eines Abends in Gestalt eines Büromenschen um die vierzig, der in angeheitertem Zustand in die Hinterhofkneipe stolperte, in der sie arbeitete. Nach mehreren Anläufen schaffte es ihr Held auf einen Barhocker und belegte sie unvermittelt mit einem weitschweifigen Monolog über seine fabelhafte Karriere - dass er kürzlich erst in einer der großen Steuerkanzleien befördert worden sei. Erst als der Mann in seinem Rausch behauptete, er habe das alles einem Fünfjahresplan zu verdanken, wurde Holly aufmerksam. Plötzlich wurde ihr bewusst, wie ziellos sie selber durchs Leben stolperte. Wenn sogar dieser lächerliche Trunkenbold Erfolg hatte, warum sollte sie es nicht auch schaffen? In der Nacht darauf konnte sie nicht einschlafen, bis sie schließlich schwarz auf weiß die Ziele notiert hatte, die sie in den nächsten fünf Jahren erreichen wollte.
Ein Jahr später hatte Holly ihr Leben umgekrempelt. Die diversen Aushilfsjobs hatte sie gegen eine feste Stelle beim Fernsehen eingetauscht, wo sie hinter den Kulissen bei der Produktion assistierte und ihre Fähigkeiten sinnvoll einsetzen konnte. Außerdem blieb ihr noch genügend freie Zeit für ihre Skulpturen. Und hin und wieder bekam sie sogar einen Auftrag von einer Kunstgalerie und konnte etwas Geld dazuverdienen.
Der zweite Punkt auf ihrer Liste betraf ihr Privatleben. Tom tauchte vorzeitig auf, eigentlich war er nicht vor dem dritten Jahr eingeplant. Er war zu einem Bewerbungsgespräch ins Fernsehstudio gekommen und verließ es ein paar Stunden später nicht nur mit einem neuen Job, sondern auch mit einer neuen Freundin.
Vor lauter Begeisterung, von nun an als freier Korrespondent für Umweltthemen arbeiten zu können, hatte er eine Spritztour durch das Studio unternommen, aus der schnell ein endloser Irrweg durch ein Labyrinth geworden war. In der Requisitenabteilung war er schließlich Holly in die Arme gelaufen.
Tom Corrigan entsprach keineswegs dem Ehemann, den sie sich vorgestellt hatte. Rein äußerlich konnten sie nicht unterschiedlicher sein. Er war groß und dunkel, ein attraktiver Mann, neben dem sie wie eine graue Maus wirkte. Außerdem waren sie vom Wesen her grundverschieden. Sie plante, er nicht. Sie war auf Misserfolge gefasst und kalkulierte sie ein, Tom sah in jeder Schlappe eine neue Chance. Sie gab zu, wenn sie Hilfe brauchte. Tom, der Mann, dem man soeben die Gelegenheit gegeben hatte, um die ganze Welt zu reisen, wollte um keinen Preis eingestehen, dass er sich verirrt hatte. Nachdem er Holly auf seiner schicksalsträchtigen Tour durchs Studio über den Weg gelaufen war, hielt er das Geständnis für überflüssig, dass er die Orientierung verloren hatte, lungerte stattdessen herum und bot ihr seine Hilfe an, bis sie Feierabend machen konnte. Und dann würde er sie, bitte schön, zum Essen einladen.
»Das Räderwerk ist bereits wieder angeworfen, ich sehe es dir an«, warnte Tom. »Ist der nächste Fünfjahresplan schon in Arbeit?«
»Ich bin so weit zufrieden mit der Abarbeitung meiner gegenwärtigen Liste, danke der Nachfrage«, sagte Holly. »Auspacken, renovieren, mein neues Atelier einrichten, von meinem Auftrag für Mrs Bronson ganz zu schweigen.«
»So weit zufrieden?«, hakte Tom in gespielter Empörung nach.
Holly musste lächeln. »Überaus zufrieden. Überaus glücklich, glücklicher geht's nicht.«
»Glücklicher geht's nicht?«
»Hör auf«, schimpfte Holly. »Wollen wir hier im Flur Wurzeln schlagen und über den Grad meines Glücks diskutieren oder es uns lieber woanders gemütlich machen?«
»Gute Idee. Wie wär's, wenn ich den Champagner hole und wir uns pünktlich in zwei Minuten im Schlafzimmer wieder treffen?«
»Hört sich fast wie ein Plan an«, bemerkte Holly, aber Tom war schon auf dem Weg in die Küche.
Am nächsten Morgen fanden Tom und Holly so schwer aus dem Bett, wie sie am Abend zuvor nicht schnell genug hatten hineinhüpfen können. Tom hatte sich vierzehn Tage freigenommen, so dass kein Wecker sie aufscheuchte, keine Morgenroutine absolviert werden musste. Nichts Wichtiges stand an - nur die Kartons auspacken und das neue Heim in Besitz nehmen.
Vom Bett aus sah man aus dem Fenster, das bis zum Boden reichte. Der Blick reichte über eine große Wiese, die an einen weitläufigen Obstgarten grenzte, und dahinter breitete sich die englische Landschaft aus. Es war ein klarer Frühlingsmorgen, und die Sonne gab sich alle Mühe, die neuen Bewohner des Torhauses aus dem Tiefschlaf zu erwecken. Das Licht der Sonne zeichnete Muster auf den weißen Baumwollgardinen, tanzte über die blassblauen Wände, huschte über den gebohnerten Dielenfußboden und kroch langsam über Hollys Gesicht und kitzelte sie wach.
Ihre Gedanken sortierten sich augenblicklich zu einer Liste aller Arbeiten, die anstanden, eine dringender als die andere. Sie verscheuchte diese Gedanken, indem sie im Geiste die Seiten ihrer neuen Liste zusammenfaltete. Sollten sie warten. Holly wollte sich wenigstens einen einzigen Tag mit ihrem Mann und ihrem neuen Zuhause gönnen, an dem nur ihre eigenen Bedürfnisse zählten. Denn in den kommenden Monaten würde sie Tom nicht oft zu sehen bekommen, und die Zeit zu zweit war kostbar.
Sie hatten kaum den Kaufvertrag für das Haus unterzeichnet, für das vor allem die Tatsache gesprochen hatte, dass man nach London pendeln konnte, als Tom eine neue Stelle angeboten wurde. Ein Angebot, das er unmöglich ausschlagen konnte, zumal der Sender bei einer Umstrukturierung harte Schnitte gemacht hatte und Tom mit einem blauen Auge davongekommen war. Auch wenn er in Zukunft mehr vor der Kamera arbeiten musste, sich neben den Umweltthemen auch mit Politik befassen und mit größeren Reportageaufträgen im Ausland rechnen musste, war er wenigstens nicht arbeitslos geworden. Ein solcher Auslandseinsatz kam schneller als gedacht. Sein erster Auftrag führte ihn gleich für sechs Wochen nach Belgien, was die Pendelstrecke ein wenig länger gestaltete, als sie es sich vorgestellt hatten.
»Bist du wach?«, fragte Tom.
»Hm«, brummte Holly und drehte sich zu ihm um, so dass ihre Nasen sich berührten.
»Puh, du riechst nach ungeputzten Zähnen«, neckte Tom sie.
»Du hast gut reden, du riechst wie ein Mann.«
»Danke.«
»Ich war noch nicht fertig«, belehrte ihn Holly. »Du riechst wie ein Mann, der die ganze Nacht den versifften Läufer in einer fiesen alten Kneipe abgeleckt hat. Das Zeug klebt noch an deiner Zunge, ich seh's.«
»Du willst also keinen Kuss?«
»Wenn du meine ungeputzten Zähne aushältst ...«, lachte Holly und hauchte ihm absichtlich jedes Wort mitten ins Gesicht.
»Wenn du das Risiko in Kauf nimmst, den Mund voller versiffter Teppichflusen zu haben, ist es einen Versuch wert.«
»Ich hatte schon Schlimmeres im Mund.«
»Was du nicht sagst!«, grinste Tom.
»Du hast nicht nur eine dreckige Zunge, sondern auch eine dreckige Fantasie.«
Tom rückte näher an Holly, ließ seine Hand über ihren Körper gleiten und schob seine Beine zwischen ihre. Ein eingespieltes, vertrautes Manöver.
»Ich kenn auch ein paar dreckige Sachen, soll ich?«, bot Tom an.
Holly schlang die Arme um seinen Hals und ließ ihre Finger über sein Rückgrat gleiten. Hinter der dunklen Silhouette seines Körpers konnte sie die tanzenden Flecken der Morgensonne auf seinem Rücken erahnen.
»Wie dreckig?«
»Nun ja ...« Tom dehnte jedes Wort genüsslich in die Länge, dann lächelte er. Oder war es ein spöttisches Grinsen? »Ich rede hier nicht über Fünfjahrespläne.«
»Das will ich hoffen«, erwiderte Holly. Sie musterte den Umriss seines Mundes, die feuchten Lippen, die Zungenspitze. Sie presste herausfordernd ihren Körper an seinen.
»Keine Sorge«, sagte Tom und reagierte nicht auf ihr unverhohlenes Verlangen. »Auch nicht über sieben Jahre.« Er küsste ihre Nasenspitze. »Nicht mal über zehn.«
Holly fuhr ihm durch die üppigen Locken. Sie beugte sich vor, um ihn zu küssen, aber er wich ihr aus.
»Es geht eher um die nächsten zwanzig Jahre. Nein, zum Teufel, ich bin so pervers, dass ich an vierzig Jahre denke.«
»Ja, du hast nicht alle Tassen im Schrank, Tom Corrigan «, bestätigte Holly. Ihr Körper bebte vor Verlangen, und sie wand sich erregt unter seinem Gewicht.
»Ich denke an ein Projekt, mit dem wir alt und senil werden, in diesem Haus, umgeben von unserer Familie, unseren Kinder, unseren Kindeskindern und vielleicht den Kindern unserer Kindeskinder.«
Für den Bruchteil einer Sekunde wurde Holly stocksteif. Sie zwinkerte heftig, um die Angst zu verscheuchen, die in ihr aufflackerte. Sie zwang sich zu einem Lächeln, in der Hoffnung, dass Tom ihre Reaktion nicht bemerkt hatte, aber ihre Leidenschaft war verflogen.
»Was ist?« Tom sah sie mit einem eigenartigen Blick an, der sie mitten ins Herz traf. »Hast du solche Angst davor, Kinder zu haben?«
»Nein«, log Holly.
»Doch«, beharrte Tom, wälzte sich auf die Seite und stützte den Arm auf. Auch ihm war plötzlich jede Lust vergangen.
»Ich will schon Kinder haben«, beharrte sie. »Ich kann mir mich nur so schlecht als Mutter vorstellen.«
»Du willst mir Kinder schenken. Das ist was anderes, als selber Kinder zu wollen«, stellte Tom in einer Mischung aus Sorge und Enttäuschung fest. »Aber du wirst bestimmt eine gute Mutter werden. So was ist schließlich nicht erblich. «
Tom spielte damit auf ihre Kindheit an. Holly stammte aus äußerst schwierigen Familienverhältnissen, die schon lange vor der Scheidung ihrer Eltern zerrüttet waren. Ihre Mutter war von zu Hause ausgezogen, als Holly erst acht Jahre alt gewesen war, und sie erinnerte sich, wie die Erleichterung damals größer gewesen war als das Gefühl, verlassen worden zu sein. Ihre Mutter hatte seltsame Vorstellungen, was ihre Mutterrolle anging, und ersetzte Liebe durch Brutalität, Fürsorge durch Bitterkeit und Hohn. Nach der Scheidung sah Holly ihre Mutter nur noch gelegentlich, und als sie ein junges Mädchen geworden war, hatte ihre Mutter sich bereits zu Tode getrunken. Ihr Vater dagegen war unnahbar und zeigte nicht das geringste Interesse an seiner Tochter, was auf andere Weise ebenso brutal war. Holly musste selber sehen, wie sie zurechtkam, und als sie mit achtzehn in eine Studentenbude zog, brach sie jeden Kontakt ab und kam nicht einmal zu seiner Beerdigung.
»Ich weiß, es ist nicht erblich, aber man wird von den Verhältnissen geprägt. Du weißt gar nicht, was für ein Glück du mit deiner Familie hast. Deine ist so ... so ...« Holly fand nicht die richtigen Worte. Tom wusste zwar über ihre Kindheit Bescheid, aber er würde niemals nachempfinden können, was es hieß, ohne die Sicherheit einer liebevollen Familie aufzuwachsen. »Sie ist so ohne Brüche«, brachte sie schließlich heraus.
»Ohne Brüche?« Tom lachte. »Was meinst du damit?«
»Du hast eine Mutter und einen Vater, die dich lieben und zu dir stehen, und sie hatten Eltern, die sie liebten und zu ihnen standen. Deine Großeltern hatten bestimmt auch fabelhafte Eltern und so weiter und so fort, über Generationen weitergegeben.«
In Hollys Augen waren Toms Eltern fabelhaft. Manchmal konnte sie es kaum fassen, wie selbstverständlich sie in die Familie aufgenommen worden war und wie eine eigene Tochter geliebt wurde. Für Holly war es ein mühsamer und aufwühlender Lernprozess gewesen, Teil einer traditionellen Familienstruktur zu sein. Als kürzlich Toms Großmutter Edith gestorben war, hatte sie unmittelbar miterlebt, wie sie funktionierte: wie alle sich gegenseitig aufrichteten, wie die Liebe, mit der alle an Edith hingen, gleichsam eine Brücke über die Leere spannte, die ihr Tod hinterlassen hatte.
»So perfekt sind wir nun auch wieder nicht«, meinte Tom. »Bei uns gibt es auch das berühmte schwarze Schaf in der Familie.«
»Doch, doch. Im Vergleich zu meiner Familie seid ihr perfekt.« Holly berührte zärtlich Toms Wange. »Und wenn ich nun das schwache Glied bin, das die Kette in eurer Familie brechen lässt? Wenn ich es nicht schaffe, die Sorte Mutter zu werden, die deine Familie über Generationen hervorgebracht hat?«
»Du bist doch nicht schwach. Deine Eltern waren schwach, ja, und das hat dich geprägt, aber es hat genau das Gegenteil bewirkt. Du bist der stärkste Mensch, den ich kenne. Deine Eltern haben ihre Aufgabe denkbar schlecht erfüllt, doch genau das wird dich zur besten Mutter machen, die man sich vorstellen kann. Glaub mir.«
Tom wirkte plötzlich angespannt, und Holly spürte seinen wachsenden Groll. Groll, der sich gegen ihre Eltern, aber auch gegen sich selbst richtete, weil er nicht in der Lage war, ihre Wunden zu heilen und die Dämonen ihrer Vergangenheit zu bannen.
»Ich weiß, es fehlt mir an Selbstvertrauen«, gab Holly zu, obwohl sie bezweifelte, dass sich daran jemals etwas ändern würde. Aber Tom würde keine Ruhe geben, bis sie ihren nächsten Fünfjahresplan aufgestellt und den Punkt darin untergebracht hatte. Nicht dass er auf Pläne angewiesen war. Er war eher ein spontaner Mensch, der die Dinge auf sich zukommen ließ, doch er war bereits zweiunddreißig und wollte unbedingt Kinder haben oder zumindest wissen, ob er eines Tages welche haben würde.
Hollys Augen füllten sich mit Tränen, das Sonnenlicht um Toms Kopf verschwamm zu einem unscharfen Heiligenschein. Nur seine blassgrünen Augen konnte sie noch deutlich erkennen.
»He, du weinst ja«, sagte Tom erschrocken.
Holly zwinkerte, um die Tränen zu vertreiben. »Ich weine nicht«, log sie trotzig.
»Ach ja. Du weinst ja nie. Hab ich ganz vergessen.«
»Ich weine schon. Nicht jetzt, aber manchmal weine ich schon.«
»Wann?«
Holly zögerte und suchte fieberhaft nach einem Beweis aus der jüngsten Vergangenheit. »Dieser Film neulich, wo der Hund gestorben ist.«
Tom runzelte die Stirn, als er in seinem Gedächtnis kramte. Dann prustete er vor Lachen. »Das muss schon über zwei Jahre her sein, da waren wir noch nicht mal verheiratet, glaube ich.«
»Aber ich habe geweint, basta.«
»Okay. Basta.«, gab Tom nach. »Hör zu, ich will dich zu nichts drängen, was du nicht selber willst. Ich hatte gehofft, dass du auf den Geschmack kommen würdest, als Lisa und dann Penny ihre Babys gekriegt haben, aber ich sehe, dass die Sache komplizierter ist. Wenn du noch keine Lust auf das Thema Kinder hast, verstehe ich das.«
Lisa und Penny waren in London ihre engsten Freundinnen gewesen. Sie hatten im selben Jahr ihre Kinder bekommen. Es war Holly nicht entgangen, wie enttäuscht Tom gewesen war, als sie beim Anblick der Säuglinge nicht wie durch Zauberkraft Muttergefühle entwickelt hatte. Er ahnte sicher nicht, dass ihre Begeisterung, aufs Land zu ziehen, zum Teil auch damit zu tun hatte, dem endlosen Babygeschwätz zu entrinnen, das offenbar jedes vernünftige Gespräch mit ihren Freundinnen ersetzt hatte.
»Lass mich erst das Haus fertig einrichten, dann können wir den nächsten Fünfjahresplan machen. Diesmal wird definitiv unser gemeinsames Projekt ›Baby‹ auf der Liste stehen«, sagte sie.
»Baby? Nur eins?«, sagte Tom. Die Spannung war von ihm abgefallen, und er war wieder zu Scherzen aufgelegt. »Hier, sieh dir diesen Körper an. Die beste Babyproduktionsmaschine aller Zeiten. Da wirst du schon vom bloßen Hinsehen schwanger.«
»Halt die Luft an, Tiger«, lachte Holly und entspannte sich auch. »Ich glaube, deine Babyproduktionsmaschine könnte noch ein bisschen Übung vertragen.«
»Dein Wunsch ist mir Befehl.«
Es war bereits Mittag, als sie endlich dazu kamen, ihr neues Heim in Augenschein zu nehmen.
Die Tage vergingen wie im Flug, und Toms Abreise rückte unerbittlich näher. Alles war ausgepackt und geputzt, und Unbrauchbares war durch Neues ersetzt worden, jedenfalls soweit sie es sich leisten konnten. Was an Ersparnissen noch übrig war, hatten sie bereits für die Renovierung eines kleinen Nebengebäudes beiseitegelegt, das Hollys Atelier werden sollte.
Toms Eltern waren zu Besuch gekommen, die Arme voller Geschenke, und hatten sogar mit angepackt, um das Torhaus in ein gemütliches Heim zu verwandeln. Bezeichnenderweise waren Diane und Jack gerade lange genug geblieben, um eine Hilfe zu sein, sie hatten ihren Besuch aber nicht unnötig in die Länge gezogen. Sie wussten auch ohne Worte, dass Holly und Tom die vierzehn Tage, die ihnen noch blieben, für sich selber brauchten.
Vor der Abfahrt hatte Diane dafür gesorgt, dass die Küche betriebsbereit und mit allem, was man zum Kochen brauchte, ausgestattet war. Sie war ganz erpicht darauf, Holly bei einem ihrer neuen Projekte unter die Arme zu greifen. Holly wollte kochen lernen. Ihr Vater hatte ihr nur das Nötigste beigebracht, vermutlich vor allem, um seine eigene Versorgung sicherzustellen, aber diese Grundlagen beschränkten sich darauf, wie man Doseneintöpfe öffnete, wie man Löcher in die Folie piekste, bevor man das Fertigessen in die Mikrowelle schob, wie man Instantnudeln zubereitete und dergleichen. Jetzt, wo Holly und Tom außerhalb jeglicher Reichweite bequemer Fastfood-Imbisse und Restaurants an jeder Straßenecke lebten, wollte Holly unbedingt richtig kochen lernen. Mit dem Umzug aufs Land sollte sich mehr ändern als nur ihre Adresse; auch ihre Lebensgewohnheiten sollten anders werden.
»Ein bezauberndes Haus, Holly. Jack und ich freuen uns sehr für euch«, sagte Diane, als sie mit Holly eine schwindelerregende Sammlung von Küchenutensilien auspackte. »Und Mum hätte auch ihre Freude. Es tröstet uns ein bisschen, dass ihr das Erbe so gut gebrauchen und damit das Haus kaufen konntet.«
»Nur schade, dass Grandma Edith nicht hier ist und sehen kann, wie gut ihr Geld angelegt ist. Für Tom und mich ist es wichtig zu wissen, dass ihr einverstanden seid, wie wir die Erbschaft verwendet haben.«
»Das ist eine Investition in die Zukunft. Es ist euer gemeinsamer Anfang. Hier werdet ihr eure Familie gründen. «
Diane nahm Holly in die Arme und konnte die dunkle Wolke nicht sehen, die über Hollys Gesicht huschte. Holly hätte auch gerne etwas von dem Selbstvertrauen gehabt, an dem es den Corrigans offenbar allen nicht mangelte.
Drei Tage vor Toms geplanter Abreise hatte Holly ihre Aufgabenliste abgearbeitet, und das Haus war in einem bewohnbaren Zustand. Die Handwerker hatten bereits ihre Arbeit im Nebengebäude aufgenommen. Während Holly sich zufrieden zurücklehnte und ihnen einfach zusah, empfand Tom die Handwerker offenbar als eine Art Angriff auf seine Männlichkeit und stürzte sich ebenfalls in körperliche Arbeit, indem er dem verwilderten Garten zu Leibe rückte.
Holly überließ den Männern das Feld und blieb im Haus, um mit den Entwurfszeichnungen für ihren neuen Auftrag zu beginnen. Mrs Bronson war die junge Ehefrau eines sehr wohlhabenden und sehr viel älteren Mannes. Die Geburt ihres ersten gemeinsamen Kindes wollte Mrs Bronson mit einer Skulptur würdigen und damit angesichts der zahlreichen Kinder, die ihr Mann in diversen früheren Ehen und Affären gezeugt hatte, ein Zeichen setzen. Es sollte ein relativ großes Kunstwerk werden und in der Eingangshalle ihrer Nobelvilla einen schwer zu übersehenen Platz finden.
Das Thema war natürlich Mutter und Kind. Angesichts des Sujets hätte Holly den Auftrag, der bestimmt ein halbes Jahr in Anspruch nehmen würde, am liebsten abgelehnt, aber die Bezahlung war einfach zu verlockend.
Sie hatte sich am Morgen ihre Skizzenbücher bereitgelegt, voller guter Absichten, doch ohne jegliche Inspiration. Geld allein ließ ihre Kreativität nicht sprudeln. Ihr fehlte einfach das Einfühlungsvermögen, auf das sie sonst zurückgreifen konnte. Von der geheimnisvollen Bindung zwischen Mutter und Kind, von der alle Welt unentwegt redete, hatte sie nicht die geringste Ahnung.
Holly konnte sich nicht erinnern, als Kind jemals etwas von dieser Art Bindung empfunden zu haben. Die entscheidenden Jahre hatte sie nur Einsamkeit und Angst gespürt. Ihre Mutter war noch keine zwanzig gewesen, als sie schwanger wurde. Eine überstürzte Heirat und ein ungewolltes Kind machten ihr einen Strich durch die Rechnung, und sie war nicht in der Lage oder willens, ihre Unabhängigkeit aufzugeben.
Mit einem kleinen Kind, um das sie sich kümmern musste, war das gesellschaftliche Leben ihrer Mutter stark eingeschränkt, so dass sie ihr Bohemeleben, von dem sie nicht lassen wollte, kurzerhand nach Hause verlegte. Holly konnte sich noch gut an all die Schmarotzer erinnern, die sich im Haus eingenistet hatten, um sich von einer Party zu erholen oder auf die nächste zu warten. Ihre Mutter stand immer im Mittelpunkt, tänzelte barfuss durchs Haus, mit oder ohne Musik im Hintergrund. Wenn sie tanzte, wirkte sie am glücklichsten und zog die Menschen in ihren Bann, auch Holly, wie das Licht die Motten, und jeder wollte sich in ihrem Glanz sonnen. Holly meinte sich erinnern zu können, wie ihre Mutter sie einmal geschnappt und zu ihrem Entzücken im Zimmer herumgewirbelt hatte, aber Holly war sich nicht sicher, ob es sich wirklich so zugetragen hatte. Möglicherweise war es nur die Erinnerung an einen Wunschtraum. Die verlässlichen Erinnerungen sahen anders aus: Ihre Mutter unterbrach ihren Tanz, zeigte vorwurfsvoll mit dem Finger auf ihre Tochter und erklärte der versammelten Meute, dass dieses Geschöpf ihr Leben ruiniert habe. Aus ihrer Miene sprach offene Abscheu, und das war das Bild, das Holly vor Augen stand, wenn sie ans Mutterwerden dachte.
Bis sie mit Tom zusammenkam, kannte sie verantwortungsvolle Eltern nur vom Hörensagen. Als kleines Mädchen hatte sie keinen Kontakt zu anderen Kindern, deren Eltern Holly wegen ihres Elternhauses bereits als Problemkind abgestempelt hatten. Als Jugendliche fühlte sie sich dann von all den anderen verwaisten, vorzeitig aus dem Nest gefallenen Küken angezogen. Ihre Kunst war in mehrfacher Hinsicht ihr Rettungsanker geworden. Eine Art Fluchtburg, ein Platz in ihrem Leben, wo sie nicht hilflos ausgeliefert war, wo sie etwas leisten konnte, und die, wie sich im Nachhinein zeigte, zugleich eine erfolgreiche Therapie war. In ihren frühen Arbeiten hatte sie eine Menge Aggressionen verarbeitet, und erst als sie Tom kennenlernte, entdeckte sie, dass sie auch positive Gefühle in ihrer Kunst zum Ausdruck bringen konnte. Die Liebe zwischen Mann und Frau war ihr inzwischen ein Begriff, die zwischen Mutter und Kind aber nicht. Ein leeres Blatt Papier, im wahrsten Sinn des Wortes.
Zwei Stunden lang hatte sie mechanisch Skizzen angefertigt, ohne einen einigermaßen originellen oder aussagekräftigen Entwurf zustande zu bringen. Sie hatte ein paar naheliegende Motive skizziert, eine Mutter mit ihrem Kind auf dem Arm, eine Mutter, die ihr Kind stillt, eine Mutter, die ihr Kind küsste. In ihrer Verzweiflung hatte sie sogar den Augenblick der Geburt skizziert, was Mrs Bronson aber mit Sicherheit nicht als Willkommensgruß in ihrer Eingangshalle vorschwebte.
Holly hatte in einer knappen Woche einen Termin mit Mrs Bronson, und sie erwog inzwischen ernsthaft, die Sache ganz abzublasen. Wenn es so weiterlief, und sie ein mittelmäßiges Werk ablieferte, würde das ihrer Karriere, die ohnehin in den Kinderschuhen steckte, nur schaden. Auf der anderen Seite wäre ein Vertragsbruch genauso fatal für ihren Ruf.
Holly legte den Skizzenblock beiseite und machte sich auf den Weg in die Küche. Der Raum war groß genug, dass man einen Esstisch in die Mitte stellen konnte. Man sollte annehmen, dass das Nebengebäude Holly ins Auge gestochen war, aber es war letztlich die Küche, die für sie und Tom den Ausschlag gegeben hatte, das Anwesen zu kaufen. Die Einbauten aus Holz waren weiß gestrichen, die Wände grün, und der Terrakottaboden setzte sich auch draußen auf der Terrasse fort, hinter der der riesige, ziemlich verwilderte Garten begann, der in die freie Landschaft überging.
Holly spähte aus dem Küchenfenster in der Hoffnung, Tom zu entdecken. Vor lauter Büschen und Bäumen war er nicht zu sehen, doch knackende Äste und gelegentliche Flüche verrieten, wo er steckte. Am liebsten hätte sie ihn ein wenig kontrolliert, aber sie zwang sich zum Gemüse- putzen und machte sich an die Arbeit, Tom und die Handwerker als Versuchskaninchen mit einem Eintopf zu überraschen.
»Was soll das denn werden?«
Holly fuhr vor Schreck zusammen und hätte mit dem Messer fast ihren Finger statt die Karotte erwischt. Zwei Arme schlossen sich um ihre Taille. Tom hatte sie vom Garten aus gesehen und war ins Haus geschlichen.
»Ich warne dich«, sagte Holly und fuchtelte mit dem Küchenmesser in der Luft herum. »Bewaffnete Frauen zu erschrecken ist gefährlich.«
»Du bist immer gefährlich. Du kannst mich immer kleinkriegen, mit oder ohne Messer.« Er beugte sich vor und küsste ihren Nacken.
»Keine Ablenkungsmanöver! Ich möchte, dass der Garten tipptopp aussieht, wenn du hier den Abflug machst.«
»Mensch, jetzt guck doch erst mal«, schnappte Tom empört nach Luft. »Sieht doch schon ganz anders aus, oder?«
Holly spähte in den Garten hinaus, indem sie die Augen mit einer Hand beschattete. »Nein, überhaupt nicht«, lachte sie.
»Ich habe Berge von Gestrüpp aufgetürmt. Ich bin sogar deinem kleinen Dickicht zu Leibe gerückt.«
»Da gilt dieser Mann als Meister der Schreibkunst und vergreift sich immer wieder im Ton mit seinen kindischen Anspielungen. Und der Garten sieht für meine Begriffe immer noch wüst aus.«
»Na ja, wenn der ganze Gartenabfall mal weggeschafft ist, sieht er sicher besser aus«, brummte Tom gekränkt. »Ich bräuchte nur jemanden, der die Handwerker mit seinem weiblichen Charme bezirzt, damit sie mir beim Aufräumen helfen.«
»Wie du vielleicht bemerkt hast, bin ich beschäftigt.
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2012 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
... weniger
Autoren-Porträt von Amanda Brooke
Ihr Debütroman hat eine geheimnisvolle und magische Geschichte zum Thema. Die Vorgeschichte des Romans ist jedoch tragisch: Amanda Brooke hat ihren kleinen Sohn durch Leukämie verloren und nach seinem Tod angefangen zu schreiben.
Autoren-Interview mit Amanda Brooke
Interview mit Amanda BrookeFrau Brooke, Das Geheimnis der Monduhr ist Ihr erster Roman - wollten Sie schon immer Schriftstellerin werden?
Amanda Brooke: Der Wunsch zu schreiben war wohl schon immer da, doch mir fehlte das Selbstvertrauen, um tatsächlich damit anzufangen. Ich hatte viele Ideen für Geschichten und eine äußerst lebhafte Phantasie, aber die Zeit verging, und irgendwann sagte ich mir, dass ich schon längst etwas in dieser Richtung unternommen hätte, wenn es mir mit dem Wunsch Schriftstellerin zu werden wirklich ernst gewesen wäre. Der Verlust meines Sohnes Nathan änderte alles. Als bei ihm Leukämie diagnostiziert wurde, konnte ich kaum noch sprechen, nicht etwa weil ich nicht wollte, sondern weil ich einfach kein Wort mehr herausbrachte. Das war der Moment, als ich anfing zu schreiben. In Form von Gedichten fand ich einen Weg, meine Gefühle auszudrücken, außerdem führte ich ein Tagebuch im Internet.
Als Nathan schließlich starb, schrieb ich nicht einfach nur weiter, sondern ich stürzte mich förmlich in die Arbeit. Es war mir ein großes Bedürfnis, über Nathan zu schreiben, jede wertvolle Erinnerung zu bewahren. Irgendwann merkte ich dann, dass ich nicht mehr mit dem Schreiben aufhören wollte. Im Rahmen meiner Trauerarbeit hatte ich den Traum Schriftstellerin zu werden wiederentdeckt, und dafür bin ich Nathan sehr dankbar.
Wie sind Sie auf die Idee mit der Monduhr gekommen?
Amanda Brooke: Ich liebe diese Momente beim Schreiben, wenn auf einmal scheinbar aus dem Nichts ein Gedanke auftaucht und wie von Zauberhand die einzelnen Elemente zusammenfügt. Die Monduhr war so ein Einfall. Als ich das erste Kapitel in Angriff nahm, hatte ich noch keine genaue Vorstellung davon, wie die Monduhr aussehen sollte oder wie genau sie funktionieren würde. Ich wusste, dass ich etwas
... mehr
brauchte, das die geheimnisvolle Kraft besaß, Holly in die Zukunft zu transportieren, und irgendwie schien die Nacht der richtige Zeitpunkt für eine Zeitreise zu sein, also ergab sich die Verbindung mit dem Vollmond ganz von selbst. Erst als ich darüber nachdachte, wie der Mond das Licht der Sonne reflektiert, und der Gegenstand, den ich mir ausdenken wollte, wiederum das Licht des Mondes reflektieren sollte, kam mir die Idee, dass auch Zeit reflektiert werden könnte. Plötzlich fügte sich alles zusammen, und die Monduhr war geschaffen.
Die Entwicklung der Regeln, nach denen die Monduhr sich richtet, nahm wesentlich mehr Zeit in Anspruch. Je länger ich darüber nachdachte, wie Holly die Zukunft beeinflussen könnte, desto klarer wurde mir, dass ich ihr zu viel Macht über ihr Schicksal zugestand. Ich erfand die Regeln, um meine Geschichte vor dem Chaos zu bewahren, und die Ein-Leben-für-ein-Leben-Regel war dabei besonders wichtig, denn sie legt fest, dass Holly sich nur zwischen diesen beiden Möglichkeiten entscheiden kann: Ihr Leben oder das von Libby.
Sie haben eine sehr lebhafte Phantasie, gab es für das Haus oder die kleine Stadt ein reales Vorbild?
Amanda Brooke: Das Torhaus und das Städtchen Fincross sind frei erfunden. Das Haus hat sein Vorbild in den vielen, über ganz England verstreuten Häusern dieser Art, die irgendwann von den großen Anwesen separiert wurden, über die sie einst wachten. Das Städtchen geht wohl eher darauf zurück, dass ich zu viele dieser „Unser neues Zuhause"-Dokusoaps im Fernsehen gesehen habe.
Die Atmosphäre des Torhauses hingegen, die Stimmung, die es zu einem perfekten Zuhause für Holly und Tom machen könnte, gründet sich auf einen realen Ort, nämlich das Haus meiner Großeltern. Ich bin in einem Reihenhaus in Liverpool aufgewachsen, und obwohl meine Großeltern ganz in der Nähe wohnten, schien ihr Haus unendlich weit weg zu sein. Sie wohnten in einer typischen Doppelhaushälfte, und dort gab es etwas, was wir nicht hatten - einen Garten. Ich verbinde mit diesem Garten einige meiner liebsten Kindheitserinnerungen und kann mich so lebhaft daran erinnern, wie ich in den mit Werkzeug vollgestopften Tischlerschuppen meines Großvaters schlich, oder wie ich Obst pflückte, damit wir Marmelade und Obstkuchen daraus machen konnte. An einem Apfelbaum, den meine Mutter als Kind gepflanzt hatte, hing eine Schaukel, auf der ich endlose Stunden verbrachte. Es war eine idyllische Umgebung, die zwar in der Stadt verwurzelt war, die man aber ebenso gut aufs Land hätte verpflanzen können.
Ein Buch zu schreiben erfordert wohl einiges an Planung, und der Text muss sicher immer wieder überarbeitet werden. Wie sind Sie an das Projekt Das Geheimnis der Monduhr herangegangen?
Amanda Brooke: Die Grundidee für den Roman hatte ich eigentlich von Anfang an. Ich wollte eine Geschichte erfinden, die den Leser zu jenem entscheidenden Punkt führt, als Holly klar wird, dass sie ihr eigenes Leben für das ihres Kindes opfern muss. Natürlich musste ich das Konzept mit der Zeitreise sorgfältig aufsetzen, damit Gegenwart und Zukunft immer synchron ablaufen können. Aber nicht alles war von Beginn an vorgesehen. Die Figur von Jocelyn zum Beispiel ist definitiv ein Element der Geschichte, das erst während des Schreibprozesses entstand, und mit einigen anderen Ideen ging es mir genauso. Mein ursprüngliches Konzept beinhaltete zwar die Eckpunkte der Geschichte, aber ich fühlte mich nicht sklavisch daran gebunden.
Während der Phase der Redaktion brachten mein Agent und mein Lektor Vorschläge und eigene Ideen ein, die ich auch eingearbeitet habe. Mir war klar, dass meine Geschichte mit jedem Durchgang noch dichter und ausgefeilter wurde. Einfach war dieser Überarbeitungsprozess natürlich nicht. Das Schwierigste daran war, die einzelnen Handlungsstränge aufzutrennen und zu hoffen, dass ich am Ende alle wieder zusammenführen konnte. Ich hätte nie erwartet, dass das so anstrengend sein kann, und ich frage mich ernstlich, wie es meine Tochter Jess in dieser Zeit mit mir ausgehalten hat. Aber wenn ich dann den entscheidenden Einfall hatte, und sich in der Geschichte damit eins ins andere fügte, waren alle Mühen vergessen.
Was ist Ihre früheste Erinnerung an das Schreiben?
Amanda Brooke: Wie ich schon sagte, habe ich mit dem Schreiben erst dann ernsthaft angefangen, als Nathan krank wurde. Davor habe ich allenfalls Limericks über meine Familie gedichtet, die ich an Weihnachten in unsere selbst gebastelten Knallbonbons steckte. Nach Nathans Tod verspürte ich das dringende Bedürfnis zu schreiben, und so beschloss ich, einen Kurs für Kreatives Schreiben zu belegen. Ich wollte sicher gehen, dass ich der Geschichte, zu der er mich inspiriert hatte, auch gerecht werden konnte. Als ich das Tagebuch abgeschlossen hatte, fing ich an, Kurzgeschichten zu schreiben, um in Übung zu bleiben. Mein erstes längeres Manuskript war der Versuch eines Kinderbuchs. Die Idee dafür trug ich schon jahrelang mit mir herum, hatte sie aber nie umgesetzt. Die Geschichte war auf drei Teile ausgelegt, und ich schrieb gerade am zweiten Teil, als sich die Idee für Das Geheimnis der Monduhr in meinem Kopf festsetzte. Da konnte ich nicht anders, als alles stehen und liegen zu lassen und mit diesem Roman zu beginnen.
Fühlen Sie sich einer Figur aus Ihrem Roman besonders verbunden und wenn ja, welcher und aus welchem Grund?
Amanda Brooke: Aus vielen Gründen fühle ich mich vor allem Holly verbunden, zum Beispiel weil sie ordentlich und diszipliniert, aber gleichzeitig kreativ ist. Diese Eigenschaften widersprechen sich oft, aber wenn man ein Manuskript fertigstellen will und eine Deadline einhalten muss, kann diese Kombination durchaus hilfreich sein. Genau wie Holly mag ich Kunst und versuche mich manchmal im Zeichnen, obwohl ich darin nicht annähernd so gut bin wie andere in meiner Familie. Einer der ersten Entwürfe, den Holly für Mrs Bronson macht, geht auf ein Bild zurück, das ich gezeichnet habe, als Nathan ein Baby war. Es zeigt drei im Kreis angeordnete Figuren, die mich mit meinen beiden Kindern darstellen sollen.
Im Gegensatz zu Holly bin ich aber kein Planungstyp, und es würde mir nie einfallen, einen Fünf-Jahres-Plan aufzustellen. Nicht weil ich dafür zu spontan wäre, wie beispielsweise Tom, sondern weil ich einfach nicht darauf vertraue, dass Dinge wirklich eintreffen, bis es tatsächlich so gekommen ist, vor allem wenn es sich um positive Ereignisse handelt ... Daher kann ich es auch immer noch nicht recht glauben, dass ich es tatsächlich geschafft habe, meinen ersten Roman zu veröffentlichen.
Glauben Sie an Schicksal und an die Vorstellung, dass jeder von Geburt an einem vorherbestimmten Lebensweg folgt?
Amanda Brooke: Ich habe ein Kind verloren und stelle mir natürlich oft die Frage nach dem „Was wäre wenn ...?". Ich könnte mich mit jeder Entscheidung, die während Nathans Krankheit getroffen wurde, herumquälen. Es wäre daher wohl am tröstlichsten, es mit Jocelyn zu halten und daran zu glauben, dass die Welt gar nicht so chaotisch ist, wie wir meinen, und dass es keine richtigen und falschen Entscheidungen gibt, sondern nur unterschiedliche Wege zum selben Ziel. Tatsächlich glaube ich aber schon, dass das Leben chaotisch ist, daher würde ich nie dafür eintreten, das Schicksal anzunehmen und kampflos aufzugeben. Mein Sohn hat das auch nicht getan.
Wussten Sie die ganze Zeit über, wie Das Geheimnis der Monduhr ausgehen würde?
Amanda Brooke: Jetzt muss ich ein Geständnis ablegen, ja, ich wusste es, aber dieses ursprüngliche Ende habe ich nicht verwendet. Das Geheimnis der Monduhr setzt beinahe am Schluss der Geschichte ein, als Holly kurz vor den Geburtswehen steht und weiß, dass sie sterben wird. Diese ersten Abschnitte wurden seit der ersten Fassung nur wenig geändert. So wollte ich meine Geschichte abschließen, als ich mit dem ersten Kapitel begonnen habe. Hollys Opfer half mir dabei, meine Frustration zu bewältigen, und ich zweifelte keinen Moment daran, dass sie ihr Opfer bringen müsste. Erst als ich anfing, mehr über Jocelyn zu schreiben und ihre Konturen genauer herauszuarbeiten, bekam diese Figur ein eigenes Leben. Es war einer jener magischen Momente der Inspiration, als ich begriff, dass ich ihr unfreiwillig eine entscheidende Rolle in meiner Geschichte zugeschrieben hatte. Hollys Rettung geht wohl nicht auf mein Konto, das war vielmehr Jocelyns Werk.
Können Sie uns schon etwas über Ihr nächsten Buch verraten?
Amanda Brooke: Mein nächstes Buch handelt von eine jungen Frau, die gegen eine Krebserkrankung kämpft. Sie hoffte, den Krebs bereits besiegt zu haben, als er erneut ausbricht. Sie fühlt, dass ihr ihre zweite Chance genommen wird, und beginnt aufzuschreiben, wie ihr Leben hätte verlaufen können, und wie sie es hätte leben wollen. Bald stellt sich heraus, dass sich die Ebenen ihres Schreibens und ihres Lebens vermischen, und sie ist sich nicht sicher, ob das eine Nebenwirkung ihres Gehirntumors ist oder reine Magie. Auch die Idee für diese Geschichte geht auf meinen Sohn zurück. Nathan war erst drei Jahre alt, als er starb. Deshalb kann ich mich nur an die Dinge halten, die er in seinem kurzen Leben getan hat, um mir vorzustellen, was aus ihm geworden wäre, wenn er hätte aufwachsen dürfen. Er hat sich zweimal verliebt, einmal in die Freundin meines Neffen und einmal in eine Krankenschwester auf der Krebsstation. Er war sehr höflich und zurückhaltend, gleichzeitig schummelte er aber beim Kartenspielen und bestand darauf, auf dem Weg in den Operationssaal seine Thomas-die-kleine-Lokomotive-Sonnenbrille zu tragen. Als ihn einmal eine ältere Dame nach seinem Namen fragte, antwortete er „Sexy". - Ich muss einfach immer wieder darüber nachgrübeln, wie sein Leben wohl verlaufen wäre, und meiner neuen Protagonistin geht es genauso...
Die Entwicklung der Regeln, nach denen die Monduhr sich richtet, nahm wesentlich mehr Zeit in Anspruch. Je länger ich darüber nachdachte, wie Holly die Zukunft beeinflussen könnte, desto klarer wurde mir, dass ich ihr zu viel Macht über ihr Schicksal zugestand. Ich erfand die Regeln, um meine Geschichte vor dem Chaos zu bewahren, und die Ein-Leben-für-ein-Leben-Regel war dabei besonders wichtig, denn sie legt fest, dass Holly sich nur zwischen diesen beiden Möglichkeiten entscheiden kann: Ihr Leben oder das von Libby.
Sie haben eine sehr lebhafte Phantasie, gab es für das Haus oder die kleine Stadt ein reales Vorbild?
Amanda Brooke: Das Torhaus und das Städtchen Fincross sind frei erfunden. Das Haus hat sein Vorbild in den vielen, über ganz England verstreuten Häusern dieser Art, die irgendwann von den großen Anwesen separiert wurden, über die sie einst wachten. Das Städtchen geht wohl eher darauf zurück, dass ich zu viele dieser „Unser neues Zuhause"-Dokusoaps im Fernsehen gesehen habe.
Die Atmosphäre des Torhauses hingegen, die Stimmung, die es zu einem perfekten Zuhause für Holly und Tom machen könnte, gründet sich auf einen realen Ort, nämlich das Haus meiner Großeltern. Ich bin in einem Reihenhaus in Liverpool aufgewachsen, und obwohl meine Großeltern ganz in der Nähe wohnten, schien ihr Haus unendlich weit weg zu sein. Sie wohnten in einer typischen Doppelhaushälfte, und dort gab es etwas, was wir nicht hatten - einen Garten. Ich verbinde mit diesem Garten einige meiner liebsten Kindheitserinnerungen und kann mich so lebhaft daran erinnern, wie ich in den mit Werkzeug vollgestopften Tischlerschuppen meines Großvaters schlich, oder wie ich Obst pflückte, damit wir Marmelade und Obstkuchen daraus machen konnte. An einem Apfelbaum, den meine Mutter als Kind gepflanzt hatte, hing eine Schaukel, auf der ich endlose Stunden verbrachte. Es war eine idyllische Umgebung, die zwar in der Stadt verwurzelt war, die man aber ebenso gut aufs Land hätte verpflanzen können.
Ein Buch zu schreiben erfordert wohl einiges an Planung, und der Text muss sicher immer wieder überarbeitet werden. Wie sind Sie an das Projekt Das Geheimnis der Monduhr herangegangen?
Amanda Brooke: Die Grundidee für den Roman hatte ich eigentlich von Anfang an. Ich wollte eine Geschichte erfinden, die den Leser zu jenem entscheidenden Punkt führt, als Holly klar wird, dass sie ihr eigenes Leben für das ihres Kindes opfern muss. Natürlich musste ich das Konzept mit der Zeitreise sorgfältig aufsetzen, damit Gegenwart und Zukunft immer synchron ablaufen können. Aber nicht alles war von Beginn an vorgesehen. Die Figur von Jocelyn zum Beispiel ist definitiv ein Element der Geschichte, das erst während des Schreibprozesses entstand, und mit einigen anderen Ideen ging es mir genauso. Mein ursprüngliches Konzept beinhaltete zwar die Eckpunkte der Geschichte, aber ich fühlte mich nicht sklavisch daran gebunden.
Während der Phase der Redaktion brachten mein Agent und mein Lektor Vorschläge und eigene Ideen ein, die ich auch eingearbeitet habe. Mir war klar, dass meine Geschichte mit jedem Durchgang noch dichter und ausgefeilter wurde. Einfach war dieser Überarbeitungsprozess natürlich nicht. Das Schwierigste daran war, die einzelnen Handlungsstränge aufzutrennen und zu hoffen, dass ich am Ende alle wieder zusammenführen konnte. Ich hätte nie erwartet, dass das so anstrengend sein kann, und ich frage mich ernstlich, wie es meine Tochter Jess in dieser Zeit mit mir ausgehalten hat. Aber wenn ich dann den entscheidenden Einfall hatte, und sich in der Geschichte damit eins ins andere fügte, waren alle Mühen vergessen.
Was ist Ihre früheste Erinnerung an das Schreiben?
Amanda Brooke: Wie ich schon sagte, habe ich mit dem Schreiben erst dann ernsthaft angefangen, als Nathan krank wurde. Davor habe ich allenfalls Limericks über meine Familie gedichtet, die ich an Weihnachten in unsere selbst gebastelten Knallbonbons steckte. Nach Nathans Tod verspürte ich das dringende Bedürfnis zu schreiben, und so beschloss ich, einen Kurs für Kreatives Schreiben zu belegen. Ich wollte sicher gehen, dass ich der Geschichte, zu der er mich inspiriert hatte, auch gerecht werden konnte. Als ich das Tagebuch abgeschlossen hatte, fing ich an, Kurzgeschichten zu schreiben, um in Übung zu bleiben. Mein erstes längeres Manuskript war der Versuch eines Kinderbuchs. Die Idee dafür trug ich schon jahrelang mit mir herum, hatte sie aber nie umgesetzt. Die Geschichte war auf drei Teile ausgelegt, und ich schrieb gerade am zweiten Teil, als sich die Idee für Das Geheimnis der Monduhr in meinem Kopf festsetzte. Da konnte ich nicht anders, als alles stehen und liegen zu lassen und mit diesem Roman zu beginnen.
Fühlen Sie sich einer Figur aus Ihrem Roman besonders verbunden und wenn ja, welcher und aus welchem Grund?
Amanda Brooke: Aus vielen Gründen fühle ich mich vor allem Holly verbunden, zum Beispiel weil sie ordentlich und diszipliniert, aber gleichzeitig kreativ ist. Diese Eigenschaften widersprechen sich oft, aber wenn man ein Manuskript fertigstellen will und eine Deadline einhalten muss, kann diese Kombination durchaus hilfreich sein. Genau wie Holly mag ich Kunst und versuche mich manchmal im Zeichnen, obwohl ich darin nicht annähernd so gut bin wie andere in meiner Familie. Einer der ersten Entwürfe, den Holly für Mrs Bronson macht, geht auf ein Bild zurück, das ich gezeichnet habe, als Nathan ein Baby war. Es zeigt drei im Kreis angeordnete Figuren, die mich mit meinen beiden Kindern darstellen sollen.
Im Gegensatz zu Holly bin ich aber kein Planungstyp, und es würde mir nie einfallen, einen Fünf-Jahres-Plan aufzustellen. Nicht weil ich dafür zu spontan wäre, wie beispielsweise Tom, sondern weil ich einfach nicht darauf vertraue, dass Dinge wirklich eintreffen, bis es tatsächlich so gekommen ist, vor allem wenn es sich um positive Ereignisse handelt ... Daher kann ich es auch immer noch nicht recht glauben, dass ich es tatsächlich geschafft habe, meinen ersten Roman zu veröffentlichen.
Glauben Sie an Schicksal und an die Vorstellung, dass jeder von Geburt an einem vorherbestimmten Lebensweg folgt?
Amanda Brooke: Ich habe ein Kind verloren und stelle mir natürlich oft die Frage nach dem „Was wäre wenn ...?". Ich könnte mich mit jeder Entscheidung, die während Nathans Krankheit getroffen wurde, herumquälen. Es wäre daher wohl am tröstlichsten, es mit Jocelyn zu halten und daran zu glauben, dass die Welt gar nicht so chaotisch ist, wie wir meinen, und dass es keine richtigen und falschen Entscheidungen gibt, sondern nur unterschiedliche Wege zum selben Ziel. Tatsächlich glaube ich aber schon, dass das Leben chaotisch ist, daher würde ich nie dafür eintreten, das Schicksal anzunehmen und kampflos aufzugeben. Mein Sohn hat das auch nicht getan.
Wussten Sie die ganze Zeit über, wie Das Geheimnis der Monduhr ausgehen würde?
Amanda Brooke: Jetzt muss ich ein Geständnis ablegen, ja, ich wusste es, aber dieses ursprüngliche Ende habe ich nicht verwendet. Das Geheimnis der Monduhr setzt beinahe am Schluss der Geschichte ein, als Holly kurz vor den Geburtswehen steht und weiß, dass sie sterben wird. Diese ersten Abschnitte wurden seit der ersten Fassung nur wenig geändert. So wollte ich meine Geschichte abschließen, als ich mit dem ersten Kapitel begonnen habe. Hollys Opfer half mir dabei, meine Frustration zu bewältigen, und ich zweifelte keinen Moment daran, dass sie ihr Opfer bringen müsste. Erst als ich anfing, mehr über Jocelyn zu schreiben und ihre Konturen genauer herauszuarbeiten, bekam diese Figur ein eigenes Leben. Es war einer jener magischen Momente der Inspiration, als ich begriff, dass ich ihr unfreiwillig eine entscheidende Rolle in meiner Geschichte zugeschrieben hatte. Hollys Rettung geht wohl nicht auf mein Konto, das war vielmehr Jocelyns Werk.
Können Sie uns schon etwas über Ihr nächsten Buch verraten?
Amanda Brooke: Mein nächstes Buch handelt von eine jungen Frau, die gegen eine Krebserkrankung kämpft. Sie hoffte, den Krebs bereits besiegt zu haben, als er erneut ausbricht. Sie fühlt, dass ihr ihre zweite Chance genommen wird, und beginnt aufzuschreiben, wie ihr Leben hätte verlaufen können, und wie sie es hätte leben wollen. Bald stellt sich heraus, dass sich die Ebenen ihres Schreibens und ihres Lebens vermischen, und sie ist sich nicht sicher, ob das eine Nebenwirkung ihres Gehirntumors ist oder reine Magie. Auch die Idee für diese Geschichte geht auf meinen Sohn zurück. Nathan war erst drei Jahre alt, als er starb. Deshalb kann ich mich nur an die Dinge halten, die er in seinem kurzen Leben getan hat, um mir vorzustellen, was aus ihm geworden wäre, wenn er hätte aufwachsen dürfen. Er hat sich zweimal verliebt, einmal in die Freundin meines Neffen und einmal in eine Krankenschwester auf der Krebsstation. Er war sehr höflich und zurückhaltend, gleichzeitig schummelte er aber beim Kartenspielen und bestand darauf, auf dem Weg in den Operationssaal seine Thomas-die-kleine-Lokomotive-Sonnenbrille zu tragen. Als ihn einmal eine ältere Dame nach seinem Namen fragte, antwortete er „Sexy". - Ich muss einfach immer wieder darüber nachgrübeln, wie sein Leben wohl verlaufen wäre, und meiner neuen Protagonistin geht es genauso...
... weniger
Bibliographische Angaben
- Autor: Amanda Brooke
- 2012, 359 Seiten, Maße: 14,2 x 21,8 cm, Geb. mit Su.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863651464
- ISBN-13: 9783863651466
Kommentare zu "Das Geheimnis der Monduhr"
0 Gebrauchte Artikel zu „Das Geheimnis der Monduhr“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
4.5 von 5 Sternen
5 Sterne 10Schreiben Sie einen Kommentar zu "Das Geheimnis der Monduhr".
Kommentar verfassen