Das Geheimnis des weißen Bandes
Der neue Sherlock Holmes-Roman
Holmes und Watson sind einem Gangster auf der Spur, der angeblich der einzig Überlebende einer amerikanischen Verbrecherbande ist. Dabei stoßen sie auf eine dunkle Verschwörung. Und Holmes wird des Mordes verdächtigt.
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Produktinformationen zu „Das Geheimnis des weißen Bandes “
Holmes und Watson sind einem Gangster auf der Spur, der angeblich der einzig Überlebende einer amerikanischen Verbrecherbande ist. Dabei stoßen sie auf eine dunkle Verschwörung. Und Holmes wird des Mordes verdächtigt.
Klappentext zu „Das Geheimnis des weißen Bandes “
Am Abend eines ungewöhnlich kalten Novembertages im Jahr 1890 betritt ein elegant gekleideter Herr die Räume von Sherlock Holmes Wohnung in der Londoner Baker Street 221b. Er wird von einem mysteriösen Mann verfolgt, in dem er den einzigen Überlebenden einer amerikanischen Verbrecherbande erkennt, die mit seiner Hilfe in Boston zerschlagen wurde. Ist der Mann ihm über den Atlantik gefolgt, um sich zu rächen? Als Holmes und Watson den Spuren des Gangsters folgen, stoßen sie auf eine Verschwörung, die sie in Konflikt mit hochstehenden Persönlichkeiten bringen wird ? und den berühmten Detektiv ins Gefängnis, verdächtigt des Mordes. Zunächst gibt es nur einen einzigen Hinweis: ein weißes Seidenband, befestigt am Handgelenk eines ermordeten Straßenjungen Erstmals seit dem Tod von Arthur Conan Doyle erscheint ein neuer Roman um den genialsten Detektiv aller Zeiten, aus der Feder des internationalen Bestsellerautors Anthony Horowitz. Es ist Sherlock Holmes spektakulärster Fall.
Lese-Probe zu „Das Geheimnis des weißen Bandes “
Das Geheimnis des weißen Bandes von Anthony HorowitzVorwort
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Ich habe oft darüber nachgedacht, wie eigenartig die Verknüpfung von Umständen war, die zu meiner jahrzehntelangen Verbindung mit einer der ungewöhnlichsten und bemerkenswertesten Gestalten meiner Epoche geführt hat. Wäre ich ein Philosoph, so würde ich mich vielleicht fragen, inwieweit wir unser eigenes Schicksal überhaupt bestimmen oder die weitreichenden Folgen von Handlungen ermessen können, die zum gegebenen Zeitpunkt womöglich gänzlich unbedeutend erscheinen.
So war es zum Beispiel mein Vetter Arthur, der mich bei den Fünften Northumberland-Füsilieren als Wundarzt empfahl, weil er dachte, das wäre möglicherweise eine nützliche Erfahrung für mich. Hätte er wissen können, dass ich auf diese Weise schon einen Monat später nach Afghanistan geschickt werden würde? Der Konflikt, der später der Zweite Anglo-Afghanische Krieg genannt werden sollte, hatte ja zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal begonnen. Und was war mit dem Ghazi, der mir in der Schlacht von Maiwand mit einem einzigen Zucken des Zeigefingers eine Kugel in die Schulter gejagt hat? Über neunhundert Briten und Inder sind an jenem Tag gestorben, und dass ich dazugehören sollte, war mit Sicherheit seine Absicht. Aber er hatte nicht gut gezielt, und obwohl ich schwer verwundet war, hat mich mein gutherziger, treuer Bursche Jack Murray gerettet. Über zwei Meilen hat er mich durch feindliches Gelände zurück zu den britischen Linien getragen.
Murray starb im September desselben Jahres bei Kandahar und hat deshalb nie erfahren, dass ich als Invalide nach Hause geschickt wurde und anschließend - ein magerer Tribut für seine Heldentat - mein Leben am Rande der Londoner Gesellschaft mehrere Monate lang eher fristete als gestaltete. Am Ende dieser Zeit war ich ernsthaft entschlossen, an die Südküste Englands zu ziehen, was weniger meiner Neigung als der bitteren Realität immer schneller schwindender Mittel geschuldet war. Man hatte mir allerdings auch gesagt, dass die Seeluft meiner Gesundheit zuträglich wäre. Eine billigere Unterkunft in London wäre die wünschenswerte Alternative gewesen, und ich hätte beinahe Räumlichkeiten in der Euston Road bei einem Börsenmakler gemietet. Aber das Gespräch verlief nicht eben günstig, und so entschloss ich mich: Ich würde nach Hastings ziehen. Das war gesellschaftlich weniger attraktiv als Brighton, aber dafür nur halb so teuer. Meine Habseligkeiten waren schon fertig gepackt, und ich war bereit zur Abreise.
Aber ich hatte die Rechnung ohne Henry Stamford gemacht, keinen engen Freund, sondern einen bloßen Bekannten, der mir im St. Bart's Hospital als Assistent gedient hatte. Hätte er am Abend zuvor nicht übermäßig getrunken, so hätte er vermutlich kein Kopfweh gehabt, und wäre nicht dieses Kopfweh gewesen, hätte er sich bei dem chemischen Labor, wo er mittlerweile Arbeit gefunden hatte, wahrscheinlich nicht frei genommen. Aber so wie die Dinge lagen, bummelte er an diesem Tag eine Weile am Piccadilly Circus herum und beschloss dann, die Regent Street hinaufzuschlendern, um in Arthur Libertys East India House nach einem Geschenk für seine Frau zu suchen. Es ist schon merkwürdig! Wenn er einen anderen Weg genommen hätte, wäre alles ganz anders gekommen; denn dann wäre ich nicht mit ihm zusammengeprallt, als ich aus der Bar des Criterion trat, und das wiederum hätte zur Folge gehabt, dass ich womöglich Sherlock Holmes nie begegnet wäre.
Denn wie ich schon an anderer Stelle geschrieben habe: Es war Stamford, der mir den Vorschlag machte, mir eine Wohnung mit einem seiner Kollegen zu teilen, den er für einen analytischen Chemiker hielt und der im selben Krankenhaus wie er arbeitete. Stamford machte mich mit Holmes bekannt, der damals gerade nach einer Methode suchte, mit der man Blutflecken nachweisen konnte. Unsere erste Begegnung war eigenartig und verwirrend, aber auch äußerst denkwürdig ... ein deutlicher Vorgeschmack dessen, was noch kommen sollte.
Es war der große Wendepunkt meines Lebens. Ich habe keinerlei literarische Ambitionen, und wenn mir damals jemand gesagt hätte, ich würde dereinst Autor eines halben Dutzends veröffentlichter Bücher sein, hätte ich darüber gelacht. Aber ich glaube, ich kann in aller Bescheidenheit und ohne übertriebene Eitelkeit sagen, dass ich die Abenteuer dieses großen Mannes in einer Weise geschildert habe, der eine gewisse Anerkennung zuteilwurde, und ich habe es deshalb als Ehre empfunden, als man mich eingeladen hat, bei seinem Gedenkgottesdienst in der Westminster Abbey zu sprechen - eine Einladung, die ich respektvoll abgelehnt habe. Holmes hat über meinen Prosa stil oft gespottet, und ich hätte befürchten müssen, dass er mir, wenn ich tatsächlich auf die Kanzel gestiegen wäre, die ganze Zeit über die Schulter geschaut und über alles, was ich gesagt hätte, von jenseits des Grabes mit sanftem Spott gelacht hätte.
Er war immer der Ansicht, ich würde seine Fähigkeiten und die außergewöhnlichen Erkenntnisse seines brillanten Gehirns überschätzen. Er lächelte darüber, dass ich meine Erzählungen so konstruierte, als würde sich am Ende plötzlich alles auflösen, während es doch in Wirklichkeit von Anfang an offenbar gewesen sei. Mehr als einmal beschuldigte er mich eines trivialen Hangs zur Romantisierung und sagte, ich sei nicht besser als irgendein Schreiberling aus der Grub Street. Ich glaube, dass dieser Vorwurf insgesamt nicht gerechtfertigt war. In all den Jahren, in denen ich ihn gekannt habe, habe ich ihn nie auch nur mit einem einzigen belletristischen Werk gesehen - außer der allertrivialsten Schundliteratur; und obwohl ich keinerlei Anspruch auf literarische Fähigkeiten erhebe, wage ich doch zu behaupten, dass meine Erzählungen ihre Aufgabe einigermaßen erfüllt haben und er selbst seine Abenteuer nicht besser zu schildern gewusst hätte. Holmes hat das sogar zugegeben, als er eines Tages selbst zu Papier und Feder griff, um den merkwürdigen Fall Godfrey Emsworth in seinen eigenen Worten zu schildern. Diese Episode wurde schließlich als Der gebleichte Soldat vorgestellt, ein Titel, den ich alles andere als perfekt finde, denn bleichen würde ich allenfalls eine Mandel.
Ich habe, wie ich schon sagte, eine gewisse Anerkennung für meine literarischen Bemühungen erfahren, aber eigentlich ging es mir darum gar nicht. Aufgrund der verschiedenen schicksalhaften Wendungen, die ich oben beschrieben habe, bin ich auserwählt worden, die Leistungen des besten beratenden Detektivs der Welt ans Licht zu bringen, und habe einem begeisterten Publikum nicht weniger als sechzig Abenteuer vorstellen dürfen. Die lange Freundschaft mit diesem Mann aber war für mich persönlich viel wertvoller.
Es ist jetzt ein Jahr her, dass man ihn leblos und still in seinem Haus in den Downs fand, wo sein gewaltiger Verstand für immer zur Ruhe gekommen ist. Als ich die Nachricht erhielt, wurde mir sofort klar, dass ich nicht nur meinen engsten Freund und Gefährten verloren hatte, sondern in mancher Hinsicht auch meine ganze Daseinsberechtigung. Zwei Ehen, drei Kinder und sieben Enkel, eine erfolgreiche medizinische Karriere und der Verdienstorden, den mir Seine Majestät König Edward VII. im Jahre 1908 verliehen hat, mögen von manchen als beträchtliche Lebensleistung erachtet werden. Mir war das nie genug. Ich vermisse Holmes bis zum heutigen Tage, und oft genug bilde ich mir in meinen Tagträumen ein, noch einmal die vertrauten Worte zu hören: ›Das Wild ist auf, Watson!‹ Aber sie erinnern mich natürlich nur daran, dass ich nie wieder mit meinem treuen Dienstrevolver in der Faust in die neblige Düsternis der Baker Street tauchen werde. Ich denke oft an Holmes, der auf der anderen Seite jenes großen Schattens auf mich wartet, der uns alle irgendwann überfällt, und ich sehne mich sogar danach, wieder an seiner Seite zu stehen. Ich bin allein. Meine alte Verletzung wird mich bis zum Ende quälen, und während in Europa ein sinnloser Krieg wütet, spüre ich, dass ich die Welt, in der ich lebe, nicht länger verstehe.
Warum also greife ich erneut zur Feder, ein letztes Mal, um Erinnerungen zu wecken, die vielleicht besser vergessen wären? Vielleicht bin ich selbstsüchtig. Vielleicht ist es so wie bei vielen anderen Männern, die ihr Leben längst hinter sich haben, und ich suche eine Art Trost. Die Krankenschwestern, die mich pflegen, versichern mir, dass Schreiben der Therapie nützt und verhindern wird, dass ich in jene schwarzen Stimmungen verfalle, die mich gelegentlich heimsuchen. Aber es gibt auch noch einen anderen Grund.
Die Abenteuer um den Mann mit der flachen Mütze und das House of Silk waren in vieler Hinsicht die sensationellsten in der Karriere von Sherlock Holmes, aber seinerzeit war es unmöglich, sie zu erzählen. Warum das so ist, wird sehr bald klar werden. Sie waren eng miteinander verknüpft und ließen sich deshalb nicht trennen. Dennoch habe ich mir immer gewünscht, sie niederzuschreiben und den Holmes-Kanon so zu vollenden. In dieser Beziehung bin ich wie ein Wissenschaftler, der einer bestimmten Formel nachjagt, oder ein Briefmarkensammler, der auf seine Kollektion nicht wirklich stolz sein kann, solange es noch ein, zwei seltene Marken gibt, die sich seinem Zugriff entziehen. Ich kann nicht anders. Es muss getan werden.
Bisher war es unmöglich - und das lag nicht nur an der bekannten Abneigung gegen öffentliche Aufmerksamkeit, die meinen Freund auszeichnete. Nein, die Ereignisse, die ich im Folgenden beschreiben will, waren einfach zu ungeheuerlich und schockierend, um gedruckt zu werden. Und das sind sie noch immer. Es ist keine Übertreibung, wenn ich behaupte, dass sie das ganze Gefüge unserer Gesellschaft zerreißen könnten, wenn sie veröffentlicht würden, und das ist, besonders in Zeiten des Krieges, ein Risiko, das ich nicht eingehen darf. Wenn ich die Kraft dafür aufbringe, die Niederschrift abzuschließen, werde ich das Manuskript versiegeln und in einem Schließfach im Tresor von Cox & Co am Charing Cross deponieren lassen, wo auch gewisse andere private Papiere von mir aufbewahrt werden. Ich werde Anweisung geben, dass dieses Päckchen erst in hundert Jahren geöffnet werden darf. Man kann zwar nicht wissen, wie die Welt dann aussehen und welche Fortschritte die Menschheit bis dahin gemacht haben wird, aber vielleicht sind künftige Leser im Hinblick auf Skandale und Korruption doch etwas besser gewappnet, als es die heutigen sind. Ihnen hinterlasse ich ein letztes Porträt meines Freundes Sherlock Holmes - und eine Perspektive, die bisher noch ganz unbekannt war.
Aber ich habe schon zu viel Kraft auf meine eigenen Sorgen verschwendet. Ich hätte längst die Tür von Baker Street 221b öffnen und den Raum betreten sollen, in dem so viele Abenteuer begonnen haben. Ich sehe alles vor mir, das Glühen der Lampe hinter den Scheiben und die siebzehn Stufen, die mich von der Straße zur Tür führten. Wie weit weg sie mir heute erscheinen! Wie lange es her ist, dass ich zuletzt dort war! Ja. Da steht er, die Pfeife in der Hand. Er dreht sich zu mir um. Er lächelt. »Das Wild ist auü«
1
Der Galerist aus Wimbledon
»Die Grippe ist unangenehm«, sagte Sherlock Holmes. »Aber Sie haben vollkommen recht: Mit der Hilfe Ihrer Gemahlin wird das Kind schnell wieder zu Kräften kommen.«
»Das hoffe ich sehr«, erwiderte ich, dann hielt ich inne und starrte ihn mit aufgerissenen Augen an. Ich hatte meine Tasse schon zum Mund geführt, aber jetzt stellte ich sie so abrupt wieder hin, dass der Tee fast herausgeschwappt und die Untertasse vom Tisch gerutscht wäre. »Aber jetzt haben Sie wirklich Gedanken gelesen!«, rief ich. »Wie, um Himmels willen, haben Sie das gemacht, Holmes? Ich schwöre, ich habe weder über das Kind noch über seine Krankheit auch nur ein Wort verloren. Sie wissen, dass meine Frau verreist ist - das konnten Sie vermutlich schon daraus schließen, dass ich hier anwesend bin. Aber ich habe keinerlei Gründe für ihre Abwesenheit genannt, und ich denke, auch mit meinem Verhalten habe ich Ihnen keinerlei Hinweis darauf gegeben.«
Es war einer der letzten Novembertage des Jahres 1890, als dieser Wortwechsel stattfand. Ein gnadenloser Winter hatte London im Griff, auf den Straßen war es so kalt, dass sogar die Gaslaternen wie gefroren erschienen, und das wenige Licht, das sie spendeten, wurde vom ewigen Nebel geschluckt. Vor dem Fenster trieben die Passanten wie Geister über das Pflaster, mit gesenkten Köpfen und fest umhüllten Gesichtern, während die endlose Kolonne schwarzer Kutschen vorbeiratterte, deren Zugpferde eilig zum heimischen Stall strebten. Ich war froh, in diesem warmen Zimmer zu sitzen, wo ein Feuer im Kamin flackerte, wo der vertraute Duft von Pfeifentabak in der Luft hing und wo - bei allem Durcheinander verschiedenster Gegenstände, mit denen mein Freund sich umgab - doch stets das Gefühl herrschte, dass alles am rechten Fleck war.
Ich hatte Holmes telegrafiert, dass ich gern für ein paar Tage mein altes Zimmer wieder beziehen würde, und war sehr erleichtert, als er mir umgehend mitteilte, dass dem nichts entgegenstünde. Meine Praxis konnte eine Weile ohne mich auskommen. Und eine Zeitlang würde ich Strohwitwer sein. Insgeheim war mir aber auch daran gelegen, bei meinem Freund Wache zu halten, bis er gänzlich wieder genesen war. Denn Holmes hatte drei Tage und drei Nächte gehungert und auch kein Wasser zu sich genommen, um einem besonders üblen, rachsüchtigen Schurken den Eindruck zu vermitteln, dass er, Holmes, nicht mehr lange zu leben hätte und dem Tod nahe sei. Die List hatte ihren Zweck auf triumphale Weise erfüllt, und der besagte Verbrecher befand sich jetzt in den fähigen Händen von Inspektor Morton von Scotland Yard. Dennoch war ich in Sorge wegen der großen gesundheitlichen Belastung, die Holmes auf sich genommen hatte, und hielt es für angezeigt, ihn im Auge zu behalten, bis sein Stoffwechsel ganz wiederhergestellt war.
Ich war deshalb außerordentlich glücklich, als ich ihn dabei beobachtete, wie er sich einen großen Teller Scones mit Veilchenhonig und Sahne sowie ein Stück Rührkuchen und heißen Tee einverleibte, die uns Mrs. Hudson serviert hatte. Holmes war offensichtlich auf dem Weg der Besserung, er lag gemütlich in seinem großen Ledersessel, die Füße ausgestreckt vor dem Kamin und bekleidet mit seinem Morgenrock. Er war schon immer von ausgeprägt schlanker Statur, ja beinahe ausgemergelt gewesen, und seine scharfen Augen schienen durch die Adlernase noch schärfer zu werden, aber zumindest war jetzt schon etwas Farbe in seinem Gesicht, und seine Stimme und seine Haltung zeigten, dass er in jeder Hinsicht fast wieder der Alte war.
Er hatte mich herzlich begrüßt, und als ich ihm jetzt gegenübersaß, hatte ich das eigenartige Gefühl, aus einem Traum aufzuwachen. Es war, als hätte es die letzten zwei Jahre nie gegeben, als hätte ich meine geliebte Mary weder kennengelernt noch geheiratet und wäre auch nicht in das Haus in Kensington eingezogen, das ich durch den Verkauf der Agra-Perlen hatte erwerben können. Es schien, als wäre ich noch immer der Junggeselle, der hier bei Holmes gewohnt und regelmäßig den Nervenkitzel einer Verbrecherjagd und die allmähliche Entwirrung eines neuerlichen Geheimnisses mit ihm geteilt hatte.
Ich hatte den Eindruck, dass es ihm auch ganz recht war. Holmes sprach selten über die neue Häuslichkeit, die ich mir geschaffen hatte. Zum Zeitpunkt meiner Eheschließung war er verreist gewesen, und ich hatte mich schon damals gefragt, ob das wohl nur Zufall war. Es war nicht so, dass meine Ehe ein gänzlich verbotenes Thema zwischen uns war, aber es gab doch eine Art stillschweigende Übereinkunft, die Gespräche darüber nicht allzu sehr in die Länge zu ziehen. Mein Glück und meine Zufriedenheit blieben Holmes nicht verborgen, und er war großzügig genug, sie mir nicht zu missgönnen. Als ich eingetroffen war, hatte er sich nach Mrs. Watson erkundigt, aber keine weiteren Informationen erbeten, und ich hatte auch keine gegeben. Das alles machte seine zielsichere Bemerkung noch rätselhafter.
»Sie schauen mich an, als ob ich ein Hellseher wäre«, sagte Holmes lachend. »Ich nehme an, Sie haben die Werke von Edgar Allen Poe nicht zur Gänze gelesen?«
»Sie sprechen von seinem Detektiv, Auguste Dupin?«
»Er benutzte eine Methode, die er Ratiocination - Schlussfolgern - nannte. Seiner Ansicht nach war es möglich, die innersten Gedanken eines Menschen zu lesen, ohne dass er auch nur den Mund öffnen muss. Es konnte alles durch einfache Analyse seines Verhaltens erschlossen werden, das Zucken einer Augenbraue zum Beispiel. Die Idee beeindruckte mich damals sehr, aber ich glaube mich zu entsinnen, dass Sie eher skeptisch waren.«
»Und dafür muss ich jetzt sicher büßen«, bestätigte ich. »Aber wollen Sie mir wirklich weismachen, dass Sie auf Grund meines Benehmens beim Verzehr von Teegebäck auf die Krankheit eines Kindes schließen konnten, das Sie nicht einmal kennen?«
»Das und noch einiges andere«, erwiderte Holmes. »Ich konnte feststellen, dass Sie gerade vom Holborn Viaduct kommen. Sie haben Ihr Haus zwar in großer Eile verlassen, den Zug aber letzten Endes dann doch verpasst. Vielleicht hat es damit zu tun, dass Sie derzeit kein Hausmädchen haben.«
»Nein, Holmes!«, rief ich. »Das kann ich mir nicht bieten lassen!«
»Hab ich denn unrecht?«
»Nein, was Sie sagen, stimmt hundertprozentig. Aber wie ist das möglich ... ?«
»Alles eine Frage der Beobachtung und der entsprechenden Schlussfolgerungen. Wenn ich es Ihnen erläutern würde, erschiene alles geradezu kindisch einfach.«
»Und doch muss ich darauf bestehen, dass Sie genau das tun.«
»Nun denn, da Sie so freundlich waren, mir diesen Besuch abzustatten, muss ich mich wohl revanchieren«, erwiderte Holmes mit einem unterdrückten Gähnen. »Lassen Sie uns mit den Umständen beginnen, die Sie hierhergeführt haben. Wenn ich mich recht entsinne, steht bald Ihr zweiter Hochzeitstag an, nicht wahr?«
»In der Tat, Holmes. Der Jahrestag ist übermorgen.«
»Dann ist dies eine ungewöhnliche Zeit, um sich von Ihrer Frau zu trennen. Wenn Sie also beschlossen haben, Ihren Aufenthalt bei mir zu nehmen, und das auch noch für längere Zeit, dann muss es einen zwingenden Grund für Ihre Frau geben, Sie gerade jetzt allein zu lassen. Und welcher könnte das sein? Wenn ich mich recht entsinne, kam die ehemalige Miss Mary Morston aus Indien nach England und hatte hier weder Familie noch Freunde. Sie wurde als Gouvernante angestellt, um sich der Erziehung des Sohnes von Mrs. Cecil Forrester aus Camberwell zu widmen, wo Sie, wie Sie natürlich am besten wissen, ihre Bekanntschaft gemacht haben. Mrs. Forrester hat sich ihr gegenüber sehr nobel verhalten, besonders als es ihr schlecht ging, und ich könnte mir vorstellen, dass die beiden noch heute befreundet sind.«
»Das ist tatsächlich der Fall.«
»Wenn also jemand Ihre Frau von zu Hause wegruft, dann ist es sehr wahrscheinlich, dass es Mrs. Forrester ist. Ich habe mich daher gefragt, was für Gründe sich hinter so einer Vorladung verbergen könnten, und bei dem derzeitigen kalten Wetter fällt einem natürlich als Erstes eine Erkrankung ein - und zwar die eines Kindes. Wenn Mrs. Forresters Sohn also krank wäre, könnte ihm die Anwesenheit seiner früheren Gouvernante sehr viel Trost spenden.«
»Sein Name ist Richard, und er ist neun Jahre alt«, gab ich zu. »Aber wieso sind Sie sich so sicher, dass es die Grippe ist und keine viel ernstere Krankheit?«
»Wenn es ernster wäre, hätten Sie gewiss darauf bestanden, den Jungen selbst in Augenschein zu nehmen.«
»Ihre Überlegungen sind bis dahin in jeder Hinsicht absolut logisch«, sagte ich. »Aber sie erklären nicht, woher Sie wussten, dass sich meine Gedanken genau in dem Moment auf den Jungen gerichtet hatten, als Sie Ihre einleitende Feststellung trafen.«
»Sie vergeben mir hoffentlich, wenn ich Ihnen sage, dass Sie wie ein offenes Buch für mich sind, lieber Watson, und dass Sie mit jeder Lebensregung eine weitere Seite aufschlagen. Als Sie da so Ihren Tee tranken, sah ich, wie Ihre Blicke auf die Zeitung fielen, die neben Ihnen auf dem Tisch liegt. Sie lasen die Schlagzeile und drehten die Zeitung dann aufs Gesicht. Warum? Ich hatte sofort den Verdacht, dass es der Bericht über das Zugunglück letzte Woche in Norton Fitzwarren war, was Sie beunruhigte. Die ersten Untersuchungsergebnisse über den Tod der zehn Passagiere sind heute veröffentlicht worden, und das war verständlicherweise das Letzte, was Sie lesen wollten, nachdem Sie Ihre Frau gerade zum Bahnhof gebracht hatten.«
»Der Bericht hat mich tatsächlich an ihre Reise erinnert«, musste ich zugeben. »Aber die Krankheit des Jungen?«
»Von der Zeitung glitten Ihre Augen zu der Stelle neben dem Schreibtisch hin, wo Sie früher immer Ihre Arzttasche abgestellt haben, und Sie haben gelächelt. Da war ich mir sicher, dass die Reise Ihrer Frau mit einer Erkrankung zu tun haben musste.«
»Das sind doch alles Spekulationen, Holmes«, sagte ich. »Zum Beispiel nennen Sie Holborn Viaduct. Es hätte doch auch jeder andere Bahnhof in London sein können.«
»Sie wissen, dass ich Spekulationen verabscheue. Es ist zwar manchmal nötig, verschiedene Indizien mit Hilfe der Vorstellungskraft zu verknüpfen, aber das ist etwas völlig anderes. Mrs. Forrester wohnt in Camberwell, und die London Chatham & Dover Railway fährt regelmäßig in Holborn Viaduct ab. Ich hätte deshalb diesen Bahnhof auch dann als logischen Ausgangspunkt angesetzt, wenn Sie mir mit Ihrem Koffer, den Sie an der Tür abgestellt haben, keinen entscheidenden Hinweis gegeben hätten. Von meinem Sessel aus kann ich aber sehr deutlich den Anhänger von der Gepäckaufbewahrung in Holborn Viaduct sehen, der am Handgriff befestigt ist.«
»Aha. Und der Rest?«
»Die Tatsache, dass Sie Ihr Dienstmädchen eingebüßt und Ihr Haus in großer Eile verlassen haben? Die Spuren von schwarzer Schuhwichse an Ihrer Manschette sind ein klarer Beweis für diese Punkte. Sie haben sich selbst die Schuhe geputzt und waren dabei etwas sorglos. Obendrein haben Sie in der Eile Ihre Handschuhe vergessen -«
»Mrs. Hudson hat mir den Mantel abgenommen. Sie hätte auch meine Handschuhe nehmen können.«
»Wenn sie das getan hätte, warum sind dann Ihre Finger so kalt gewesen, als Sie mir die Hand gaben? Nein, Watson, Ihr gesamter Auftritt weist auf Verwirrung und Unordnung hin. «
»Alles, was Sie sagen, ist richtig«, musste ich zugeben. »Aber eine Frage habe ich doch noch. Wieso waren Sie sich so sicher, dass meine Frau den Zug verpasst hat?«
»Als Sie hier eintrafen, ist mir an Ihren Kleidern ein starker Geruch von Kaffee aufgefallen. Das war bemerkenswert; denn warum hätten Sie Kaffee trinken sollen, kurz bevor Sie zum Tee zu mir kamen? Die logische Schlussfolgerung war, dass Sie den Zug verpasst hatten und deshalb länger mit Ihrer Frau zusammenbleiben mussten, als Sie geplant hatten. Sie haben Ihren Koffer in der Gepäckaufbewahrung aufgegeben und sind mit ihr Kaffee trinken gegangen. Bei Lockhart's vielleicht? Man hat mir gesagt, dort sei er besonders gut.«
Es entstand eine kurze Pause, dann brach ich in Lachen aus. »Nun, Holmes, ich sehe, dass ich mir ganz umsonst Sorgen um Ihre Gesundheit gemacht habe. Sie sind genauso scharfsinnig wie immer.«
»Das war doch ganz elementar«, erwiderte der Detektiv mit einer müden Handbewegung. »Aber jetzt tritt vielleicht etwas Interessanteres auf den Plan. Wenn ich nicht irre, hat es an der Haustür geklingelt ... «
Und tatsächlich führte Mrs. Hudson kurz darauf einen Mann herein, der den Salon betrat, als ginge es um einen Auftritt in einem Theater im Westend. Er trug eine korrekte Abendgarderobe mit Frack, steifem Kragen und weißer Fliege, Weste, schwarzem Umhang und Lackschuhen. In der einen Hand hielt er einen Spazierstock aus Rosenholz mit silbernem Knauf und silberner Spitze, in der anderen ein Paar weißer Handschuhe. Sein dunkles, schwungvoll aus der hohen Stirn zurückgekämmtes Haar war erstaunlich lang, und er war glatt rasiert. Seine Haut war blass und sein Gesicht ein wenig zu lang, um wirklich gut aussehend zu sein. Sein Alter hätte ich auf ungefähr Mitte dreißig geschätzt, aber die Ernsthaftigkeit seines Auftretens und sein offensichtliches Unbehagen, sich in dieser Umgebung zu finden, ließen ihn älter erscheinen. Er erinnerte mich sofort an manche meiner Patienten, die einfach nicht glauben wollten, dass sie nicht gesund waren, bis der Druck der Symptome zu groß wurde. Das waren fast immer diejenigen, die am schwersten krank waren. Unser Besucher stand mit ähnlichem Widerwillen vor uns. Er wartete unter der Tür und sah sich mit nervösen Blicken um, während Mrs. Hudson dem Hausherrn seine Visitenkarte übergab.
»Mr. Carstairs«, sagte Holmes. »Bitte nehmen Sie doch Platz.«
»Sie müssen entschuldigen, dass ich auf diese Art hier hereinplatze ... unerwartet und unangekündigt.« Er hatte eine knappe, eher trockene Redeweise. Seine Augen waren immer noch nicht ganz bereit, unserem Blick zu begegnen. »Eigentlich wollte ich gar nicht herkommen. Ich lebe in Wimbledon, ganz in der Nähe des Greens, und bin wegen der Oper in London - obwohl ich gerade nicht die geringste Lust auf Wagner habe. Ich komme eben aus meinem Club, wo ich meinen Steuerberater getroffen habe, den ich schon seit vielen Jahren kenne und mittlerweile als Freund betrachte. Als ich ihm von den bedrückenden Ereignissen erzählte, die mein Leben seit einigen Tagen belasten, erwähnte er Ihren Namen und riet mir dringend, Sie schleunigst zu konsultieren. Mein Club liegt zufällig ganz in der Nähe, und deshalb beschloss ich, Sie unverzüglich aufzusuchen.«
»Sie haben meine volle Aufmerksamkeit«, sagte Holmes.
»Und was ist mit diesem Gentleman?« Der Besucher wandte sich mir zu.
»Das ist Dr. John Watson, mein engster Berater. Ich kann Ihnen versichern, dass Sie in seiner Gegenwart alles aussprechen können, was Sie mir vortragen wollen.«
»Nun denn. Mein Name ist Edmund Carstairs, wie Sie bereits wissen, und von Beruf bin ich Kunsthändler. Ich habe eine Galerie: Carstairs & Finch in der Albemarle Street. Seit sechs Jahren sind wir jetzt im Geschäft. Wir sind auf die großen Meister vom Ende des letzten und vom Anfang dieses Jahrhunderts spezialisiert: Gainsborough, Reynolds, Constable, Turner und so fort. Deren Gemälde sind Ihnen sicher vertraut, und ich kann Ihnen versichern, dass sie sehr gute Preise erzielen. Erst diese Woche habe ich einem privaten Kunden zwei Porträts von Anthony van Dyck verkauft, für 25 000 Pfund. Unser Unternehmen ist sehr erfolgreich und gedeiht ganz hervorragend, trotz der vielen neuen - und ich muss sagen: minderwertigen - Galerien, die überall in der Umgebung aus dem Boden schießen. Im Lauf der Jahre haben wir uns einen guten Ruf erworben. Wir gelten als nüchtern und zuverlässig. Zu unseren Kunden gehören viele Angehörige des Adels, und unsere Bilder hängen in einigen der schönsten Herrenhäuser des Landes.«
»Und Mr. Finch ist Ihr Partner?«
»Tobias Finch ist deutlich älter als ich, aber wir sind gleichberechtigte Partner. Wenn es überhaupt Meinungsverschiedenheiten zwischen uns gibt, dann beruhen sie darauf, dass er noch konservativer und vorsichtiger ist als ich. So interessiere ich mich zum Beispiel sehr für die neuen Werke, die jetzt in Frankreich entstehen. Ich weiß nicht, ob Sie schon von Monet gehört haben oder Degas? Erst vor einer Woche hat man mir ein Bild von Pissarro angeboten - eine Landschaft mit Schiffen, die ich ganz entzückend fand, farbenfroh. Aber mein Partner war äußerst ablehnend. Er behauptet, solche Bilder seien nichts als verschwommene Impressionen. Damit hat er nicht ganz unrecht, denn aus der Nähe betrachtet sind manche Umrisse nicht gut erkennbar. Ich habe ihn leider nicht davon überzeugen können, dass gerade darin die Pointe liegt. Aber ich will Sie nicht mit einem Vortrag über Kunst ermüden, meine Herren. Wir sind eine traditionelle Galerie, und das werden wir bis auf weiteres wohl auch bleiben.«
Holmes nickte. »Fahren Sie bitte fort.«
»Mr. Holmes, vor zwei Wochen wurde mir plötzlich bewusst, dass ich beobachtet werde. Ridgeway Hall - das ist der Name meines Hauses - steht an einer schmalen Straße, an deren anderem Ende sich auch ein paar Armenhäuser befinden. Obwohl sie in einiger Entfernung stehen, sind sie doch unsere nächsten Nachbarn. Die unmittelbare Umgebung meines Grundstücks ist Gemeindeland, und aus meinem Ankleidezimmer habe ich einen Blick auf den Dorfanger. Von dort aus habe ich an einem Dienstagmorgen auch diesen Mann gesehen. Er stand breitbeinig da, die Arme vor der Brust verschränkt, und was mir als Erstes auffiel, war seine außergewöhnliche Ruhe. Er war zu weit entfernt, als dass ich ihn deutlich hätte erkennen können, aber ich hatte den Eindruck, dass er ein Ausländer war. Er trug einen langen Gehrock mit gepolsterten Schultern, von einem Schnitt, der sicher nicht englisch war. Ich bin letztes Jahr in Amerika gewesen, und ich würde sagen, dass er aus diesem Land kam.
...
Übersetzung: Lutz W. Wolff
© der deutschen Ausgabe Insel Verlag Berlin 2011
Ich habe oft darüber nachgedacht, wie eigenartig die Verknüpfung von Umständen war, die zu meiner jahrzehntelangen Verbindung mit einer der ungewöhnlichsten und bemerkenswertesten Gestalten meiner Epoche geführt hat. Wäre ich ein Philosoph, so würde ich mich vielleicht fragen, inwieweit wir unser eigenes Schicksal überhaupt bestimmen oder die weitreichenden Folgen von Handlungen ermessen können, die zum gegebenen Zeitpunkt womöglich gänzlich unbedeutend erscheinen.
So war es zum Beispiel mein Vetter Arthur, der mich bei den Fünften Northumberland-Füsilieren als Wundarzt empfahl, weil er dachte, das wäre möglicherweise eine nützliche Erfahrung für mich. Hätte er wissen können, dass ich auf diese Weise schon einen Monat später nach Afghanistan geschickt werden würde? Der Konflikt, der später der Zweite Anglo-Afghanische Krieg genannt werden sollte, hatte ja zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal begonnen. Und was war mit dem Ghazi, der mir in der Schlacht von Maiwand mit einem einzigen Zucken des Zeigefingers eine Kugel in die Schulter gejagt hat? Über neunhundert Briten und Inder sind an jenem Tag gestorben, und dass ich dazugehören sollte, war mit Sicherheit seine Absicht. Aber er hatte nicht gut gezielt, und obwohl ich schwer verwundet war, hat mich mein gutherziger, treuer Bursche Jack Murray gerettet. Über zwei Meilen hat er mich durch feindliches Gelände zurück zu den britischen Linien getragen.
Murray starb im September desselben Jahres bei Kandahar und hat deshalb nie erfahren, dass ich als Invalide nach Hause geschickt wurde und anschließend - ein magerer Tribut für seine Heldentat - mein Leben am Rande der Londoner Gesellschaft mehrere Monate lang eher fristete als gestaltete. Am Ende dieser Zeit war ich ernsthaft entschlossen, an die Südküste Englands zu ziehen, was weniger meiner Neigung als der bitteren Realität immer schneller schwindender Mittel geschuldet war. Man hatte mir allerdings auch gesagt, dass die Seeluft meiner Gesundheit zuträglich wäre. Eine billigere Unterkunft in London wäre die wünschenswerte Alternative gewesen, und ich hätte beinahe Räumlichkeiten in der Euston Road bei einem Börsenmakler gemietet. Aber das Gespräch verlief nicht eben günstig, und so entschloss ich mich: Ich würde nach Hastings ziehen. Das war gesellschaftlich weniger attraktiv als Brighton, aber dafür nur halb so teuer. Meine Habseligkeiten waren schon fertig gepackt, und ich war bereit zur Abreise.
Aber ich hatte die Rechnung ohne Henry Stamford gemacht, keinen engen Freund, sondern einen bloßen Bekannten, der mir im St. Bart's Hospital als Assistent gedient hatte. Hätte er am Abend zuvor nicht übermäßig getrunken, so hätte er vermutlich kein Kopfweh gehabt, und wäre nicht dieses Kopfweh gewesen, hätte er sich bei dem chemischen Labor, wo er mittlerweile Arbeit gefunden hatte, wahrscheinlich nicht frei genommen. Aber so wie die Dinge lagen, bummelte er an diesem Tag eine Weile am Piccadilly Circus herum und beschloss dann, die Regent Street hinaufzuschlendern, um in Arthur Libertys East India House nach einem Geschenk für seine Frau zu suchen. Es ist schon merkwürdig! Wenn er einen anderen Weg genommen hätte, wäre alles ganz anders gekommen; denn dann wäre ich nicht mit ihm zusammengeprallt, als ich aus der Bar des Criterion trat, und das wiederum hätte zur Folge gehabt, dass ich womöglich Sherlock Holmes nie begegnet wäre.
Denn wie ich schon an anderer Stelle geschrieben habe: Es war Stamford, der mir den Vorschlag machte, mir eine Wohnung mit einem seiner Kollegen zu teilen, den er für einen analytischen Chemiker hielt und der im selben Krankenhaus wie er arbeitete. Stamford machte mich mit Holmes bekannt, der damals gerade nach einer Methode suchte, mit der man Blutflecken nachweisen konnte. Unsere erste Begegnung war eigenartig und verwirrend, aber auch äußerst denkwürdig ... ein deutlicher Vorgeschmack dessen, was noch kommen sollte.
Es war der große Wendepunkt meines Lebens. Ich habe keinerlei literarische Ambitionen, und wenn mir damals jemand gesagt hätte, ich würde dereinst Autor eines halben Dutzends veröffentlichter Bücher sein, hätte ich darüber gelacht. Aber ich glaube, ich kann in aller Bescheidenheit und ohne übertriebene Eitelkeit sagen, dass ich die Abenteuer dieses großen Mannes in einer Weise geschildert habe, der eine gewisse Anerkennung zuteilwurde, und ich habe es deshalb als Ehre empfunden, als man mich eingeladen hat, bei seinem Gedenkgottesdienst in der Westminster Abbey zu sprechen - eine Einladung, die ich respektvoll abgelehnt habe. Holmes hat über meinen Prosa stil oft gespottet, und ich hätte befürchten müssen, dass er mir, wenn ich tatsächlich auf die Kanzel gestiegen wäre, die ganze Zeit über die Schulter geschaut und über alles, was ich gesagt hätte, von jenseits des Grabes mit sanftem Spott gelacht hätte.
Er war immer der Ansicht, ich würde seine Fähigkeiten und die außergewöhnlichen Erkenntnisse seines brillanten Gehirns überschätzen. Er lächelte darüber, dass ich meine Erzählungen so konstruierte, als würde sich am Ende plötzlich alles auflösen, während es doch in Wirklichkeit von Anfang an offenbar gewesen sei. Mehr als einmal beschuldigte er mich eines trivialen Hangs zur Romantisierung und sagte, ich sei nicht besser als irgendein Schreiberling aus der Grub Street. Ich glaube, dass dieser Vorwurf insgesamt nicht gerechtfertigt war. In all den Jahren, in denen ich ihn gekannt habe, habe ich ihn nie auch nur mit einem einzigen belletristischen Werk gesehen - außer der allertrivialsten Schundliteratur; und obwohl ich keinerlei Anspruch auf literarische Fähigkeiten erhebe, wage ich doch zu behaupten, dass meine Erzählungen ihre Aufgabe einigermaßen erfüllt haben und er selbst seine Abenteuer nicht besser zu schildern gewusst hätte. Holmes hat das sogar zugegeben, als er eines Tages selbst zu Papier und Feder griff, um den merkwürdigen Fall Godfrey Emsworth in seinen eigenen Worten zu schildern. Diese Episode wurde schließlich als Der gebleichte Soldat vorgestellt, ein Titel, den ich alles andere als perfekt finde, denn bleichen würde ich allenfalls eine Mandel.
Ich habe, wie ich schon sagte, eine gewisse Anerkennung für meine literarischen Bemühungen erfahren, aber eigentlich ging es mir darum gar nicht. Aufgrund der verschiedenen schicksalhaften Wendungen, die ich oben beschrieben habe, bin ich auserwählt worden, die Leistungen des besten beratenden Detektivs der Welt ans Licht zu bringen, und habe einem begeisterten Publikum nicht weniger als sechzig Abenteuer vorstellen dürfen. Die lange Freundschaft mit diesem Mann aber war für mich persönlich viel wertvoller.
Es ist jetzt ein Jahr her, dass man ihn leblos und still in seinem Haus in den Downs fand, wo sein gewaltiger Verstand für immer zur Ruhe gekommen ist. Als ich die Nachricht erhielt, wurde mir sofort klar, dass ich nicht nur meinen engsten Freund und Gefährten verloren hatte, sondern in mancher Hinsicht auch meine ganze Daseinsberechtigung. Zwei Ehen, drei Kinder und sieben Enkel, eine erfolgreiche medizinische Karriere und der Verdienstorden, den mir Seine Majestät König Edward VII. im Jahre 1908 verliehen hat, mögen von manchen als beträchtliche Lebensleistung erachtet werden. Mir war das nie genug. Ich vermisse Holmes bis zum heutigen Tage, und oft genug bilde ich mir in meinen Tagträumen ein, noch einmal die vertrauten Worte zu hören: ›Das Wild ist auf, Watson!‹ Aber sie erinnern mich natürlich nur daran, dass ich nie wieder mit meinem treuen Dienstrevolver in der Faust in die neblige Düsternis der Baker Street tauchen werde. Ich denke oft an Holmes, der auf der anderen Seite jenes großen Schattens auf mich wartet, der uns alle irgendwann überfällt, und ich sehne mich sogar danach, wieder an seiner Seite zu stehen. Ich bin allein. Meine alte Verletzung wird mich bis zum Ende quälen, und während in Europa ein sinnloser Krieg wütet, spüre ich, dass ich die Welt, in der ich lebe, nicht länger verstehe.
Warum also greife ich erneut zur Feder, ein letztes Mal, um Erinnerungen zu wecken, die vielleicht besser vergessen wären? Vielleicht bin ich selbstsüchtig. Vielleicht ist es so wie bei vielen anderen Männern, die ihr Leben längst hinter sich haben, und ich suche eine Art Trost. Die Krankenschwestern, die mich pflegen, versichern mir, dass Schreiben der Therapie nützt und verhindern wird, dass ich in jene schwarzen Stimmungen verfalle, die mich gelegentlich heimsuchen. Aber es gibt auch noch einen anderen Grund.
Die Abenteuer um den Mann mit der flachen Mütze und das House of Silk waren in vieler Hinsicht die sensationellsten in der Karriere von Sherlock Holmes, aber seinerzeit war es unmöglich, sie zu erzählen. Warum das so ist, wird sehr bald klar werden. Sie waren eng miteinander verknüpft und ließen sich deshalb nicht trennen. Dennoch habe ich mir immer gewünscht, sie niederzuschreiben und den Holmes-Kanon so zu vollenden. In dieser Beziehung bin ich wie ein Wissenschaftler, der einer bestimmten Formel nachjagt, oder ein Briefmarkensammler, der auf seine Kollektion nicht wirklich stolz sein kann, solange es noch ein, zwei seltene Marken gibt, die sich seinem Zugriff entziehen. Ich kann nicht anders. Es muss getan werden.
Bisher war es unmöglich - und das lag nicht nur an der bekannten Abneigung gegen öffentliche Aufmerksamkeit, die meinen Freund auszeichnete. Nein, die Ereignisse, die ich im Folgenden beschreiben will, waren einfach zu ungeheuerlich und schockierend, um gedruckt zu werden. Und das sind sie noch immer. Es ist keine Übertreibung, wenn ich behaupte, dass sie das ganze Gefüge unserer Gesellschaft zerreißen könnten, wenn sie veröffentlicht würden, und das ist, besonders in Zeiten des Krieges, ein Risiko, das ich nicht eingehen darf. Wenn ich die Kraft dafür aufbringe, die Niederschrift abzuschließen, werde ich das Manuskript versiegeln und in einem Schließfach im Tresor von Cox & Co am Charing Cross deponieren lassen, wo auch gewisse andere private Papiere von mir aufbewahrt werden. Ich werde Anweisung geben, dass dieses Päckchen erst in hundert Jahren geöffnet werden darf. Man kann zwar nicht wissen, wie die Welt dann aussehen und welche Fortschritte die Menschheit bis dahin gemacht haben wird, aber vielleicht sind künftige Leser im Hinblick auf Skandale und Korruption doch etwas besser gewappnet, als es die heutigen sind. Ihnen hinterlasse ich ein letztes Porträt meines Freundes Sherlock Holmes - und eine Perspektive, die bisher noch ganz unbekannt war.
Aber ich habe schon zu viel Kraft auf meine eigenen Sorgen verschwendet. Ich hätte längst die Tür von Baker Street 221b öffnen und den Raum betreten sollen, in dem so viele Abenteuer begonnen haben. Ich sehe alles vor mir, das Glühen der Lampe hinter den Scheiben und die siebzehn Stufen, die mich von der Straße zur Tür führten. Wie weit weg sie mir heute erscheinen! Wie lange es her ist, dass ich zuletzt dort war! Ja. Da steht er, die Pfeife in der Hand. Er dreht sich zu mir um. Er lächelt. »Das Wild ist auü«
1
Der Galerist aus Wimbledon
»Die Grippe ist unangenehm«, sagte Sherlock Holmes. »Aber Sie haben vollkommen recht: Mit der Hilfe Ihrer Gemahlin wird das Kind schnell wieder zu Kräften kommen.«
»Das hoffe ich sehr«, erwiderte ich, dann hielt ich inne und starrte ihn mit aufgerissenen Augen an. Ich hatte meine Tasse schon zum Mund geführt, aber jetzt stellte ich sie so abrupt wieder hin, dass der Tee fast herausgeschwappt und die Untertasse vom Tisch gerutscht wäre. »Aber jetzt haben Sie wirklich Gedanken gelesen!«, rief ich. »Wie, um Himmels willen, haben Sie das gemacht, Holmes? Ich schwöre, ich habe weder über das Kind noch über seine Krankheit auch nur ein Wort verloren. Sie wissen, dass meine Frau verreist ist - das konnten Sie vermutlich schon daraus schließen, dass ich hier anwesend bin. Aber ich habe keinerlei Gründe für ihre Abwesenheit genannt, und ich denke, auch mit meinem Verhalten habe ich Ihnen keinerlei Hinweis darauf gegeben.«
Es war einer der letzten Novembertage des Jahres 1890, als dieser Wortwechsel stattfand. Ein gnadenloser Winter hatte London im Griff, auf den Straßen war es so kalt, dass sogar die Gaslaternen wie gefroren erschienen, und das wenige Licht, das sie spendeten, wurde vom ewigen Nebel geschluckt. Vor dem Fenster trieben die Passanten wie Geister über das Pflaster, mit gesenkten Köpfen und fest umhüllten Gesichtern, während die endlose Kolonne schwarzer Kutschen vorbeiratterte, deren Zugpferde eilig zum heimischen Stall strebten. Ich war froh, in diesem warmen Zimmer zu sitzen, wo ein Feuer im Kamin flackerte, wo der vertraute Duft von Pfeifentabak in der Luft hing und wo - bei allem Durcheinander verschiedenster Gegenstände, mit denen mein Freund sich umgab - doch stets das Gefühl herrschte, dass alles am rechten Fleck war.
Ich hatte Holmes telegrafiert, dass ich gern für ein paar Tage mein altes Zimmer wieder beziehen würde, und war sehr erleichtert, als er mir umgehend mitteilte, dass dem nichts entgegenstünde. Meine Praxis konnte eine Weile ohne mich auskommen. Und eine Zeitlang würde ich Strohwitwer sein. Insgeheim war mir aber auch daran gelegen, bei meinem Freund Wache zu halten, bis er gänzlich wieder genesen war. Denn Holmes hatte drei Tage und drei Nächte gehungert und auch kein Wasser zu sich genommen, um einem besonders üblen, rachsüchtigen Schurken den Eindruck zu vermitteln, dass er, Holmes, nicht mehr lange zu leben hätte und dem Tod nahe sei. Die List hatte ihren Zweck auf triumphale Weise erfüllt, und der besagte Verbrecher befand sich jetzt in den fähigen Händen von Inspektor Morton von Scotland Yard. Dennoch war ich in Sorge wegen der großen gesundheitlichen Belastung, die Holmes auf sich genommen hatte, und hielt es für angezeigt, ihn im Auge zu behalten, bis sein Stoffwechsel ganz wiederhergestellt war.
Ich war deshalb außerordentlich glücklich, als ich ihn dabei beobachtete, wie er sich einen großen Teller Scones mit Veilchenhonig und Sahne sowie ein Stück Rührkuchen und heißen Tee einverleibte, die uns Mrs. Hudson serviert hatte. Holmes war offensichtlich auf dem Weg der Besserung, er lag gemütlich in seinem großen Ledersessel, die Füße ausgestreckt vor dem Kamin und bekleidet mit seinem Morgenrock. Er war schon immer von ausgeprägt schlanker Statur, ja beinahe ausgemergelt gewesen, und seine scharfen Augen schienen durch die Adlernase noch schärfer zu werden, aber zumindest war jetzt schon etwas Farbe in seinem Gesicht, und seine Stimme und seine Haltung zeigten, dass er in jeder Hinsicht fast wieder der Alte war.
Er hatte mich herzlich begrüßt, und als ich ihm jetzt gegenübersaß, hatte ich das eigenartige Gefühl, aus einem Traum aufzuwachen. Es war, als hätte es die letzten zwei Jahre nie gegeben, als hätte ich meine geliebte Mary weder kennengelernt noch geheiratet und wäre auch nicht in das Haus in Kensington eingezogen, das ich durch den Verkauf der Agra-Perlen hatte erwerben können. Es schien, als wäre ich noch immer der Junggeselle, der hier bei Holmes gewohnt und regelmäßig den Nervenkitzel einer Verbrecherjagd und die allmähliche Entwirrung eines neuerlichen Geheimnisses mit ihm geteilt hatte.
Ich hatte den Eindruck, dass es ihm auch ganz recht war. Holmes sprach selten über die neue Häuslichkeit, die ich mir geschaffen hatte. Zum Zeitpunkt meiner Eheschließung war er verreist gewesen, und ich hatte mich schon damals gefragt, ob das wohl nur Zufall war. Es war nicht so, dass meine Ehe ein gänzlich verbotenes Thema zwischen uns war, aber es gab doch eine Art stillschweigende Übereinkunft, die Gespräche darüber nicht allzu sehr in die Länge zu ziehen. Mein Glück und meine Zufriedenheit blieben Holmes nicht verborgen, und er war großzügig genug, sie mir nicht zu missgönnen. Als ich eingetroffen war, hatte er sich nach Mrs. Watson erkundigt, aber keine weiteren Informationen erbeten, und ich hatte auch keine gegeben. Das alles machte seine zielsichere Bemerkung noch rätselhafter.
»Sie schauen mich an, als ob ich ein Hellseher wäre«, sagte Holmes lachend. »Ich nehme an, Sie haben die Werke von Edgar Allen Poe nicht zur Gänze gelesen?«
»Sie sprechen von seinem Detektiv, Auguste Dupin?«
»Er benutzte eine Methode, die er Ratiocination - Schlussfolgern - nannte. Seiner Ansicht nach war es möglich, die innersten Gedanken eines Menschen zu lesen, ohne dass er auch nur den Mund öffnen muss. Es konnte alles durch einfache Analyse seines Verhaltens erschlossen werden, das Zucken einer Augenbraue zum Beispiel. Die Idee beeindruckte mich damals sehr, aber ich glaube mich zu entsinnen, dass Sie eher skeptisch waren.«
»Und dafür muss ich jetzt sicher büßen«, bestätigte ich. »Aber wollen Sie mir wirklich weismachen, dass Sie auf Grund meines Benehmens beim Verzehr von Teegebäck auf die Krankheit eines Kindes schließen konnten, das Sie nicht einmal kennen?«
»Das und noch einiges andere«, erwiderte Holmes. »Ich konnte feststellen, dass Sie gerade vom Holborn Viaduct kommen. Sie haben Ihr Haus zwar in großer Eile verlassen, den Zug aber letzten Endes dann doch verpasst. Vielleicht hat es damit zu tun, dass Sie derzeit kein Hausmädchen haben.«
»Nein, Holmes!«, rief ich. »Das kann ich mir nicht bieten lassen!«
»Hab ich denn unrecht?«
»Nein, was Sie sagen, stimmt hundertprozentig. Aber wie ist das möglich ... ?«
»Alles eine Frage der Beobachtung und der entsprechenden Schlussfolgerungen. Wenn ich es Ihnen erläutern würde, erschiene alles geradezu kindisch einfach.«
»Und doch muss ich darauf bestehen, dass Sie genau das tun.«
»Nun denn, da Sie so freundlich waren, mir diesen Besuch abzustatten, muss ich mich wohl revanchieren«, erwiderte Holmes mit einem unterdrückten Gähnen. »Lassen Sie uns mit den Umständen beginnen, die Sie hierhergeführt haben. Wenn ich mich recht entsinne, steht bald Ihr zweiter Hochzeitstag an, nicht wahr?«
»In der Tat, Holmes. Der Jahrestag ist übermorgen.«
»Dann ist dies eine ungewöhnliche Zeit, um sich von Ihrer Frau zu trennen. Wenn Sie also beschlossen haben, Ihren Aufenthalt bei mir zu nehmen, und das auch noch für längere Zeit, dann muss es einen zwingenden Grund für Ihre Frau geben, Sie gerade jetzt allein zu lassen. Und welcher könnte das sein? Wenn ich mich recht entsinne, kam die ehemalige Miss Mary Morston aus Indien nach England und hatte hier weder Familie noch Freunde. Sie wurde als Gouvernante angestellt, um sich der Erziehung des Sohnes von Mrs. Cecil Forrester aus Camberwell zu widmen, wo Sie, wie Sie natürlich am besten wissen, ihre Bekanntschaft gemacht haben. Mrs. Forrester hat sich ihr gegenüber sehr nobel verhalten, besonders als es ihr schlecht ging, und ich könnte mir vorstellen, dass die beiden noch heute befreundet sind.«
»Das ist tatsächlich der Fall.«
»Wenn also jemand Ihre Frau von zu Hause wegruft, dann ist es sehr wahrscheinlich, dass es Mrs. Forrester ist. Ich habe mich daher gefragt, was für Gründe sich hinter so einer Vorladung verbergen könnten, und bei dem derzeitigen kalten Wetter fällt einem natürlich als Erstes eine Erkrankung ein - und zwar die eines Kindes. Wenn Mrs. Forresters Sohn also krank wäre, könnte ihm die Anwesenheit seiner früheren Gouvernante sehr viel Trost spenden.«
»Sein Name ist Richard, und er ist neun Jahre alt«, gab ich zu. »Aber wieso sind Sie sich so sicher, dass es die Grippe ist und keine viel ernstere Krankheit?«
»Wenn es ernster wäre, hätten Sie gewiss darauf bestanden, den Jungen selbst in Augenschein zu nehmen.«
»Ihre Überlegungen sind bis dahin in jeder Hinsicht absolut logisch«, sagte ich. »Aber sie erklären nicht, woher Sie wussten, dass sich meine Gedanken genau in dem Moment auf den Jungen gerichtet hatten, als Sie Ihre einleitende Feststellung trafen.«
»Sie vergeben mir hoffentlich, wenn ich Ihnen sage, dass Sie wie ein offenes Buch für mich sind, lieber Watson, und dass Sie mit jeder Lebensregung eine weitere Seite aufschlagen. Als Sie da so Ihren Tee tranken, sah ich, wie Ihre Blicke auf die Zeitung fielen, die neben Ihnen auf dem Tisch liegt. Sie lasen die Schlagzeile und drehten die Zeitung dann aufs Gesicht. Warum? Ich hatte sofort den Verdacht, dass es der Bericht über das Zugunglück letzte Woche in Norton Fitzwarren war, was Sie beunruhigte. Die ersten Untersuchungsergebnisse über den Tod der zehn Passagiere sind heute veröffentlicht worden, und das war verständlicherweise das Letzte, was Sie lesen wollten, nachdem Sie Ihre Frau gerade zum Bahnhof gebracht hatten.«
»Der Bericht hat mich tatsächlich an ihre Reise erinnert«, musste ich zugeben. »Aber die Krankheit des Jungen?«
»Von der Zeitung glitten Ihre Augen zu der Stelle neben dem Schreibtisch hin, wo Sie früher immer Ihre Arzttasche abgestellt haben, und Sie haben gelächelt. Da war ich mir sicher, dass die Reise Ihrer Frau mit einer Erkrankung zu tun haben musste.«
»Das sind doch alles Spekulationen, Holmes«, sagte ich. »Zum Beispiel nennen Sie Holborn Viaduct. Es hätte doch auch jeder andere Bahnhof in London sein können.«
»Sie wissen, dass ich Spekulationen verabscheue. Es ist zwar manchmal nötig, verschiedene Indizien mit Hilfe der Vorstellungskraft zu verknüpfen, aber das ist etwas völlig anderes. Mrs. Forrester wohnt in Camberwell, und die London Chatham & Dover Railway fährt regelmäßig in Holborn Viaduct ab. Ich hätte deshalb diesen Bahnhof auch dann als logischen Ausgangspunkt angesetzt, wenn Sie mir mit Ihrem Koffer, den Sie an der Tür abgestellt haben, keinen entscheidenden Hinweis gegeben hätten. Von meinem Sessel aus kann ich aber sehr deutlich den Anhänger von der Gepäckaufbewahrung in Holborn Viaduct sehen, der am Handgriff befestigt ist.«
»Aha. Und der Rest?«
»Die Tatsache, dass Sie Ihr Dienstmädchen eingebüßt und Ihr Haus in großer Eile verlassen haben? Die Spuren von schwarzer Schuhwichse an Ihrer Manschette sind ein klarer Beweis für diese Punkte. Sie haben sich selbst die Schuhe geputzt und waren dabei etwas sorglos. Obendrein haben Sie in der Eile Ihre Handschuhe vergessen -«
»Mrs. Hudson hat mir den Mantel abgenommen. Sie hätte auch meine Handschuhe nehmen können.«
»Wenn sie das getan hätte, warum sind dann Ihre Finger so kalt gewesen, als Sie mir die Hand gaben? Nein, Watson, Ihr gesamter Auftritt weist auf Verwirrung und Unordnung hin. «
»Alles, was Sie sagen, ist richtig«, musste ich zugeben. »Aber eine Frage habe ich doch noch. Wieso waren Sie sich so sicher, dass meine Frau den Zug verpasst hat?«
»Als Sie hier eintrafen, ist mir an Ihren Kleidern ein starker Geruch von Kaffee aufgefallen. Das war bemerkenswert; denn warum hätten Sie Kaffee trinken sollen, kurz bevor Sie zum Tee zu mir kamen? Die logische Schlussfolgerung war, dass Sie den Zug verpasst hatten und deshalb länger mit Ihrer Frau zusammenbleiben mussten, als Sie geplant hatten. Sie haben Ihren Koffer in der Gepäckaufbewahrung aufgegeben und sind mit ihr Kaffee trinken gegangen. Bei Lockhart's vielleicht? Man hat mir gesagt, dort sei er besonders gut.«
Es entstand eine kurze Pause, dann brach ich in Lachen aus. »Nun, Holmes, ich sehe, dass ich mir ganz umsonst Sorgen um Ihre Gesundheit gemacht habe. Sie sind genauso scharfsinnig wie immer.«
»Das war doch ganz elementar«, erwiderte der Detektiv mit einer müden Handbewegung. »Aber jetzt tritt vielleicht etwas Interessanteres auf den Plan. Wenn ich nicht irre, hat es an der Haustür geklingelt ... «
Und tatsächlich führte Mrs. Hudson kurz darauf einen Mann herein, der den Salon betrat, als ginge es um einen Auftritt in einem Theater im Westend. Er trug eine korrekte Abendgarderobe mit Frack, steifem Kragen und weißer Fliege, Weste, schwarzem Umhang und Lackschuhen. In der einen Hand hielt er einen Spazierstock aus Rosenholz mit silbernem Knauf und silberner Spitze, in der anderen ein Paar weißer Handschuhe. Sein dunkles, schwungvoll aus der hohen Stirn zurückgekämmtes Haar war erstaunlich lang, und er war glatt rasiert. Seine Haut war blass und sein Gesicht ein wenig zu lang, um wirklich gut aussehend zu sein. Sein Alter hätte ich auf ungefähr Mitte dreißig geschätzt, aber die Ernsthaftigkeit seines Auftretens und sein offensichtliches Unbehagen, sich in dieser Umgebung zu finden, ließen ihn älter erscheinen. Er erinnerte mich sofort an manche meiner Patienten, die einfach nicht glauben wollten, dass sie nicht gesund waren, bis der Druck der Symptome zu groß wurde. Das waren fast immer diejenigen, die am schwersten krank waren. Unser Besucher stand mit ähnlichem Widerwillen vor uns. Er wartete unter der Tür und sah sich mit nervösen Blicken um, während Mrs. Hudson dem Hausherrn seine Visitenkarte übergab.
»Mr. Carstairs«, sagte Holmes. »Bitte nehmen Sie doch Platz.«
»Sie müssen entschuldigen, dass ich auf diese Art hier hereinplatze ... unerwartet und unangekündigt.« Er hatte eine knappe, eher trockene Redeweise. Seine Augen waren immer noch nicht ganz bereit, unserem Blick zu begegnen. »Eigentlich wollte ich gar nicht herkommen. Ich lebe in Wimbledon, ganz in der Nähe des Greens, und bin wegen der Oper in London - obwohl ich gerade nicht die geringste Lust auf Wagner habe. Ich komme eben aus meinem Club, wo ich meinen Steuerberater getroffen habe, den ich schon seit vielen Jahren kenne und mittlerweile als Freund betrachte. Als ich ihm von den bedrückenden Ereignissen erzählte, die mein Leben seit einigen Tagen belasten, erwähnte er Ihren Namen und riet mir dringend, Sie schleunigst zu konsultieren. Mein Club liegt zufällig ganz in der Nähe, und deshalb beschloss ich, Sie unverzüglich aufzusuchen.«
»Sie haben meine volle Aufmerksamkeit«, sagte Holmes.
»Und was ist mit diesem Gentleman?« Der Besucher wandte sich mir zu.
»Das ist Dr. John Watson, mein engster Berater. Ich kann Ihnen versichern, dass Sie in seiner Gegenwart alles aussprechen können, was Sie mir vortragen wollen.«
»Nun denn. Mein Name ist Edmund Carstairs, wie Sie bereits wissen, und von Beruf bin ich Kunsthändler. Ich habe eine Galerie: Carstairs & Finch in der Albemarle Street. Seit sechs Jahren sind wir jetzt im Geschäft. Wir sind auf die großen Meister vom Ende des letzten und vom Anfang dieses Jahrhunderts spezialisiert: Gainsborough, Reynolds, Constable, Turner und so fort. Deren Gemälde sind Ihnen sicher vertraut, und ich kann Ihnen versichern, dass sie sehr gute Preise erzielen. Erst diese Woche habe ich einem privaten Kunden zwei Porträts von Anthony van Dyck verkauft, für 25 000 Pfund. Unser Unternehmen ist sehr erfolgreich und gedeiht ganz hervorragend, trotz der vielen neuen - und ich muss sagen: minderwertigen - Galerien, die überall in der Umgebung aus dem Boden schießen. Im Lauf der Jahre haben wir uns einen guten Ruf erworben. Wir gelten als nüchtern und zuverlässig. Zu unseren Kunden gehören viele Angehörige des Adels, und unsere Bilder hängen in einigen der schönsten Herrenhäuser des Landes.«
»Und Mr. Finch ist Ihr Partner?«
»Tobias Finch ist deutlich älter als ich, aber wir sind gleichberechtigte Partner. Wenn es überhaupt Meinungsverschiedenheiten zwischen uns gibt, dann beruhen sie darauf, dass er noch konservativer und vorsichtiger ist als ich. So interessiere ich mich zum Beispiel sehr für die neuen Werke, die jetzt in Frankreich entstehen. Ich weiß nicht, ob Sie schon von Monet gehört haben oder Degas? Erst vor einer Woche hat man mir ein Bild von Pissarro angeboten - eine Landschaft mit Schiffen, die ich ganz entzückend fand, farbenfroh. Aber mein Partner war äußerst ablehnend. Er behauptet, solche Bilder seien nichts als verschwommene Impressionen. Damit hat er nicht ganz unrecht, denn aus der Nähe betrachtet sind manche Umrisse nicht gut erkennbar. Ich habe ihn leider nicht davon überzeugen können, dass gerade darin die Pointe liegt. Aber ich will Sie nicht mit einem Vortrag über Kunst ermüden, meine Herren. Wir sind eine traditionelle Galerie, und das werden wir bis auf weiteres wohl auch bleiben.«
Holmes nickte. »Fahren Sie bitte fort.«
»Mr. Holmes, vor zwei Wochen wurde mir plötzlich bewusst, dass ich beobachtet werde. Ridgeway Hall - das ist der Name meines Hauses - steht an einer schmalen Straße, an deren anderem Ende sich auch ein paar Armenhäuser befinden. Obwohl sie in einiger Entfernung stehen, sind sie doch unsere nächsten Nachbarn. Die unmittelbare Umgebung meines Grundstücks ist Gemeindeland, und aus meinem Ankleidezimmer habe ich einen Blick auf den Dorfanger. Von dort aus habe ich an einem Dienstagmorgen auch diesen Mann gesehen. Er stand breitbeinig da, die Arme vor der Brust verschränkt, und was mir als Erstes auffiel, war seine außergewöhnliche Ruhe. Er war zu weit entfernt, als dass ich ihn deutlich hätte erkennen können, aber ich hatte den Eindruck, dass er ein Ausländer war. Er trug einen langen Gehrock mit gepolsterten Schultern, von einem Schnitt, der sicher nicht englisch war. Ich bin letztes Jahr in Amerika gewesen, und ich würde sagen, dass er aus diesem Land kam.
...
Übersetzung: Lutz W. Wolff
© der deutschen Ausgabe Insel Verlag Berlin 2011
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Autoren-Porträt von Anthony Horowitz
Anthony Horowitz, geb. 1956 in Stanmore (England), ist einer der erfolgreichsten Autoren Englands. In Deutschland ist er vor allem für seine Jugendbücher um den Helden Alex Rider bekannt. Neben zahlreichen Büchern hat er Theaterstücke und Drehbücher (u. a. Inspector Barnaby ) geschrieben.
Bibliographische Angaben
- Autor: Anthony Horowitz
- 2011, 1, 350 Seiten, Maße: 14,3 x 21,8 cm, Leinen, Deutsch
- Übersetzung: Wolff, Lutz-Werner
- Übersetzer: Lutz-W. Wolff
- Verlag: INSEL VERLAG
- ISBN-10: 3458175431
- ISBN-13: 9783458175438
Rezension zu „Das Geheimnis des weißen Bandes “
»In Das Geheimnis des weißen Bandes belebt Anthony Horowitz eine Legende und tritt damit erfolgreich in die Fußspuren seines großen Vorbilds Sir Arthur Conan Doyle.«
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