Das Labyrinth der Wörter
Roman
Germain ist Mitte 40, kauzig und lebt allein in einem Wohnwagen. Da lernt er die alte Dame Marguerite im Park kennen. Schnell freunden sich die beiden an. Und als Marguerite beginnt, Germain aus Büchern vorzulesen, eröffnet sich ihm eine ganz neue Welt.
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Produktinformationen zu „Das Labyrinth der Wörter “
Germain ist Mitte 40, kauzig und lebt allein in einem Wohnwagen. Da lernt er die alte Dame Marguerite im Park kennen. Schnell freunden sich die beiden an. Und als Marguerite beginnt, Germain aus Büchern vorzulesen, eröffnet sich ihm eine ganz neue Welt.
Klappentext zu „Das Labyrinth der Wörter “
Nachmittage mit MargueritteMit Mitte 40 und ohne festen Job haust Germain in einem alten Wohnwagen, schnitzt Holzfiguren, baut Gemüse an und trifft sich ab und zu mit Annette - ob es Liebe ist, kann er jedoch nicht sagen, denn die hat er im Leben noch nie erfahren. Bis er eines Tages im Park die zierliche Margueritte kennen lernt, die dort, genau wie er, die Tauben zählt. Obwohl sie unterschiedlicher nicht sein könnten, sind die beiden bald ein Herz und eine Seele. Die lebenskluge alte Dame ist zudem eine passionierte Leserin, und als sie dem ungeschliffenen Hünen vorzulesen beginnt, eröffnet sich Germain eine völlig neue Welt.
Lese-Probe zu „Das Labyrinth der Wörter “
Das Labyrinth der Wörter von Marie-Sabine Roger... mehr
Ich habe beschlossen, Margueritte zu adoptieren. Sie feiert bald ihren sechsundachtzigsten Geburtstag, da sollte man nicht zu lange warten. Alte Leute sterben gern.
Und wenn ihr dann was passiert - was weiß ich, dass sie auf der Straße hinfällt oder dass man ihr die Handtasche klaut -, werde ich da sein. Ich werde sofort losrennen, die Leute zur Seite schieben und sagen: »Okay! Schon gut, ihr könnt euch verziehen! Ich kümmere mich darum: Das ist meine Großmutter. «
Dass sie nur adoptiert ist, steht ihr ja nicht auf der Stirn geschrieben.
Ich kann ihr dann die Zeitung und ihre Pfefferminzbonbons besorgen. Mich im Park neben sie setzen, sonntags zu ihr ins Altenheim Les Peupliers gehen. Und mittags zum Essen bleiben, wenn ich will.
Klar, gekonnt hätte ich das vorher auch, aber ich hätte mich eben wie zu Besuch gefühlt. Jetzt werde ich das alles tun, weil ich Lust dazu habe, aber auch aus Verpflichtung. Das kommt nämlich dazu: die familiäre Verpflichtung. Eine Sache, die mir gut gefallen wird, das fühle ich.
Dass ich Margueritte getroffen habe, hat mein Leben verändert. Jemanden zu haben, an den ich gern denke, wenn ich allein bin - jemand anders als mich selbst, meine ich -, das ist verdammt komisch. Daran bin ich nicht gewöhnt. Vor ihr habe ich nie eine Familie gehabt.
Ich meine, klar. Ich habe eine Mutter, geht ja nicht anders. Aber abgesehen davon, dass ich neun Monate lang in ihr drin war, haben wir nie viel geteilt, nur schlechte Zeiten. An Schönes kann ich mich nicht erinnern. Ich habe auch einen Vater, gezwungenermaßen. Aber ich habe nicht lange was von ihm gehabt, er hat meine Mutter gevögelt, und das war's. Was mich allerdings nicht daran gehindert hat, groß und stark zu werden, ganz im Gegenteil: hundertzehn Kilo Muskeln und keine Spur von Fett, ein Meter neunundachtzig in die Höhe, der Rest in die Breite. Wenn meine Eltern mich gewollt hätten, wäre ich sicher ihr ganzer Stolz gewesen. Pech gehabt.
Was für mich auch neu ist: Vor Margueritte habe ich noch nie jemanden geliebt. Ich rede nicht von sexuellen Dingen, ich rede von Gefühlen, ohne dass man gleich im Bett landet. Zärtlichkeit und Zuneigung, Vertrauen. So was alles. Wörter, die mir noch nicht so leicht über die Lippen gehen, schließlich hat man sie mir gegenüber nie so direkt benutzt, bevor Margueritte damit angefangen hat.
Sehr anständige und reine Gefühle.
Das muss an dieser Stelle gesagt sein, ich kenne hier nämlich welche, die bekloppt genug wären, um Bemerkungen zu machen wie: »Na, Germain, du stehst wohl auf Omas? Machst dich an Seniorinnen ran? «
Denen würde ich am liebsten eine reinhauen.
Schade, dass ich Margueritte noch nicht kannte, als ich sie wirklich gebraucht hätte, nämlich als ich klein war und meine Zeit damit verbrachte, allen Blödsinn auszuprobieren, den es so gibt.
Aber das Leben ist nicht zum Bedauern da: Was vorbei ist, ist vorbei.
Ich habe mich ganz allein erschaffen, na und? Auch wenn nicht alles nach Vorschrift gebaut ist, es hält.
Margueritte dagegen sackt allmählich in sich zusammen. Sie hält sich schon ganz schief, gebeugt bis über die Knie. Ich werde mich gut um sie kümmern müssen, wenn ich noch eine Weile was von ihr haben will. Sie spuckt zwar große Töne, aber sie ist zerbrechlich. Sie hat Knochen wie ein Vögelchen, ich könnte sie mühelos zwischen zwei Fingern zerdrücken. Aber das ist nur so dahergesagt. Ich würde das natürlich nie tun. Seiner Großmutter die Knochen brechen, dazu müsste man ja völlig behämmert sein! Ich will damit nur sagen, wie zart sie ist. Sie erinnert mich an diese kleinen Glastierchen, die sie bei Granjean im Schreibwarenladen verkaufen. An das Reh vor allem, im Schaufenster. Es ist winzig, und die Beine, so was von fein! Nicht dicker als eine Wimper. So ist Margueritte. Wenn ich an diesem Reh vorbeikomme, würde ich es am liebsten kaufen. Drei Euro, was ist das schon? Aber ich weiß genau, in meiner Tasche würde es sofort kaputtgehen. Und wo sollte ich es denn hinstellen? In meiner Bude gibt es keine Regale für solches Zeug. Ein Wohnwagen ist klein.
Auch für Margueritte hatte ich zuerst keinen Platz. In mir drin, meine ich. Als ich angefangen habe, sie liebzugewinnen, habe ich gleich gemerkt, dass ich Platz schaffen musste, nur für sie und meine Gefühle. Sie zu lieben, das kam nämlich zum ganzen Rest dazu - zu allem anderen, was ich schon im Schädel hatte -, und darauf war ich nicht vorbereitet. Also habe ich mich ans Aufräumen gemacht. Dabei ist mir klargeworden, dass ich nicht viel Wichtiges zu behalten hatte. Ich schleppte einen ganzen Haufen Gerümpel mit mir rum. Die Spielshows im Fernsehen, die Witze im Radio, das Gequatsche mit Jojo Zekouc in der Kneipe Chez Francine. Das Kartenspielen mit Marco, Julien und Landremont. Und dann die Abende, wo ich zu Annette ging, um mit ein paar Liebesworten zu vögeln. Aber das ist sogar gut, um den Kopf freizukriegen: Mit Druck auf den Eiern kann man nicht denken. Jedenfalls nicht richtig und mit Tiefgang.
Von Annette erzähle ich ein anderes Mal. Zwischen ihr und mir ist es auch nicht mehr so wie früher.
Als ich Margueritte zum ersten Mal gesehen habe, saß sie auf der Bank da drüben. Unter der dicken Linde
neben dem Wasserbecken. Es muss so gegen drei Uhr nachmittags gewesen sein, strahlender Sonnenschein, zu warm für die Jahreszeit. Das ist nicht gut für die Bäume: Sie treiben auf Teufel komm raus, und wenn es dann noch mal friert, gehen die Blüten ein, und es gibt kaum Früchte.
Sie war angezogen wie immer. Das konnte ich damals natürlich nicht wissen, dass sie sich immer so anzog. Die Gewohnheiten der Leute kennt man ja erst, wenn man die Leute kennt. Beim ersten Mal hat man noch keine Ahnung, wie es weitergeht. Man weiß nicht, ob man sich lieben, ob man sich später einmal an den ersten Tag erinnern wird. Ob man sich am Ende beschimpfen oder sogar prügeln wird. Oder ob man Freunde wird. Und die vielen anderen Oders und Wenns. Und die Vielleichts.
Die Vielleichts, das sind die Schlimmsten.
Margueritte saß einfach da und schaute Löcher in die Luft. Direkt vor der Rasenfläche am Ende der Hauptallee. Sie trug ein Kleid, das mit grauen und lila Blumen in der gleichen Farbe wie ihr Haar bedruckt war, eine bis oben zugeknöpfte graue Strickjacke, dazu dunkle Strümpfe und Schuhe. Neben ihr stand eine schwarze Tasche. Das war ganz schön unvorsichtig. So eine abgestellte Tasche, die klaue ich doch mit links. Wenn ich ich sage, meine ich natürlich nicht mich. Ich steht hier für die Leute. Das Gesindel, genauer gesagt. Zumal so eine kleine Alte leicht abzuhängen ist. Du musst sie bloß mal kräftig mit der flachen Hand schubsen, und das war's dann schon: Sie fällt mit einem kleinen Schrei hin, holt sich einen Oberschenkelhalsbruch und bleibt halbtot liegen, und du - nicht Sie oder ich natürlich, das Gesindel -, du kannst in aller Ruhe abhauen, bist schon längst über alle Berge. Fragen Sie mich nicht, wo ich das alles hernehme. Egal, sie war jedenfalls unvorsichtig.
An diesem Montag, wo ich sie kennengelernt habe, hätte ich genauso gut auch nicht in den Park kommen können. Ich hätte beschäftigt sein, keine freie Minute haben können. Was glauben Sie denn? Es gibt Tage, an denen ich Sachen zu tun habe: den Stamm der jungen Pinien, die sie am Rand der Umgehungsstraße gepflanzt haben, mit meinen Händen abmessen, um das Baumsterben zu überwachen (die Hälfte von denen geht ein, da bin ich mir sicher, deshalb kontrolliere ich das. Kein Wunder übrigens, dass sie eingehen, wenn man sich anschaut, wie die Grünflächenleute von der Gemeinde rumstümpern!). Trainieren, so lange wie möglich zu rennen oder vor meinem Wohnwagen mit der Schrotflinte auf leere Dosen zu schießen. Wegen der Ausdauer und den Reflexen, falls ich eines Tages mal einem Attentat entkommen oder Leute retten muss - besser, man ist da vorbereitet. Und einen Haufen anderer Sachen. Verschiedenste andere Sachen. Zum Beispiel schnitze ich mit meinem Taschenmesser. Ich mache Tiere, kleine Figuren aus Holz. Leute, die ich auf der Straße sehe, Katzen, Hunde, egal was.
Oder ich gehe in den Park und zähle die Tauben.
Im Vorbeigehen nutze ich die Gelegenheit, um am Gefallenendenkmal meinen Namen in Großbuchstaben auf die Marmorplatte unter dem Soldaten zu schreiben. Natürlich kommt jedes Mal jemand von der Gemeinde, der ihn wieder wegmacht und mich zusammenscheißt: »Germain, jetzt hör doch mal auf mit dem Blödsinn, ich hab die Schnauze voll! Nächstes Mal machst du das selbst sauber!«
Dabei sind das Eddings »mit unauslöschlicher Tinte« - die sich nicht auslöschen lässt / siehe: wisch- und wasserfest -, und die waren sauteuer. Das werde ich denen sagen, im Schreibwarenladen, dass das Verarschung ist. »Alle Oberflächen« steht drauf, das ist doch Betrug. Marmor ist eine Oberfläche, soweit ich weiß - wie Margueritte sagen würde, die immer so gepflegt redet.
Wie auch immer, sobald mein Name ausgelöscht ist, muss ich eben wieder von vorn anfangen. Ist nicht schlimm, ich bin geduldig. Irgendwann bleibt er vielleicht stehen.
Ich weiß auch wirklich nicht, wen das stören sollte, dass ich meinen Namen noch dazusetze: Ich schreibe ihn ganz unten hin. Nicht einmal in der alphabetischen Reihenfolge, dabei könnte ich da pingelig sein, Chazes kommt nämlich nicht am Ende, ganz und gar nicht. Ich könnte mich an die fünfte Stelle setzen auf ihrer Liste!
Zwischen Pierre Boisverte und Ernest Combereau.
Das habe ich eines Tages zu Jacques Devallée gesagt, der im Rathaus ein hohes Tier ist. Er hat genickt und gemeint, ich hätte im Grunde nicht unrecht, Namenslisten wären tatsächlich dazu da, dass man Namen draufschreibt.
»Gleichwohl«, hat er hinzugefügt, »gleichwohl gibt es da ein Detail zu berücksichtigen ...«
»Ach ja, und das wäre?«
»Nun, wenn du etwas genauer hinsiehst, wirst du bemerken, dass all die, deren Namen auf dem Gefallenendenkmal eingraviert sind, eines gemeinsam haben: Sie sind tot.«
»Aha, so ist das! Das heißt, um draufstehen zu dürfen, muss man ins Gras gebissen haben?«
»In der Tat, das ist gewissermaßen gemeint ...«
Und obwohl er so überlegen dreingeschaut hat, habe ich ihm gesagt, wenn ich erst mal tot wäre, dann müssten sie mich wohl oder übel auch eingravieren, auf ihrer verdammten Liste.
»Und warum?«
»Weil ich ein Papier für den Notar schreiben werde. Ich werde ihm sagen, er soll das in mein Testament aufnehmen. Der letzte Wille eines Verstorbenen, da muss man sich dran halten.«
»Nicht unbedingt, Germain. Nicht unbedingt ...«
Trotzdem, ich weiß, was ich sage. Ich habe auf dem Heimweg darüber nachgedacht: Nach meinem Tod (wann immer es dem Herrn beliebt, Seine Stunde wird die meine sein) will ich, dass man meinen Namen draufschreibt. An die fünfte Stelle. Die fünfte von oben, denn da gehört er hin, da soll mich keiner übers Ohr hauen! Sollen sie sehen, wie sie das hinkriegen, die Lackaffen von der Gemeinde. Ein Testament ist ein Testament, basta! Jawohl, habe ich mir gesagt, ich werde dieses Papier schreiben. Und ich werde verlangen, dass Devallée mich persönlich eingraviert, nur um ihn zu ärgern. Ich werde zu Monsieur Olivier gehen, um die Sache mit ihm zu besprechen. Der ist Notar, der wird schon wissen, was zu tun ist, oder? Aber an diesem Montag, wo ich Margueritte kennengelernt habe, da dachte ich nicht an das Gefallenendenkmal, da hatte ich andere Sachen im Kopf. Ich hatte beschlossen, Blumensamen zu kaufen und auf dem Rückweg dann im Park vorbeizugehen, um die Tauben zu zählen. Das ist viel schwieriger, als es aussieht: Auch wenn man sich ganz vorsichtig nähert und sich kein bisschen rührt, während man sie zählt, flattern sie ständig rum, alle durcheinander. Dagegen kann man nichts machen. Ein bisschen nerven sie, diese Tauben.
Wenn das so weitergeht, werde ich nur noch die Schwäne zählen. Erstens bewegen die sich weniger, und außerdem ist es einfacher: Es sind nur drei.
Margueritte saß also auf dieser Bank unter der Linde, vor der Rasenfläche. Als ich die kleine Alte gesehen habe, die so aussah, als wäre sie eine von denen, die den Tauben Brot zuwerfen, um sie anzulocken, ist mir fast die Lust vergangen. Wieder ein Tag im Eimer, habe ich gedacht. Meine Vogelzählung kann ich auf morgen verschieben. Oder auf jeden anderen Tag, der dem Herrn in Seiner Gnade recht sein wird.
Um die Tauben zu zählen, braucht man Ruhe. Wenn da jemand kommt und sie stört, kann man es gleich vergessen. Sie reagieren sehr empfindlich auf Blicke, diese Vögel. Es ist unglaublich, wie sie darauf anspringen! Eingebildet sogar, könnte man sagen. Kaum interessiert sich jemand für sie, fangen sie an rumzuhüpfen, rumzuflattern, den Kropf aufzublasen...
Aber dann war es gar nicht so. So kann man sich täuschen. 1/4ber die Leute, den Herrn im Himmel, alte Frauen und die Tauben.
Sie haben ihr nicht ihr Theater vorgespielt. Sie sind alle schön zusammengeblieben, ganz brav. Sie hat ihnen keine Zwiebackkrümel hingeworfen und nicht mit zittriger Stimme putt-putt-putt gerufen.
Sie hat mich nicht aus dem Augenwinkel gemustert, wie es die Leute sonst immer tun, wenn ich zähle.
Sie ist ganz still sitzen geblieben. Erst in dem Moment, wo ich gerade wieder gehen wollte, hat sie gesagt: »Neunzehn.«
Da ich nur ein paar Meter entfernt war, habe ich sie genau gehört. »Reden Sie mit mir? «
»Ich sagte, es sind neunzehn. Die Kleine da, mit der schwarzen Feder an der Flügelspitze, sehen Sie die? Das ist eine Neue, stellen Sie sich vor. Sie ist erst seit Samstag da.«
Das fand ich ziemlich stark: Ich war auf die gleiche Zahl gekommen wie sie.
»Sie zählen die Tauben also auch?«
Sie hat die Hand an ihr Ohr gehalten und gefragt: »Wie meinen?«
Ich habe gebrüllt: »Sie-zäh-len-die-Tau-ben-al-so auch?«
»Natürlich zähle ich sie, junger Mann. Aber Sie brauchen nicht so zu schreien, wissen Sie? Es genügt, wenn Sie
langsam mit mir reden und deutlich artikulieren ... nun
ja, aber doch laut genug, wenn es Ihnen nichts ausmacht!«
Ich musste lachen, weil sie mich »junger Mann« nannte. Obwohl es eigentlich gar nicht so daneben war, wenn ich es mir richtig überlege. Man kann mich jung oder alt finden, je nachdem. Es hängt alles davon ab, wer spricht. Logisch: Alles ist relativ - nur durch seine Beziehung auf etwas bestimmt.
Für einen so alten Menschen war ich jung, das ist jedenfalls klar, von der Relativität mal abgesehen.
Als ich mich neben sie gesetzt habe, ist mir aufgefallen, dass sie wirklich eine ganz kleine Oma war. Man benutzt manchmal Ausdrücke wie »Winzling« oder »Zwerg«, ohne darüber nachzudenken. Aber in ihrem Fall war das nicht übertrieben: Ihre Füße reichten nicht mal bis auf den Boden. Während ich meine langen Knochen immer weit vor mir ausstrecken muss.
Ich habe sie höflich gefragt: »Kommen Sie oft hierher?«
Sie hat gelächelt. »Fast jeden Tag, den der liebe Gott werden lässt.«
»Sind Sie Nonne?«
Sie hat erstaunt den Kopf geschüttelt: »Ordensschwester, meinen Sie? Himmel, nein! Wie kommen Sie denn darauf?«
»Ich weiß nicht. Sie haben vom lieben Gott geredet, deshalb ... Ist mir nur so eingefallen.«
Ich bin mir ein bisschen dumm vorgekommen. Aber Nonne ist ja kein Schimpfwort. Jedenfalls nicht für jemanden, der so alt ist, meine ich. Aber sie sah auch nicht beleidigt aus. Da habe ich gesagt: »Komisch, ich habe Sie hier noch nie gesehen.«
»Gewöhnlich komme ich etwas früher. Aber, wenn ich mir erlauben darf, ich habe Sie meinerseits schon ein paar Mal bemerkt.«
»Ach! « Ich wusste nicht, was ich sonst hätte sagen sollen. »Sie haben die Tauben also gern?«
»Ja. Vor allem zähle ich sie gern.«
»Ja, ja ... Das ist eine fesselnde Beschäftigung. Man muss unablässig wieder von vorn beginnen.«
Sie redete kompliziert, umständlich und irgendwie verschroben, so wie feine Leute. Aber die Alten sind ja sowieso viel höflicher und drücken sich viel geschliffener aus als die Jungen.
Ulkig: Während ich das sage, denke ich an Bachkiesel, die auch ganz geschliffen sind, und zwar genau deshalb, weil sie alt sind. Manchmal meinen die gleichen Wörter verschiedene Sachen, die aber doch irgendwie gleich sind, wenn man lange genug darüber nachdenkt.
Sie verstehen schon, was ich meine.
Um ihr zu zeigen, dass ich kein Volltrottel bin, habe ich gesagt: »Ich hatte sie auch bemerkt, die Kleine da mit ihrer schwarzen Feder. Deshalb habe ich sie auch Schwarze Feder genannt. Die anderen lassen sie beim Fressen nicht so ran, haben Sie gesehen?«
»Das stimmt. Sie geben Ihnen also Namen?«
Sie schien interessiert.
Ob Sie es glauben oder nicht, in dem Moment habe ich entdeckt, was es für ein Gefühl ist, wenn sich jemand für einen interessiert. Falls Sie es nicht wissen, kann ich Ihnen sagen: Es ist ganz schön komisch. Klar, manchmal, wenn ich etwas erzähle, sagen die anderen: »Nee, ist nicht wahr!? Kein Quatsch? Was für eine Geschichte, Donnerwetter!« Aber da erzähle ich keine wirklich persönlichen Sachen. Sondern zum Beispiel von einem Auto, das in der Nacht aus der großen Kurve am Hang geflogen ist, ein Toter und drei Verletzte (ich wohne gegenüber, fast immer bin ich es, der die Feuerwehr ruft, einmal musste ich ihnen sogar helfen, einen Mann in all seinen Einzelteilen in einen Sack zu stecken, und das ist ein ziemlicher Scheißjob, glauben Sie mir). Oder ich erzähle meinen Kumpels, dass die Männer von der Fabrik gedroht haben, die Autobahnausfahrt zu blockieren - das weiß ich, weil Annette da im Lager arbeitet -, na ja, solche Sachen eben. Die Ereignisse des Tages. Aber dass sich jemand für das interessiert, was ich so mache? Mannomann! Das hat mir echt die Kehle zugeschnürt. Ich hätte fast losgeheult wie ein kleines Kind, und wenn es irgendetwas gibt, das mir unangenehm ist, dann das. Zum Glück passiert es mir selten, außer an dem Tag, wo ich mir den Fuß zerquetscht habe, als Landremont und ich den Umzug für seine Schwester gemacht haben und er ihre Kommode einfach losgelassen hat, weil seine Hände angeblich feucht waren. Da hätte jeder geheult: Das tut sauweh. Auch wenn es hier nur eine Anekdote ist. Aber ich rede von echten Tränen. So wie damals, als ich Landesmeister im Orientierungslauf geworden bin, knapp vor Cyril Gontier, einem absoluten Blödmann, der mir die ganze Grundschulzeit zur Hölle gemacht hat, was ich echt nicht hätte haben müssen. Oder wie in der Nacht, wo ich mich in Annette verliebt habe, was sehr erstaunlich war, weil wir schon seit über drei Monaten miteinander ins Bett gingen. Aber an dem Abend war es so schön, mit ihr zusammen zu kommen, dass ich weinen musste.
Das alles nur, um Ihnen zu erklären, dass mir Weinen verdammt peinlich ist - ich weiß nicht, wie es Ihnen da geht. Ich bin näher am Wasser gebaut als ein zweijähriger Knirps, mir laufen die Augen über wie ein Springbrunnen, ich heule wie ein Schlosshund. Man könnte meinen, bei mir ist alles so übergroß wie meine Statur. Das ist zwar ein Glück für die Frauenwelt, aber es gilt genauso für den Kummer, und das ist Pech für mich.
Die kleine Alte hat mich also ganz ohne Absicht fast zu Tränen gerührt. Ich weiß nicht, warum, vielleicht war es ihre freundliche Art zu fragen: »Sie geben Ihnen also Namen?« Oder weil sie selbst ganz gerührt wirkte. Vielleicht aber auch, weil wir am Abend vorher den vierzigsten Geburtstag von Jojo Zekouc ein bisschen zu ausgiebig begossen hatten und ich nicht mal vier Stunden geschlafen hatte. Aber mit den Vielleichts, das sagte ich Ihnen ja schon, ist das so eine Sache.
Jedenfalls habe ich ihr geantwortet: »Ja, ich habe ihnen allen Namen gegeben. Dann kann man sie besser zählen.«
Sie hat die Augenbrauen hochgezogen. »Na so etwas! Verzeihen Sie, wenn ich indiskret bin, aber ich muss zugeben, dass Sie mich neugierig machen: Wie schaffen Sie es, sie auseinanderzuhalten? «
»Ach ... Das ist wie mit Kindern, verstehen Sie ... Haben Sie Kinder?«
»Nein. Und Sie?«
»Auch nicht.«
Sie hat genickt und dabei gelächelt. »Dann ist das ein sehr stichhaltiges Beispiel.« Mir war nicht ganz klar, was das heißen sollte, aber sie schien es genauer wissen zu wollen, also habe ich weitergeredet: »Na ja, sie sind alle verschieden ... Wenn man nicht aufpasst, fällt es einem nicht auf, aber wenn man sie genau beobachtet, sieht man, dass es keine zwei gleichen gibt. Jede hat ihren Charakter und sogar ihre bestimmte Art zu fliegen. Deshalb sage ich: Das ist wie bei den Kleinen. Wenn Sie Kinder hätten, würden Sie sie bestimmt auch nicht verwechseln ...«
Sie hat ein bisschen gelacht. »Oh, wenn ich neunzehn hätte, bin ich mir nicht so sicher!«
Da musste ich auch lachen.
Mit Frauen lache ich nicht so oft. Jedenfalls ganz sicher nicht mit den alten.
Es war seltsam, ich hatte das Gefühl, dass wir Freunde waren. Ich meine, nicht wirklich, aber so was in der Art.
Inzwischen habe ich das Wort gefunden, das mir fehlte: Vertraute.
Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer
Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München
Ich habe beschlossen, Margueritte zu adoptieren. Sie feiert bald ihren sechsundachtzigsten Geburtstag, da sollte man nicht zu lange warten. Alte Leute sterben gern.
Und wenn ihr dann was passiert - was weiß ich, dass sie auf der Straße hinfällt oder dass man ihr die Handtasche klaut -, werde ich da sein. Ich werde sofort losrennen, die Leute zur Seite schieben und sagen: »Okay! Schon gut, ihr könnt euch verziehen! Ich kümmere mich darum: Das ist meine Großmutter. «
Dass sie nur adoptiert ist, steht ihr ja nicht auf der Stirn geschrieben.
Ich kann ihr dann die Zeitung und ihre Pfefferminzbonbons besorgen. Mich im Park neben sie setzen, sonntags zu ihr ins Altenheim Les Peupliers gehen. Und mittags zum Essen bleiben, wenn ich will.
Klar, gekonnt hätte ich das vorher auch, aber ich hätte mich eben wie zu Besuch gefühlt. Jetzt werde ich das alles tun, weil ich Lust dazu habe, aber auch aus Verpflichtung. Das kommt nämlich dazu: die familiäre Verpflichtung. Eine Sache, die mir gut gefallen wird, das fühle ich.
Dass ich Margueritte getroffen habe, hat mein Leben verändert. Jemanden zu haben, an den ich gern denke, wenn ich allein bin - jemand anders als mich selbst, meine ich -, das ist verdammt komisch. Daran bin ich nicht gewöhnt. Vor ihr habe ich nie eine Familie gehabt.
Ich meine, klar. Ich habe eine Mutter, geht ja nicht anders. Aber abgesehen davon, dass ich neun Monate lang in ihr drin war, haben wir nie viel geteilt, nur schlechte Zeiten. An Schönes kann ich mich nicht erinnern. Ich habe auch einen Vater, gezwungenermaßen. Aber ich habe nicht lange was von ihm gehabt, er hat meine Mutter gevögelt, und das war's. Was mich allerdings nicht daran gehindert hat, groß und stark zu werden, ganz im Gegenteil: hundertzehn Kilo Muskeln und keine Spur von Fett, ein Meter neunundachtzig in die Höhe, der Rest in die Breite. Wenn meine Eltern mich gewollt hätten, wäre ich sicher ihr ganzer Stolz gewesen. Pech gehabt.
Was für mich auch neu ist: Vor Margueritte habe ich noch nie jemanden geliebt. Ich rede nicht von sexuellen Dingen, ich rede von Gefühlen, ohne dass man gleich im Bett landet. Zärtlichkeit und Zuneigung, Vertrauen. So was alles. Wörter, die mir noch nicht so leicht über die Lippen gehen, schließlich hat man sie mir gegenüber nie so direkt benutzt, bevor Margueritte damit angefangen hat.
Sehr anständige und reine Gefühle.
Das muss an dieser Stelle gesagt sein, ich kenne hier nämlich welche, die bekloppt genug wären, um Bemerkungen zu machen wie: »Na, Germain, du stehst wohl auf Omas? Machst dich an Seniorinnen ran? «
Denen würde ich am liebsten eine reinhauen.
Schade, dass ich Margueritte noch nicht kannte, als ich sie wirklich gebraucht hätte, nämlich als ich klein war und meine Zeit damit verbrachte, allen Blödsinn auszuprobieren, den es so gibt.
Aber das Leben ist nicht zum Bedauern da: Was vorbei ist, ist vorbei.
Ich habe mich ganz allein erschaffen, na und? Auch wenn nicht alles nach Vorschrift gebaut ist, es hält.
Margueritte dagegen sackt allmählich in sich zusammen. Sie hält sich schon ganz schief, gebeugt bis über die Knie. Ich werde mich gut um sie kümmern müssen, wenn ich noch eine Weile was von ihr haben will. Sie spuckt zwar große Töne, aber sie ist zerbrechlich. Sie hat Knochen wie ein Vögelchen, ich könnte sie mühelos zwischen zwei Fingern zerdrücken. Aber das ist nur so dahergesagt. Ich würde das natürlich nie tun. Seiner Großmutter die Knochen brechen, dazu müsste man ja völlig behämmert sein! Ich will damit nur sagen, wie zart sie ist. Sie erinnert mich an diese kleinen Glastierchen, die sie bei Granjean im Schreibwarenladen verkaufen. An das Reh vor allem, im Schaufenster. Es ist winzig, und die Beine, so was von fein! Nicht dicker als eine Wimper. So ist Margueritte. Wenn ich an diesem Reh vorbeikomme, würde ich es am liebsten kaufen. Drei Euro, was ist das schon? Aber ich weiß genau, in meiner Tasche würde es sofort kaputtgehen. Und wo sollte ich es denn hinstellen? In meiner Bude gibt es keine Regale für solches Zeug. Ein Wohnwagen ist klein.
Auch für Margueritte hatte ich zuerst keinen Platz. In mir drin, meine ich. Als ich angefangen habe, sie liebzugewinnen, habe ich gleich gemerkt, dass ich Platz schaffen musste, nur für sie und meine Gefühle. Sie zu lieben, das kam nämlich zum ganzen Rest dazu - zu allem anderen, was ich schon im Schädel hatte -, und darauf war ich nicht vorbereitet. Also habe ich mich ans Aufräumen gemacht. Dabei ist mir klargeworden, dass ich nicht viel Wichtiges zu behalten hatte. Ich schleppte einen ganzen Haufen Gerümpel mit mir rum. Die Spielshows im Fernsehen, die Witze im Radio, das Gequatsche mit Jojo Zekouc in der Kneipe Chez Francine. Das Kartenspielen mit Marco, Julien und Landremont. Und dann die Abende, wo ich zu Annette ging, um mit ein paar Liebesworten zu vögeln. Aber das ist sogar gut, um den Kopf freizukriegen: Mit Druck auf den Eiern kann man nicht denken. Jedenfalls nicht richtig und mit Tiefgang.
Von Annette erzähle ich ein anderes Mal. Zwischen ihr und mir ist es auch nicht mehr so wie früher.
Als ich Margueritte zum ersten Mal gesehen habe, saß sie auf der Bank da drüben. Unter der dicken Linde
neben dem Wasserbecken. Es muss so gegen drei Uhr nachmittags gewesen sein, strahlender Sonnenschein, zu warm für die Jahreszeit. Das ist nicht gut für die Bäume: Sie treiben auf Teufel komm raus, und wenn es dann noch mal friert, gehen die Blüten ein, und es gibt kaum Früchte.
Sie war angezogen wie immer. Das konnte ich damals natürlich nicht wissen, dass sie sich immer so anzog. Die Gewohnheiten der Leute kennt man ja erst, wenn man die Leute kennt. Beim ersten Mal hat man noch keine Ahnung, wie es weitergeht. Man weiß nicht, ob man sich lieben, ob man sich später einmal an den ersten Tag erinnern wird. Ob man sich am Ende beschimpfen oder sogar prügeln wird. Oder ob man Freunde wird. Und die vielen anderen Oders und Wenns. Und die Vielleichts.
Die Vielleichts, das sind die Schlimmsten.
Margueritte saß einfach da und schaute Löcher in die Luft. Direkt vor der Rasenfläche am Ende der Hauptallee. Sie trug ein Kleid, das mit grauen und lila Blumen in der gleichen Farbe wie ihr Haar bedruckt war, eine bis oben zugeknöpfte graue Strickjacke, dazu dunkle Strümpfe und Schuhe. Neben ihr stand eine schwarze Tasche. Das war ganz schön unvorsichtig. So eine abgestellte Tasche, die klaue ich doch mit links. Wenn ich ich sage, meine ich natürlich nicht mich. Ich steht hier für die Leute. Das Gesindel, genauer gesagt. Zumal so eine kleine Alte leicht abzuhängen ist. Du musst sie bloß mal kräftig mit der flachen Hand schubsen, und das war's dann schon: Sie fällt mit einem kleinen Schrei hin, holt sich einen Oberschenkelhalsbruch und bleibt halbtot liegen, und du - nicht Sie oder ich natürlich, das Gesindel -, du kannst in aller Ruhe abhauen, bist schon längst über alle Berge. Fragen Sie mich nicht, wo ich das alles hernehme. Egal, sie war jedenfalls unvorsichtig.
An diesem Montag, wo ich sie kennengelernt habe, hätte ich genauso gut auch nicht in den Park kommen können. Ich hätte beschäftigt sein, keine freie Minute haben können. Was glauben Sie denn? Es gibt Tage, an denen ich Sachen zu tun habe: den Stamm der jungen Pinien, die sie am Rand der Umgehungsstraße gepflanzt haben, mit meinen Händen abmessen, um das Baumsterben zu überwachen (die Hälfte von denen geht ein, da bin ich mir sicher, deshalb kontrolliere ich das. Kein Wunder übrigens, dass sie eingehen, wenn man sich anschaut, wie die Grünflächenleute von der Gemeinde rumstümpern!). Trainieren, so lange wie möglich zu rennen oder vor meinem Wohnwagen mit der Schrotflinte auf leere Dosen zu schießen. Wegen der Ausdauer und den Reflexen, falls ich eines Tages mal einem Attentat entkommen oder Leute retten muss - besser, man ist da vorbereitet. Und einen Haufen anderer Sachen. Verschiedenste andere Sachen. Zum Beispiel schnitze ich mit meinem Taschenmesser. Ich mache Tiere, kleine Figuren aus Holz. Leute, die ich auf der Straße sehe, Katzen, Hunde, egal was.
Oder ich gehe in den Park und zähle die Tauben.
Im Vorbeigehen nutze ich die Gelegenheit, um am Gefallenendenkmal meinen Namen in Großbuchstaben auf die Marmorplatte unter dem Soldaten zu schreiben. Natürlich kommt jedes Mal jemand von der Gemeinde, der ihn wieder wegmacht und mich zusammenscheißt: »Germain, jetzt hör doch mal auf mit dem Blödsinn, ich hab die Schnauze voll! Nächstes Mal machst du das selbst sauber!«
Dabei sind das Eddings »mit unauslöschlicher Tinte« - die sich nicht auslöschen lässt / siehe: wisch- und wasserfest -, und die waren sauteuer. Das werde ich denen sagen, im Schreibwarenladen, dass das Verarschung ist. »Alle Oberflächen« steht drauf, das ist doch Betrug. Marmor ist eine Oberfläche, soweit ich weiß - wie Margueritte sagen würde, die immer so gepflegt redet.
Wie auch immer, sobald mein Name ausgelöscht ist, muss ich eben wieder von vorn anfangen. Ist nicht schlimm, ich bin geduldig. Irgendwann bleibt er vielleicht stehen.
Ich weiß auch wirklich nicht, wen das stören sollte, dass ich meinen Namen noch dazusetze: Ich schreibe ihn ganz unten hin. Nicht einmal in der alphabetischen Reihenfolge, dabei könnte ich da pingelig sein, Chazes kommt nämlich nicht am Ende, ganz und gar nicht. Ich könnte mich an die fünfte Stelle setzen auf ihrer Liste!
Zwischen Pierre Boisverte und Ernest Combereau.
Das habe ich eines Tages zu Jacques Devallée gesagt, der im Rathaus ein hohes Tier ist. Er hat genickt und gemeint, ich hätte im Grunde nicht unrecht, Namenslisten wären tatsächlich dazu da, dass man Namen draufschreibt.
»Gleichwohl«, hat er hinzugefügt, »gleichwohl gibt es da ein Detail zu berücksichtigen ...«
»Ach ja, und das wäre?«
»Nun, wenn du etwas genauer hinsiehst, wirst du bemerken, dass all die, deren Namen auf dem Gefallenendenkmal eingraviert sind, eines gemeinsam haben: Sie sind tot.«
»Aha, so ist das! Das heißt, um draufstehen zu dürfen, muss man ins Gras gebissen haben?«
»In der Tat, das ist gewissermaßen gemeint ...«
Und obwohl er so überlegen dreingeschaut hat, habe ich ihm gesagt, wenn ich erst mal tot wäre, dann müssten sie mich wohl oder übel auch eingravieren, auf ihrer verdammten Liste.
»Und warum?«
»Weil ich ein Papier für den Notar schreiben werde. Ich werde ihm sagen, er soll das in mein Testament aufnehmen. Der letzte Wille eines Verstorbenen, da muss man sich dran halten.«
»Nicht unbedingt, Germain. Nicht unbedingt ...«
Trotzdem, ich weiß, was ich sage. Ich habe auf dem Heimweg darüber nachgedacht: Nach meinem Tod (wann immer es dem Herrn beliebt, Seine Stunde wird die meine sein) will ich, dass man meinen Namen draufschreibt. An die fünfte Stelle. Die fünfte von oben, denn da gehört er hin, da soll mich keiner übers Ohr hauen! Sollen sie sehen, wie sie das hinkriegen, die Lackaffen von der Gemeinde. Ein Testament ist ein Testament, basta! Jawohl, habe ich mir gesagt, ich werde dieses Papier schreiben. Und ich werde verlangen, dass Devallée mich persönlich eingraviert, nur um ihn zu ärgern. Ich werde zu Monsieur Olivier gehen, um die Sache mit ihm zu besprechen. Der ist Notar, der wird schon wissen, was zu tun ist, oder? Aber an diesem Montag, wo ich Margueritte kennengelernt habe, da dachte ich nicht an das Gefallenendenkmal, da hatte ich andere Sachen im Kopf. Ich hatte beschlossen, Blumensamen zu kaufen und auf dem Rückweg dann im Park vorbeizugehen, um die Tauben zu zählen. Das ist viel schwieriger, als es aussieht: Auch wenn man sich ganz vorsichtig nähert und sich kein bisschen rührt, während man sie zählt, flattern sie ständig rum, alle durcheinander. Dagegen kann man nichts machen. Ein bisschen nerven sie, diese Tauben.
Wenn das so weitergeht, werde ich nur noch die Schwäne zählen. Erstens bewegen die sich weniger, und außerdem ist es einfacher: Es sind nur drei.
Margueritte saß also auf dieser Bank unter der Linde, vor der Rasenfläche. Als ich die kleine Alte gesehen habe, die so aussah, als wäre sie eine von denen, die den Tauben Brot zuwerfen, um sie anzulocken, ist mir fast die Lust vergangen. Wieder ein Tag im Eimer, habe ich gedacht. Meine Vogelzählung kann ich auf morgen verschieben. Oder auf jeden anderen Tag, der dem Herrn in Seiner Gnade recht sein wird.
Um die Tauben zu zählen, braucht man Ruhe. Wenn da jemand kommt und sie stört, kann man es gleich vergessen. Sie reagieren sehr empfindlich auf Blicke, diese Vögel. Es ist unglaublich, wie sie darauf anspringen! Eingebildet sogar, könnte man sagen. Kaum interessiert sich jemand für sie, fangen sie an rumzuhüpfen, rumzuflattern, den Kropf aufzublasen...
Aber dann war es gar nicht so. So kann man sich täuschen. 1/4ber die Leute, den Herrn im Himmel, alte Frauen und die Tauben.
Sie haben ihr nicht ihr Theater vorgespielt. Sie sind alle schön zusammengeblieben, ganz brav. Sie hat ihnen keine Zwiebackkrümel hingeworfen und nicht mit zittriger Stimme putt-putt-putt gerufen.
Sie hat mich nicht aus dem Augenwinkel gemustert, wie es die Leute sonst immer tun, wenn ich zähle.
Sie ist ganz still sitzen geblieben. Erst in dem Moment, wo ich gerade wieder gehen wollte, hat sie gesagt: »Neunzehn.«
Da ich nur ein paar Meter entfernt war, habe ich sie genau gehört. »Reden Sie mit mir? «
»Ich sagte, es sind neunzehn. Die Kleine da, mit der schwarzen Feder an der Flügelspitze, sehen Sie die? Das ist eine Neue, stellen Sie sich vor. Sie ist erst seit Samstag da.«
Das fand ich ziemlich stark: Ich war auf die gleiche Zahl gekommen wie sie.
»Sie zählen die Tauben also auch?«
Sie hat die Hand an ihr Ohr gehalten und gefragt: »Wie meinen?«
Ich habe gebrüllt: »Sie-zäh-len-die-Tau-ben-al-so auch?«
»Natürlich zähle ich sie, junger Mann. Aber Sie brauchen nicht so zu schreien, wissen Sie? Es genügt, wenn Sie
langsam mit mir reden und deutlich artikulieren ... nun
ja, aber doch laut genug, wenn es Ihnen nichts ausmacht!«
Ich musste lachen, weil sie mich »junger Mann« nannte. Obwohl es eigentlich gar nicht so daneben war, wenn ich es mir richtig überlege. Man kann mich jung oder alt finden, je nachdem. Es hängt alles davon ab, wer spricht. Logisch: Alles ist relativ - nur durch seine Beziehung auf etwas bestimmt.
Für einen so alten Menschen war ich jung, das ist jedenfalls klar, von der Relativität mal abgesehen.
Als ich mich neben sie gesetzt habe, ist mir aufgefallen, dass sie wirklich eine ganz kleine Oma war. Man benutzt manchmal Ausdrücke wie »Winzling« oder »Zwerg«, ohne darüber nachzudenken. Aber in ihrem Fall war das nicht übertrieben: Ihre Füße reichten nicht mal bis auf den Boden. Während ich meine langen Knochen immer weit vor mir ausstrecken muss.
Ich habe sie höflich gefragt: »Kommen Sie oft hierher?«
Sie hat gelächelt. »Fast jeden Tag, den der liebe Gott werden lässt.«
»Sind Sie Nonne?«
Sie hat erstaunt den Kopf geschüttelt: »Ordensschwester, meinen Sie? Himmel, nein! Wie kommen Sie denn darauf?«
»Ich weiß nicht. Sie haben vom lieben Gott geredet, deshalb ... Ist mir nur so eingefallen.«
Ich bin mir ein bisschen dumm vorgekommen. Aber Nonne ist ja kein Schimpfwort. Jedenfalls nicht für jemanden, der so alt ist, meine ich. Aber sie sah auch nicht beleidigt aus. Da habe ich gesagt: »Komisch, ich habe Sie hier noch nie gesehen.«
»Gewöhnlich komme ich etwas früher. Aber, wenn ich mir erlauben darf, ich habe Sie meinerseits schon ein paar Mal bemerkt.«
»Ach! « Ich wusste nicht, was ich sonst hätte sagen sollen. »Sie haben die Tauben also gern?«
»Ja. Vor allem zähle ich sie gern.«
»Ja, ja ... Das ist eine fesselnde Beschäftigung. Man muss unablässig wieder von vorn beginnen.«
Sie redete kompliziert, umständlich und irgendwie verschroben, so wie feine Leute. Aber die Alten sind ja sowieso viel höflicher und drücken sich viel geschliffener aus als die Jungen.
Ulkig: Während ich das sage, denke ich an Bachkiesel, die auch ganz geschliffen sind, und zwar genau deshalb, weil sie alt sind. Manchmal meinen die gleichen Wörter verschiedene Sachen, die aber doch irgendwie gleich sind, wenn man lange genug darüber nachdenkt.
Sie verstehen schon, was ich meine.
Um ihr zu zeigen, dass ich kein Volltrottel bin, habe ich gesagt: »Ich hatte sie auch bemerkt, die Kleine da mit ihrer schwarzen Feder. Deshalb habe ich sie auch Schwarze Feder genannt. Die anderen lassen sie beim Fressen nicht so ran, haben Sie gesehen?«
»Das stimmt. Sie geben Ihnen also Namen?«
Sie schien interessiert.
Ob Sie es glauben oder nicht, in dem Moment habe ich entdeckt, was es für ein Gefühl ist, wenn sich jemand für einen interessiert. Falls Sie es nicht wissen, kann ich Ihnen sagen: Es ist ganz schön komisch. Klar, manchmal, wenn ich etwas erzähle, sagen die anderen: »Nee, ist nicht wahr!? Kein Quatsch? Was für eine Geschichte, Donnerwetter!« Aber da erzähle ich keine wirklich persönlichen Sachen. Sondern zum Beispiel von einem Auto, das in der Nacht aus der großen Kurve am Hang geflogen ist, ein Toter und drei Verletzte (ich wohne gegenüber, fast immer bin ich es, der die Feuerwehr ruft, einmal musste ich ihnen sogar helfen, einen Mann in all seinen Einzelteilen in einen Sack zu stecken, und das ist ein ziemlicher Scheißjob, glauben Sie mir). Oder ich erzähle meinen Kumpels, dass die Männer von der Fabrik gedroht haben, die Autobahnausfahrt zu blockieren - das weiß ich, weil Annette da im Lager arbeitet -, na ja, solche Sachen eben. Die Ereignisse des Tages. Aber dass sich jemand für das interessiert, was ich so mache? Mannomann! Das hat mir echt die Kehle zugeschnürt. Ich hätte fast losgeheult wie ein kleines Kind, und wenn es irgendetwas gibt, das mir unangenehm ist, dann das. Zum Glück passiert es mir selten, außer an dem Tag, wo ich mir den Fuß zerquetscht habe, als Landremont und ich den Umzug für seine Schwester gemacht haben und er ihre Kommode einfach losgelassen hat, weil seine Hände angeblich feucht waren. Da hätte jeder geheult: Das tut sauweh. Auch wenn es hier nur eine Anekdote ist. Aber ich rede von echten Tränen. So wie damals, als ich Landesmeister im Orientierungslauf geworden bin, knapp vor Cyril Gontier, einem absoluten Blödmann, der mir die ganze Grundschulzeit zur Hölle gemacht hat, was ich echt nicht hätte haben müssen. Oder wie in der Nacht, wo ich mich in Annette verliebt habe, was sehr erstaunlich war, weil wir schon seit über drei Monaten miteinander ins Bett gingen. Aber an dem Abend war es so schön, mit ihr zusammen zu kommen, dass ich weinen musste.
Das alles nur, um Ihnen zu erklären, dass mir Weinen verdammt peinlich ist - ich weiß nicht, wie es Ihnen da geht. Ich bin näher am Wasser gebaut als ein zweijähriger Knirps, mir laufen die Augen über wie ein Springbrunnen, ich heule wie ein Schlosshund. Man könnte meinen, bei mir ist alles so übergroß wie meine Statur. Das ist zwar ein Glück für die Frauenwelt, aber es gilt genauso für den Kummer, und das ist Pech für mich.
Die kleine Alte hat mich also ganz ohne Absicht fast zu Tränen gerührt. Ich weiß nicht, warum, vielleicht war es ihre freundliche Art zu fragen: »Sie geben Ihnen also Namen?« Oder weil sie selbst ganz gerührt wirkte. Vielleicht aber auch, weil wir am Abend vorher den vierzigsten Geburtstag von Jojo Zekouc ein bisschen zu ausgiebig begossen hatten und ich nicht mal vier Stunden geschlafen hatte. Aber mit den Vielleichts, das sagte ich Ihnen ja schon, ist das so eine Sache.
Jedenfalls habe ich ihr geantwortet: »Ja, ich habe ihnen allen Namen gegeben. Dann kann man sie besser zählen.«
Sie hat die Augenbrauen hochgezogen. »Na so etwas! Verzeihen Sie, wenn ich indiskret bin, aber ich muss zugeben, dass Sie mich neugierig machen: Wie schaffen Sie es, sie auseinanderzuhalten? «
»Ach ... Das ist wie mit Kindern, verstehen Sie ... Haben Sie Kinder?«
»Nein. Und Sie?«
»Auch nicht.«
Sie hat genickt und dabei gelächelt. »Dann ist das ein sehr stichhaltiges Beispiel.« Mir war nicht ganz klar, was das heißen sollte, aber sie schien es genauer wissen zu wollen, also habe ich weitergeredet: »Na ja, sie sind alle verschieden ... Wenn man nicht aufpasst, fällt es einem nicht auf, aber wenn man sie genau beobachtet, sieht man, dass es keine zwei gleichen gibt. Jede hat ihren Charakter und sogar ihre bestimmte Art zu fliegen. Deshalb sage ich: Das ist wie bei den Kleinen. Wenn Sie Kinder hätten, würden Sie sie bestimmt auch nicht verwechseln ...«
Sie hat ein bisschen gelacht. »Oh, wenn ich neunzehn hätte, bin ich mir nicht so sicher!«
Da musste ich auch lachen.
Mit Frauen lache ich nicht so oft. Jedenfalls ganz sicher nicht mit den alten.
Es war seltsam, ich hatte das Gefühl, dass wir Freunde waren. Ich meine, nicht wirklich, aber so was in der Art.
Inzwischen habe ich das Wort gefunden, das mir fehlte: Vertraute.
Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer
Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München
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Autoren-Porträt von Marie-Sabine Roger
Roger, Marie-SabineMarie-Sabine Roger, 1957 in der Nähe von Bordeaux geboren, arbeitete einige Jahre als Grundschullehrerin, ehe sie sich ganz dem Schreiben widmete. Nach längeren Aufenthalten in Québec, Madagaskar und La Réunion lebt sie heute mit ihrer Familie in Charente/Westfrankreich. Ihre Romane wurden mit mehreren Preisen ausgezeichnet und in zahlreiche Sprachen übersetzt. Zuletzt bezauberte sie Hunderttausende mit 'Das Labyrinth der Wörter' (dtv 21284), 'Der Poet der kleinen Dinge' (dtv 21432) und 'Das Leben ist ein listiger Kater' (dtv 21582).
Bibliographische Angaben
- Autor: Marie-Sabine Roger
- 2011, 224 Seiten, Maße: 12 x 19,1 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung:Kalscheuer, Claudia
- Übersetzer: Claudia Kalscheuer
- Verlag: DTV
- ISBN-10: 3423212845
- ISBN-13: 9783423212847
- Erscheinungsdatum: 01.04.2011
Rezension zu „Das Labyrinth der Wörter “
»Geht zu Herzen!«neue woche 15.04.2011
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