Das letzte Kind
Für "Das letzte Kind" erhielt John Hart 2009 den Ian Fleming Steel Dagger Award als bester Thriller des Jahres. Und auch Kollege Frank Schätzing rät: "Mein Tipp: John Hart!"
Vor rund einem Jahr verschwand die damals...
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Produktinformationen zu „Das letzte Kind “
Für "Das letzte Kind" erhielt John Hart 2009 den Ian Fleming Steel Dagger Award als bester Thriller des Jahres. Und auch Kollege Frank Schätzing rät: "Mein Tipp: John Hart!"
Vor rund einem Jahr verschwand die damals 12-jährige Alyssa. Ihr Zwillingsbruder Johnny hat sich nie einsamer gefühlt - sein Vater hat die Familie nach Alyssas Verschwinden im Stich gelassen, die Mutter flüchtet sich in Alkohol und Tabletten. Dann verschwindet wieder ein Mädchen und Johnny wird Zeuge eines sehr merkwürdigen Unfalls. Weisen ihm die letzten Worte eines sterbenden Motorradfahrers den Weg zu den Mädchen? Ganz alleine macht Johnny sich auf die gefahrvolle Suche.
Lese-Probe zu „Das letzte Kind “
Das Letzte Kind von John HartPROLOG
Asphalt schnitt sich durch das Land wie eine Narbe, eine lange,
heiße Brandwunde, schwarz und so gerade wie eine Messerklinge.
Noch war die Luft nicht verzerrt von der Hitze, aber der Fahrer
wusste, dass es kommen würde, das sengende Gleißen, das Flirren
in der Ferne, wo das Blau herunterhämmerte. Er rückte seine Sonnenbrille
zurecht und warf einen Blick in den großen Spiegel über
der Frontscheibe, der ihm den Bus in ganzer Länge und jeden Fahrgast
darin zeigte. Im Laufe von dreißig Jahren hatte er alle möglichen
Leute in diesem Spiegel gesehen: hübsche Mädchen und gebrochene
Männer, Betrunkene und Verrückte, schwerbrüstige Frauen
mit roten, runzligen Babys. Ärger roch der Fahrer schon auf eine
Meile; er konnte sehen, wer okay war und wer vor etwas weglief.
Der Fahrer sah den Jungen an.
Der Junge sah aus wie einer, der weglief.
An seiner Nase schälte sich die Haut, aber unter der Sonnenbräune
lag die fahle Blässe, die von Schlafmangel oder Unterernährung
oder beidem kam. Seine Wangenknochen waren scharfe
Grate unter der straff gespannten Haut. Er war noch klein, vielleicht
zehn, und sein wirres Haar stand schwarz vom Kopf ab. Es
war zackig und ungleichmäßig geschnitten, als habe er das selbst
besorgt. Der Stoff an seinem Hemdkragen und an den Knien seiner
Jeans war ausgefranst. Die Schuhsohlen waren fast durchgelaufen.
Er hielt einen blauen Rucksack auf dem Schoß, und was
immer darin sein mochte, viel war es nicht.
... mehr
Er war ein hübscher Bengel, aber was dem Fahrer am meisten
auffiel, waren die Augen. Groß und dunkel und ständig in
Bewe gung, als sei er sich der Leute um ihn herum übermäßig bewusst,
der heißen Enge unter Menschen, die typisch waren für
einen klapprigen Bus an einem sonnendurchglühten Morgen in
den Sanddünen von North Carolina: ein halbes Dutzend Wanderarbeiter,
ein paar lädierte Raufbolde, die aussahen wie ehemalige
Soldaten, eine oder zwei Familien, eine Handvoll alter Leute und
zwei tätowierte Punks, die hinten die Köpfe zusammensteckten.
Immer wieder wanderten die Augen des Jungen zu dem Mann
auf der anderen Seite des Ganges, einem Vertretertypen mit öligem
Haar in einem zerknautschten Anzug und ausgelatschten Slippern.
Auch ein Schwarzer mit einer zerfledderten Bibel in der Hand und
einer Sodaflasche zwischen den Beinen schien den Blick des Kleinen
anzuziehen. Hinter dem Jungen saß eine alte Lady in einem
Kleid aus pergamentartigem Stoff. Als sie sich vorbeugte, um ihn
etwas zu fragen, schüttelte der Junge zaghaft den Kopf und antwortete
vorsichtig.
Nein, Ma'am.
Seine Worte wehten nach hinten wie ein Rauchwölkchen, und
die Lady lehnte sich zurück und berührte mit blau geäderten Fingern
die Kette an ihrer Brille. Sie schaute aus dem Fenster, und
ihre Brillengläser blitzten und wurden dann dunkel, als die Straße
sich durch ein Kiefernwäldchen schnitt, wo die Schatten wie grüne
Pfützen unter den Ästen lagen. Das gleiche Licht erfüllte auch den
Bus, und der Fahrer betrachtete den Mann in dem zerknautschten
Anzug. Er war bleich und verschwitzt wie nach einem Kater,
hatte ungewöhnlich kleine Augen und eine Rastlosigkeit, die an
den Nerven des Fahrers scheuerte. Alle zwei Minuten setzte er sich
anders hin, schlug ein Bein über das andere und nahm es wieder
herunter, beugte sich vor, lehnte sich zurück. Seine Finger trommelten
auf das Knie unter dem schlecht sitzenden Anzug, und er
schluckte oft, während sein Blick zu dem Jungen wanderte, wieder
weghuschte, zurückwanderte und auf ihm verharrte.
Der Fahrer war abgestumpft, aber in seinem Bus hielt er Ordnung.
Betrunkenheit, schlechtes Benehmen und lautes Gerede
tolerierte er nicht. So hatte seine Momma ihn vor fünfzig Jahren
erzogen, und er sah keinen Grund, daran etwas zu ändern.
Also hatte er ein Auge auf den Jungen und auf den angespannten,
schwit zenden Mann mit dem eifrigen Blick. Er beobachtete, wie
der Mann den Jungen beobachtete, und sah, wie er sich auf dem
speckigen Sitz zurücklehnte, als das Messer zum Vorschein kam.
Der Junge tat es ganz beiläufig: Er zog es aus der Tasche und
ließ die Klinge mit dem Daumen herausschnappen. Er hielt es
einen Augenblick lang so, dass man es sehen konnte, und dann
nahm er einen Apfel aus seinem Rucksack und zerschnitt ihn mit
einer scharfen, sauberen Bewegung. Der Duft erhob sich über die
fleckigen Sitze und den schmutzigen Boden. Noch durch den Dieselgestank
roch der Fahrer das bittersüße Aroma. Der Junge warf
einen kurzen Blick auf die aufgerissenen Augen und das glänzende,
ausgelaugte Gesicht des Mannes; dann klappte er das Messer
zu und steckte es ein.
Der Fahrer entspannte sich und schaute wieder eine ganze
Weile unverwandt nach vorn auf die Straße. Der Junge kam ihm
bekannt vor, aber das Gefühl verging gleich wieder. Dreißig Jahre.
Er ließ seinen massigen Körper tiefer in den Sitz sinken.
Er hatte schon so viele Jungen gesehen.
So viele, die wegliefen.
Immer, wenn der Fahrer ihn ansah, spürte der Junge es. Das war
eine Begabung, die er hatte, ein Talent. Trotz der dunklen Sonnenbrille
und der weiten Wölbung im Rückspiegel konnte er es spüren.
Es war seine dritte Fahrt mit diesem Bus, die dritte in drei
Wochen. Er saß immer auf einem anderen Platz und trug immer
andere Kleidung, aber vermutlich würde ihn früher oder später jemand
fragen, wieso er um sieben Uhr morgens an einem Schultag
mit dem Bus quer durch den Staat fuhr. Und er nahm an, die Frage
würde vom Fahrer kommen.
Aber noch war sie nicht gekommen.
Der Junge schaute aus dem Fenster und drehte die Schultern so,
dass niemand mehr versuchen würde, ihn anzusprechen. Er beobachtete
die Spiegelungen im Glas, die Bewegungen und die Gesichter.
Er dachte an himmelhohe Bäume und braune Federn mit
Schnee auf den Spitzen.
Das Messer lag wie ein Klumpen in seiner Tasche.
Vierzig Minuten später stoppte der Bus wippend vor einer einräumigen
Tankstelle irgendwo in der endlosen Weite aus Kiefern,
Gestrüpp und heißer, sandiger Erde. Der Junge schob sich durch
den Gang nach vorn und sprang von der unteren Stufe, bevor der
Fahrer erwähnen konnte, dass auf dem Parkplatz nichts als ein
Abschleppwagen wartete und dass kein Erwachsener da war, der
den Jungen in seine Obhut nehmen konnte - einen Dreizehnjährigen,
der aussah, als sei er gerade zehn. Der Junge hielt den Kopf
abgewandt, sodass ihm die Sonne in den Nacken brannte, und
hüpfte ein paarmal, um den Rucksack auf seinem Rücken zurechtzuschieben.
Eine Dieselwolke stieg auf, der Bus setzte sich schaukelnd
in Bewegung und rollte in Richtung Süden davon.
Die Tankstelle bestand aus zwei Zapfsäulen, einer langen Bank
und einem dürren alten Mann in einem ölfleckigen blauen Overall.
Der Mann nickte nur hinter der verschmierten Glasscheibe
und kam nicht heraus in die Hitze. Der Getränkeautomat im
Schatten des Gebäudes war so alt, dass der Preis auf dem Schild
nur fünfzig Cent betrug. Der Junge wühlte fünf dünne Zehn-Cent-
Münzen aus der Tasche und wählte ein Traubensoda. Die kalte
Glasflasche polterte unten aus dem Schacht. Er hebelte den Kronkorken
herunter, schlug die Richtung ein, aus der der Bus gekommen
war, und ging auf der staubigen Straße davon, die sich vor
ihm wand wie eine schwarze Schlange.
Nach drei Meilen und zwei Kurven verschlechterte sich die
Straße; aus Asphalt wurde Schotter, und der Schotter wurde spärlich.
Das Schild hatte sich nicht verändert, seit er es zuletzt gesehen
hatte. Es war alt und verwittert, und die abblätternde Farbe
hob sich wie Federn von dem Holz darunter: ALLIGATOR RIVER
RAUBVOGEL-SCHUTZGEBIET. Über den Lettern schwebte ein stilisierter
Adler, und auch von seinen Schwingen spreizten sich die
Federn aus Farbe.
Der Junge spuckte ein Kaugummi in die flache Hand und
klatschte es im Vorbeigehen auf das Schild.
Er brauchte zwei Stunden, um ein Nest zu finden. Zwei Stunden
voller Schweiß und Dornenbüsche und Moskitos, die seine Haut
mit leuchtend roten Flecken bedeckten. Er entdeckte das dichte
Gewirr aus Zweigen in den oberen Ästen einer Pechkiefer, die
kerzengerade und hoch aus dem feuchten Boden am Flussufer
wuchs. Zweimal ging er um den Baum herum, aber er fand keine
Federn auf dem Boden. Sonnenstrahlen spießten sich durch den
Wald, und der Himmel war so hell und blau, dass ihm die Augen
schmerzten. Das Nest war ein Punkt in der Höhe.
Er streifte den Rucksack ab und fing an zu klettern. Raue Rinde
scheuerte an seiner sonnenverbrannten Haut. Wachsam und voller
Angst hielt er beim Klettern Ausschau nach dem Adler. Ein ausgestopfter
stand auf einem Sockel im Museum in Raleigh, und er sah
wild aus. Die Augen waren aus Glas, aber die Schwingen hatten
eine Spannweite von anderthalb Metern, und die Krallen waren so
lang wie der Mittelfinger des Jungen. Der Schnabel konnte einem
erwachsenen Mann die Ohren abreißen.
Er wollte nur eine Feder. Am liebsten eine saubere, weiße
Schwanz feder oder eine der riesigen braunen Federn aus der
Schwinge, aber letzten Endes würde auch die kleinste Feder von
der weichsten Stelle genügen, eine Stoppelfeder vielleicht, oder eine
von der daunenweichen Unterseite der Schwinge bei der Schulter.
Eigentlich war es egal.
Magie war Magie.
Je höher er stieg, desto stärker bogen sich die Äste unter ihm.
Der Wind bewegte den Baum und den Jungen mit ihm. Wenn es
böig wurde, presste der Junge das Gesicht an die Rinde; sein Herz
klopfte, und seine Fingerknöchel wurden weiß. Die Kiefer war
eine Königin unter den Bäumen, so hoch, dass selbst der Fluss darunter
zusammenschrumpfte.
Er näherte sich dem Wipfel. Aus dieser Nähe war das Nest so
breit wie ein Esstisch, und es wog wahrscheinlich hundert Kilo. Es
war Jahrzehnte alt, und es stank nach Moder und Scheiße und Kaninchenkadavern.
Der Junge öffnete sich diesem Geruch und seiner
Macht. Er verschob die Hand und stellte den Fuß auf einen
Ast, der grau verwittert und ohne Rinde war. Unter ihm zog sich
der Kiefernwald bis zu den fernen Bergen, und der Fluss wand sich
schwarz und dunkel und glänzend wie Kohle dahin. Der Junge zog
sich über den Rand des Nestes und sah die Küken, zwei Stück. Fahl
und fleckig hockten sie in der Mulde. Sie rissen die splitterscharfen
Schnäbel auf und bettelten um Futter, und der Junge hörte ein Geräusch
wie von Bettlaken an der Leine bei aufkommendem Wind.
Er riskierte einen Blick nach oben, und der Adler schoss aus dem
makellosen Himmel herab. Einen Moment lang sah der Junge nur
Federn, und dann schlugen die Schwingen herab, und die Klauen
hoben sich.
Der Vogel kreischte.
Der Junge riss die Arme hoch, als die Klauen sich in ihn bohrten.
Dann fiel er, und der Vogel - die Augen gelb und blitzend, die
Klauen verhakt in seinem Hemd und seiner Haut -, der Vogel fiel
mit ihm.
Um drei Uhr siebenundvierzig rollte ein Bus auf den Parkplatz
vor der kleinen Tankstelle. Diesmal fuhr er nach Norden, und es
war ein anderer Bus und ein anderer Fahrer. Die Tür öffnete sich
klappernd, und eine Handvoll rheumatischer Leute stieg schlurfend
aus. Der Fahrer war ein magerer Hispanic, fünfundzwanzig
und müde aussehend. Er warf kaum einen Blick auf den dürren
Jungen, der von der Bank aufstand und humpelnd zum Bus kam.
Er nahm weder die zerrissenen Kleider wahr noch den Gesichtsausdruck,
der an Verzweiflung grenzte. Und wenn da Blut an der
Hand war, die ihm das Ticket reichte, schien es nicht Sache des
Fahrers zu sein, dazu eine Bemerkung zu machen.
Der Junge ließ das Ticket los. Er zog sich die Stufen hinauf
und versuchte die Fetzen seines Hemdes zusammenzuhalten. Sein
Rucksack war schwer, platzte fast aus den Nähten, die an der Unterseite
rot gefärbt waren. Ein Geruch hing an dem Jungen, ein
Geruch von Schlamm und Fluss und etwas Rohem, aber auch das
ging den Fahrer nichts an. Der Junge schob sich durch den halbdunklen
Bus. Einmal taumelte er gegen eine Rückenlehne, dann
war er ganz hinten und setzte sich auf einen Platz in der Ecke, wo
er allein war. Er drückte seinen Rucksack an die Brust und zog
die Füße auf den Sitz. Tiefe Löcher klafften in seiner Haut, und
sein Hals war aufgerissen, aber niemand sah ihn an, niemanden
kümmerte es. Er umklammerte den Rucksack fester und spürte
die Wärme, die noch da war, den zerschmetterten Körper, der sich
anfühlte wie ein Sack mit zerbrochenen Zweigen. Er sah die kleinen,
flaumigen Küken vor sich, allein im Nest, allein und hungrig.
Der Junge wiegte sich in der Dunkelheit.
Er wiegte sich in der Dunkelheit und weinte bittere Tränen.
EINS
Johnny hatte es bald gelernt. Wenn jemand ihn fragte, warum
er so anders sei, warum er sich so still verhalte und warum seine
Augen das Licht zu verschlucken schienen, dann war das seine
Antwort. Er hatte bald gelernt, dass es keinen sicheren Ort gab,
nicht im Garten und nicht auf dem Schulhof, nicht auf der Veranda
und nicht auf der stillen Straße am Rand der Stadt. Keinen
sicheren Ort und niemanden, der einen beschützte.
Die Kindheit war eine Illusion.
Er war seit einer Stunde auf und wartete darauf, dass die
Nachtgeräusche schwanden und die Sonne sich so weit heraufschob,
dass man es Morgen nennen konnte. Es war Montag, und
es war noch dunkel, aber Johnny schlief wenig. Als er aufwachte,
waren die Fenster pechschwarz. Zweimal rüttelte er jede Nacht an
den Riegeln und schaute hinaus auf die leere Straße und die ungepflasterte
Einfahrt, die kalkweiß aussah, wenn der Mond aufging.
Er sah nach seiner Mom, außer wenn Ken im Hause war. Ken
war jähzornig, und er trug einen goldenen Ring, der einen tadellos
ovalen Bluterguss hinterließ.
Auch das hatte er gelernt.
Johnny zog ein T-Shirt und ausgefranste Jeans an, ging zu seiner
Zimmertür und öffnete sie einen Spalt breit. Licht fiel in den
schmalen Korridor, und die Luft war verbraucht. Es roch nach
Zigaretten und verschüttetem Alkohol, wahrscheinlich Bourbon.
Einen Augenblick lang erinnerte Johnny sich daran, wie es früher
am Morgen gerochen hatte: nach Eiern und Kaffee und dem herben
Duft vom Rasierwasser seines Vaters. Es war eine gute Erinnerung,
und deshalb schob er sie weg und erstickte sie. Davon
wurde alles nur noch schwerer.
Der Flor des Plüschteppichs in der Diele war steif unter seinen
Zehen. Die Tür zum Zimmer seiner Mutter hing lose im Rahmen.
Es war eine Wabentür, nicht angestrichen, und sie passte nicht.
Die Originaltür lag zersplittert im Garten, war vor einem Monat
aus den Angeln getreten worden, als Ken und Johnnys Mutter
spätabends aneinandergeraten waren. Sie hatte nie gesagt, weshalb
sie sich gestritten hatten, aber Johnny vermutete, dass es um
ihn gegangen war. Vor einem Jahr hätte Ken nicht einmal in die
Nähe einer Frau wie sie kommen können, und Johnny ließ es ihn
nie vergessen. Aber das war ein Jahr her. Ein ganzes Leben.
Sie hatten Ken schon seit Jahren gekannt. Das dachten sie zumindest.
Johnnys Dad war Bauunternehmer, und Ken baute ganze
Wohnviertel. Sie arbeiteten gut zusammen, weil Johnnys Dad
schnell und tüchtig war, und weil Ken klug genug war, ihn zu respektieren.
Deshalb war Ken immer freundlich und aufmerksam
gewesen, auch nach der Entführung, bis zu dem Augenblick, als
Johnnys Dad entschied, dass Schmerz und Schuldgefühle unerträglich
wurden. Aber mit Dads Weggang war auch Kens Respekt
verschwunden, und er kam immer öfter vorbei. Jetzt war er der
Herr im Haus. Er isolierte Johnnys Mutter und hielt sie in Abhängigkeit
von Alkohol und Medikamenten. Er sagte ihr, was sie
tun sollte, und sie tat es. Brate ein Steak. Geh ins Schlafzimmer.
Schließ die Tür ab.
Johnny nahm es mit seinen schwarzen Augen auf, und oft fand
er sich unversehens nachts in der Küche wieder, legte drei Finger
auf das große Messer im Holzblock, sah die weiche Mulde über
Kens Brust vor sich und dachte darüber nach.
Der Mann war ein Raubtier, schlicht und einfach, und Johnnys
Mutter war zu einem Nichts verblichen. Sie wog noch knappe
fünfundvierzig Kilo und sah abgespannt wie eine Bettlägerige aus,
doch Johnny entging nicht, wie die Männer sie anschauten und wie
besitzergreifend Ken wurde, wenn sie das Haus einmal verließ. Ihre
Haut war blass, aber makellos, und ihre Augen waren groß und
tief und verwundet. Sie war dreiunddreißig und sah aus, wie ein
Engel aussähe, wenn es ihn gäbe: dunkelhaarig, zerbrechlich, überirdisch.
Wenn sie einen Raum betrat, hörten die Männer auf mit
dem, was sie gerade taten. Sie starrten sie an, als ginge ein Leuchten
von ihr aus, als könnte sie jeden Moment vom Boden abheben.
Ihr war das völlig gleichgültig. Schon bevor ihre Tochter verschwunden
war, hatte sie kaum auf ihr Äußeres geachtet. Bluejeans
und T-Shirts. Pferdeschwanz und gelegentlich ein bisschen
Make-up. Sie hatte in einer kleinen, perfekten Welt gelebt, in der
sie ihren Mann und ihre Kinder geliebt hatte. Sie hatte ihren Garten
gepflegt, Freiwilligendienste in der Kirche geleistet und an
Regentagen vor sich hin gesungen. Doch damit war es vorbei.
Jetzt war da nur noch Stille und Leere und Schmerz, nur noch
ein Schatten der Person, die sie einmal gewesen war. Aber die
Schönheit war geblieben. Johnny sah sie jeden Tag, und jeden Tag
verfluchte er die Vollkommenheit, mit der sie so umfassend gesegnet
war. Wenn sie hässlich gewesen wäre, hätte Ken keine Verwendung
für sie gehabt. Wenn sie hässliche Kinder bekommen
hätte, würde seine Schwester immer noch im Nebenzimmer schlafen.
Doch sie war wie eine Puppe, wie etwas halb Unwirkliches,
das man in eine Vitrine einschließen sollte. Sie war der schönste
Mensch, den Johnny je gekannt hatte, und das hasste er an ihr.
Er hasste es.
So sehr hatte sich sein Leben verändert.
Johnny betrachtete die Tür zum Zimmer seiner Mutter. Vielleicht
war Ken da drin, vielleicht auch nicht. Er drückte das Ohr
an das Holz, und der Atem blieb ihm im Halse stecken. Normalerweise
merkte er es, aber er hatte tagelang nicht schlafen können,
und als der Schlaf endlich kam, kam er mit Macht. Schwarz
und reglos. Tief. Und als er aufwachte, tat er es mit Schrecken, als
hätte er Glas zerbrechen hören.
Das war um drei Uhr gewesen.
Unsicher trat er von der Tür zurück und schlich durch den Korridor.
Das Badezimmerlicht summte, als er es einschaltete. Der
Medizinschrank stand offen, und er sah die Tabletten: Xanax,
Prozac, ein paar blaue, ein paar gelbe. Er nahm ein Fläschchen und
las, was auf dem Etikett stand. Vicodin. Das war neu. Das Xanax-
Fläschchen war offen, die Pillen lagen auf dem Waschtisch, und
Johnny spürte, wie die Wut in ihm aufstieg. Das Xanax brachte
Ken nach einem Abend mit dem guten Stoff wieder herunter.
Das war sein Ausdruck.
Der gute Stoff.
Johnny schraubte die Flasche zu und ging hinaus.
Das Haus war eine Bruchbude, und er musste sich daran erinnern,
dass es eigentlich nicht ihr Haus war. Ihr wirkliches Haus
war sauber und gepflegt. Es hatte ein neues Dach, und er hatte
mitgeholfen, es zu decken. In den Frühlingsferien war er jeden Tag
auf die Leiter gestiegen und hatte seinem Dad die Schindeln angereicht,
und er hatte einen Werkzeuggürtel voller Nägel gehabt,
in den sein Name eingeritzt war. Es war ein gutes Haus mit Steinmauern
und einem Garten, der mehr zu bieten hatte als harte Erde
und Unkraut. Das Haus lag nur ein paar Meilen entfernt, aber
ihm kam es weiter vor, in einer anderen Gegend mit schmucken
Häusern auf großen, grünen Grundstücken. Es war voll von Erinnerungen,
doch jetzt gehörte es der Bank. Die Bank hatte seiner
Mutter ein paar Papiere gegeben und ein Schild in den Vorgarten
gestellt.
Dieses hier war eins von Kens Mietshäusern. Er besaß ungefähr
hundert davon, und Johnny nahm an, dass es wahrscheinlich
das schlechteste war, eine beschissene Hütte weit draußen am
Stadtrand. Die Küche war klein, mit grünen Metallschränken und
einem abgenutzten Linoleumboden, der sich in den Ecken nach
oben bog. Eine Glühbirne brannte über dem Herd, und Johnny
drehte sich langsam um sich selbst. Es sah ekelhaft aus: Zigarettenstummel
in einer Untertasse, leere Flaschen und Schnapsgläser.
Der Spiegel lag auf dem Küchentisch, und im Licht sah Johnny die
Reste von weißem Pulver. Bei dem Anblick breitete sich ein kaltes
Gefühl in seiner Brust aus. Ein zusammengerollter Hundert-Dollar-
Schein war auf den Boden gefallen. Johnny hob ihn auf und
strich ihn glatt. Er hatte seit einer Woche nichts Richtiges mehr
gegessen, und Ken zog sich hier den Koks mit einem Hunderter
in die Nase.
Er nahm den Spiegel, wischte ihn mit einem feuchten Tuch ab
und hängte ihn wieder an die Wand. Sein Vater hatte immer in
diesen Spiegel geschaut, und Johnny sah ihn noch vor sich, wie er
sonntags an seinem Schlipsknoten arbeitete, mit großen, steifen
Fingern und einer unnachgiebigen Krawatte. Seinen Anzug trug
er nur, wenn er in die Kirche ging, und es machte ihn verlegen,
wenn er merkte, dass sein Sohn ihn beobachtete. Johnny sah, wie
er plötzlich errötete und dann verlegen lächelte. »Dem Himmel
sei Dank für deine Mutter«, sagte er dann, und sie band ihm die
Krawatte.
Seine Hände in ihrem Kreuz.
Der Kuss und das Augenzwinkern danach.
Johnny wischte noch einmal über den Spiegel und rückte ihn
gerade, ein paarmal hin und her, bis er genau richtig hing.
Die Tür zur Vorderveranda bewegte sich steif in den Angeln,
und Johnny trat hinaus in den klammen, dunklen Morgen. Fünfzig
Meter weiter unten an der Straße flackerte eine Laterne. Autoscheinwerfer
erklommen eine ferne Anhöhe.
Kens Wagen war nicht da, und Johnny empfand schändliche,
beglückende Erleichterung. Ken wohnte auf der anderen Seite der
Stadt in einem großen Haus mit sauberem Anstrich, breiten Fenstern
und einer Vierergarage. Johnny atmete tief durch, dachte an
seine Mutter, wie sie sich über den Spiegel beugte, und sagte sich,
sie sei noch nicht so weit hinüber. Das hier war Kens Stoff, nicht
ihrer. Gewaltsam lockerte er die Fäuste. Die Luft war frisch, und
er konzentrierte sich auf sie. Es war ein neuer Tag, sagte er sich,
da konnte etwas Gutes passieren. Aber der Morgen war schlecht
für seine Mutter. Es gab da einen Moment, wenn sie die Augen
öffnete, einen Flash, bevor sie sich erinnerte, dass man ihre ein zige
Tochter nie gefunden hatte.
Johnnys Schwester.
Seine Zwillingsschwester.
Alyssa war drei Minuten nach ihm zur Welt gekommen, und
sie waren einander so ähnlich, wie zweieiige Zwillinge es nur sein
konnten. Sie hatten das gleiche Haar, das gleiche Gesicht, das
gleiche Lachen. Sie war ein Mädchen, okay, aber schon auf fünf
Schritte war es schwer, sie beide auseinanderzuhalten. Ihre Haltung
war die gleiche, ihr Gang war der gleiche. Meistens wachten
sie morgens um dieselbe Zeit auf, obwohl sie in verschiedenen
Zimmern schliefen. Johnnys Mom erzählte, sie hätten eine eigene
Sprache gesprochen, als sie klein waren, doch daran konnte er
sich nicht erinnern. Er erinnerte sich nur, dass er die meiste Zeit
seines Lebens nie allein gewesen war. Es gab ein spezielles Gefühl
der Zusammengehörigkeit, das nur sie beide wirklich verstanden
hatten. Aber Alyssa war fort, und alles andere mit ihr. Das war
die unausweichliche Wahrheit, und sie hatte seine Mutter ausgehöhlt.
Also tat Johnny, was er konnte. Er kontrollierte abends die
Türschlösser und Fensterriegel und räumte den Dreck weg. Heute
brauchte er zwanzig Minuten dazu. Dann setzte er den Kaffee auf
und dachte an den zusammengerollten Geldschein.
Hundert Dollar.
Essen und Kleidung.
Er machte einen letzten Kontrollgang durch das Haus. Flaschen
- weg. Koksspuren - weg. Er öffnete Fenster und ließ die
Welt herein, dann warf er einen Blick in den Kühlschrank. Im
Milchkarton rasselte es, als er ihn schüttelte. Ein einsames Ei in
der Pappe. Er öffnete die Handtasche seiner Mutter. Sie hatte
neun Dollar und etwas Kleingeld. Johnny ließ das Geld drin und
klappte die Tasche zu. Er ließ Wasser in ein Glas laufen, schüttelte
zwei Aspirin aus dem Röhrchen, ging durch den Flur und öffnete
die Tür seiner Mutter.
Das erste rohe Licht der Morgendämmerung drängte an die
Fensterscheibe, eine orangegelbe Wölbung hinter den schwarzen
Bäumen. Seine Mutter lag auf der Seite, das Haar war ihr über
das Gesicht gefallen. Illustrierte und Bücher bedeckten den Nachttisch.
Er machte Platz für das Wasserglas und legte die beiden
Tabletten auf das narbige Holz. Einen Moment lang lauschte er
ihrem Atem, dann fiel sein Blick auf die Geldscheine, die Ken
neben dem Bett hinterlassen hatte. Ein paar Zwanziger, ein Fünfziger.
Ein paar hundert Dollar vielleicht, zerknüllt und verschmiert.
Von einer Rolle heruntergeblättert.
Hingeworfen.
Der Wagen in der Einfahrt war alt, ein Kombi, den Johnnys Vater
vor Jahren gekauft hatte. Der Lack war sauber und gewachst, und
der Reifendruck wurde jede Woche kontrolliert, aber das war alles,
was Johnny konnte. Noch immer quoll blauer Qualm aus dem
Auspuff, wenn er den Zündschlüssel umdrehte, und das Beifahrerfenster
ließ sich nicht vollständig schließen. Er wartete, bis der
Qualm weiß wurde, dann legte er den Rückwärtsgang ein und
rollte bis zum Ende der Einfahrt. Er hatte natürlich keinen Führer
schein, deshalb sah er sich wachsam um, bevor er langsam auf die
Straße hinausfuhr. Er hielt die Geschwindigkeit niedrig und blieb
auf den Nebenstraßen. Der nächste Supermarkt war nur zwei
Meilen weit entfernt, aber er war groß und lag an einer Hauptstraße,
und Johnny wusste, dass man ihn dort vielleicht erkennen
würde. Deshalb fuhr er noch drei Meilen weiter zu einem kleinen
Laden, dessen Kundschaft schäbiger war. Das Benzin kostete
Geld, und die Lebensmittel waren teurer, doch ihm blieb keine andere
Wahl. Das Jugendamt war schon zweimal bei ihnen gewesen.
Der Wagen verschwand zwischen denen, die bereits dastanden.
Zum größten Teil waren es alte, amerikanische Fabrikate.
Ein dunkler Personenwagen rollte hinter ihm auf den Parkplatz
und hielt in der Nähe des Eingangs an. Das Sonnenlicht spiegelte
sich in den Fenstern, und ein einzelner, gesichtsloser Mann saß am
Steuer. Er stieg nicht aus, und Johnny beobachtete ihn, während
er auf den Laden zuging.
Er hatte große Angst vor einzelnen Männern in parkenden Autos.
Der Einkaufswagen wackelte, als er ihn den Gang hinauf und
den zweiten wieder hinunter schob. Nur das Nötigste, entschied
er: Milch, Saft, Speck, Eier, Sandwichbrot, Obst. Er kaufte neues
Aspirin für seine Mutter. Tomatensaft schien ihr auch zu helfen.
Der Cop erwartete ihn am Ende von Gang acht. Er war groß
und breitschultrig, hatte braune Augen, die zu sanft waren für
die Falten in seinem Gesicht und die harten Konturen seines Kiefers.
Er hatte keinen Einkaufswagen. Mit den Händen in den Taschen
stand er da, und Johnny begriff auf den ersten Blick, dass
er ihm gefolgt war. Er hatte diesen Blick. Eine Art von geduldiger
Resignation.
Und Johnny wollte weglaufen.
»Hey, Johnny«, sagte der Cop. »Wie geht's?«
Sein Haar war länger, als Johnny es in Erinnerung hatte. Es war
so braun wie seine Augen und fiel in strähnigen Locken über den
Kragen, an den Seiten durchzogen von ein paar neuen silbernen
Fäden. Sein Gesicht war schmaler geworden, und in einem Winkel
seines Herzens erkannte Johnny, dass das Jahr für ihn ebenfalls
hart gewesen war. So groß der Cop auch war, er wirkte niederge
drückt und gehetzt. Aber so sah in Johnnys Augen fast die ganze
Welt aus, und deshalb war er nicht sicher. Die Stimme des Mannes
klang tief und teilnahmsvoll. Sie weckte so viele schlimme Erinnerungen,
dass Johnny sich einen Augenblick lang weder rühren
noch sprechen konnte. Der Cop kam näher und zeigte den nachdenklichen
Gesichtsausdruck, den Johnny so oft gesehen hatte, den
gleichen sanften, sorgenvollen Blick. Ein Teil seiner selbst hätte den
Mann gerne gemocht und ihm vertraut, aber es war immer noch
derselbe Mann, der zugelassen hatte, dass Alyssa sich in nichts auflöste.
Er war immer noch derjenige, der sie verloren hatte.
»Ganz gut«, sagte Johnny. »Sie wissen schon. Man schlägt sich
durch.«
Der Cop warf einen Blick auf die Uhr, dann auf Johnnys schmuddelige
Kleider und sein ungebärdiges schwarzes Haar. Es war zwanzig
vor sieben an einem Schultag. »Was von deinem Vater gehört?«,
fragte er.
»Nein.« Johnny bemühte sich, die plötzliche Scham zu verbergen.
»Nichts.«
»Das tut mir leid.«
Der Augenblick dehnte sich in die Länge, aber der Cop rührte
sich nicht. Der Blick seiner braunen Augen blieb fest, und aus der
Nähe sah er noch genauso groß und ruhig aus wie beim ersten
Mal, als er in Johnnys Haus gekommen war. Aber das war eine
andere Erinnerung, und deshalb starrte Johnny das breite Handgelenk
des Mannes an, die sauberen, stumpfen Fingernägel. Seine
Stimme war brüchig, als er sprach. »Meine Mutter hat einmal einen
Brief gekriegt. Sie sagt, er war in Chicago und wollte vielleicht
nach Kalifornien.« Er schwieg, und sein Blick wanderte von der
Hand zum Boden. »Der kommt schon wieder.«
Johnny sagte es ohne Überzeugung. Der Cop nickte einmal und
wandte den Kopf ab. Spencer Merrimon war zwei Wochen nach
der Entführung seiner Tochter verschwunden. Zu viel Schmerz.
Zu viele Schuldgefühle. Seine Frau ließ ihn keinen Augenblick
lang vergessen, dass er das Mädchen hatte abholen sollen, ließ ihn
nie vergessen, dass das Kind niemals in der Abenddämmerung die
Straße entlanggegangen wäre, wenn er getan hätte, was er hätte
tun sollen.
»Es war nicht seine Schuld«, sagte Johnny.
»Das habe ich nie behauptet.«
»Er hat gearbeitet. Er hat nicht auf die Zeit geachtet. Es war
nicht seine Schuld.«
»Wir alle machen Fehler, mein Junge. Jeder von uns. Dein Vater
ist ein guter Mann. Daran darfst du niemals zweifeln.«
»Tu ich nicht.« Johnny klang plötzlich gereizt.
»Ist okay.«
»Das würde ich niemals tun.« Johnny spürte, dass die Farbe
aus seinem Gesicht wich. Er wusste nicht, wann er das letzte Mal
so viel zu einem Erwachsenen gesagt hatte, doch der Cop hatte
irgendetwas an sich. Er war steinalt, bestimmt vierzig, aber er
überstürzte nie etwas, und sein Gesicht hatte etwas Warmes, eine
Freundlichkeit, die nicht gespielt wirkte, nicht dazu gedacht, einen
Jungen auszutricksen, damit er ihm vertraute. Seine Augen waren
immer still, und im Grunde seines Herzens hoffte Johnny, dass
der Mann als Polizist gut genug war, um noch alles in Ordnung
zu bringen. Aber inzwischen war ein Jahr vergangen, und seine
Schwester war nach wie vor verschwunden. Johnny musste sich
um die Gegenwart kümmern, und in der Gegenwart war dieser
Cop kein Freund.
Da war das Jugendamt, das nur auf einen Vorwand wartete.
Dazu kam das, was Johnny tat und wohin er ging, wenn er die
Schule schwänzte - die Risiken, die er einging, wenn er sich nach
Mitternacht hinausschlich. Wenn der Cop wüsste, was Johnny tat,
wäre er gezwungen, etwas zu unternehmen. Pflegeeltern. Gericht.
Er würde Johnny stoppen, wenn er könnte.
»Wie geht's deiner Mom?«, fragte der Cop. Sein Blick war durchdringend,
und seine Hand lag auf dem Einkaufswagen.
»Müde«, sagte Johnny. »Lupus, wissen Sie. Sie wird schnell
müde.«
Zum ersten Mal runzelte der Cop die Stirn. »Beim letzten Mal,
als ich dich hier gefunden habe, hast du gesagt, sie hat die Lyme-
Krankheit.«
Er hatte recht. »Nein. Lupus, habe ich gesagt.«
Der Blick des Cops wurde milder, und er nahm die Hand vom
Wagen. »Es gibt Leute, die helfen wollen. Leute, die das verstehen.«
Plötzlich war Johnny wütend. Niemand verstand es, und niemand
bot seine Hilfe an. Nie. »Sie ist nur ein bisschen angeschlagen.
Abgespannt.«
Der Cop sah über die Lüge hinweg, aber sein Gesicht blieb traurig.
Sein Blick fiel auf das Aspirinfläschchen, auf den Tomatensaft,
und es war offensichtlich, dass er über Trinker und Junkies besser
Bescheid wusste als die meisten. »Du bist nicht der Einzige, der
leidet, Johnny. Du bist nicht allein.«
»Allein genug.«
Der Cop seufzte tief. Er nahm eine Karte aus der Tasche und
schrieb eine Nummer auf die Rückseite. Dann gab er sie dem Jungen.
»Wenn du je etwas brauchen solltest.« Er sah entschlossen
aus. »Tag und Nacht. Das meine ich ernst.«
Johnny warf einen Blick auf die Karte und steckte sie in die Tasche
seiner Jeans. »Wir kommen zurecht«, sagte er und schob den
Einkaufswagen um den Cop herum. Der Cop legte ihm eine Hand
auf die Schulter.
»Wenn er dich noch mal schlägt ...«
Johnny erstarrte.
»Oder deine Mutter ...«
Johnny schüttelte die Hand ab. »Wir kommen zurecht«, wiederholte
er. »Ich hab alles im Griff.«
Er drängte sich an dem Cop vorbei und hatte eine Riesenangst,
er könnte ihn festhalten und noch mehr Fragen stellen oder eine
der hartgesichtigen Frauen vom Jugendamt rufen.
Der Einkaufswagen schrammte an der Kassentheke vorbei, und
die dicke Frau auf dem abgenutzten Hocker senkte den Kopf und
zog die Brauen hoch. Sie war neu im Laden, und Johnny erkannte
die Frage in ihrem Blick. Er war dreizehn, aber er sah ein paar
Jahre jünger aus. Er zog den Hunderter aus der Tasche und legte
ihn mit der Vorderseite nach oben auf das Fließband. »Können Sie
bitte schnell machen?«
Sie ließ eine Kaugummiblase platzen und runzelte die Stirn.
»Immer mit der Ruhe, Schätzchen. Geht gleich los.«
Der Cop trödelte drei Schritte hinter ihm, und Johnny fühlte
seinen Blick im Rücken, während die dicke Frau die Einkäufe in
die Kasse tippte. Johnny zwang sich zu atmen, und nach einer
Weile ging der Cop an ihm vorbei. »Heb die Karte gut auf«, sagte
er.
»Okay.« Johnny brachte es nicht über sich, ihm in die Augen
zu sehen.
Der Cop drehte sich um, und sein Lächeln war nicht entspannt.
»Es ist immer gut, dich zu sehen, Johnny.«
Er verließ den Supermarkt, und Johnny sah ihn durch die breite
Schaufensterscheibe. Er kam an dem Kombi vorbei, kehrte um
und blieb kurz stehen. Er spähte durch das Seitenfenster und ging
dann nach hinten, um einen Blick auf das Kennzeichen zu werfen.
Anscheinend zufriedengestellt, näherte er sich seinem Wagen und
öffnete die Tür. Er schob sich ins Halbdunkel und blieb sitzen.
Er wartete.
Johnny versuchte seinen rasenden Herzschlag zu bremsen und
griff nach dem Wechselgeld in der feuchten, fleischigen Hand der
Kassiererin.
Der Cop hieß Clyde Lafayette Hunt. Detective. Das stand auf
seiner Karte. Johnny hatte eine ganze Sammlung davon in seiner
obersten Schublade, versteckt unter den Strümpfen und einem
Foto von seinem Dad. Manchmal dachte er an die Telefonnummer
auf der Karte, aber dann dachte er an Waisenhäuser und Pflegestellen.
Er dachte an seine verschwundene Schwester und an das
Bleirohr zwischen seinem Bett und der Wand, aus der kalte Luft
sickerte. Wahrscheinlich meinte der Cop es ernst mit dem, was er
sagte. Wahrscheinlich war er in Ordnung. Aber Johnny konnte
ihn nie ansehen, ohne an Alyssa zu denken, und solche Gedanken
erforderten Konzentration. Er musste sie lebendig und lächelnd
vor sich sehen, nicht in einem Keller mit festgestampftem Lehmboden
oder im Kofferraum irgendeines Autos. Sie war zwölf, als
er sie zuletzt gesehen hatte. Zwölf Jahre alt, mit schwarzem Haar,
kurz geschnitten wie bei einem Jungen. Der Einzige, der gesehen
hatte, was passiert war, hatte erzählt, sie sei geradewegs auf den
Wagen zugegangen und habe gelächelt, als die Wagentür sich öffnete.
Hatte gelächelt, bis jemand sie packte.
Johnny hörte dieses Wort ständig. Gelächelt. Als sei es in seinem
Kopf hängen geblieben - ein einziges Wort auf einer Ton-
bandaufnahme, die er nicht anhalten konnte. Aber er sah ihr Gesicht,
wenn er schlief. Er sah, wie sie zurückschaute, als die Häuser
hinter ihr immer kleiner wurden. Er sah, wie die Besorgnis aufflackerte,
und er sah, wie sie schrie.
Johnny merkte, dass die Kassiererin ihn anstarrte. Er streckte
immer noch die Hand mit dem Wechselgeld aus, und seine Einkäufe
waren in den Tüten. Sie hatte eine Braue hochgezogen, und
ihre Kiefer mahlten auf dem Kaugummi.
»Brauchst du noch was, Schätzchen?«
Johnny schrak zusammen. Er zerknüllte die Scheine und stopfte
sie in die Tasche. »Nein«, sagte er. »Ich brauche nichts weiter.«
Sie schaute an ihm vorbei zum Geschäftsführer, der hinter einer
niedrigen Glaswand stand. Johnny folgte ihrem Blick und griff nach
seinen Tüten. Sie zuckte die Achseln, und er trat hinaus unter einen
Himmel, der blau geworden war, während er einkaufte. Unverwandt
starrte er auf das Auto seiner Mutter und bemühte sich, Detective
Hunt zu ignorieren. Die Einkaufstüten scharrten raschelnd
aneinander, und die Milch schwappte schwer auf der rechten Seite.
Er stellte die Tüten auf den Rücksitz und zögerte. Der Cop beobachtete
ihn von seinem Wagen aus, der keine fünf Meter weiter
schräg auf dem Platz stand. Er winkte, als Johnny sich aufrichtete.
»Ich kann fahren«, sagte Johnny.
»Das bezweifle ich nicht.« Diese Antwort überraschte Johnny.
Es war, als lächle der Mann. »Ich weiß, dass du tough bist.« Das
Lächeln war weg. »Ich weiß, dass du eine Menge kannst, aber
Gesetz ist Gesetz.« Johnny richtete sich höher auf. »Ich darf dich
nicht fahren lassen.«
»Aber ich kann den Wagen nicht hierlassen«, protestierte
Johnny. »Wir haben nur den.«
»Ich bringe dich nach Hause.«
Johnny antwortete nicht. Er fragte sich, ob das Haus noch nach
Bourbon roch. Und ob er alle Pillenfläschchen weggeräumt hatte.
»Ich will dir nur helfen, Johnny.« Der Cop schwieg einen Moment.
»Manche Leute tun das, weißt du.«
»Welche Leute?« Die Verbitterung brach hervor.
»Es ist okay«, sagte Detective Hunt. »Alles in Ordnung. Sag mir
nur deine Adresse.«
»Sie wissen, wo ich wohne. Ich sehe Sie manchmal vorbeifahren,
und dann bremsen Sie ab. Also tun Sie nicht so, als wüssten
Sie es nicht.«
Hunt hörte das Misstrauen. »Ich versuche nicht, dich auszutricksen,
Junge. Ich brauche die genaue Adresse, damit ein Streifenwagen
hinkommen und mich abholen kann. Ich muss ja zurück
zu meinem Auto.«
Johnny sah ihn forschend an. »Warum fahren Sie so oft vorbei?«
»Das hab ich doch gesagt, Johnny. Es gibt Leute, die helfen
möchten.«
Johnny wusste nicht, ob er ihm glauben sollte, aber er gab ihm
die Adresse und sah zu, wie Hunt über Funk einen Streifenwagen
anforderte, der ihn dort abholen sollte. »Komm.« Hunt stieg aus
seinem zivilen Polizeifahrzeug und ging zu dem Kombi. Johnny
öffnete die Beifahrertür, und der Cop setzte sich ans Steuer. Johnny
schnallte sich an und blieb dann sehr still sitzen. Eine ganze Weile
bewegte sich keiner von ihnen. »Das mit deiner Schwester tut mir
leid«, sagte Hunt schließlich. »Es tut mir leid, dass ich sie nicht
nach Hause bringen konnte. Das weißt du, oder?«
Johnny blickte starr geradeaus und ballte die Fäuste auf dem
Schoß so sehr, dass die Fingerknöchel weiß wurden. Die Sonne
stieg über die Bäume und drückte ihre Wärme durch die Wagenfenster.
»Sagst du mal was?«, fragte Hunt.
Johnny drehte sich um, und seine Stimme klang flach. »Gestern
war es ein Jahr her.« Er wusste, dass er sich anhörte wie ein kleines
Kind. »Wissen Sie das?«
Hunt machte ein unbehagliches Gesicht. »Ja«, sagte er. »Das
weiß ich.«
Johnny schaute weg. »Können Sie einfach losfahren? Bitte?«
Der Motor sprang an, und blauer Qualm zog an Johnnys Fenster
vorbei. »Okay«, sagte der Cop. »Okay, Johnny.«
Er legte den Gang ein. Schweigend fuhren sie zum Stadtrand.
Ohne Worte - aber Johnny konnte ihn riechen. Er roch nach Seife
und Waffenöl, und vielleicht hing auch Zigarettenrauch in seinen
Kleidern. Er fuhr, wie Johnnys Dad gefahren war, schnell und sicher,
und sein Blick wechselte zwischen Straße und Rückspiegel.
Als sie sich dem Haus näherten, presste er die Lippen zusammen,
und Johnny dachte ein letztes Mal daran, wie der Cop gesagt
hatte, er werde Alyssa nach Hause bringen. Vor einem Jahr. Er
hatte es versprochen.
Ein Streifenwagen wartete in der Einfahrt, als sie ankamen.
Johnny stieg aus und öffnete die hintere Tür, um seine Einkaufs-
tüten vom Rücksitz zu nehmen. »Ich kann dir dabei helfen«, sagte
Hunt.
Johnny sah ihn nur an. Was wollte er noch? Er hatte sie verloren.
»Das geht schon«, sagte er.
Detective Hunt schaute ihm in die Augen, bis klar war, dass
Johnny nichts zu sagen wusste. »Mach's gut«, sagte er, und Johnny
sah zu, wie er in den Streifenwagen stieg. Er hielt seine Einkäufe
im Arm und rührte sich nicht von der Stelle, als der Wagen rückwärts
auf die Straße fuhr. Auf Detective Hunts Winken reagierte
er nicht. Er stand in der staubigen Einfahrt und sah dem Streifenwagen
nach, der in der Ferne auf die Anhöhe fuhr und dahinter
verschwand. Als sein Herz wieder langsamer schlug, trug er die
Tüten ins Haus.
Auf der Theke sahen die Lebensmittel mickrig aus, aber das Gefühl,
das sie weckten, war größer: ein Triumph. Johnny räumte
sie weg, und dann schaltete er die Kaffeemaschine ein und schlug
ein einzelnes Ei in die Pfanne. Blaue Flammen schossen in dem
Eisenring herauf, und er sah zu, wie das Ei an den Rändern weiß
wurde. Er drehte es vorsichtig um und legte es dann auf einen
Pappteller. Das Telefon klingelte, als er nach einer Serviette griff.
Er erkannte die Nummer auf dem Display und nahm den Anruf
an, bevor es zum zweiten Mal klingeln konnte. Der Junge am anderen
Ende hatte eine raue Stimme. Er war auch dreizehn, aber er
soff und qualmte wie ein Erwachsener. »Machst du heute blau?
Komm, wir machen blau.«
Johnny warf einen Blick zum Flur und dämpfte seine Stimme.
»Hallo, Jack.«
»Ich hab mir ein paar Häuser an der West Side angeguckt. Ist
'ne miese Gegend. Echt mies. Jede Menge Exknackis da drüben.
Leuchtet ein, wenn man drüber nachdenkt.«
Das war ein altes Lied. Jack wusste, was Johnny trieb, wenn er
die Schule schwänzte und sich im Dunkeln verdrückte. Er wollte
ihm helfen, teils, weil er ein guter Junge war, und teils, weil er kein
guter Junge war.
»Das ist nicht irgendein Spiel«, sagte Johnny.
»Du weißt doch, was man von einem geschenkten Gaul sagt,
Mann. Das ist 'ne kostenlose Hilfe. Halte das nicht für selbstverständlich.
«
Johnny atmete geräuschvoll aus. »Entschuldige, Jack. Ist manchmal
blöd morgens.«
»Deine Mom?«
Johnnys Kehle schnürte sich zusammen, daher nickte er nur.
Jack war sein letzter Freund, der Einzige, der ihn nicht behandelte
wie eine Missgeburt oder einen, mit dem man Mitleid haben
musste. Außerdem hatten sie einiges miteinander gemeinsam. Jack
war schmächtig wie Johnny und hatte selbst seine Probleme. »Ich
sollte wahrscheinlich heute hingehen.«
»Der Aufsatz für Geschichte ist heute fällig«, sagte Jack. »Hast
du ihn fertig?«
»Hab ihn letzte Woche abgegeben.«
»Scheiße. Wirklich? Ich hab noch nicht mal angefangen.«
Jack verspätete sich immer, und die Lehrer drückten stets ein
Auge zu. Johnnys Mom hatte Jack mal einen »Gauner« genannt,
und das Wort passte. Er klaute Zigaretten aus dem Lehrerzimmer
und schmierte sich freitags Gel ins Haar. Er trank mehr Alkohol,
als für einen Jungen gut war, und er konnte lügen wie ein
Profi. Aber er bewahrte ein Geheimnis, wenn er es versprochen
hatte, und hielt einem den Rücken frei, wenn das nötig war. Er
war liebenswert und aufrichtig, wenn er wollte, und eine Sekunde
lang spürte Johnny, wie seine Lebensgeister erwachten, doch dann
senkte sich die Last des Morgens auf ihn.
Detective Hunt.
Das Knäuel der schmuddeligen Geldscheine neben dem Bett seiner
Mutter.
»Ich muss los«, sagte er.
»Was ist mit Schuleschwänzen?«
»Ich muss los.« Johnny legte auf. Sein Freund war gekränkt,
aber daran ließ sich nichts ändern. Johnny setzte sich mit seinem
Teller auf die Veranda, aß das Ei mit drei Scheiben Brot und trank
ein Glas Milch. Als er fertig war, hatte er noch Hunger, doch bis
zum Lunch waren es nur viereinhalb Stunden.
Er konnte warten.
Er goss Kaffee und Milch in einen Becher und ging durch den
halbdunklen Korridor zum Zimmer seiner Mutter. Das Wasser
war weg, das Aspirin auch. Das Haar verdeckte nicht mehr ihr
Gesicht, und quer über ihren Augen lag ein Streifen Sonnenlicht.
Johnny stellte den Becher auf den Nachttisch und öffnete ein Fenster.
Kühle Luft strömte von der Schattenseite des Hauses herein.
Johnny betrachtete seine Mutter. Sie sah noch blasser aus, müder,
jünger. Verloren. Sie würde nicht aufwachen wegen des Kaffees,
aber er wollte, dass er dastand, für alle Fälle. Damit sie es wusste.
Er wollte sich abwenden, doch da stöhnte sie im Schlaf und
zuckte heftig zusammen. Sie murmelte etwas, strampelte zweimal
mit den Beinen und fuhr jäh hoch, mit weit aufgerissenen, angstvollen
Augen. »O Gott!«, sagte sie. »O Gott!«
Johnny stand vor ihr, aber sie sah ihn nicht. Was immer ihr solche
Angst einjagte, hatte sie noch in den Klauen. Er beugte sich zu
ihr und sagte, sie habe nur geträumt, und in dieser Sekunde schienen
ihre Augen ihn zu erkennen. Sie hob die Hand an sein Gesicht.
»Alyssa«, sagte sie, und es klang fragend.
Johnny fühlte, dass ein Unwetter aufzog. »Ich bin Johnny«, sagte
er.
»Johnny?« Sie blinzelte zweimal, dann brach der Tag über sie
herein. Ihr verzweifelter Blick sackte in sich zusammen, die Hand
fiel herunter, und sie sank zurück.
Johnny ließ ihr ein paar Sekunden Zeit, aber sie öffnete die
Augen nicht wieder. »Alles okay?«, fragte er schließlich.
»Schlecht geträumt.«
»Da ist Kaffee. Möchtest du Frühstück?«
»Verdammt.« Sie warf die Bettdecke zurück, stand auf und ging
hinaus, ohne sich umzusehen. Johnny hörte, wie die Badezimmertür
zuschlug.
Er ging hinaus und setzte sich auf die Veranda. Fünf Minuten
später hielt der Schulbus am unbefestigten Straßenrand. Johnny
stand nicht auf. Er rührte sich überhaupt nicht. Nach einem kurzen
Augenblick fuhr der Bus weiter.
Es dauerte fast eine Stunde, bis seine Mutter sich angezogen hatte
und zu ihm auf die Veranda kam. Sie setzte sich neben ihn und
schlang die dünnen Arme um die Knie. Ihr Lächeln scheiterte auf
der ganzen Linie, und Johnny dachte daran, wie es früher ein ganzes
Zimmer erhellt hatte.
»Es tut mir leid«, sagte sie und stieß ihn mit der Schulter an.
Johnny starrte die Straße entlang. Sie stieß ihn noch einmal an.
»Es tut mir leid. Verstehst du ... ich entschuldige mich.«
Er wusste nicht, was er sagen sollte, konnte ihr nicht erklären,
was für ein Gefühl es war zu wissen, dass es ihr wehtat, ihn anzusehen.
Er zuckte die Achseln. »Ist okay.«
Er spürte, dass sie nach den richtigen Worten suchte. Auch das
scheiterte. »Du hast den Bus verpasst«, stellte sie fest.
»Macht nichts.«
»Für die Schule macht es schon was.«
»Ich habe tadellose Noten. Niemanden interessiert es, ob ich da
bin oder nicht.«
»Gehst du noch zum Schulpsychologen?«
Er musterte sie unnachsichtig. »Seit sechs Monaten nicht mehr.«
»Oh.«
Johnny schaute wieder die Straße hinauf und spürte, dass seine
Mutter ihn beobachtete. Sie hatte immer alles gewusst. Sie hatten
miteinander geredet. Als sie jetzt sprach, hatte ihre Stimme einen
scharfen Unterton. »Er kommt nicht zurück.«
Johnny sah seine Mutter an. »Was?«
»Du starrst die Straße hinauf. Das tust du dauernd, als ob du
damit rechnest, dass er gleich da oben über die Höhe kommt.«
Johnny öffnete den Mund, aber sie redete über ihn hinweg. »Das
wird nicht passieren.«
»Das weißt du nicht.«
»Ich versuche nur -«
»Das weißt du nicht!«
Johnny war auf den Beinen, ohne sich zu erinnerte, dass er aufgesprungen
war. Zum zweiten Mal an diesem Morgen ballte er die
Fäuste, und etwas Heißes dehnte sich in seiner Brust. Seine Mutter
lehnte sich zurück, die Arme noch um die Knie geschlungen. Das
Licht in ihren Augen erlosch, und Johnny wusste, was jetzt kam.
Sie streckte die Hand aus, aber nicht so weit, dass sie ihn berührte.
»Er hat uns verlassen, Johnny. Es ist nicht deine Schuld.«
Sie stand auf. Ihr Mund wurde weich, und ihr Gesicht verfiel in
einen Ausdruck von gequältem Verständnis, mit dem Erwachsene
ein Kind ansahen, das nicht genau begriff, wie die Welt funktionierte.
Aber Johnny hatte es begriffen. Er kannte diesen Blick und
konnte ihn nicht ausstehen.
»Du hättest niemals sagen dürfen, was du gesagt hast.«
»Johnny ...«
»Es war nicht seine Schuld, dass sie entführt wurde. Das hättest
du niemals sagen dürfen.« Sie tat einen Schritt auf ihn zu. Johnny
ignorierte es. »Er ist deinetwegen weggegangen.«
Sie blieb wie angewurzelt stehen, und Eis klirrte in ihrer Stimme.
Das verständnisvolle Kräuseln verschwand von ihren Lippen. »Es
war seine Schuld«, sagte sie. »Seine und niemandes sonst. Jetzt ist
sie fort, und ich habe nichts mehr.«
Johnny spürte, wie tief unten in seinen Waden ein Zittern begann.
Ein paar Augenblicke später zitterte er am ganzen Leib. Der
Streit war alt und riss sie beide auseinander.
Sie richtete sich auf und wandte sich ab. »Du stellst dich immer
auf seine Seite«, sagte sie. Dann war sie weg, im Haus, hinaus aus
der Welt, in der ihr letztes Kind seinen Platz hatte.
Johnny starrte die ausgebleichte Tür und dann seine Hände an.
Sie zitterten, aber er schluckte seine Erregung hinunter. Er setzte
sich wieder hin und sah zu, wie der Wind den Staub am Straßenrand
entlangwehte. Er dachte an das, was seine Mutter gesagt
hatte, und spähte wieder zur Anhöhe hinauf. Der Hügel war nicht
schön; am Rand eines struppigen Waldes standen Reihen kleiner
Häuser mit ungepflasterten Einfahrten, Telefonleitungen schlangen
sich in Bögen von Mast zu Mast und sahen vor dem jungen
Himmel besonders schwarz aus. Der Hügel hatte nichts Außergewöhnliches
an sich, aber Johnny beobachtete ihn trotzdem lange
Zeit. Er beobachtete ihn, bis ihm der Nacken wehtat, dann ging er
ins Haus, um nach seiner Mom zu sehen.
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Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Copyright der Originalausgabe © 2009 by John Hart
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2010 by C. Bertelsmann Verlag,
München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Übersetzung: Rainer Schmidt
Umschlaggestaltung: JARZINA kommunikations-design, Holzkirchen
Umschlagmotiv: © Thomas Jarzina
Gesamtherstellung: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in the EU
ISBN 978-3-86800-487-8
2014 2013 2012 2011
Die letzte Jahreszahl gibt die aktuelle Lizenzausgabe an.
Er war ein hübscher Bengel, aber was dem Fahrer am meisten
auffiel, waren die Augen. Groß und dunkel und ständig in
Bewe gung, als sei er sich der Leute um ihn herum übermäßig bewusst,
der heißen Enge unter Menschen, die typisch waren für
einen klapprigen Bus an einem sonnendurchglühten Morgen in
den Sanddünen von North Carolina: ein halbes Dutzend Wanderarbeiter,
ein paar lädierte Raufbolde, die aussahen wie ehemalige
Soldaten, eine oder zwei Familien, eine Handvoll alter Leute und
zwei tätowierte Punks, die hinten die Köpfe zusammensteckten.
Immer wieder wanderten die Augen des Jungen zu dem Mann
auf der anderen Seite des Ganges, einem Vertretertypen mit öligem
Haar in einem zerknautschten Anzug und ausgelatschten Slippern.
Auch ein Schwarzer mit einer zerfledderten Bibel in der Hand und
einer Sodaflasche zwischen den Beinen schien den Blick des Kleinen
anzuziehen. Hinter dem Jungen saß eine alte Lady in einem
Kleid aus pergamentartigem Stoff. Als sie sich vorbeugte, um ihn
etwas zu fragen, schüttelte der Junge zaghaft den Kopf und antwortete
vorsichtig.
Nein, Ma'am.
Seine Worte wehten nach hinten wie ein Rauchwölkchen, und
die Lady lehnte sich zurück und berührte mit blau geäderten Fingern
die Kette an ihrer Brille. Sie schaute aus dem Fenster, und
ihre Brillengläser blitzten und wurden dann dunkel, als die Straße
sich durch ein Kiefernwäldchen schnitt, wo die Schatten wie grüne
Pfützen unter den Ästen lagen. Das gleiche Licht erfüllte auch den
Bus, und der Fahrer betrachtete den Mann in dem zerknautschten
Anzug. Er war bleich und verschwitzt wie nach einem Kater,
hatte ungewöhnlich kleine Augen und eine Rastlosigkeit, die an
den Nerven des Fahrers scheuerte. Alle zwei Minuten setzte er sich
anders hin, schlug ein Bein über das andere und nahm es wieder
herunter, beugte sich vor, lehnte sich zurück. Seine Finger trommelten
auf das Knie unter dem schlecht sitzenden Anzug, und er
schluckte oft, während sein Blick zu dem Jungen wanderte, wieder
weghuschte, zurückwanderte und auf ihm verharrte.
Der Fahrer war abgestumpft, aber in seinem Bus hielt er Ordnung.
Betrunkenheit, schlechtes Benehmen und lautes Gerede
tolerierte er nicht. So hatte seine Momma ihn vor fünfzig Jahren
erzogen, und er sah keinen Grund, daran etwas zu ändern.
Also hatte er ein Auge auf den Jungen und auf den angespannten,
schwit zenden Mann mit dem eifrigen Blick. Er beobachtete, wie
der Mann den Jungen beobachtete, und sah, wie er sich auf dem
speckigen Sitz zurücklehnte, als das Messer zum Vorschein kam.
Der Junge tat es ganz beiläufig: Er zog es aus der Tasche und
ließ die Klinge mit dem Daumen herausschnappen. Er hielt es
einen Augenblick lang so, dass man es sehen konnte, und dann
nahm er einen Apfel aus seinem Rucksack und zerschnitt ihn mit
einer scharfen, sauberen Bewegung. Der Duft erhob sich über die
fleckigen Sitze und den schmutzigen Boden. Noch durch den Dieselgestank
roch der Fahrer das bittersüße Aroma. Der Junge warf
einen kurzen Blick auf die aufgerissenen Augen und das glänzende,
ausgelaugte Gesicht des Mannes; dann klappte er das Messer
zu und steckte es ein.
Der Fahrer entspannte sich und schaute wieder eine ganze
Weile unverwandt nach vorn auf die Straße. Der Junge kam ihm
bekannt vor, aber das Gefühl verging gleich wieder. Dreißig Jahre.
Er ließ seinen massigen Körper tiefer in den Sitz sinken.
Er hatte schon so viele Jungen gesehen.
So viele, die wegliefen.
Immer, wenn der Fahrer ihn ansah, spürte der Junge es. Das war
eine Begabung, die er hatte, ein Talent. Trotz der dunklen Sonnenbrille
und der weiten Wölbung im Rückspiegel konnte er es spüren.
Es war seine dritte Fahrt mit diesem Bus, die dritte in drei
Wochen. Er saß immer auf einem anderen Platz und trug immer
andere Kleidung, aber vermutlich würde ihn früher oder später jemand
fragen, wieso er um sieben Uhr morgens an einem Schultag
mit dem Bus quer durch den Staat fuhr. Und er nahm an, die Frage
würde vom Fahrer kommen.
Aber noch war sie nicht gekommen.
Der Junge schaute aus dem Fenster und drehte die Schultern so,
dass niemand mehr versuchen würde, ihn anzusprechen. Er beobachtete
die Spiegelungen im Glas, die Bewegungen und die Gesichter.
Er dachte an himmelhohe Bäume und braune Federn mit
Schnee auf den Spitzen.
Das Messer lag wie ein Klumpen in seiner Tasche.
Vierzig Minuten später stoppte der Bus wippend vor einer einräumigen
Tankstelle irgendwo in der endlosen Weite aus Kiefern,
Gestrüpp und heißer, sandiger Erde. Der Junge schob sich durch
den Gang nach vorn und sprang von der unteren Stufe, bevor der
Fahrer erwähnen konnte, dass auf dem Parkplatz nichts als ein
Abschleppwagen wartete und dass kein Erwachsener da war, der
den Jungen in seine Obhut nehmen konnte - einen Dreizehnjährigen,
der aussah, als sei er gerade zehn. Der Junge hielt den Kopf
abgewandt, sodass ihm die Sonne in den Nacken brannte, und
hüpfte ein paarmal, um den Rucksack auf seinem Rücken zurechtzuschieben.
Eine Dieselwolke stieg auf, der Bus setzte sich schaukelnd
in Bewegung und rollte in Richtung Süden davon.
Die Tankstelle bestand aus zwei Zapfsäulen, einer langen Bank
und einem dürren alten Mann in einem ölfleckigen blauen Overall.
Der Mann nickte nur hinter der verschmierten Glasscheibe
und kam nicht heraus in die Hitze. Der Getränkeautomat im
Schatten des Gebäudes war so alt, dass der Preis auf dem Schild
nur fünfzig Cent betrug. Der Junge wühlte fünf dünne Zehn-Cent-
Münzen aus der Tasche und wählte ein Traubensoda. Die kalte
Glasflasche polterte unten aus dem Schacht. Er hebelte den Kronkorken
herunter, schlug die Richtung ein, aus der der Bus gekommen
war, und ging auf der staubigen Straße davon, die sich vor
ihm wand wie eine schwarze Schlange.
Nach drei Meilen und zwei Kurven verschlechterte sich die
Straße; aus Asphalt wurde Schotter, und der Schotter wurde spärlich.
Das Schild hatte sich nicht verändert, seit er es zuletzt gesehen
hatte. Es war alt und verwittert, und die abblätternde Farbe
hob sich wie Federn von dem Holz darunter: ALLIGATOR RIVER
RAUBVOGEL-SCHUTZGEBIET. Über den Lettern schwebte ein stilisierter
Adler, und auch von seinen Schwingen spreizten sich die
Federn aus Farbe.
Der Junge spuckte ein Kaugummi in die flache Hand und
klatschte es im Vorbeigehen auf das Schild.
Er brauchte zwei Stunden, um ein Nest zu finden. Zwei Stunden
voller Schweiß und Dornenbüsche und Moskitos, die seine Haut
mit leuchtend roten Flecken bedeckten. Er entdeckte das dichte
Gewirr aus Zweigen in den oberen Ästen einer Pechkiefer, die
kerzengerade und hoch aus dem feuchten Boden am Flussufer
wuchs. Zweimal ging er um den Baum herum, aber er fand keine
Federn auf dem Boden. Sonnenstrahlen spießten sich durch den
Wald, und der Himmel war so hell und blau, dass ihm die Augen
schmerzten. Das Nest war ein Punkt in der Höhe.
Er streifte den Rucksack ab und fing an zu klettern. Raue Rinde
scheuerte an seiner sonnenverbrannten Haut. Wachsam und voller
Angst hielt er beim Klettern Ausschau nach dem Adler. Ein ausgestopfter
stand auf einem Sockel im Museum in Raleigh, und er sah
wild aus. Die Augen waren aus Glas, aber die Schwingen hatten
eine Spannweite von anderthalb Metern, und die Krallen waren so
lang wie der Mittelfinger des Jungen. Der Schnabel konnte einem
erwachsenen Mann die Ohren abreißen.
Er wollte nur eine Feder. Am liebsten eine saubere, weiße
Schwanz feder oder eine der riesigen braunen Federn aus der
Schwinge, aber letzten Endes würde auch die kleinste Feder von
der weichsten Stelle genügen, eine Stoppelfeder vielleicht, oder eine
von der daunenweichen Unterseite der Schwinge bei der Schulter.
Eigentlich war es egal.
Magie war Magie.
Je höher er stieg, desto stärker bogen sich die Äste unter ihm.
Der Wind bewegte den Baum und den Jungen mit ihm. Wenn es
böig wurde, presste der Junge das Gesicht an die Rinde; sein Herz
klopfte, und seine Fingerknöchel wurden weiß. Die Kiefer war
eine Königin unter den Bäumen, so hoch, dass selbst der Fluss darunter
zusammenschrumpfte.
Er näherte sich dem Wipfel. Aus dieser Nähe war das Nest so
breit wie ein Esstisch, und es wog wahrscheinlich hundert Kilo. Es
war Jahrzehnte alt, und es stank nach Moder und Scheiße und Kaninchenkadavern.
Der Junge öffnete sich diesem Geruch und seiner
Macht. Er verschob die Hand und stellte den Fuß auf einen
Ast, der grau verwittert und ohne Rinde war. Unter ihm zog sich
der Kiefernwald bis zu den fernen Bergen, und der Fluss wand sich
schwarz und dunkel und glänzend wie Kohle dahin. Der Junge zog
sich über den Rand des Nestes und sah die Küken, zwei Stück. Fahl
und fleckig hockten sie in der Mulde. Sie rissen die splitterscharfen
Schnäbel auf und bettelten um Futter, und der Junge hörte ein Geräusch
wie von Bettlaken an der Leine bei aufkommendem Wind.
Er riskierte einen Blick nach oben, und der Adler schoss aus dem
makellosen Himmel herab. Einen Moment lang sah der Junge nur
Federn, und dann schlugen die Schwingen herab, und die Klauen
hoben sich.
Der Vogel kreischte.
Der Junge riss die Arme hoch, als die Klauen sich in ihn bohrten.
Dann fiel er, und der Vogel - die Augen gelb und blitzend, die
Klauen verhakt in seinem Hemd und seiner Haut -, der Vogel fiel
mit ihm.
Um drei Uhr siebenundvierzig rollte ein Bus auf den Parkplatz
vor der kleinen Tankstelle. Diesmal fuhr er nach Norden, und es
war ein anderer Bus und ein anderer Fahrer. Die Tür öffnete sich
klappernd, und eine Handvoll rheumatischer Leute stieg schlurfend
aus. Der Fahrer war ein magerer Hispanic, fünfundzwanzig
und müde aussehend. Er warf kaum einen Blick auf den dürren
Jungen, der von der Bank aufstand und humpelnd zum Bus kam.
Er nahm weder die zerrissenen Kleider wahr noch den Gesichtsausdruck,
der an Verzweiflung grenzte. Und wenn da Blut an der
Hand war, die ihm das Ticket reichte, schien es nicht Sache des
Fahrers zu sein, dazu eine Bemerkung zu machen.
Der Junge ließ das Ticket los. Er zog sich die Stufen hinauf
und versuchte die Fetzen seines Hemdes zusammenzuhalten. Sein
Rucksack war schwer, platzte fast aus den Nähten, die an der Unterseite
rot gefärbt waren. Ein Geruch hing an dem Jungen, ein
Geruch von Schlamm und Fluss und etwas Rohem, aber auch das
ging den Fahrer nichts an. Der Junge schob sich durch den halbdunklen
Bus. Einmal taumelte er gegen eine Rückenlehne, dann
war er ganz hinten und setzte sich auf einen Platz in der Ecke, wo
er allein war. Er drückte seinen Rucksack an die Brust und zog
die Füße auf den Sitz. Tiefe Löcher klafften in seiner Haut, und
sein Hals war aufgerissen, aber niemand sah ihn an, niemanden
kümmerte es. Er umklammerte den Rucksack fester und spürte
die Wärme, die noch da war, den zerschmetterten Körper, der sich
anfühlte wie ein Sack mit zerbrochenen Zweigen. Er sah die kleinen,
flaumigen Küken vor sich, allein im Nest, allein und hungrig.
Der Junge wiegte sich in der Dunkelheit.
Er wiegte sich in der Dunkelheit und weinte bittere Tränen.
EINS
Johnny hatte es bald gelernt. Wenn jemand ihn fragte, warum
er so anders sei, warum er sich so still verhalte und warum seine
Augen das Licht zu verschlucken schienen, dann war das seine
Antwort. Er hatte bald gelernt, dass es keinen sicheren Ort gab,
nicht im Garten und nicht auf dem Schulhof, nicht auf der Veranda
und nicht auf der stillen Straße am Rand der Stadt. Keinen
sicheren Ort und niemanden, der einen beschützte.
Die Kindheit war eine Illusion.
Er war seit einer Stunde auf und wartete darauf, dass die
Nachtgeräusche schwanden und die Sonne sich so weit heraufschob,
dass man es Morgen nennen konnte. Es war Montag, und
es war noch dunkel, aber Johnny schlief wenig. Als er aufwachte,
waren die Fenster pechschwarz. Zweimal rüttelte er jede Nacht an
den Riegeln und schaute hinaus auf die leere Straße und die ungepflasterte
Einfahrt, die kalkweiß aussah, wenn der Mond aufging.
Er sah nach seiner Mom, außer wenn Ken im Hause war. Ken
war jähzornig, und er trug einen goldenen Ring, der einen tadellos
ovalen Bluterguss hinterließ.
Auch das hatte er gelernt.
Johnny zog ein T-Shirt und ausgefranste Jeans an, ging zu seiner
Zimmertür und öffnete sie einen Spalt breit. Licht fiel in den
schmalen Korridor, und die Luft war verbraucht. Es roch nach
Zigaretten und verschüttetem Alkohol, wahrscheinlich Bourbon.
Einen Augenblick lang erinnerte Johnny sich daran, wie es früher
am Morgen gerochen hatte: nach Eiern und Kaffee und dem herben
Duft vom Rasierwasser seines Vaters. Es war eine gute Erinnerung,
und deshalb schob er sie weg und erstickte sie. Davon
wurde alles nur noch schwerer.
Der Flor des Plüschteppichs in der Diele war steif unter seinen
Zehen. Die Tür zum Zimmer seiner Mutter hing lose im Rahmen.
Es war eine Wabentür, nicht angestrichen, und sie passte nicht.
Die Originaltür lag zersplittert im Garten, war vor einem Monat
aus den Angeln getreten worden, als Ken und Johnnys Mutter
spätabends aneinandergeraten waren. Sie hatte nie gesagt, weshalb
sie sich gestritten hatten, aber Johnny vermutete, dass es um
ihn gegangen war. Vor einem Jahr hätte Ken nicht einmal in die
Nähe einer Frau wie sie kommen können, und Johnny ließ es ihn
nie vergessen. Aber das war ein Jahr her. Ein ganzes Leben.
Sie hatten Ken schon seit Jahren gekannt. Das dachten sie zumindest.
Johnnys Dad war Bauunternehmer, und Ken baute ganze
Wohnviertel. Sie arbeiteten gut zusammen, weil Johnnys Dad
schnell und tüchtig war, und weil Ken klug genug war, ihn zu respektieren.
Deshalb war Ken immer freundlich und aufmerksam
gewesen, auch nach der Entführung, bis zu dem Augenblick, als
Johnnys Dad entschied, dass Schmerz und Schuldgefühle unerträglich
wurden. Aber mit Dads Weggang war auch Kens Respekt
verschwunden, und er kam immer öfter vorbei. Jetzt war er der
Herr im Haus. Er isolierte Johnnys Mutter und hielt sie in Abhängigkeit
von Alkohol und Medikamenten. Er sagte ihr, was sie
tun sollte, und sie tat es. Brate ein Steak. Geh ins Schlafzimmer.
Schließ die Tür ab.
Johnny nahm es mit seinen schwarzen Augen auf, und oft fand
er sich unversehens nachts in der Küche wieder, legte drei Finger
auf das große Messer im Holzblock, sah die weiche Mulde über
Kens Brust vor sich und dachte darüber nach.
Der Mann war ein Raubtier, schlicht und einfach, und Johnnys
Mutter war zu einem Nichts verblichen. Sie wog noch knappe
fünfundvierzig Kilo und sah abgespannt wie eine Bettlägerige aus,
doch Johnny entging nicht, wie die Männer sie anschauten und wie
besitzergreifend Ken wurde, wenn sie das Haus einmal verließ. Ihre
Haut war blass, aber makellos, und ihre Augen waren groß und
tief und verwundet. Sie war dreiunddreißig und sah aus, wie ein
Engel aussähe, wenn es ihn gäbe: dunkelhaarig, zerbrechlich, überirdisch.
Wenn sie einen Raum betrat, hörten die Männer auf mit
dem, was sie gerade taten. Sie starrten sie an, als ginge ein Leuchten
von ihr aus, als könnte sie jeden Moment vom Boden abheben.
Ihr war das völlig gleichgültig. Schon bevor ihre Tochter verschwunden
war, hatte sie kaum auf ihr Äußeres geachtet. Bluejeans
und T-Shirts. Pferdeschwanz und gelegentlich ein bisschen
Make-up. Sie hatte in einer kleinen, perfekten Welt gelebt, in der
sie ihren Mann und ihre Kinder geliebt hatte. Sie hatte ihren Garten
gepflegt, Freiwilligendienste in der Kirche geleistet und an
Regentagen vor sich hin gesungen. Doch damit war es vorbei.
Jetzt war da nur noch Stille und Leere und Schmerz, nur noch
ein Schatten der Person, die sie einmal gewesen war. Aber die
Schönheit war geblieben. Johnny sah sie jeden Tag, und jeden Tag
verfluchte er die Vollkommenheit, mit der sie so umfassend gesegnet
war. Wenn sie hässlich gewesen wäre, hätte Ken keine Verwendung
für sie gehabt. Wenn sie hässliche Kinder bekommen
hätte, würde seine Schwester immer noch im Nebenzimmer schlafen.
Doch sie war wie eine Puppe, wie etwas halb Unwirkliches,
das man in eine Vitrine einschließen sollte. Sie war der schönste
Mensch, den Johnny je gekannt hatte, und das hasste er an ihr.
Er hasste es.
So sehr hatte sich sein Leben verändert.
Johnny betrachtete die Tür zum Zimmer seiner Mutter. Vielleicht
war Ken da drin, vielleicht auch nicht. Er drückte das Ohr
an das Holz, und der Atem blieb ihm im Halse stecken. Normalerweise
merkte er es, aber er hatte tagelang nicht schlafen können,
und als der Schlaf endlich kam, kam er mit Macht. Schwarz
und reglos. Tief. Und als er aufwachte, tat er es mit Schrecken, als
hätte er Glas zerbrechen hören.
Das war um drei Uhr gewesen.
Unsicher trat er von der Tür zurück und schlich durch den Korridor.
Das Badezimmerlicht summte, als er es einschaltete. Der
Medizinschrank stand offen, und er sah die Tabletten: Xanax,
Prozac, ein paar blaue, ein paar gelbe. Er nahm ein Fläschchen und
las, was auf dem Etikett stand. Vicodin. Das war neu. Das Xanax-
Fläschchen war offen, die Pillen lagen auf dem Waschtisch, und
Johnny spürte, wie die Wut in ihm aufstieg. Das Xanax brachte
Ken nach einem Abend mit dem guten Stoff wieder herunter.
Das war sein Ausdruck.
Der gute Stoff.
Johnny schraubte die Flasche zu und ging hinaus.
Das Haus war eine Bruchbude, und er musste sich daran erinnern,
dass es eigentlich nicht ihr Haus war. Ihr wirkliches Haus
war sauber und gepflegt. Es hatte ein neues Dach, und er hatte
mitgeholfen, es zu decken. In den Frühlingsferien war er jeden Tag
auf die Leiter gestiegen und hatte seinem Dad die Schindeln angereicht,
und er hatte einen Werkzeuggürtel voller Nägel gehabt,
in den sein Name eingeritzt war. Es war ein gutes Haus mit Steinmauern
und einem Garten, der mehr zu bieten hatte als harte Erde
und Unkraut. Das Haus lag nur ein paar Meilen entfernt, aber
ihm kam es weiter vor, in einer anderen Gegend mit schmucken
Häusern auf großen, grünen Grundstücken. Es war voll von Erinnerungen,
doch jetzt gehörte es der Bank. Die Bank hatte seiner
Mutter ein paar Papiere gegeben und ein Schild in den Vorgarten
gestellt.
Dieses hier war eins von Kens Mietshäusern. Er besaß ungefähr
hundert davon, und Johnny nahm an, dass es wahrscheinlich
das schlechteste war, eine beschissene Hütte weit draußen am
Stadtrand. Die Küche war klein, mit grünen Metallschränken und
einem abgenutzten Linoleumboden, der sich in den Ecken nach
oben bog. Eine Glühbirne brannte über dem Herd, und Johnny
drehte sich langsam um sich selbst. Es sah ekelhaft aus: Zigarettenstummel
in einer Untertasse, leere Flaschen und Schnapsgläser.
Der Spiegel lag auf dem Küchentisch, und im Licht sah Johnny die
Reste von weißem Pulver. Bei dem Anblick breitete sich ein kaltes
Gefühl in seiner Brust aus. Ein zusammengerollter Hundert-Dollar-
Schein war auf den Boden gefallen. Johnny hob ihn auf und
strich ihn glatt. Er hatte seit einer Woche nichts Richtiges mehr
gegessen, und Ken zog sich hier den Koks mit einem Hunderter
in die Nase.
Er nahm den Spiegel, wischte ihn mit einem feuchten Tuch ab
und hängte ihn wieder an die Wand. Sein Vater hatte immer in
diesen Spiegel geschaut, und Johnny sah ihn noch vor sich, wie er
sonntags an seinem Schlipsknoten arbeitete, mit großen, steifen
Fingern und einer unnachgiebigen Krawatte. Seinen Anzug trug
er nur, wenn er in die Kirche ging, und es machte ihn verlegen,
wenn er merkte, dass sein Sohn ihn beobachtete. Johnny sah, wie
er plötzlich errötete und dann verlegen lächelte. »Dem Himmel
sei Dank für deine Mutter«, sagte er dann, und sie band ihm die
Krawatte.
Seine Hände in ihrem Kreuz.
Der Kuss und das Augenzwinkern danach.
Johnny wischte noch einmal über den Spiegel und rückte ihn
gerade, ein paarmal hin und her, bis er genau richtig hing.
Die Tür zur Vorderveranda bewegte sich steif in den Angeln,
und Johnny trat hinaus in den klammen, dunklen Morgen. Fünfzig
Meter weiter unten an der Straße flackerte eine Laterne. Autoscheinwerfer
erklommen eine ferne Anhöhe.
Kens Wagen war nicht da, und Johnny empfand schändliche,
beglückende Erleichterung. Ken wohnte auf der anderen Seite der
Stadt in einem großen Haus mit sauberem Anstrich, breiten Fenstern
und einer Vierergarage. Johnny atmete tief durch, dachte an
seine Mutter, wie sie sich über den Spiegel beugte, und sagte sich,
sie sei noch nicht so weit hinüber. Das hier war Kens Stoff, nicht
ihrer. Gewaltsam lockerte er die Fäuste. Die Luft war frisch, und
er konzentrierte sich auf sie. Es war ein neuer Tag, sagte er sich,
da konnte etwas Gutes passieren. Aber der Morgen war schlecht
für seine Mutter. Es gab da einen Moment, wenn sie die Augen
öffnete, einen Flash, bevor sie sich erinnerte, dass man ihre ein zige
Tochter nie gefunden hatte.
Johnnys Schwester.
Seine Zwillingsschwester.
Alyssa war drei Minuten nach ihm zur Welt gekommen, und
sie waren einander so ähnlich, wie zweieiige Zwillinge es nur sein
konnten. Sie hatten das gleiche Haar, das gleiche Gesicht, das
gleiche Lachen. Sie war ein Mädchen, okay, aber schon auf fünf
Schritte war es schwer, sie beide auseinanderzuhalten. Ihre Haltung
war die gleiche, ihr Gang war der gleiche. Meistens wachten
sie morgens um dieselbe Zeit auf, obwohl sie in verschiedenen
Zimmern schliefen. Johnnys Mom erzählte, sie hätten eine eigene
Sprache gesprochen, als sie klein waren, doch daran konnte er
sich nicht erinnern. Er erinnerte sich nur, dass er die meiste Zeit
seines Lebens nie allein gewesen war. Es gab ein spezielles Gefühl
der Zusammengehörigkeit, das nur sie beide wirklich verstanden
hatten. Aber Alyssa war fort, und alles andere mit ihr. Das war
die unausweichliche Wahrheit, und sie hatte seine Mutter ausgehöhlt.
Also tat Johnny, was er konnte. Er kontrollierte abends die
Türschlösser und Fensterriegel und räumte den Dreck weg. Heute
brauchte er zwanzig Minuten dazu. Dann setzte er den Kaffee auf
und dachte an den zusammengerollten Geldschein.
Hundert Dollar.
Essen und Kleidung.
Er machte einen letzten Kontrollgang durch das Haus. Flaschen
- weg. Koksspuren - weg. Er öffnete Fenster und ließ die
Welt herein, dann warf er einen Blick in den Kühlschrank. Im
Milchkarton rasselte es, als er ihn schüttelte. Ein einsames Ei in
der Pappe. Er öffnete die Handtasche seiner Mutter. Sie hatte
neun Dollar und etwas Kleingeld. Johnny ließ das Geld drin und
klappte die Tasche zu. Er ließ Wasser in ein Glas laufen, schüttelte
zwei Aspirin aus dem Röhrchen, ging durch den Flur und öffnete
die Tür seiner Mutter.
Das erste rohe Licht der Morgendämmerung drängte an die
Fensterscheibe, eine orangegelbe Wölbung hinter den schwarzen
Bäumen. Seine Mutter lag auf der Seite, das Haar war ihr über
das Gesicht gefallen. Illustrierte und Bücher bedeckten den Nachttisch.
Er machte Platz für das Wasserglas und legte die beiden
Tabletten auf das narbige Holz. Einen Moment lang lauschte er
ihrem Atem, dann fiel sein Blick auf die Geldscheine, die Ken
neben dem Bett hinterlassen hatte. Ein paar Zwanziger, ein Fünfziger.
Ein paar hundert Dollar vielleicht, zerknüllt und verschmiert.
Von einer Rolle heruntergeblättert.
Hingeworfen.
Der Wagen in der Einfahrt war alt, ein Kombi, den Johnnys Vater
vor Jahren gekauft hatte. Der Lack war sauber und gewachst, und
der Reifendruck wurde jede Woche kontrolliert, aber das war alles,
was Johnny konnte. Noch immer quoll blauer Qualm aus dem
Auspuff, wenn er den Zündschlüssel umdrehte, und das Beifahrerfenster
ließ sich nicht vollständig schließen. Er wartete, bis der
Qualm weiß wurde, dann legte er den Rückwärtsgang ein und
rollte bis zum Ende der Einfahrt. Er hatte natürlich keinen Führer
schein, deshalb sah er sich wachsam um, bevor er langsam auf die
Straße hinausfuhr. Er hielt die Geschwindigkeit niedrig und blieb
auf den Nebenstraßen. Der nächste Supermarkt war nur zwei
Meilen weit entfernt, aber er war groß und lag an einer Hauptstraße,
und Johnny wusste, dass man ihn dort vielleicht erkennen
würde. Deshalb fuhr er noch drei Meilen weiter zu einem kleinen
Laden, dessen Kundschaft schäbiger war. Das Benzin kostete
Geld, und die Lebensmittel waren teurer, doch ihm blieb keine andere
Wahl. Das Jugendamt war schon zweimal bei ihnen gewesen.
Der Wagen verschwand zwischen denen, die bereits dastanden.
Zum größten Teil waren es alte, amerikanische Fabrikate.
Ein dunkler Personenwagen rollte hinter ihm auf den Parkplatz
und hielt in der Nähe des Eingangs an. Das Sonnenlicht spiegelte
sich in den Fenstern, und ein einzelner, gesichtsloser Mann saß am
Steuer. Er stieg nicht aus, und Johnny beobachtete ihn, während
er auf den Laden zuging.
Er hatte große Angst vor einzelnen Männern in parkenden Autos.
Der Einkaufswagen wackelte, als er ihn den Gang hinauf und
den zweiten wieder hinunter schob. Nur das Nötigste, entschied
er: Milch, Saft, Speck, Eier, Sandwichbrot, Obst. Er kaufte neues
Aspirin für seine Mutter. Tomatensaft schien ihr auch zu helfen.
Der Cop erwartete ihn am Ende von Gang acht. Er war groß
und breitschultrig, hatte braune Augen, die zu sanft waren für
die Falten in seinem Gesicht und die harten Konturen seines Kiefers.
Er hatte keinen Einkaufswagen. Mit den Händen in den Taschen
stand er da, und Johnny begriff auf den ersten Blick, dass
er ihm gefolgt war. Er hatte diesen Blick. Eine Art von geduldiger
Resignation.
Und Johnny wollte weglaufen.
»Hey, Johnny«, sagte der Cop. »Wie geht's?«
Sein Haar war länger, als Johnny es in Erinnerung hatte. Es war
so braun wie seine Augen und fiel in strähnigen Locken über den
Kragen, an den Seiten durchzogen von ein paar neuen silbernen
Fäden. Sein Gesicht war schmaler geworden, und in einem Winkel
seines Herzens erkannte Johnny, dass das Jahr für ihn ebenfalls
hart gewesen war. So groß der Cop auch war, er wirkte niederge
drückt und gehetzt. Aber so sah in Johnnys Augen fast die ganze
Welt aus, und deshalb war er nicht sicher. Die Stimme des Mannes
klang tief und teilnahmsvoll. Sie weckte so viele schlimme Erinnerungen,
dass Johnny sich einen Augenblick lang weder rühren
noch sprechen konnte. Der Cop kam näher und zeigte den nachdenklichen
Gesichtsausdruck, den Johnny so oft gesehen hatte, den
gleichen sanften, sorgenvollen Blick. Ein Teil seiner selbst hätte den
Mann gerne gemocht und ihm vertraut, aber es war immer noch
derselbe Mann, der zugelassen hatte, dass Alyssa sich in nichts auflöste.
Er war immer noch derjenige, der sie verloren hatte.
»Ganz gut«, sagte Johnny. »Sie wissen schon. Man schlägt sich
durch.«
Der Cop warf einen Blick auf die Uhr, dann auf Johnnys schmuddelige
Kleider und sein ungebärdiges schwarzes Haar. Es war zwanzig
vor sieben an einem Schultag. »Was von deinem Vater gehört?«,
fragte er.
»Nein.« Johnny bemühte sich, die plötzliche Scham zu verbergen.
»Nichts.«
»Das tut mir leid.«
Der Augenblick dehnte sich in die Länge, aber der Cop rührte
sich nicht. Der Blick seiner braunen Augen blieb fest, und aus der
Nähe sah er noch genauso groß und ruhig aus wie beim ersten
Mal, als er in Johnnys Haus gekommen war. Aber das war eine
andere Erinnerung, und deshalb starrte Johnny das breite Handgelenk
des Mannes an, die sauberen, stumpfen Fingernägel. Seine
Stimme war brüchig, als er sprach. »Meine Mutter hat einmal einen
Brief gekriegt. Sie sagt, er war in Chicago und wollte vielleicht
nach Kalifornien.« Er schwieg, und sein Blick wanderte von der
Hand zum Boden. »Der kommt schon wieder.«
Johnny sagte es ohne Überzeugung. Der Cop nickte einmal und
wandte den Kopf ab. Spencer Merrimon war zwei Wochen nach
der Entführung seiner Tochter verschwunden. Zu viel Schmerz.
Zu viele Schuldgefühle. Seine Frau ließ ihn keinen Augenblick
lang vergessen, dass er das Mädchen hatte abholen sollen, ließ ihn
nie vergessen, dass das Kind niemals in der Abenddämmerung die
Straße entlanggegangen wäre, wenn er getan hätte, was er hätte
tun sollen.
»Es war nicht seine Schuld«, sagte Johnny.
»Das habe ich nie behauptet.«
»Er hat gearbeitet. Er hat nicht auf die Zeit geachtet. Es war
nicht seine Schuld.«
»Wir alle machen Fehler, mein Junge. Jeder von uns. Dein Vater
ist ein guter Mann. Daran darfst du niemals zweifeln.«
»Tu ich nicht.« Johnny klang plötzlich gereizt.
»Ist okay.«
»Das würde ich niemals tun.« Johnny spürte, dass die Farbe
aus seinem Gesicht wich. Er wusste nicht, wann er das letzte Mal
so viel zu einem Erwachsenen gesagt hatte, doch der Cop hatte
irgendetwas an sich. Er war steinalt, bestimmt vierzig, aber er
überstürzte nie etwas, und sein Gesicht hatte etwas Warmes, eine
Freundlichkeit, die nicht gespielt wirkte, nicht dazu gedacht, einen
Jungen auszutricksen, damit er ihm vertraute. Seine Augen waren
immer still, und im Grunde seines Herzens hoffte Johnny, dass
der Mann als Polizist gut genug war, um noch alles in Ordnung
zu bringen. Aber inzwischen war ein Jahr vergangen, und seine
Schwester war nach wie vor verschwunden. Johnny musste sich
um die Gegenwart kümmern, und in der Gegenwart war dieser
Cop kein Freund.
Da war das Jugendamt, das nur auf einen Vorwand wartete.
Dazu kam das, was Johnny tat und wohin er ging, wenn er die
Schule schwänzte - die Risiken, die er einging, wenn er sich nach
Mitternacht hinausschlich. Wenn der Cop wüsste, was Johnny tat,
wäre er gezwungen, etwas zu unternehmen. Pflegeeltern. Gericht.
Er würde Johnny stoppen, wenn er könnte.
»Wie geht's deiner Mom?«, fragte der Cop. Sein Blick war durchdringend,
und seine Hand lag auf dem Einkaufswagen.
»Müde«, sagte Johnny. »Lupus, wissen Sie. Sie wird schnell
müde.«
Zum ersten Mal runzelte der Cop die Stirn. »Beim letzten Mal,
als ich dich hier gefunden habe, hast du gesagt, sie hat die Lyme-
Krankheit.«
Er hatte recht. »Nein. Lupus, habe ich gesagt.«
Der Blick des Cops wurde milder, und er nahm die Hand vom
Wagen. »Es gibt Leute, die helfen wollen. Leute, die das verstehen.«
Plötzlich war Johnny wütend. Niemand verstand es, und niemand
bot seine Hilfe an. Nie. »Sie ist nur ein bisschen angeschlagen.
Abgespannt.«
Der Cop sah über die Lüge hinweg, aber sein Gesicht blieb traurig.
Sein Blick fiel auf das Aspirinfläschchen, auf den Tomatensaft,
und es war offensichtlich, dass er über Trinker und Junkies besser
Bescheid wusste als die meisten. »Du bist nicht der Einzige, der
leidet, Johnny. Du bist nicht allein.«
»Allein genug.«
Der Cop seufzte tief. Er nahm eine Karte aus der Tasche und
schrieb eine Nummer auf die Rückseite. Dann gab er sie dem Jungen.
»Wenn du je etwas brauchen solltest.« Er sah entschlossen
aus. »Tag und Nacht. Das meine ich ernst.«
Johnny warf einen Blick auf die Karte und steckte sie in die Tasche
seiner Jeans. »Wir kommen zurecht«, sagte er und schob den
Einkaufswagen um den Cop herum. Der Cop legte ihm eine Hand
auf die Schulter.
»Wenn er dich noch mal schlägt ...«
Johnny erstarrte.
»Oder deine Mutter ...«
Johnny schüttelte die Hand ab. »Wir kommen zurecht«, wiederholte
er. »Ich hab alles im Griff.«
Er drängte sich an dem Cop vorbei und hatte eine Riesenangst,
er könnte ihn festhalten und noch mehr Fragen stellen oder eine
der hartgesichtigen Frauen vom Jugendamt rufen.
Der Einkaufswagen schrammte an der Kassentheke vorbei, und
die dicke Frau auf dem abgenutzten Hocker senkte den Kopf und
zog die Brauen hoch. Sie war neu im Laden, und Johnny erkannte
die Frage in ihrem Blick. Er war dreizehn, aber er sah ein paar
Jahre jünger aus. Er zog den Hunderter aus der Tasche und legte
ihn mit der Vorderseite nach oben auf das Fließband. »Können Sie
bitte schnell machen?«
Sie ließ eine Kaugummiblase platzen und runzelte die Stirn.
»Immer mit der Ruhe, Schätzchen. Geht gleich los.«
Der Cop trödelte drei Schritte hinter ihm, und Johnny fühlte
seinen Blick im Rücken, während die dicke Frau die Einkäufe in
die Kasse tippte. Johnny zwang sich zu atmen, und nach einer
Weile ging der Cop an ihm vorbei. »Heb die Karte gut auf«, sagte
er.
»Okay.« Johnny brachte es nicht über sich, ihm in die Augen
zu sehen.
Der Cop drehte sich um, und sein Lächeln war nicht entspannt.
»Es ist immer gut, dich zu sehen, Johnny.«
Er verließ den Supermarkt, und Johnny sah ihn durch die breite
Schaufensterscheibe. Er kam an dem Kombi vorbei, kehrte um
und blieb kurz stehen. Er spähte durch das Seitenfenster und ging
dann nach hinten, um einen Blick auf das Kennzeichen zu werfen.
Anscheinend zufriedengestellt, näherte er sich seinem Wagen und
öffnete die Tür. Er schob sich ins Halbdunkel und blieb sitzen.
Er wartete.
Johnny versuchte seinen rasenden Herzschlag zu bremsen und
griff nach dem Wechselgeld in der feuchten, fleischigen Hand der
Kassiererin.
Der Cop hieß Clyde Lafayette Hunt. Detective. Das stand auf
seiner Karte. Johnny hatte eine ganze Sammlung davon in seiner
obersten Schublade, versteckt unter den Strümpfen und einem
Foto von seinem Dad. Manchmal dachte er an die Telefonnummer
auf der Karte, aber dann dachte er an Waisenhäuser und Pflegestellen.
Er dachte an seine verschwundene Schwester und an das
Bleirohr zwischen seinem Bett und der Wand, aus der kalte Luft
sickerte. Wahrscheinlich meinte der Cop es ernst mit dem, was er
sagte. Wahrscheinlich war er in Ordnung. Aber Johnny konnte
ihn nie ansehen, ohne an Alyssa zu denken, und solche Gedanken
erforderten Konzentration. Er musste sie lebendig und lächelnd
vor sich sehen, nicht in einem Keller mit festgestampftem Lehmboden
oder im Kofferraum irgendeines Autos. Sie war zwölf, als
er sie zuletzt gesehen hatte. Zwölf Jahre alt, mit schwarzem Haar,
kurz geschnitten wie bei einem Jungen. Der Einzige, der gesehen
hatte, was passiert war, hatte erzählt, sie sei geradewegs auf den
Wagen zugegangen und habe gelächelt, als die Wagentür sich öffnete.
Hatte gelächelt, bis jemand sie packte.
Johnny hörte dieses Wort ständig. Gelächelt. Als sei es in seinem
Kopf hängen geblieben - ein einziges Wort auf einer Ton-
bandaufnahme, die er nicht anhalten konnte. Aber er sah ihr Gesicht,
wenn er schlief. Er sah, wie sie zurückschaute, als die Häuser
hinter ihr immer kleiner wurden. Er sah, wie die Besorgnis aufflackerte,
und er sah, wie sie schrie.
Johnny merkte, dass die Kassiererin ihn anstarrte. Er streckte
immer noch die Hand mit dem Wechselgeld aus, und seine Einkäufe
waren in den Tüten. Sie hatte eine Braue hochgezogen, und
ihre Kiefer mahlten auf dem Kaugummi.
»Brauchst du noch was, Schätzchen?«
Johnny schrak zusammen. Er zerknüllte die Scheine und stopfte
sie in die Tasche. »Nein«, sagte er. »Ich brauche nichts weiter.«
Sie schaute an ihm vorbei zum Geschäftsführer, der hinter einer
niedrigen Glaswand stand. Johnny folgte ihrem Blick und griff nach
seinen Tüten. Sie zuckte die Achseln, und er trat hinaus unter einen
Himmel, der blau geworden war, während er einkaufte. Unverwandt
starrte er auf das Auto seiner Mutter und bemühte sich, Detective
Hunt zu ignorieren. Die Einkaufstüten scharrten raschelnd
aneinander, und die Milch schwappte schwer auf der rechten Seite.
Er stellte die Tüten auf den Rücksitz und zögerte. Der Cop beobachtete
ihn von seinem Wagen aus, der keine fünf Meter weiter
schräg auf dem Platz stand. Er winkte, als Johnny sich aufrichtete.
»Ich kann fahren«, sagte Johnny.
»Das bezweifle ich nicht.« Diese Antwort überraschte Johnny.
Es war, als lächle der Mann. »Ich weiß, dass du tough bist.« Das
Lächeln war weg. »Ich weiß, dass du eine Menge kannst, aber
Gesetz ist Gesetz.« Johnny richtete sich höher auf. »Ich darf dich
nicht fahren lassen.«
»Aber ich kann den Wagen nicht hierlassen«, protestierte
Johnny. »Wir haben nur den.«
»Ich bringe dich nach Hause.«
Johnny antwortete nicht. Er fragte sich, ob das Haus noch nach
Bourbon roch. Und ob er alle Pillenfläschchen weggeräumt hatte.
»Ich will dir nur helfen, Johnny.« Der Cop schwieg einen Moment.
»Manche Leute tun das, weißt du.«
»Welche Leute?« Die Verbitterung brach hervor.
»Es ist okay«, sagte Detective Hunt. »Alles in Ordnung. Sag mir
nur deine Adresse.«
»Sie wissen, wo ich wohne. Ich sehe Sie manchmal vorbeifahren,
und dann bremsen Sie ab. Also tun Sie nicht so, als wüssten
Sie es nicht.«
Hunt hörte das Misstrauen. »Ich versuche nicht, dich auszutricksen,
Junge. Ich brauche die genaue Adresse, damit ein Streifenwagen
hinkommen und mich abholen kann. Ich muss ja zurück
zu meinem Auto.«
Johnny sah ihn forschend an. »Warum fahren Sie so oft vorbei?«
»Das hab ich doch gesagt, Johnny. Es gibt Leute, die helfen
möchten.«
Johnny wusste nicht, ob er ihm glauben sollte, aber er gab ihm
die Adresse und sah zu, wie Hunt über Funk einen Streifenwagen
anforderte, der ihn dort abholen sollte. »Komm.« Hunt stieg aus
seinem zivilen Polizeifahrzeug und ging zu dem Kombi. Johnny
öffnete die Beifahrertür, und der Cop setzte sich ans Steuer. Johnny
schnallte sich an und blieb dann sehr still sitzen. Eine ganze Weile
bewegte sich keiner von ihnen. »Das mit deiner Schwester tut mir
leid«, sagte Hunt schließlich. »Es tut mir leid, dass ich sie nicht
nach Hause bringen konnte. Das weißt du, oder?«
Johnny blickte starr geradeaus und ballte die Fäuste auf dem
Schoß so sehr, dass die Fingerknöchel weiß wurden. Die Sonne
stieg über die Bäume und drückte ihre Wärme durch die Wagenfenster.
»Sagst du mal was?«, fragte Hunt.
Johnny drehte sich um, und seine Stimme klang flach. »Gestern
war es ein Jahr her.« Er wusste, dass er sich anhörte wie ein kleines
Kind. »Wissen Sie das?«
Hunt machte ein unbehagliches Gesicht. »Ja«, sagte er. »Das
weiß ich.«
Johnny schaute weg. »Können Sie einfach losfahren? Bitte?«
Der Motor sprang an, und blauer Qualm zog an Johnnys Fenster
vorbei. »Okay«, sagte der Cop. »Okay, Johnny.«
Er legte den Gang ein. Schweigend fuhren sie zum Stadtrand.
Ohne Worte - aber Johnny konnte ihn riechen. Er roch nach Seife
und Waffenöl, und vielleicht hing auch Zigarettenrauch in seinen
Kleidern. Er fuhr, wie Johnnys Dad gefahren war, schnell und sicher,
und sein Blick wechselte zwischen Straße und Rückspiegel.
Als sie sich dem Haus näherten, presste er die Lippen zusammen,
und Johnny dachte ein letztes Mal daran, wie der Cop gesagt
hatte, er werde Alyssa nach Hause bringen. Vor einem Jahr. Er
hatte es versprochen.
Ein Streifenwagen wartete in der Einfahrt, als sie ankamen.
Johnny stieg aus und öffnete die hintere Tür, um seine Einkaufs-
tüten vom Rücksitz zu nehmen. »Ich kann dir dabei helfen«, sagte
Hunt.
Johnny sah ihn nur an. Was wollte er noch? Er hatte sie verloren.
»Das geht schon«, sagte er.
Detective Hunt schaute ihm in die Augen, bis klar war, dass
Johnny nichts zu sagen wusste. »Mach's gut«, sagte er, und Johnny
sah zu, wie er in den Streifenwagen stieg. Er hielt seine Einkäufe
im Arm und rührte sich nicht von der Stelle, als der Wagen rückwärts
auf die Straße fuhr. Auf Detective Hunts Winken reagierte
er nicht. Er stand in der staubigen Einfahrt und sah dem Streifenwagen
nach, der in der Ferne auf die Anhöhe fuhr und dahinter
verschwand. Als sein Herz wieder langsamer schlug, trug er die
Tüten ins Haus.
Auf der Theke sahen die Lebensmittel mickrig aus, aber das Gefühl,
das sie weckten, war größer: ein Triumph. Johnny räumte
sie weg, und dann schaltete er die Kaffeemaschine ein und schlug
ein einzelnes Ei in die Pfanne. Blaue Flammen schossen in dem
Eisenring herauf, und er sah zu, wie das Ei an den Rändern weiß
wurde. Er drehte es vorsichtig um und legte es dann auf einen
Pappteller. Das Telefon klingelte, als er nach einer Serviette griff.
Er erkannte die Nummer auf dem Display und nahm den Anruf
an, bevor es zum zweiten Mal klingeln konnte. Der Junge am anderen
Ende hatte eine raue Stimme. Er war auch dreizehn, aber er
soff und qualmte wie ein Erwachsener. »Machst du heute blau?
Komm, wir machen blau.«
Johnny warf einen Blick zum Flur und dämpfte seine Stimme.
»Hallo, Jack.«
»Ich hab mir ein paar Häuser an der West Side angeguckt. Ist
'ne miese Gegend. Echt mies. Jede Menge Exknackis da drüben.
Leuchtet ein, wenn man drüber nachdenkt.«
Das war ein altes Lied. Jack wusste, was Johnny trieb, wenn er
die Schule schwänzte und sich im Dunkeln verdrückte. Er wollte
ihm helfen, teils, weil er ein guter Junge war, und teils, weil er kein
guter Junge war.
»Das ist nicht irgendein Spiel«, sagte Johnny.
»Du weißt doch, was man von einem geschenkten Gaul sagt,
Mann. Das ist 'ne kostenlose Hilfe. Halte das nicht für selbstverständlich.
«
Johnny atmete geräuschvoll aus. »Entschuldige, Jack. Ist manchmal
blöd morgens.«
»Deine Mom?«
Johnnys Kehle schnürte sich zusammen, daher nickte er nur.
Jack war sein letzter Freund, der Einzige, der ihn nicht behandelte
wie eine Missgeburt oder einen, mit dem man Mitleid haben
musste. Außerdem hatten sie einiges miteinander gemeinsam. Jack
war schmächtig wie Johnny und hatte selbst seine Probleme. »Ich
sollte wahrscheinlich heute hingehen.«
»Der Aufsatz für Geschichte ist heute fällig«, sagte Jack. »Hast
du ihn fertig?«
»Hab ihn letzte Woche abgegeben.«
»Scheiße. Wirklich? Ich hab noch nicht mal angefangen.«
Jack verspätete sich immer, und die Lehrer drückten stets ein
Auge zu. Johnnys Mom hatte Jack mal einen »Gauner« genannt,
und das Wort passte. Er klaute Zigaretten aus dem Lehrerzimmer
und schmierte sich freitags Gel ins Haar. Er trank mehr Alkohol,
als für einen Jungen gut war, und er konnte lügen wie ein
Profi. Aber er bewahrte ein Geheimnis, wenn er es versprochen
hatte, und hielt einem den Rücken frei, wenn das nötig war. Er
war liebenswert und aufrichtig, wenn er wollte, und eine Sekunde
lang spürte Johnny, wie seine Lebensgeister erwachten, doch dann
senkte sich die Last des Morgens auf ihn.
Detective Hunt.
Das Knäuel der schmuddeligen Geldscheine neben dem Bett seiner
Mutter.
»Ich muss los«, sagte er.
»Was ist mit Schuleschwänzen?«
»Ich muss los.« Johnny legte auf. Sein Freund war gekränkt,
aber daran ließ sich nichts ändern. Johnny setzte sich mit seinem
Teller auf die Veranda, aß das Ei mit drei Scheiben Brot und trank
ein Glas Milch. Als er fertig war, hatte er noch Hunger, doch bis
zum Lunch waren es nur viereinhalb Stunden.
Er konnte warten.
Er goss Kaffee und Milch in einen Becher und ging durch den
halbdunklen Korridor zum Zimmer seiner Mutter. Das Wasser
war weg, das Aspirin auch. Das Haar verdeckte nicht mehr ihr
Gesicht, und quer über ihren Augen lag ein Streifen Sonnenlicht.
Johnny stellte den Becher auf den Nachttisch und öffnete ein Fenster.
Kühle Luft strömte von der Schattenseite des Hauses herein.
Johnny betrachtete seine Mutter. Sie sah noch blasser aus, müder,
jünger. Verloren. Sie würde nicht aufwachen wegen des Kaffees,
aber er wollte, dass er dastand, für alle Fälle. Damit sie es wusste.
Er wollte sich abwenden, doch da stöhnte sie im Schlaf und
zuckte heftig zusammen. Sie murmelte etwas, strampelte zweimal
mit den Beinen und fuhr jäh hoch, mit weit aufgerissenen, angstvollen
Augen. »O Gott!«, sagte sie. »O Gott!«
Johnny stand vor ihr, aber sie sah ihn nicht. Was immer ihr solche
Angst einjagte, hatte sie noch in den Klauen. Er beugte sich zu
ihr und sagte, sie habe nur geträumt, und in dieser Sekunde schienen
ihre Augen ihn zu erkennen. Sie hob die Hand an sein Gesicht.
»Alyssa«, sagte sie, und es klang fragend.
Johnny fühlte, dass ein Unwetter aufzog. »Ich bin Johnny«, sagte
er.
»Johnny?« Sie blinzelte zweimal, dann brach der Tag über sie
herein. Ihr verzweifelter Blick sackte in sich zusammen, die Hand
fiel herunter, und sie sank zurück.
Johnny ließ ihr ein paar Sekunden Zeit, aber sie öffnete die
Augen nicht wieder. »Alles okay?«, fragte er schließlich.
»Schlecht geträumt.«
»Da ist Kaffee. Möchtest du Frühstück?«
»Verdammt.« Sie warf die Bettdecke zurück, stand auf und ging
hinaus, ohne sich umzusehen. Johnny hörte, wie die Badezimmertür
zuschlug.
Er ging hinaus und setzte sich auf die Veranda. Fünf Minuten
später hielt der Schulbus am unbefestigten Straßenrand. Johnny
stand nicht auf. Er rührte sich überhaupt nicht. Nach einem kurzen
Augenblick fuhr der Bus weiter.
Es dauerte fast eine Stunde, bis seine Mutter sich angezogen hatte
und zu ihm auf die Veranda kam. Sie setzte sich neben ihn und
schlang die dünnen Arme um die Knie. Ihr Lächeln scheiterte auf
der ganzen Linie, und Johnny dachte daran, wie es früher ein ganzes
Zimmer erhellt hatte.
»Es tut mir leid«, sagte sie und stieß ihn mit der Schulter an.
Johnny starrte die Straße entlang. Sie stieß ihn noch einmal an.
»Es tut mir leid. Verstehst du ... ich entschuldige mich.«
Er wusste nicht, was er sagen sollte, konnte ihr nicht erklären,
was für ein Gefühl es war zu wissen, dass es ihr wehtat, ihn anzusehen.
Er zuckte die Achseln. »Ist okay.«
Er spürte, dass sie nach den richtigen Worten suchte. Auch das
scheiterte. »Du hast den Bus verpasst«, stellte sie fest.
»Macht nichts.«
»Für die Schule macht es schon was.«
»Ich habe tadellose Noten. Niemanden interessiert es, ob ich da
bin oder nicht.«
»Gehst du noch zum Schulpsychologen?«
Er musterte sie unnachsichtig. »Seit sechs Monaten nicht mehr.«
»Oh.«
Johnny schaute wieder die Straße hinauf und spürte, dass seine
Mutter ihn beobachtete. Sie hatte immer alles gewusst. Sie hatten
miteinander geredet. Als sie jetzt sprach, hatte ihre Stimme einen
scharfen Unterton. »Er kommt nicht zurück.«
Johnny sah seine Mutter an. »Was?«
»Du starrst die Straße hinauf. Das tust du dauernd, als ob du
damit rechnest, dass er gleich da oben über die Höhe kommt.«
Johnny öffnete den Mund, aber sie redete über ihn hinweg. »Das
wird nicht passieren.«
»Das weißt du nicht.«
»Ich versuche nur -«
»Das weißt du nicht!«
Johnny war auf den Beinen, ohne sich zu erinnerte, dass er aufgesprungen
war. Zum zweiten Mal an diesem Morgen ballte er die
Fäuste, und etwas Heißes dehnte sich in seiner Brust. Seine Mutter
lehnte sich zurück, die Arme noch um die Knie geschlungen. Das
Licht in ihren Augen erlosch, und Johnny wusste, was jetzt kam.
Sie streckte die Hand aus, aber nicht so weit, dass sie ihn berührte.
»Er hat uns verlassen, Johnny. Es ist nicht deine Schuld.«
Sie stand auf. Ihr Mund wurde weich, und ihr Gesicht verfiel in
einen Ausdruck von gequältem Verständnis, mit dem Erwachsene
ein Kind ansahen, das nicht genau begriff, wie die Welt funktionierte.
Aber Johnny hatte es begriffen. Er kannte diesen Blick und
konnte ihn nicht ausstehen.
»Du hättest niemals sagen dürfen, was du gesagt hast.«
»Johnny ...«
»Es war nicht seine Schuld, dass sie entführt wurde. Das hättest
du niemals sagen dürfen.« Sie tat einen Schritt auf ihn zu. Johnny
ignorierte es. »Er ist deinetwegen weggegangen.«
Sie blieb wie angewurzelt stehen, und Eis klirrte in ihrer Stimme.
Das verständnisvolle Kräuseln verschwand von ihren Lippen. »Es
war seine Schuld«, sagte sie. »Seine und niemandes sonst. Jetzt ist
sie fort, und ich habe nichts mehr.«
Johnny spürte, wie tief unten in seinen Waden ein Zittern begann.
Ein paar Augenblicke später zitterte er am ganzen Leib. Der
Streit war alt und riss sie beide auseinander.
Sie richtete sich auf und wandte sich ab. »Du stellst dich immer
auf seine Seite«, sagte sie. Dann war sie weg, im Haus, hinaus aus
der Welt, in der ihr letztes Kind seinen Platz hatte.
Johnny starrte die ausgebleichte Tür und dann seine Hände an.
Sie zitterten, aber er schluckte seine Erregung hinunter. Er setzte
sich wieder hin und sah zu, wie der Wind den Staub am Straßenrand
entlangwehte. Er dachte an das, was seine Mutter gesagt
hatte, und spähte wieder zur Anhöhe hinauf. Der Hügel war nicht
schön; am Rand eines struppigen Waldes standen Reihen kleiner
Häuser mit ungepflasterten Einfahrten, Telefonleitungen schlangen
sich in Bögen von Mast zu Mast und sahen vor dem jungen
Himmel besonders schwarz aus. Der Hügel hatte nichts Außergewöhnliches
an sich, aber Johnny beobachtete ihn trotzdem lange
Zeit. Er beobachtete ihn, bis ihm der Nacken wehtat, dann ging er
ins Haus, um nach seiner Mom zu sehen.
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www.weltbild.de
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Copyright der Originalausgabe © 2009 by John Hart
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2010 by C. Bertelsmann Verlag,
München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Übersetzung: Rainer Schmidt
Umschlaggestaltung: JARZINA kommunikations-design, Holzkirchen
Umschlagmotiv: © Thomas Jarzina
Gesamtherstellung: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in the EU
ISBN 978-3-86800-487-8
2014 2013 2012 2011
Die letzte Jahreszahl gibt die aktuelle Lizenzausgabe an.
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Autoren-Porträt von John Hart
John Hart, geboren 1965, in North Carolina, arbeitete als Rechtsanwalt bevor er sich seinen Traum erfüllte und seinen ersten Roman schrieb "Der König der Lügen". Der Roman ist für diverse Preise, u.a. für den Edgar Award für Best First Novel, Macavity Award für Best First Mystery Novel, The Gunshow Award für Best First Novel und den SIBA Book of the Year Award nominiert. Heute lebt Hart mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern in Rowan County, North Carolina.Rainer Schmidt wurde 1964 in der Nähe von Düsseldorf geboren. Er wuchs in einer Zeit auf, in der Jugendgewalt zum Alltag gehörte, ohne dass sie ein Illustriertenthema war. Er hat den braunen Gürtel in Karate, kann mit einem Nunchaku umgehen und war Quarterback in einem American Football Team. Er lebt und arbeitet als Journalist in Berlin. "Wie lange noch" ist sein erster Roman.
Bibliographische Angaben
- Autor: John Hart
- 2011, 1, 447 Seiten, Maße: 13,5 x 21,5 cm, Hochw. Broschur mit Klappeinb.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868004874
- ISBN-13: 9783868004878
Rezension zu „Das letzte Kind “
"Mein Tipp: John Hart!" Frank Schätzing
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