Das Lied der weißen Wölfin
Die Weiten der kanadischen Landschaft. Und eine junge Frau auf der Suche nach Glück und Liebe.
Die Deutsche Marie Blumfeld kommt Ende des 19. Jahrhunderts nach Kanada, um dort einen Reverend zu heiraten. Nach einem Überfall...
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Produktinformationen zu „Das Lied der weißen Wölfin “
Die Weiten der kanadischen Landschaft. Und eine junge Frau auf der Suche nach Glück und Liebe.
Die Deutsche Marie Blumfeld kommt Ende des 19. Jahrhunderts nach Kanada, um dort einen Reverend zu heiraten. Nach einem Überfall auf ihren Treck kurz nach ihrer Ankunft wird die schwerverletzte Marie von Cree-Indianern gesund gepflegt. Dabei verliebt sie sich in die Kultur des Stammes. Das kann Maries zukünftiger Ehemann, Reverend Plummer, nicht nachvollziehen, was immer wieder zu Problemen in ihrer Beziehung führt. Und dann ist da auch noch der Pelzhändler Philipp Carter, den Marie einfach nicht vergessen kann.
Klappentext zu „Das Lied der weißen Wölfin “
Nach dem Tod ihres Bruders beschließt die 21-jährige Marie Blumfeld, nach Kanada zu reisen, um einen Reverend zu heiraten. Als der Treck, mit dem Marie zu ihrem Bräutigam kommen soll, überfallen wird, bleibt Marie schwer verletzt zurück. Cree-Indianer, die in der Prärie nahe des Saskatchewan River leben, pflegen sie gesund. Als Pelzhändler den Stamm aufsuchen, nutzt Marie die Möglichkeit, mit den Männern weiterzureisen. Unter ihnen ist auch Philipp Carter, der bei Marie Gefühle ausgelöst, die sie sofort wieder verdrängt – schließlich wird sie bald heiraten. In Saskatoon begegnet sie ihrem Bräutigam Jeremy. Maries Ansinnen, arbeiten zu gehen, lehnt Jeremy ebenso wie ihren Wunsch, sich für die Bildung von Indianerkindern einzusetzen, ab. Marie spricht dennoch beim Leiter der örtlichen Schule vor und wird eingestellt. Dann taucht auch noch Philipp Carter auf, der ein neues Leben beginnen möchte und dem Marie eine Stelle als Hausmeister an ihrer Schule besorgt. Die beiden kommen sich bald näher.
Lese-Probe zu „Das Lied der weißen Wölfin “
Das Lied der weißen Wölfin von Claire Bouvier1. Kapitel
Kanada 1882
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Versonnen blickte Marie Blumfeld von der Ladekante des Planwagens gen Himmel, wo ein perfekt gerundeter Vollmond über den dunklen Tannen schwebte. Nachtvögel huschten vorüber, während ein geheimnisvolles Rascheln den gleichförmigen Hufschlag der Pferde begleitete. Es ist fast wie damals, als ich mit Peter in der Fliederlaube gesessen habe und wir uns Märchen erzählten, dachte Marie traurig, während sie die Decke um ihre Schultern enger zog ...
Obwohl sie mittlerweile vierundzwanzig Jahre zählte, waren die alten Geschichten in ihr noch immer lebendig. Auf dem Dampfschiff hatte Marie sie oft den Kindern erzählt, wenn sie sich vor dem Seegang und den Unwettern fürchteten. Auch jetzt, wo der Auswanderertreck immer tiefer ins kanadische Hinterland vordrang, reiste sie in Gedanken oft zu den Helden ihrer Kindheit zurück. Nur so ließ sich das Heimweh lindern, das in ihrer Seele brannte. Obwohl es in ihrer norddeutschen Heimat sonst nichts gab, für das sich das Bleiben gelohnt hätte, vermisste Marie die weiten Landschaften, die sanft gerundeten Hügel und die Wälder, die sie durchwandert hatte, wann immer ihr Zeit dafür geblieben war ...
Marie schob den Gedanken entschlossen beiseite und wandte sich zu ihren Mitfahrerinnen um. Die vier Frauen, mit denen sie sich diesen Planwagen teilte, hätten nicht unterschiedlicher sein können. Die temperamentvolle Ella und die burschikose Marthe waren mit ihr auf dem Auswanderer-schiff gekommen; die noch etwas kindliche Klara war in Boston zu ihnen gestoßen. Während alle anderen vor sich hin schnarchten, als lägen sie in gemütlichen Daunenbetten und nicht auf kratzigen Armeedecken, fand Marie wie so oft keine Ruhe. Das Schaukeln des Wagens riss sie immer wieder aus dem Schlummer, sodass sie sich erst hinlegte, wenn ihre Müdigkeit groß genug war.
Drei Wochen lagen nun schon hinter ihnen. Wochen, die aus einigermaßen ordentlich gekleideten Frauen eine Horde Landstreicherinnen mit notdürftig geflickten Kleidern und wirren Haaren gemacht hatten. Obwohl sie regelmäßig rasteten, um sich zu waschen, reichte die Zeit oftmals nicht aus, um sich wieder ordentlich herzurichten.
Marie griff nach ihrem langen blonden Zopf, aus dem die abgebrochenen Spitzen wie Stroh aus einem Ballen hervorstachen. Ich werde es abschneiden müssen, wenn ich in Selkirk bin, dachte sie ein wenig traurig. Gleichzeitig freute sie sich auf das Ende der Reise, denn an ihrem Ziel wartete ein neues Leben auf sie.
Vorsichtig zog sie ihre Teppichstofftasche näher zu sich heran, in der ihre gesamte magere Habe verstaut war. Viel Gepäck war ihnen nicht erlaubt worden. Einige Frauen hatten zusätzlich noch Kochgeschirr dabei, das während der Fahrt leise vor sich hin klapperte. Da sie die Töpfe und Pfannen unterwegs brauchten, hatte der Treckchief nichts dagegen, doch auf unnötige Last wurde verzichtet, damit sie so schnell wie möglich vorankamen.
Marie hatte nur Kleider, Unterröcke und einen Mantel mitgenommen, denn ihr war gesagt worden, dass die kanadischen Winter hart werden konnten. Außerdem befanden sich noch ein paar Toilettenartikel sowie Schreibzeug in der Tasche. Schmuckstücke oder andere Wertgegenstände besaß sie nicht, denn ihr Vater hatte den Schmuck ihrer Mutter im Krieg von 1870 für wohltätige Zwecke gespendet und war nicht der Ansicht gewesen, dass sie irgendwelche Schmuckstücke besitzen müsste.
Zielsicher fand ihre Hand unter ihren Einwanderungspapieren den Zettel, der vom dauernden Hervorziehen und Betrachten schon ganz knittrig und dünn geworden war. Damit rückte sie an die Ladekante des Wagens.
Ehefrauen für wohlsituierte Männer in Kanada gesucht, verkündeten die dicken Lettern der Überschrift. Der darunter folgende Text unterbreitete ledigen oder verwitweten Frauen das Angebot, im fernen Kanada ein neues Leben zu beginnen, an der Seite eines Goldgräbers, Pelzhändlers oder Farmers.
Als sie den Aushang zum ersten Mal an der Tür des Bürgermeisterhauses entdeckt hatte, war als Erstes die spöttische Frage in ihr aufgestiegen, warum kanadische Männer gerade eine deutsche Frau heiraten sollten. Gab es in dem großen Land denn keine Frauen, die sie wollten? Doch als sich ihr Leben von einem Tag auf den anderen verändert hatte, war ihr die Anzeige gar nicht mehr so lächerlich vorgekommen. Im Gegenteil, sie war für Marie zu einer Rettungsleine geworden, der letzten, von der sie hoffte, sie würde sie aus der Dunkelheit des Leids ziehen.
Jetzt allerdings fragte sie sich, ob sie das Richtige tat. Was würdest du dazu sagen, Peter?, dachte sie, und wie als Antwort spürte sie ein schmerzhaftes Ziehen in ihrer Brust. Auch noch ein Jahr nach dem großen Unglück konnte sie nicht ohne körperliche und seelische Pein an ihn denken.
Als sie den Zeitungsausschnitt wieder einsteckte, berührten ihre Finger das kleine Buch, das sie sich in Boston gekauft hatte. Eine Frau auf dem Auswandererschiff hatte ihr geraten, ihre Erlebnisse in einem Tagebuch festzuhalten. Angesteckt von der Begeisterung der Mitreisenden war sie in einen kleinen Laden nahe des Hafens gegangen und hatte von ihrem ersten umgetauschten Geld eine kleine, in marmoriertes Papier eingeschlagene Kladde erstanden, und sei es nur, um Naturbeobachtungen festzuhalten oder Pflanzen hineinzuzeichnen. Für den Fall, dass ich wieder als Lehrerin unterrichten darf, war es ihr durch den Sinn gegangen, als sie das Büchlein in der Tasche verstaute.
Doch nun kam ihr ein anderer Einfall. Bisher hatte sie vom Tagebuchschreiben nicht viel gehalten. Tagebücher waren etwas für zartbesaitete Mädchen, die vor Emotionen überflossen. Wie so vieles hatte sich Maries Meinung darüber inzwischen geändert.
Ich sollte mich von den Schatten der Vergangenheit befreien, dachte sie. Wenn ich sie auf Papier gebannt habe, können sie mir vielleicht nichts mehr anhaben. Behutsam schlug sie das Heft auf und strich mit dem Finger über die leeren cremefarbenen Seiten.
Fast glaubte Marie dabei wieder die Stimme ihres Bruders zu vernehmen. Nur Mut, Mariechen, was soll dir schon passieren? Als ihr klar wurde, dass nur der Nachtwind durch den Wald raunte, zog sie einen Bleistift aus ihrer Tasche und begann zu schreiben.
Peter behauptete immer, er hätte sich in dem Augenblick, als er mich zum ersten Mal sah, unsterblich in mich verliebt. Eigentlich hatte er, der damals drei Jahre alt war, sich einen Bruder gewünscht, mit dem er spielen konnte. Dementsprechend enttäuscht war er, als unser Vater ihm eröffnete, dass die Mutter ihm eine Schwester geschenkt hätte. Beinahe hätte Peter sich geweigert, mich überhaupt anzusehen, wie ich da in meiner Wiege lag. Doch dem sanften Ruf meiner Mutter konnte er sich nicht entziehen. Er schob sein Gesicht über das rote, in Windeln und Tücher gewickelte Bündel und von dem Augenblick an wusste er, dass er seinen heimlichen Plan doch nicht in die Tat umsetzen würde. Insgeheim hatte er nämlich vorgehabt, mich mit dem neugeborenen Sohn der Nachbarin auszutauschen.
Wir wuchsen im Herzen Mecklenburgs auf, in einer ländlichen Gegend, die von Ackerbau, Weidewirtschaft und Gütern geprägt war. Sobald ich selbstständig laufen konnte, nahm er mich mit in den Garten oder auf die Wiesen. Wir müssen ein seltsames Pärchen abgegeben haben: ein schlaksiger Junge mit viel zu großem Kopf neben einem etwas pummeligen Mädchen mit viel zu kurzen Armen und Beinen.
Obwohl ich als kleines Kind wahrlich keine Schönheit war, war ich nur selten den Neckereien anderer Kinder ausgesetzt, denn mein Bruder stand mit Eifer und glühendem Herzen für mich ein, auch wenn ich den Streit vom Zaun gebrochen hatte, wie es später oft der Fall war.
Als Kinder des Dorfpfarrers Martin Blumfeld führten wir einprivilegiertes Leben, in dem uns Kunst und Literatur offenstanden. Unseren Vater liebevoll zu nennen, wäre übertrieben gewesen, doch er sorgte gut für uns und eröffnete uns Horizonte, die für die Kinder der Landarbeiter und Bauern verschlossen blieben.
Als meine Mutter mit ihrem dritten Kind schwanger war und darunter körperlich sehr zu leiden hatte, duldete er es sogar, wenn wir uns in seiner Bibliothek aufhielten. Ich erinnere mich noch gut an die hohen Regale, die mit ledergebundenen Folianten und Büchern in verschiedenen Farben gefüllt waren. Viele dieser Schriften handelten von der Bibel und ihrer Auslegung, einige von ihnen beschäftigten sich mit Naturwissenschaft. Einen Sinn für Prosa hatte mein Vater nie entwickelt.
Damals, als ich auf dem gemusterten Teppich saß, war mir der Inhalt der Bücher allerdings noch gleichgültig. Nachdem ich sie bewundernd angesehen hatte, wandte ich mich meinem Bruder zu, der stets seinen hölzernen Kreisel mit in die Bibliothek nahm. Wenn ihm mein Juchzen und Klatschen zu viel wurde, schickte uns unser Vater fort und übergab uns der Fürsorge seiner Haushälterin. Luise, eine kräftige und viel zu jung verblühte Frau, erzählte uns alle möglichen Märchen und überzeugte uns zuweilen davon, dass es die genannten Wesen wirklich gab, was uns dazu brachte, nachts aus dem Haus zu schleichen und nachzuprüfen, ob wirklich Wichtel in unserem Garten lebten und Feen über den Wasserpfützen tanzten.
Eines Nachts hockten wir unter einem Fliederbusch nahe beim Haus. In meinem Eifer, eine Fee zu sehen, hatte ich mir keine Jacke übergezogen, und auch Peter war dermaßen von Erwartung erhitzt, dass er nur seine Hose über das Nachthemd gezogen hatte. Zähneklappernd schmiegte ich mich an ihn, während wir Stunde um Stunde in unserem Versteck verharrten. Die Kälte der Frühlingsnacht durchdrang mich völlig, und schon bald hatte ich das Gefühl, zu einem Eiszapfen zu erstarren. Aber die Hoffnung, dass die Fee doch noch kommen könnte, ließ mich aushalten. Außerdem wollte ich gegenüber meinem Bruder, der ohnehin schon von seinen Spielkameraden geneckt wurde, dass seine Schwester ihm ständig am Jackenzipfel hing, nicht schwach erscheinen.
Je weiter sich der Morgen näherte, desto enttäuschter wurden wir, denn die Fee blieb aus, und es erschienen auch keine Wichtel oder Zwerge. Als wir uns am Morgen in unsere Betten verkrochen, fühlte ich mich krank. Tatsächlich wurde ich nur einen Tag später von einer furchtbaren Erkältung heimgesucht. Die Fieberträume zeigten mir tatsächlich tanzende Elfen, und erst viel später erfuhr ich, dass ich in jenen Nächten dem Tode nahe gewesen war. Peter war darüber so zerknirscht, dass er sich nicht nur weigerte, von meinem Krankenlager zu weichen - als ich wieder genesen war, schenkte er mir seinen schönsten Zinnsoldaten, einen mit blau-goldener Jacke und blauem Barett. Auch wenn er später in Vergessenheit geriet, trug ich die liebevolle Geste, die dahintersteckte, stets in meinem Herzen.
2. Kapitel
Marie schreckte hoch, als der Planwagen zum Stehen kam. Erstaunt stellte sie fest, dass sie sich nicht mehr im Wald befanden, sondern auf einer weiten Ebene, die nur an den Rändern von einem dunkelgrünen Waldband gesäumt wurde. Die Nacht war von einem strahlenden Morgen vertrieben worden.
Mein Tagebuch! Erschrocken tastete sie neben sich und atmete auf, als sie die Kladde unter ihren Fingern spürte. Kurz nach Beendigung ihrer Niederschrift musste sie eingeschlafen sein. Der Bleistift war ein Stück durch den Wagen gerollt, bis er von Ellas Gepäck gestoppt worden war.
Marie steckte ihn in die Tasche und verstaute die Kladde unter ihrem abgewetzten Korsett, das in den vergangenen Wochen um einiges lockerer geworden war. Obwohl das Buch hart gegen ihre Rippen drückte, dachte sie nicht daran, es im Wagen zurückzulassen. Sie kannte die weibliche Neugier nur zu gut. Auch wenn sie Ella gut leiden mochte, traute sie ihr doch zu, sich für Dinge zu interessieren, die sie nichts angingen.
Nachdem sie das Korsett zurechtgezogen hatte, kletterte sie aus dem Wagen und strebte dem Wasserloch zu, das beinahe die Größe eines Sees hatte. Malerisch spiegelte sich der rosafarbene, leicht bewölkte Morgenhimmel in den dunklen Fluten, als die ersten Frauen mit hochgezogenen Röcken aufjuchzend hineinwateten.
Marie reckte sich und atmete dabei tief die Morgenluft ein. Neben dem sumpfigen Geruch des Wassers nahm sie auch eine Spur von Tannenharz, Gras und Blüten wahr. Flügelschlagen lenkte ihren Blick auf die kleine Wiese neben dem Wasserloch. Die Tauben, die von dort aufgeflattert waren, kreisten kurz über dem See und verschwanden dann im Wald. Die Blumen, die in der Nähe des Wasserloches einen Großteil des Bodens überwucherten, ähnelten den Lupinen, die es zu Hause an jedem Wegrand gab. Leuchtend rot wie kleine Flammen wiegten sie sich sanft in der Morgenbrise.
Zögernd zog Marie ihren Rock hoch und trat ebenfalls ins Wasser. Als sich ihre Beine an die Kälte gewöhnt hatten, bemerkte sie ein paar Männer hinter den Wagen, Treckbegleiter, die für ihre Sicherheit sorgten. Reverend Willoghby, der Geistliche, der den Treck begleitete, hatte Mühe, die bunt zusammengewürfelte Truppe davon abzuhalten, neugierig nach den Frauen zu spähen.
»Meine Herren!«, wetterte er, während er wie ein General vor ihnen auf und ab schritt. »Wenn unkeusche Gedanken Sie plagen, sollten Sie an das Wort des Herrn denken!«
»Sie müssen es ihnen nachsehen, Reverend«, sagte Angus Johnston begütigend, der sich jetzt zu ihnen gesellte. Der Treckchief, ein grobknochiger, stämmiger Schotte, wurde von seiner Mannschaft hoch geschätzt und von beinahe allen Frauen bewundert. Sein Wort galt; allerdings war er auch kein Unmensch und achtete die Bedürfnisse seiner Leute. »Die Männer haben schon lange nicht mehr so viele Frauen auf einem Haufen gesehen. Es grenzt doch schon an ein Wunder, dass sie sich so wacker auf den Beinen halten und nicht vor lauter Staunen aus den Stiefeln kippen.«
Wie zur Bestätigung reckten einige von ihnen die Hälse. Ihre Blicke trafen auch Marie, die allerdings nicht vorhatte, sich weiter zu entblößen. Sie wusch sich rasch Gesicht, Hände und Füße und versuchte, das Plappern der Frauen in ihrer Nähe auszublenden. Ihre Kameradinnen schienen nichts daran zu finden, dass die Männer einen Blick auf ihre nackten Beine und ihre Unterwäsche werfen konnten. Ungeniert bespritzten sie sich mit Wasser, sodass Marie nichts weiter übrig blieb, als ein Stück von ihnen abzurücken.
»Ich habe mir sagen lassen, dass die Kerle hier zwar ziemlich ausgehungert sind, dafür aber mächtig schüchtern«, vernahm sie auf der anderen Seite die Stimme der robusten Elisabeth Meyerfeld, die von allen nur Betty genannt wurde und deren Mieder ihre beträchtliche Oberweite kaum zu bändigen vermochte. »Wie gut, dass auf uns bereits Männer warten. Ehe diese Kerle hier uns fragen, sind wir vertrocknet.«
»Ja, aber wer weiß, was man uns da angedreht hat«, wandte Lisa ein, für die die Ehe mit einem kanadischen Farmer die zweite sein würde. »Am Ende sind es alte Kerle, bei denen das Ehebett kalt bleibt.«
Schockiert schnappte Marie nach Luft und versuchte, ihre Schamesröte mit einem kräftigen Wasserguss ein wenig zu mildern. Wieder einmal fühlte sie sich deplatziert unter den Frauen, die redeten, wie ihnen der Schnabel gewachsen war. Wie sie recht schnell herausgefunden hatte, konnten die wenigsten von ihnen lesen und schreiben. Die meisten stammten aus recht ärmlichen Verhältnissen und versprachen sich von dieser Reise eine bessere Zukunft.
Und was verspreche ich mir von meinem weiteren Leben?, fragte sie sich, während sie sich das Gesicht mit dem Saum ihres Unterrocks abtrocknete. Nur einen Mann, der für mich sorgt? Oder doch noch etwas anderes?
Bei der Vorbereitung für die Ausreise hatte sie gehört, dass Frauen hier auch einem Beruf nachgehen konnten. Groß war ihre Freude gewesen, als sie hörte, dass man für sie einen gebildeten Mann ausgesucht hatte, einen, der mit Büchern etwas anfangen konnte und sicher kultiviert genug war, um nicht wie ein ausgehungerter Wolf über sie herzufallen. Und der ihr vielleicht erlaubte, ihrem früheren Beruf nachzugehen.
Jemand tippte ihr auf die Schulter. Erschrocken wandte sich Marie um. Auf dem Gesicht von Ella Wagner, mit der sie sich während der Überfahrt angefreundet hatte, breitete sich ein schadenfrohes Lächeln aus.
»Hab ich dich erschreckt?«
»Ein bisschen«, gab Marie zu, während sie ihre Röcke wieder ordnete.
»Wie war deine Nacht?«, fragte Ella, die nun ihrerseits mit hochgerafftem Rock ins Wasser stieg. »Ich hab dich im Wagen rumoren gehört.«
»Ich bin gegen Mitternacht wach geworden und konnte nicht mehr einschlafen.« Dass sie die Zeit genutzt hatte, um ihr Tagebuch zu führen, verschwieg Marie.
Mit geübten Griffen öffnete sie ihren Zopf und kämmte ihr Haar mit den Fingern durch, bevor sie es wieder zusammenflocht.
»Dafür, dass du kaum Schlaf bekommen hast, siehst du aber ganz gut aus«, entgegnete Ella bewundernd; dann schweifte ihr Blick hinüber zu den Wagen, wo die Männer zwar immer noch standen, aber jetzt eine Predigt von Reverend Willoghby zu hören bekamen. »Ein paar von den Männern sollen angeblich über dich reden.«
Marie zog die Augenbrauen hoch. Obwohl sie es eigentlich nicht wollte, blickte sie hinüber zu den Burschen, die gerade wieder von dem Geistlichen in die Mangel genommen wurden.
»Über mich? Wer erzählt denn so was?«
»Ja, über dich«, bestätigte Ella, während sie ihre dunklen Locken löste und über die Schultern schüttelte. Damit wäre wohl eher sie Gesprächsstoff für die Treckbegleiter, ging es Marie durch den Kopf, während sie sie beobachtete. Der mit ihr verlobte Warenhausbesitzer konnte sich glücklich schätzen, eine solche Frau zu bekommen. »Elisabeth hat es erzählt.«
»Sie hat sich bestimmt verhört!«, winkte Marie verlegen ab. »Du weißt es doch selbst, ihr Englisch ist nicht besonders gut.«
»Aber dafür reicht es, glaube ich.« Ella kicherte schadenfroh, als sie sah, dass sich Maries Wangen tiefrot verfärbten.
Unter den Männern waren einige, die ihr durchaus hätten gefallen können. Doch die Tatsache, dass sie verlobt war, hatte sie davon abgehalten, sich schwärmerischen Fantasien hinzugeben.
»Nein, sie sprachen von dem blonde german girl. Und wie du siehst, bist du die einzige Blonde hier.«
»Das stimmt nicht!«, protestierte Marie. »Katty und Elvira haben ebenfalls blonde Haare.«
»Katty ist rotblond, das nennen sie hier ginger. Jedenfalls wenn du mir keinen Unsinn erzählt hast.«
»Ginger ist rotblond, das stimmt«, entgegnete Marie.
»Und Elviras Dunkelblond würde ich eher für Brünett halten. Wenn die Jungs von einer Blonden sprechen, dann werden sie schon dich meinen.« Lächelnd streckte Ella die Hand nach Maries Zopf aus, der ein wenig unordentlich über ihre Schulter fiel.
...
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Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Versonnen blickte Marie Blumfeld von der Ladekante des Planwagens gen Himmel, wo ein perfekt gerundeter Vollmond über den dunklen Tannen schwebte. Nachtvögel huschten vorüber, während ein geheimnisvolles Rascheln den gleichförmigen Hufschlag der Pferde begleitete. Es ist fast wie damals, als ich mit Peter in der Fliederlaube gesessen habe und wir uns Märchen erzählten, dachte Marie traurig, während sie die Decke um ihre Schultern enger zog ...
Obwohl sie mittlerweile vierundzwanzig Jahre zählte, waren die alten Geschichten in ihr noch immer lebendig. Auf dem Dampfschiff hatte Marie sie oft den Kindern erzählt, wenn sie sich vor dem Seegang und den Unwettern fürchteten. Auch jetzt, wo der Auswanderertreck immer tiefer ins kanadische Hinterland vordrang, reiste sie in Gedanken oft zu den Helden ihrer Kindheit zurück. Nur so ließ sich das Heimweh lindern, das in ihrer Seele brannte. Obwohl es in ihrer norddeutschen Heimat sonst nichts gab, für das sich das Bleiben gelohnt hätte, vermisste Marie die weiten Landschaften, die sanft gerundeten Hügel und die Wälder, die sie durchwandert hatte, wann immer ihr Zeit dafür geblieben war ...
Marie schob den Gedanken entschlossen beiseite und wandte sich zu ihren Mitfahrerinnen um. Die vier Frauen, mit denen sie sich diesen Planwagen teilte, hätten nicht unterschiedlicher sein können. Die temperamentvolle Ella und die burschikose Marthe waren mit ihr auf dem Auswanderer-schiff gekommen; die noch etwas kindliche Klara war in Boston zu ihnen gestoßen. Während alle anderen vor sich hin schnarchten, als lägen sie in gemütlichen Daunenbetten und nicht auf kratzigen Armeedecken, fand Marie wie so oft keine Ruhe. Das Schaukeln des Wagens riss sie immer wieder aus dem Schlummer, sodass sie sich erst hinlegte, wenn ihre Müdigkeit groß genug war.
Drei Wochen lagen nun schon hinter ihnen. Wochen, die aus einigermaßen ordentlich gekleideten Frauen eine Horde Landstreicherinnen mit notdürftig geflickten Kleidern und wirren Haaren gemacht hatten. Obwohl sie regelmäßig rasteten, um sich zu waschen, reichte die Zeit oftmals nicht aus, um sich wieder ordentlich herzurichten.
Marie griff nach ihrem langen blonden Zopf, aus dem die abgebrochenen Spitzen wie Stroh aus einem Ballen hervorstachen. Ich werde es abschneiden müssen, wenn ich in Selkirk bin, dachte sie ein wenig traurig. Gleichzeitig freute sie sich auf das Ende der Reise, denn an ihrem Ziel wartete ein neues Leben auf sie.
Vorsichtig zog sie ihre Teppichstofftasche näher zu sich heran, in der ihre gesamte magere Habe verstaut war. Viel Gepäck war ihnen nicht erlaubt worden. Einige Frauen hatten zusätzlich noch Kochgeschirr dabei, das während der Fahrt leise vor sich hin klapperte. Da sie die Töpfe und Pfannen unterwegs brauchten, hatte der Treckchief nichts dagegen, doch auf unnötige Last wurde verzichtet, damit sie so schnell wie möglich vorankamen.
Marie hatte nur Kleider, Unterröcke und einen Mantel mitgenommen, denn ihr war gesagt worden, dass die kanadischen Winter hart werden konnten. Außerdem befanden sich noch ein paar Toilettenartikel sowie Schreibzeug in der Tasche. Schmuckstücke oder andere Wertgegenstände besaß sie nicht, denn ihr Vater hatte den Schmuck ihrer Mutter im Krieg von 1870 für wohltätige Zwecke gespendet und war nicht der Ansicht gewesen, dass sie irgendwelche Schmuckstücke besitzen müsste.
Zielsicher fand ihre Hand unter ihren Einwanderungspapieren den Zettel, der vom dauernden Hervorziehen und Betrachten schon ganz knittrig und dünn geworden war. Damit rückte sie an die Ladekante des Wagens.
Ehefrauen für wohlsituierte Männer in Kanada gesucht, verkündeten die dicken Lettern der Überschrift. Der darunter folgende Text unterbreitete ledigen oder verwitweten Frauen das Angebot, im fernen Kanada ein neues Leben zu beginnen, an der Seite eines Goldgräbers, Pelzhändlers oder Farmers.
Als sie den Aushang zum ersten Mal an der Tür des Bürgermeisterhauses entdeckt hatte, war als Erstes die spöttische Frage in ihr aufgestiegen, warum kanadische Männer gerade eine deutsche Frau heiraten sollten. Gab es in dem großen Land denn keine Frauen, die sie wollten? Doch als sich ihr Leben von einem Tag auf den anderen verändert hatte, war ihr die Anzeige gar nicht mehr so lächerlich vorgekommen. Im Gegenteil, sie war für Marie zu einer Rettungsleine geworden, der letzten, von der sie hoffte, sie würde sie aus der Dunkelheit des Leids ziehen.
Jetzt allerdings fragte sie sich, ob sie das Richtige tat. Was würdest du dazu sagen, Peter?, dachte sie, und wie als Antwort spürte sie ein schmerzhaftes Ziehen in ihrer Brust. Auch noch ein Jahr nach dem großen Unglück konnte sie nicht ohne körperliche und seelische Pein an ihn denken.
Als sie den Zeitungsausschnitt wieder einsteckte, berührten ihre Finger das kleine Buch, das sie sich in Boston gekauft hatte. Eine Frau auf dem Auswandererschiff hatte ihr geraten, ihre Erlebnisse in einem Tagebuch festzuhalten. Angesteckt von der Begeisterung der Mitreisenden war sie in einen kleinen Laden nahe des Hafens gegangen und hatte von ihrem ersten umgetauschten Geld eine kleine, in marmoriertes Papier eingeschlagene Kladde erstanden, und sei es nur, um Naturbeobachtungen festzuhalten oder Pflanzen hineinzuzeichnen. Für den Fall, dass ich wieder als Lehrerin unterrichten darf, war es ihr durch den Sinn gegangen, als sie das Büchlein in der Tasche verstaute.
Doch nun kam ihr ein anderer Einfall. Bisher hatte sie vom Tagebuchschreiben nicht viel gehalten. Tagebücher waren etwas für zartbesaitete Mädchen, die vor Emotionen überflossen. Wie so vieles hatte sich Maries Meinung darüber inzwischen geändert.
Ich sollte mich von den Schatten der Vergangenheit befreien, dachte sie. Wenn ich sie auf Papier gebannt habe, können sie mir vielleicht nichts mehr anhaben. Behutsam schlug sie das Heft auf und strich mit dem Finger über die leeren cremefarbenen Seiten.
Fast glaubte Marie dabei wieder die Stimme ihres Bruders zu vernehmen. Nur Mut, Mariechen, was soll dir schon passieren? Als ihr klar wurde, dass nur der Nachtwind durch den Wald raunte, zog sie einen Bleistift aus ihrer Tasche und begann zu schreiben.
Peter behauptete immer, er hätte sich in dem Augenblick, als er mich zum ersten Mal sah, unsterblich in mich verliebt. Eigentlich hatte er, der damals drei Jahre alt war, sich einen Bruder gewünscht, mit dem er spielen konnte. Dementsprechend enttäuscht war er, als unser Vater ihm eröffnete, dass die Mutter ihm eine Schwester geschenkt hätte. Beinahe hätte Peter sich geweigert, mich überhaupt anzusehen, wie ich da in meiner Wiege lag. Doch dem sanften Ruf meiner Mutter konnte er sich nicht entziehen. Er schob sein Gesicht über das rote, in Windeln und Tücher gewickelte Bündel und von dem Augenblick an wusste er, dass er seinen heimlichen Plan doch nicht in die Tat umsetzen würde. Insgeheim hatte er nämlich vorgehabt, mich mit dem neugeborenen Sohn der Nachbarin auszutauschen.
Wir wuchsen im Herzen Mecklenburgs auf, in einer ländlichen Gegend, die von Ackerbau, Weidewirtschaft und Gütern geprägt war. Sobald ich selbstständig laufen konnte, nahm er mich mit in den Garten oder auf die Wiesen. Wir müssen ein seltsames Pärchen abgegeben haben: ein schlaksiger Junge mit viel zu großem Kopf neben einem etwas pummeligen Mädchen mit viel zu kurzen Armen und Beinen.
Obwohl ich als kleines Kind wahrlich keine Schönheit war, war ich nur selten den Neckereien anderer Kinder ausgesetzt, denn mein Bruder stand mit Eifer und glühendem Herzen für mich ein, auch wenn ich den Streit vom Zaun gebrochen hatte, wie es später oft der Fall war.
Als Kinder des Dorfpfarrers Martin Blumfeld führten wir einprivilegiertes Leben, in dem uns Kunst und Literatur offenstanden. Unseren Vater liebevoll zu nennen, wäre übertrieben gewesen, doch er sorgte gut für uns und eröffnete uns Horizonte, die für die Kinder der Landarbeiter und Bauern verschlossen blieben.
Als meine Mutter mit ihrem dritten Kind schwanger war und darunter körperlich sehr zu leiden hatte, duldete er es sogar, wenn wir uns in seiner Bibliothek aufhielten. Ich erinnere mich noch gut an die hohen Regale, die mit ledergebundenen Folianten und Büchern in verschiedenen Farben gefüllt waren. Viele dieser Schriften handelten von der Bibel und ihrer Auslegung, einige von ihnen beschäftigten sich mit Naturwissenschaft. Einen Sinn für Prosa hatte mein Vater nie entwickelt.
Damals, als ich auf dem gemusterten Teppich saß, war mir der Inhalt der Bücher allerdings noch gleichgültig. Nachdem ich sie bewundernd angesehen hatte, wandte ich mich meinem Bruder zu, der stets seinen hölzernen Kreisel mit in die Bibliothek nahm. Wenn ihm mein Juchzen und Klatschen zu viel wurde, schickte uns unser Vater fort und übergab uns der Fürsorge seiner Haushälterin. Luise, eine kräftige und viel zu jung verblühte Frau, erzählte uns alle möglichen Märchen und überzeugte uns zuweilen davon, dass es die genannten Wesen wirklich gab, was uns dazu brachte, nachts aus dem Haus zu schleichen und nachzuprüfen, ob wirklich Wichtel in unserem Garten lebten und Feen über den Wasserpfützen tanzten.
Eines Nachts hockten wir unter einem Fliederbusch nahe beim Haus. In meinem Eifer, eine Fee zu sehen, hatte ich mir keine Jacke übergezogen, und auch Peter war dermaßen von Erwartung erhitzt, dass er nur seine Hose über das Nachthemd gezogen hatte. Zähneklappernd schmiegte ich mich an ihn, während wir Stunde um Stunde in unserem Versteck verharrten. Die Kälte der Frühlingsnacht durchdrang mich völlig, und schon bald hatte ich das Gefühl, zu einem Eiszapfen zu erstarren. Aber die Hoffnung, dass die Fee doch noch kommen könnte, ließ mich aushalten. Außerdem wollte ich gegenüber meinem Bruder, der ohnehin schon von seinen Spielkameraden geneckt wurde, dass seine Schwester ihm ständig am Jackenzipfel hing, nicht schwach erscheinen.
Je weiter sich der Morgen näherte, desto enttäuschter wurden wir, denn die Fee blieb aus, und es erschienen auch keine Wichtel oder Zwerge. Als wir uns am Morgen in unsere Betten verkrochen, fühlte ich mich krank. Tatsächlich wurde ich nur einen Tag später von einer furchtbaren Erkältung heimgesucht. Die Fieberträume zeigten mir tatsächlich tanzende Elfen, und erst viel später erfuhr ich, dass ich in jenen Nächten dem Tode nahe gewesen war. Peter war darüber so zerknirscht, dass er sich nicht nur weigerte, von meinem Krankenlager zu weichen - als ich wieder genesen war, schenkte er mir seinen schönsten Zinnsoldaten, einen mit blau-goldener Jacke und blauem Barett. Auch wenn er später in Vergessenheit geriet, trug ich die liebevolle Geste, die dahintersteckte, stets in meinem Herzen.
2. Kapitel
Marie schreckte hoch, als der Planwagen zum Stehen kam. Erstaunt stellte sie fest, dass sie sich nicht mehr im Wald befanden, sondern auf einer weiten Ebene, die nur an den Rändern von einem dunkelgrünen Waldband gesäumt wurde. Die Nacht war von einem strahlenden Morgen vertrieben worden.
Mein Tagebuch! Erschrocken tastete sie neben sich und atmete auf, als sie die Kladde unter ihren Fingern spürte. Kurz nach Beendigung ihrer Niederschrift musste sie eingeschlafen sein. Der Bleistift war ein Stück durch den Wagen gerollt, bis er von Ellas Gepäck gestoppt worden war.
Marie steckte ihn in die Tasche und verstaute die Kladde unter ihrem abgewetzten Korsett, das in den vergangenen Wochen um einiges lockerer geworden war. Obwohl das Buch hart gegen ihre Rippen drückte, dachte sie nicht daran, es im Wagen zurückzulassen. Sie kannte die weibliche Neugier nur zu gut. Auch wenn sie Ella gut leiden mochte, traute sie ihr doch zu, sich für Dinge zu interessieren, die sie nichts angingen.
Nachdem sie das Korsett zurechtgezogen hatte, kletterte sie aus dem Wagen und strebte dem Wasserloch zu, das beinahe die Größe eines Sees hatte. Malerisch spiegelte sich der rosafarbene, leicht bewölkte Morgenhimmel in den dunklen Fluten, als die ersten Frauen mit hochgezogenen Röcken aufjuchzend hineinwateten.
Marie reckte sich und atmete dabei tief die Morgenluft ein. Neben dem sumpfigen Geruch des Wassers nahm sie auch eine Spur von Tannenharz, Gras und Blüten wahr. Flügelschlagen lenkte ihren Blick auf die kleine Wiese neben dem Wasserloch. Die Tauben, die von dort aufgeflattert waren, kreisten kurz über dem See und verschwanden dann im Wald. Die Blumen, die in der Nähe des Wasserloches einen Großteil des Bodens überwucherten, ähnelten den Lupinen, die es zu Hause an jedem Wegrand gab. Leuchtend rot wie kleine Flammen wiegten sie sich sanft in der Morgenbrise.
Zögernd zog Marie ihren Rock hoch und trat ebenfalls ins Wasser. Als sich ihre Beine an die Kälte gewöhnt hatten, bemerkte sie ein paar Männer hinter den Wagen, Treckbegleiter, die für ihre Sicherheit sorgten. Reverend Willoghby, der Geistliche, der den Treck begleitete, hatte Mühe, die bunt zusammengewürfelte Truppe davon abzuhalten, neugierig nach den Frauen zu spähen.
»Meine Herren!«, wetterte er, während er wie ein General vor ihnen auf und ab schritt. »Wenn unkeusche Gedanken Sie plagen, sollten Sie an das Wort des Herrn denken!«
»Sie müssen es ihnen nachsehen, Reverend«, sagte Angus Johnston begütigend, der sich jetzt zu ihnen gesellte. Der Treckchief, ein grobknochiger, stämmiger Schotte, wurde von seiner Mannschaft hoch geschätzt und von beinahe allen Frauen bewundert. Sein Wort galt; allerdings war er auch kein Unmensch und achtete die Bedürfnisse seiner Leute. »Die Männer haben schon lange nicht mehr so viele Frauen auf einem Haufen gesehen. Es grenzt doch schon an ein Wunder, dass sie sich so wacker auf den Beinen halten und nicht vor lauter Staunen aus den Stiefeln kippen.«
Wie zur Bestätigung reckten einige von ihnen die Hälse. Ihre Blicke trafen auch Marie, die allerdings nicht vorhatte, sich weiter zu entblößen. Sie wusch sich rasch Gesicht, Hände und Füße und versuchte, das Plappern der Frauen in ihrer Nähe auszublenden. Ihre Kameradinnen schienen nichts daran zu finden, dass die Männer einen Blick auf ihre nackten Beine und ihre Unterwäsche werfen konnten. Ungeniert bespritzten sie sich mit Wasser, sodass Marie nichts weiter übrig blieb, als ein Stück von ihnen abzurücken.
»Ich habe mir sagen lassen, dass die Kerle hier zwar ziemlich ausgehungert sind, dafür aber mächtig schüchtern«, vernahm sie auf der anderen Seite die Stimme der robusten Elisabeth Meyerfeld, die von allen nur Betty genannt wurde und deren Mieder ihre beträchtliche Oberweite kaum zu bändigen vermochte. »Wie gut, dass auf uns bereits Männer warten. Ehe diese Kerle hier uns fragen, sind wir vertrocknet.«
»Ja, aber wer weiß, was man uns da angedreht hat«, wandte Lisa ein, für die die Ehe mit einem kanadischen Farmer die zweite sein würde. »Am Ende sind es alte Kerle, bei denen das Ehebett kalt bleibt.«
Schockiert schnappte Marie nach Luft und versuchte, ihre Schamesröte mit einem kräftigen Wasserguss ein wenig zu mildern. Wieder einmal fühlte sie sich deplatziert unter den Frauen, die redeten, wie ihnen der Schnabel gewachsen war. Wie sie recht schnell herausgefunden hatte, konnten die wenigsten von ihnen lesen und schreiben. Die meisten stammten aus recht ärmlichen Verhältnissen und versprachen sich von dieser Reise eine bessere Zukunft.
Und was verspreche ich mir von meinem weiteren Leben?, fragte sie sich, während sie sich das Gesicht mit dem Saum ihres Unterrocks abtrocknete. Nur einen Mann, der für mich sorgt? Oder doch noch etwas anderes?
Bei der Vorbereitung für die Ausreise hatte sie gehört, dass Frauen hier auch einem Beruf nachgehen konnten. Groß war ihre Freude gewesen, als sie hörte, dass man für sie einen gebildeten Mann ausgesucht hatte, einen, der mit Büchern etwas anfangen konnte und sicher kultiviert genug war, um nicht wie ein ausgehungerter Wolf über sie herzufallen. Und der ihr vielleicht erlaubte, ihrem früheren Beruf nachzugehen.
Jemand tippte ihr auf die Schulter. Erschrocken wandte sich Marie um. Auf dem Gesicht von Ella Wagner, mit der sie sich während der Überfahrt angefreundet hatte, breitete sich ein schadenfrohes Lächeln aus.
»Hab ich dich erschreckt?«
»Ein bisschen«, gab Marie zu, während sie ihre Röcke wieder ordnete.
»Wie war deine Nacht?«, fragte Ella, die nun ihrerseits mit hochgerafftem Rock ins Wasser stieg. »Ich hab dich im Wagen rumoren gehört.«
»Ich bin gegen Mitternacht wach geworden und konnte nicht mehr einschlafen.« Dass sie die Zeit genutzt hatte, um ihr Tagebuch zu führen, verschwieg Marie.
Mit geübten Griffen öffnete sie ihren Zopf und kämmte ihr Haar mit den Fingern durch, bevor sie es wieder zusammenflocht.
»Dafür, dass du kaum Schlaf bekommen hast, siehst du aber ganz gut aus«, entgegnete Ella bewundernd; dann schweifte ihr Blick hinüber zu den Wagen, wo die Männer zwar immer noch standen, aber jetzt eine Predigt von Reverend Willoghby zu hören bekamen. »Ein paar von den Männern sollen angeblich über dich reden.«
Marie zog die Augenbrauen hoch. Obwohl sie es eigentlich nicht wollte, blickte sie hinüber zu den Burschen, die gerade wieder von dem Geistlichen in die Mangel genommen wurden.
»Über mich? Wer erzählt denn so was?«
»Ja, über dich«, bestätigte Ella, während sie ihre dunklen Locken löste und über die Schultern schüttelte. Damit wäre wohl eher sie Gesprächsstoff für die Treckbegleiter, ging es Marie durch den Kopf, während sie sie beobachtete. Der mit ihr verlobte Warenhausbesitzer konnte sich glücklich schätzen, eine solche Frau zu bekommen. »Elisabeth hat es erzählt.«
»Sie hat sich bestimmt verhört!«, winkte Marie verlegen ab. »Du weißt es doch selbst, ihr Englisch ist nicht besonders gut.«
»Aber dafür reicht es, glaube ich.« Ella kicherte schadenfroh, als sie sah, dass sich Maries Wangen tiefrot verfärbten.
Unter den Männern waren einige, die ihr durchaus hätten gefallen können. Doch die Tatsache, dass sie verlobt war, hatte sie davon abgehalten, sich schwärmerischen Fantasien hinzugeben.
»Nein, sie sprachen von dem blonde german girl. Und wie du siehst, bist du die einzige Blonde hier.«
»Das stimmt nicht!«, protestierte Marie. »Katty und Elvira haben ebenfalls blonde Haare.«
»Katty ist rotblond, das nennen sie hier ginger. Jedenfalls wenn du mir keinen Unsinn erzählt hast.«
»Ginger ist rotblond, das stimmt«, entgegnete Marie.
»Und Elviras Dunkelblond würde ich eher für Brünett halten. Wenn die Jungs von einer Blonden sprechen, dann werden sie schon dich meinen.« Lächelnd streckte Ella die Hand nach Maries Zopf aus, der ein wenig unordentlich über ihre Schulter fiel.
...
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von Claire Bouvier
Claire Bouvier wurde 1970 als Tochter einer Deutschen und eines Kanadiers in Quebec geboren. Im Alter von neun Jahren siedelte sie mit ihren Eltern nach Deutschland über. Als sie ihren kanadischen Wurzeln nachging, entstand die Idee zu diesem Roman. Die Autorin lebt und arbeitet in Berlin.
Bibliographische Angaben
- Autor: Claire Bouvier
- 416 Seiten, Maße: 14,4 x 22 cm, Geb. mit Su.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868009639
- ISBN-13: 9783868009637
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