Das Lied von Eis und Feuer - Zeit der Krähen
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Zeitder Krähen von George R. R. Martin
LESEPROBE
Prolog
»Drachen«,sagte Mollander. Er hob einen schrumpligen Apfel vom Boden auf und warf ihn voneiner Hand in die andere. »Mach schon«, verlangte Alleras die Sphinx. Er zogeinen Pfeil aus dem Köcher und legte ihn auf die Sehne. »Einen Drachen würdeich auch gern mal sehen.« Roone war der Jüngste unter ihnen, ein vierschrötigerJunge, dem zwei Jahre fehlten, bis man ihn einen Mann nennen durfte. »Sehrgern.« Und ich würde gern in Roseys Armen schlafen, dachte Pate. Errutschte unruhig auf der Bank hin und her. Morgen schon könnte das Mädchen ihmgehören. Ich gehe mit ihr fort aus Oldtown, über die Meerenge, in eine derFreien Städte. Dort gab es keine Maester, niemanden, der ihm Vorhaltungenmachen könnte. Durch die Fensterläden über ihm hörte er Emmas Lachen, das sichmit der tiefen Stimme des Mannes mischte, dem sie gerade zu Diensten war. Siewar die älteste Schankmagd im Federkiel und Fässchen, mindestens vierzig, einwenig korpulent, aber noch immer hübsch. Rosey war ihre Tochter, fünfzehn undunlängst erblüht. Roseys Jungfräulichkeit würde einen goldenen Drachen kosten,hatte Emma verkündet. Pate hatte neun Silberhirschen und einen Topf vollerKupfersterne und Pfennige gespart, was ihm jedoch nicht viel weiterhalf.Vermutlich würde er eher einen echten Drachen ausbrüten, als jemals einengoldenen in die Hände bekommen. »Für Drachen bist du zu spät geboren, Junge«,meinte Armen der Akolyth zu Roone. Armen trug ein Lederband um den Hals, an demGlieder aus Zinn, Blei und Kupfer aufgereiht waren, und wie die meistenAkolythen schien er zu glauben, bei Novi- zen sitze anstelle des Kopfes eineRübe zwischen den Schultern. »Der Letzte ist während der Herrschaft von KönigAegon dem Dritten verendet.« »Der letzte Drache in Westeros«,widersprach Mollander. »Wirf den Apfel«, verlangte Alleras aufs Neue. IhreSphinx war ein schöner junger Mann. Alle Schankmädchen schwärmten für ihn.Sogar Rosey legte ihm manchmal die Hand auf den Arm, wenn sie ihm Wein brachte,und Pate tat dann stets zähneknirschend so, als bemerke er nichts. »Der letzteDrache in Westeros war der letzte Drache überhaupt «, beharrte Armen.»Das ist doch allseits bekannt.« »Der Apfel«, sagte Alleras. »Es seidenn, du willst ihn essen.« »Hier.« Mollander vollführte einen kleinen Hüpferund zog dabei seinen Klumpfuß hinter sich her, wirbelte herum und schleuderteden Apfel mit einer tief geführten Armbewegung in den Nebel, der über demHoneywine hing. Ohne diesen Fuß wäre er ein Ritter geworden, wie sein Vater. Inden dicken Armen und den breiten Schultern steckte jedenfalls ausreichendKraft. Schnell und weit flog der Apfel doch nicht so schnell wie der Pfeil,der hinterher zischte, ein schrittlanger Schaft aus goldenem Holz, der am Endescharlachrot befiedert war. Pate sah nicht, wie der Pfeil den Apfel traf, hörtees jedoch. Ein leises Plopp hallte über den Fluss zu ihnen herüber,darauf folgte ein Platschen. Mollander pfiff. »Du hast ihn glatt entkernt.Süß.« Nicht halb so süß wie Rosey. Pate liebte ihre braunen Augen undihre knospenden Brüste, er mochte die Art, wie sie ihn anlächelte, wann immersie ihn sah. Auch in ihre Grübchen war er verliebt. Manchmal lief sie beimServieren barfuß, um das Gras unter den Füßen zu spüren. Das gefiel ihmebenfalls. Er liebte ihren sauberen Geruch und ihre Haare, die sich hinter denOhren lockten. Sogar ihre Zehen hatten es ihm angetan. Einmal hatte sie ihmnachts erlaubt, ihr die Füße zu reiben, und er durfte sogar mit den Zehenspielen. Dabei hatte er sich für jede eine lustige Geschichte ausgedacht, damitRosey nur nicht aufhörte zu kichern. Vielleicht wäre es besser, auf dieserSeite der Meerenge zu bleiben. Er könnte mit seinen ersparten Münzen einen Eselkaufen, würde sich mit Rosey beim Reiten abwechseln und durch Westeros wandern.Ebrose glaubte vielleicht, Pate sei des Silbers nicht würdig, aber Pate konnteeinen Knochen richten oder einen Fieberkranken zur Ader lassen. Das gemeineVolk würde seine Hilfe schätzen. Wenn er dazu noch lernte, Haare zu schneidenund Bärte zu scheren, könnte er Barbier werden. Das würde mir genügen,sagte er sich, solange ich nur bei Rosey wäre. Rosey war alles auf derWelt, was er sich wünschte. Nicht immer war es so gewesen. Früher einmal hatteer davon geträumt, ein Maester auf einer Burg zu werden und für einengroßzügigen Lord tätig zu sein, der ihn für seine Weisheit achtete und ihm zumDank für seine Dienste ein wunderschönes weißes Pferd schenkte. Wie hoch zuRoss hätte er gesessen, wie nobel wäre er dahergeritten und hätte dem gemeinenVolk auf der Straße von oben zugelächelt Eines Abends hatte Pate im Schankraumvom Federkiel und Fässchen nach dem zweiten Krug dieses grässlich starkenApfelweins damit geprahlt, dass er nicht ewig ein Novize bleiben werde.»Gewiss, gewiss«, hatte der Faule Leo gerufen. »Später bist du ein ehemaligerNovize und hütest Schweine.« Er trank den letzten Schluck aus seinem Krug. DieFackeln auf der Terrasse des Federkiel und Fässchen bildeten eine Insel ausLicht in einem Meer aus Nebel. Weiter flussabwärts schwebte das ferneLeuchtfeuer des hohen Turms, des Hightower, in der Feuchtigkeit der Nacht wieein orangefarbener, dunstverhangener Mond, doch auch dieses Licht hellte PatesStimmung nicht auf. Der Alchimist hätte längst hier sein sollen. Hattesich der Mann lediglich einen bösen Scherz erlaubt, oder war ihm etwaszugestoßen? Es wäre nicht das erste Mal, dass sich das Schicksal für Pate zumSchlechten wendete. So hatte er sich zunächst glücklich geschätzt, als man ihnauswählte, dem alten Erzmaester Walgrave bei den Raben zu helfen, denn er hättesich niemals träumen lassen, dass er schon nach so kurzer Zeit dem alten Mannseine Mahlzeiten bringen, seine Gemächer kehren und ihn jeden Morgen anziehenwürde. Alle behaupteten, der Greis habe über die Rabenzucht mehr vergessen, alsdie meisten Maester je an Wissen anhäufen würden, daher war Pate der festenÜberzeugung gewesen, er dürfe zumindest auf ein schwarzes Eisenglied hoffen.Doch schließlich stellte sich heraus, dass Walgrave ihm keines verleihenkonnte. Der alte Mann hatte seinen Rang als Erzmaester allein aufgrund derHöflichkeit seiner Kollegen behalten. Was für ein großer Maester er einst auchgewesen sein mochte, jetzt verhüllte seine Robe ein ums andere Mal eingenässteUnterwäsche, und vor einem halben Jahr hatte ihn ein Akolyth weinend in derBibliothek entdeckt, weil er den Rückweg zu seinen Gemächern nicht mehr fand.Maester Gormon saß jetzt unter der eisernen Maske auf Walgraves Platz, genaujener Gormon, der Pate einst des Diebstahls bezichtigt hatte. Im Apfelbaum amWasser begann eine Nachtigall mit ihrem Gesang. Die lieblichen Laute boten einewillkommene Abwechslung zu dem rauen Krakeelen und dem endlosen Krächzen derRaben, um die er sich den ganzen Tag gekümmert hatte. Die weißen Raben kanntenseinen Namen und murmelten ihn einander zu, sobald sie den Jungen sahen, »Pate,Pate, Pate«, so lange, bis ihm nur noch nach Schreien zumute war. Dieweißen Vögel waren Erzmaester Walgraves ganzer Stolz. Nach seinem Tod wollte ervon ihnen gefressen werden, und Pate hegte den leisen Verdacht, dass sie auchdurchaus darauf erpicht waren, ihn zu verspeisen. Vielleicht lag es an diesemgrässlich starken Apfelwein - Pate war eigentlich gar nicht gekommen, um zutrinken, aber Alleras hatte zur Feier seines Kupferglieds eingeladen, und dasschlechte Gewissen hatte Pates Durst geweckt - dennoch klang es fast, alsträllerte die Nachtigall Gold für Eisen, Gold für Eisen, Gold für Eisen. Daswar überaus eigenartig, das Gleiche hatte der Fremde an jenem Abend gesagt, andem Rosey sie zusammengebracht hatte. »Wer seid Ihr?«, hatte Pate von ihmwissen wollen, und der Mann hatte geantwortet: »Ein Alchimist. Ich kann Eisenin Gold verwandeln.« Und dann hatte er plötzlich diese Münze in der Hand, ließsie zwischen den Fingern über die Knöchel tanzen, und das Gold glänzte imSchein der Kerzen. Auf einer Seite prangte der dreiköpfige Drache, auf deranderen der Kopf irgendeines toten Königs. Gold für Eisen, erinnertesich Pate, besser kannst du es gar nicht treffen. Begehrst du sie? Liebst dusie? »Ich bin kein Dieb«, hatte er dem Mann gesagt, der sich als Alchimistausgab, »ich bin ein Novize der Citadel.« Der Alchimist hatte den Kopf geneigt.»Falls du es dir anders überlegst, ich bin in drei Tagen mit meinem Drachenwieder hier.« Die drei Tage waren vergangen. Pate saß wieder im Federkiel undFässchen, immer noch unsicher, was er war, doch anstelle des Alchimisten hatteer Mollander und Armen und die Sphinx vorgefunden, und in ihrem SchlepptauRoone. Es hätte ihr Misstrauen erregt, wenn er sich nicht zu ihnen gesellthätte. Das Federkiel und Fässchen schloss niemals seine Pforten. Seitsechshundert Jahren stand es auf seiner Insel im Honeywine, und in dieser Zeit hattees kein einziges Mal zugemacht. Obwohl sich das hohe Holzgebäude nach Südenneigte, so wie Novizen manchmal nach einem Krug zu viel, ging Pate davon aus,dass das Gasthaus hier noch weitere sechshundert Jahre stehen und man Wein undBier und grässlich starken Apfelwein an Flussleute und Seeleute ausschenkenwürde, an Schmiede und Sänger, Priester und Prinzen und an die Novizen undAkolythen der Citadel. »Oldtown ist nicht die Welt«, verkündete Mollander mitzu lauter Stimme. Er war der Sohn eines Ritters und hätte betrunkener nichtsein können. Seit man ihm die Nachricht vom Tode seines Vaters am Blackwaterüberbracht hatte, betrank er sich fast jeden Abend. Sogar hier in Oldtown, weitentfernt von den Kämpfen und hinter den sicheren Mauern, hatte der Krieg derFünf Könige sie erreicht. wobei Erzmaester Benedict darauf beharrte, es habeniemals einen Krieg von fünf Königen gegeben, da Renly Baratheon ermordetworden sei, bevor Balon Greyjoy sich die Krone aufs Haupt gesetzt habe. (...)
© Blanvalet Verlag
Übersetzung: Andreas Helweg
- Autor: George R. R. Martin
- 2006, 569 Seiten, Maße: 13,6 x 20,8 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung:Helweg, Andreas
- Übersetzer: Andreas Helweg
- Verlag: Blanvalet
- ISBN-10: 3442243505
- ISBN-13: 9783442243501
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