Das Mädchen auf den Klippen
Roman. Deutsche Erstausgabe
Bildhauerin Grania Ryan zieht sich während einer Krise in ihre irische Heimat zurück. Bei einem Spaziergang an der Küste entdeckt sie ein Mädchen am Rande der Klippen. Besorgt spricht sie das Kind an. Und Grania ahnt nicht, dass...
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Produktinformationen zu „Das Mädchen auf den Klippen “
Bildhauerin Grania Ryan zieht sich während einer Krise in ihre irische Heimat zurück. Bei einem Spaziergang an der Küste entdeckt sie ein Mädchen am Rande der Klippen. Besorgt spricht sie das Kind an. Und Grania ahnt nicht, dass sie damit die Tür zu einer tragischen Familiengeschichte öffnet.
Lese-Probe zu „Das Mädchen auf den Klippen “
Das Mädchen auf den Klippen von Lucinda Riley... mehr
Aurora
Ich. Ich möchte eine Geschichte erzählen. Es heißt, der Anfang sei das Schwierigste. Meiner orientiert sich am ersten einprägsam einfachen Versuch meines Bruders in dieser Richtung.
Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal etwas zu Papier gebracht habe. Früher habe ich mich mit meinem Körper ausgedrückt. Da ich das nicht mehr kann, verlege ich mich aufs Schreiben.
Eine Veröffentlichung ist mir nicht wichtig. Ich denke an die Vergangenheit, weil mir nicht viel Zukunft bleibt. Ich finde meine Familienhistorie, die fast einhundert Jahre vor meiner Geburt begann, interessant. Wie die Lebensläufe aller Menschen, in denen gute wie schlechte Figuren vorkommen und die fast immer etwas Magisches haben. Ich bin nach einer Prinzessin in einem Märchen benannt. Vielleicht glaube ich deshalb an Magie. Märchen sind Allegorien für den großen Tanz des Lebens, der im Moment der Geburt anfängt. Und aus dem es bis zum Tag unseres Todes kein Entrinnen gibt. Da viele Akteure meiner Geschichte schon vor meiner Zeit starben, muss ich sie durch meine Fantasie zum Leben erwecken.
Durch die zwei Generationen umfassende Erzählung zieht sich ein roter Faden. - Die Liebe und die Entscheidungen, die wir ihretwegen treffen.
Nicht nur die Liebe zwischen Mann und Frau, sondern auch andere genauso intensive Formen, zum Beispiel die der Eltern zu ihren Kindern. Oder die zwanghafte, zerstörerische, Unheil anrichtende. Außerdem wird auf den folgenden Seiten viel Tee getrunken - aber ich schweife ab. Menschen, die sich alt fühlen, tun das gern. Ich werde mich zu Wort melden, wann immer ich genauere Erklärungen für nötig halte. Um die Sache komplizierter zu machen, beginne ich zu einem ziemlich späten Zeitpunkt der Geschichte. Ich war damals acht Jahre alt und Halbwaise und stand auf einer Klippe über meinem Lieblingsort Dunworley Bay. Es war einmal ...
1
Dunworley Bay, West Cork, Irland Die Gestalt stand gefährlich nahe am Rand der Klippe. Der Wind blies ihr üppig langes rotes Haar hoch. Das dünne weiße Baumwollkleid reichte bis zu den Knöcheln; darunter kamen nackte Füße zum Vorschein. Sie hielt die Arme, die Handflächen nach oben, über den sich brechenden Wellen der grauen See ausgestreckt, als wollte sie sich den Elementen als Opfergabe darbieten. Grania Ryan beobachtete sie fasziniert und unsicher, ob sie real war. Sie schloss die Augen kurz, machte sie wieder auf und sah, dass sie nach wie vor dort stand. Grania ging einige Schritte auf sie zu. Als sie näher kam, merkte Grania, dass es sich bei der Gestalt um ein Kind und bei dem weißen Baumwollkleid um ein Nachthemd handelte. Über dem Meer ballten sich schwarze Sturmwolken zusammen, die ersten Regentropfen landeten auf ihren Wangen, und der Wind heulte ihr um die Ohren. Aus etwa zehn Metern Entfernung erkannte Grania, wie sich die blau gefrorenen Zehen der Kleinen am Fels festkrallten und Böen den schmalen Körper ins Wanken brachten. Wenn sie sie packte und erschreckte, konnte ein falscher Schritt zu einer Tragödie, zum sicheren Tod des Mädchens auf den gischtbedeckten Felsen dreißig Meter unter ihnen führen.
Grania überlegte verzweifelt, was zu tun sei. Bevor sie zu einer Entscheidung gelangen konnte, drehte sich die Kleine um und sah sie mit leerem Blick an. Grania streckte instinktiv die Arme aus. »Ich tu dir nichts. Komm zu mir.« Das Mädchen starrte sie weiter unverwandt an. »Wenn du mir sagst, wo du wohnst, bringe ich dich nach Hause. Hier draußen holst du dir den Tod. Bitte lass dir helfen «, flehte Grania sie an. Als sie einen Schritt auf das Kind zumachte, trat ein Ausdruck der Angst auf das Gesicht der Kleinen, als wäre sie aus einem Traum erwacht, und sie rannte von Grania weg, immer die Klippen entlang, bis sie außer Sichtweite war. »Ich wollte grade eine Suchmannschaft losschicken. Übler Sturm da draußen.« »Mam, ich bin einunddreißig Jahre alt und habe die letzten zehn in Manhattan gelebt«, erwiderte Grania, als sie die Küche betrat und ihre nasse Jacke vor den Rayburn-Herd hängte. »Um mich brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Ich bin ein großes Mädchen.« Sie gab ihrer Mutter, die den Tisch fürs Abendessen deckte, einen Kuss auf die Wange. »Wirklich.«
»Mag sein, aber solche Stürme haben schon starke Männer von den Klippen geweht.« Kathleen Ryan deutete zum Küchenfenster hinaus, gegen das die Äste des blütenlosen Glyzinien buschs peitschten. »Ich hab grade Tee gekocht.« Kath leen wischte sich die Hände an der Schürze ab und ging zum Herd. »Möchtest du eine Tasse?« »Gern, Mam. Setz dich hin und lass mich das machen, ja?« Grania drückte ihre Mutter sanft auf einen Küchenstuhl. »Bloß fünf Minuten. Um sechs kommen die Jungs heim und wollen ihren Tee.« Als Grania das starke Gebräu in zwei Tassen goss, runzelte sie die Stirn. In den zehn Jahren ihrer Abwesenheit hatte sich nichts verändert - Kathleen verwöhnte ihre Männer wie eh und je und ordnete ihre eigenen Bedürfnisse den ihren unter. Der Kontrast zwischen dem Leben ihrer Mutter und dem Granias, in dem Emanzipation und Gleichberechtigung elbstverständlich waren, verunsicherte Grania. Sie fragte sich, wer von ihnen beiden, Mutter oder Tochter, im Augenblick glücklicher war. Seufzend gab Grania Milch in Kathleens Tee. Die Antwort kannte sie.
»Möchtest du einen Keks?«, erkundigte sich Grania, stellte die Dose vor Kathleen und öffnete sie. Wie üblich war sie bis zum Rand voll. Granias figurbewusste New Yorker Zeitgenossinnen hätten diese Kekse, die Grania an ihre Kindheit erinnerten, sicher entsetzt beäugt. Kathleen nahm zwei und sagte: »Gönn dir doch auch einen, damit ich nicht allein bin. Du isst wie ein Spatz.« Grania nahm ebenfalls einen Keks und knabberte daran. Sie hatte das Gefühl, seit ihrer Heimkehr zehn Tage zuvor ständig zu essen. »Der Spaziergang hat dich ein bisschen durchgelüftet, was?«, erkundigte sich Kathleen, die bereits beim dritten Keks war. »Ich geh beim Nachdenken gern spazieren. Wenn ich wieder daheim bin, weiß ich meistens die Lösung meiner Probleme.« »Ich hab da draußen etwas Merkwürdiges gesehen.« Grania trank einen Schluck Tee. »Ein kleines Mädchen, vielleicht acht oder neun Jahre alt, mit wunderschönen langen roten Haaren, im Nachthemd am Rand der Klippe. Ich hatte den Eindruck, dass die Kleine schlafwandelt. Als sie sich zu mir umgedreht hat, war ihr Blick ...«, Grania suchte nach dem richtigen Wort, »... ausdruckslos. Als würde sie mich nicht wahrnehmen. Sie ist aufgewacht und wie ein erschrecktes Kaninchen den Klippenpfad entlanggerannt. Weißt du, wer das gewesen sein könnte?« Kathleen wurde blass. »Alles in Ordnung, Mam?« »Du hast sie gerade eben gesehen?« »Ja.« »Maria, Mutter Gottes.« Kathleen bekreuzigte sich. »Sie sind also wieder da.«
»Wer ist ›wieder da‹, Mam?«, fragte Grania. »Warum sind sie zurückgekommen?« Kathleen blickte durchs Fenster in die Nacht hinaus. »Warum nur? Ich dachte, sie wären endlich weg.« Kathleen ergriff Granias Hand. »Bist du dir sicher, dass das ein kleines Mädchen war, keine erwachsene Frau?«
»Ja, Mam. Ungefähr acht oder neun Jahre alt. Ich habe mir Sorgen gemacht. Die Kleine hatte keine Schuhe an; ihre Füße waren blau gefroren. Ich dachte zuerst, ich hätte einen Geist vor mir.«
»Da liegst du vielleicht gar nicht so falsch, Grania«, murmelte Kathleen. »Sie sind noch nicht lange wieder da. Ich bin letzten Freitag nach zehn abends an ihrem Haus vorbeigekommen und habe kein Licht gesehen.« »Welches Haus ist es?« »Dunworley House.«
»Das große verlassene Gebäude auf der Klippe?«, fragte Grania. »Das steht doch seit Jahren leer, oder?« »In deiner Kindheit, ja ...« Kathleen seufzte. »Während deiner Zeit in New York sind sie zurückgekommen und nach dem ... Unfall verschwunden. Niemand hätte gedacht, dass sie wieder hier auftauchen würden. Ehrlich gesagt, waren wir ganz froh darüber. Ihre und unsere Familie verbindet eine lange Geschichte. Aber«, Kathleen schlug mit der flachen Hand auf den Tisch und machte Anstalten aufzustehen, »vorbei ist vorbei. Ich würde dir raten, dich von ihnen fernzuhalten. Sie bringen uns nur Schwierigkeiten.« Kathleen trat an den Herd, um den schweren Topf mit dem Abendessen aus dem Ofen zu holen. »Wenn das Kind, das ich beobachtet habe, eine Mutter hat, sollte die doch erfahren, in was für einer gefährlichen Situation sich ihre Tochter heute befand, oder?«, meinte Grania. »Die Kleine hat keine Mutter.« Kathleen rührte mit einem Holzlöffel in dem Eintopf. »Sie ist tot?« »Ja.« »Verstehe ... Und wer kümmert sich um das arme Kind?« »Frag mich nicht.« Kathleen zuckte mit den Achseln. »Die Leute sind mir egal; sie interessieren mich nicht.«
Grania runzelte die Stirn. Diese Reaktion war völlig untypisch für Kathleen, deren großes Herz für alle notleidenden Wesen, besonders Kinder, schlug. »Wie ist ihre Mutter gestorben?« Kathleen hörte auf zu rühren; es herrschte Stille. Erst nach einer ganzen Weile drehte sie sich seufzend zu ihrer Tochter um. »Wenn ich es dir nicht erzähle, erfährst du's von jemand anders. Sie hat sich das Leben genommen.« »Selbstmord?« »Ja, so nennt man das wohl.« »Wie lange ist das her?« »Vier Jahre. Sie hat sich von der Klippe gestürzt. Ihre Leiche wurde zwei Tage später bei Inchydoney angeschwemmt.« Grania blieb einige Sekunden lang stumm, bevor sie sich erkundigte: »Wo genau ist sie gesprungen?«
»Ich vermute an der Stelle, an der du heute ihrer Tochter begegnet bist. Wahrscheinlich hat Aurora nach ihrer Mutter gesucht.« »Du kennst ihren Namen?« »Klar. Der ist kein Geheimnis. Früher hat den Lisles alles hier gehört, ganz Dunworley, dieses Haus eingeschlossen. Sie waren die Herren der Gegend. In den Sechzigern haben sie den Grund verkauft und nur das Gebäude auf der Klippe behalten. « »Der Name kommt mir bekannt vor ... Lisle...« »Der örtliche Friedhof ist voll mit ihren Gräbern.« »Du hast das Mädchen - Aurora - schon mal auf der Klippe beobachtet?«
»Deswegen hat ihr Daddy sie weggebracht. Nach dem Tod ihrer Mutter ist Aurora immer die Klippen entlanggelaufen und hat, halb wahnsinnig vor Kummer, nach ihr gerufen.« Grania fiel auf, dass die Miene ihrer Mutter sanfter wurde. »Arme Kleine«, sagte sie mit leiser Stimme. »Ja, ein solches Schicksal hat sie nicht verdient. Aber der Familie haftet etwas Düsteres an. Hör auf mich, Grania, und lass die Finger von diesen Leuten.« »Warum sie wohl zurückgekommen sind?«, murmelte Grania.
»Die Lisles machen, was sie wollen. Ich weiß es nicht, und es ist mir auch egal. Würdest du mir jetzt bitte helfen, den Tisch zu decken?«
Grania ging wie an jedem Abend seit ihrer Ankunft kurz nach zehn in ihr Zimmer. Währenddessen deckte ihre Mutter unten den Tisch fürs Frühstück, ihr Vater döste in einem Sessel vor dem Fernseher, und ihr Bruder Shane war im örtlichen Pub. Er bewirtschaftete mit seinem Vater die zweihundert-Hektar- Farm, hauptsächlich mit Milchkühen und Schafen. Trotz seiner neunundzwanzig Jahre schien »der Junge«, wie Shane immer noch liebevoll genannt wurde, keinen eigenen Haushalt gründen zu wollen. Frauen kamen und gingen in seinem Leben, doch kaum eine fand den Weg über die Schwelle seines Elternhauses. Obwohl Kathleen die Stirn darüber runzelte, wusste Grania, dass sie ohne ihren Sohn verloren gewesen wäre.
Grania lauschte vom Bett aus auf den Regen, der gegen die Fensterscheiben prasselte, und hoffte, dass die arme Aurora Lisle im warmen, sicheren Haus ihres Vaters war. Sie blätterte gähnend in einem Buch. Vielleicht machte die frische Luft hier sie müde; in New York schlief sie selten vor Mitternacht. Grania konnte sich an kaum einen Abend ihrer Kindheit erinnern, an dem ihre Mutter nicht zu Hause gewesen wäre. Wenn sie tatsächlich einmal beschloss, über Nacht wegzubleiben, weil sie sich um einen kranken Verwandten kümmern musste, plante sie ihre Abwesenheit generalstabsmäßig. Und Granias Vater hatte ihres Wissens keinen einzigen Abend seiner vierunddreißig Ehejahre außer Haus verbracht. Er stand jeden Morgen um halb sechs zum Melken auf und kam erst bei Einbruch der Dunkelheit wieder heim. Die beiden wussten immer genau, wo der andere sich gerade aufhielt. Ihre Leben waren untrennbar miteinander verbunden, nicht zuletzt durch die Kinder. Als Grania und Matt acht Jahre zuvor zusammengezogen waren, hatten sie fest damit gerechnet, eines Tages Kinder zu bekommen. Trotzdem hatten sie wie alle modernen Paare das Dasein genossen und Karriere gemacht.
Eines Morgens war Grania aufgewacht und in Jogginghose und Kapuzenshirt geschlüpft, um den Hudson entlang zum Battery Park zu laufen und sich an den Winter Gardens eine Latte und einen Bagel zu genehmigen. Dort war es passiert: Sie hatte in den Kinderwagen beim Nachbartisch geschaut und plötzlich das überwältigende Bedürfnis verspürt, das winzige Wesen aus dem Wagen zu holen und an ihre Brust zu drücken. Die Mutter hatte ihren Blick mit einem nervösen Lächeln quittiert und war aufgestanden und gegangen, während Grania, bestürzt über die Emotionen, die der Säugling in ihr auslöste, nach Hause joggte.
In der Erwartung, dass diese Gefühle sich verflüchtigen würden, hatte sie den Tag in ihrem Atelier verbracht und aus braunem Ton eine Figur geformt, eine Auftragsarbeit - ohne die Emotionen loszuwerden. Um sechs hatte sie das Atelier verlassen, sich für die Vernissage am Abend umgezogen, sich ein Glas Wein eingeschenkt und war an das Fenster getreten, das auf die funkelnden Lichter von New Jersey auf der anderen Seite des Hudson River ging. »Ich will ein Kind.«
Grania hatte einen großen Schluck Wein genommen und es noch einmal ausgesprochen, um sicher zu sein. Die Worte hatten nach wie vor richtig geklungen und ganz natürlich, als hätten der Gedanke und das Bedürfnis schon seit Ewigkeiten in ihr geschlummert.
Dann war Grania zu der Vernissage gegangen und hatte Small Talk mit den üblichen Künstlern und Sammlern gemacht, während sie über die praktischen Aspekte ihrer Entscheidung nachdachte. Würden sie umziehen müssen? Vermutlich nicht gleich - ihr Loft in TriBeCa war geräumig, und Matts Arbeitsraum ließ sich ohne Weiteres in ein Kinderzimmer verwandeln. Er nutzte ihn ohnehin nur selten und saß lieber mit seinem Laptop im Wohnbereich. Das Loft befand sich im dritten Stock; der Lastenaufzug war groß genug für einen Kinderwagen, und der Battery Park mit seinem gut ausgestatteten Spielplatz befand sich gleich in der Nähe. Grania hatte ihr Atelier ebenfalls zu Hause, so dass sie, selbst wenn sie ein Kindermädchen einstellen müssten, im Bedarfsfall immer schnell zur Stelle wäre. Später hatte Grania sich in das große leere Bett gelegt und frustriert geseufzt, weil sie Matt, der beruflich unterwegs war und erst in ein paar Tagen zurückkommen würde, ihre Pläne noch nicht mitteilen konnte. So etwas ließ sich nicht am Telefon verkünden. Matt war bei seiner Rückkehr genauso begeistert über die Idee gewesen wie sie, und sie hatten sich sofort an die Verwirklichung des Plans gemacht. Das Kind würde ihre Beziehung zementieren wie die von Granias Eltern und aus ihnen eine richtige Familie machen. Grania lauschte von ihrem schmalen Kinderbett aus auf den Wind, der um die Steinmauern des Farmhauses heulte, griff nach einem Papiertaschentuch und schnäuzte sich. Das war ein Jahr zuvor gewesen. Leider hatte sich herausgestellt, dass das Projekt ihre Beziehung nicht zementierte, sondern zerstörte.
2
Als Grania am nächsten Morgen aufwachte, hatte sich der Sturm verzogen, und die Sonne, im Winter ein seltener Gast, erhellte die sich schier endlos erstreckenden grünen Felder mit den weißen, wolligen Schafen. Grania wusste, dass dieses Wetter nicht lange anhalten würde; in West Cork ähnelte die Sonne einer launischen Diva. Da Grania des unaufhörlichen Regens in den vergangenen zehn Tagen wegen nicht wie sonst hatte joggen können, sprang sie aus dem Bett und holte ihr Kapuzenshirt, die Leggings und die Laufschuhe aus dem Koffer. »Du bist ziemlich früh auf heute Morgen«, bemerkte ihre Mutter, als Grania in die Küche kam. »Haferbrei?« »Wenn ich zurück bin. Ich geh joggen.« »Überanstreng dich nicht. Du siehst blass aus.« »Ich hoffe, dass ich beim Laufen ein bisschen Farbe kriege, Mam.« Grania verkniff sich ein Lächeln. »Bis später.« »Verkühl dich nicht, ja?«, rief Kathleen ihrer Tochter nach. Bei Granias Heimkehr war Kathleen schockiert gewesen. In den drei Jahren, die sie ihre hübsche, lebenslustige Tochter mit der rosigen Haut, den blonden Locken und den türkisblauen Augen nicht zu Gesicht bekommen hatte, schien sie ihre Vita lität verloren zu haben. Zu ihrem Mann John hatte Kathleen gesagt, Grania erinnere sie an ein leuchtend rosafarbenes Hemd, das in der dunklen Wäsche gelandet und grau eingefärbt worden war. Kathleen kannte den Grund, weil Grania ihr alles am Telefon erzählt und sie gefragt hatte, ob sie eine Weile nach Hause kommen könne. Natürlich hatte Kathleen Ja gesagt, da sie sich über diese unerwartete Gelegenheit, Zeit mit ihrer Tochter zu verbringen, freute. Allerdings begriff sie Granias Motive nicht - ihrer Ansicht nach war dies eine Zeit, in der sie und ihr Partner einander im Kummer beistehen sollten. Matt rief jeden Abend an, doch Grania weigerte sich beharrlich, mit ihm zu sprechen. Kathleen hatte immer eine Schwäche für ihn gehabt. Mit seinem guten Aussehen, dem leichten Connecticut-Akzent und den untadeligen Manieren erinnerte er sie an die Filmstars ihrer Mädchenzeit. Sie verglich Matt gern mit dem jungen Robert Redford. Warum Grania ihn nicht längst geheiratet hatte, war ihr ein Rätsel. Und nun stand ihre störrische Tochter kurz davor, ihn zu verlieren. Viel wusste Kathleen nicht über die Welt, aber mit dem männlichen Ego kannte sie sich aus. Männer waren anders gestrickt als Frauen - sie besaßen nicht deren Fähigkeit, Zurückweisungen hinzunehmen -, weswegen Matt mit Sicherheit über kurz oder lang aufhören würde, jeden Abend anzurufen. Seufzend räumte sie die Frühstücksteller weg und stellte sie in die Spüle. Grania war die einzige Ryan, die sich in die weite Welt hinausgewagt und ihre Familie, besonders ihre Mutter, stolz gemacht hatte. Das Kind, nach dem die Verwandten sich, fasziniert von den Zeitungsausschnitten anlässlich ihrer Ausstellungen in New York, erkundigten ... Es in Amerika zu schaffen war nach wie vor der irische Traum. Kathleen trocknete Geschirr und Besteck ab und verstaute alles in der Anrichte. Natürlich hatte niemand das perfekte Leben, das wusste Kathleen. Sie war immer davon ausgegangen, dass Grania sich nicht nach dem Getrippel kleiner Füße im Haus sehnte, und hatte das akzeptiert. Hatte sie nicht einen wohlgeratenen, kräftigen Sohn, der ihr eines Tages Enkel schenken würde? Doch offenbar hatte Kathleen sich getäuscht. Grania führte zwar ein interessantes Leben dort, wo sich für Kathleen der Nabel der Welt befand, aber die Kinder fehlten. Bis sie kamen, würde ihre Tochter nicht glücklich werden.
Übersetzung: Sonja Hauser
Riley All rights reserved. Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Aurora
Ich. Ich möchte eine Geschichte erzählen. Es heißt, der Anfang sei das Schwierigste. Meiner orientiert sich am ersten einprägsam einfachen Versuch meines Bruders in dieser Richtung.
Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal etwas zu Papier gebracht habe. Früher habe ich mich mit meinem Körper ausgedrückt. Da ich das nicht mehr kann, verlege ich mich aufs Schreiben.
Eine Veröffentlichung ist mir nicht wichtig. Ich denke an die Vergangenheit, weil mir nicht viel Zukunft bleibt. Ich finde meine Familienhistorie, die fast einhundert Jahre vor meiner Geburt begann, interessant. Wie die Lebensläufe aller Menschen, in denen gute wie schlechte Figuren vorkommen und die fast immer etwas Magisches haben. Ich bin nach einer Prinzessin in einem Märchen benannt. Vielleicht glaube ich deshalb an Magie. Märchen sind Allegorien für den großen Tanz des Lebens, der im Moment der Geburt anfängt. Und aus dem es bis zum Tag unseres Todes kein Entrinnen gibt. Da viele Akteure meiner Geschichte schon vor meiner Zeit starben, muss ich sie durch meine Fantasie zum Leben erwecken.
Durch die zwei Generationen umfassende Erzählung zieht sich ein roter Faden. - Die Liebe und die Entscheidungen, die wir ihretwegen treffen.
Nicht nur die Liebe zwischen Mann und Frau, sondern auch andere genauso intensive Formen, zum Beispiel die der Eltern zu ihren Kindern. Oder die zwanghafte, zerstörerische, Unheil anrichtende. Außerdem wird auf den folgenden Seiten viel Tee getrunken - aber ich schweife ab. Menschen, die sich alt fühlen, tun das gern. Ich werde mich zu Wort melden, wann immer ich genauere Erklärungen für nötig halte. Um die Sache komplizierter zu machen, beginne ich zu einem ziemlich späten Zeitpunkt der Geschichte. Ich war damals acht Jahre alt und Halbwaise und stand auf einer Klippe über meinem Lieblingsort Dunworley Bay. Es war einmal ...
1
Dunworley Bay, West Cork, Irland Die Gestalt stand gefährlich nahe am Rand der Klippe. Der Wind blies ihr üppig langes rotes Haar hoch. Das dünne weiße Baumwollkleid reichte bis zu den Knöcheln; darunter kamen nackte Füße zum Vorschein. Sie hielt die Arme, die Handflächen nach oben, über den sich brechenden Wellen der grauen See ausgestreckt, als wollte sie sich den Elementen als Opfergabe darbieten. Grania Ryan beobachtete sie fasziniert und unsicher, ob sie real war. Sie schloss die Augen kurz, machte sie wieder auf und sah, dass sie nach wie vor dort stand. Grania ging einige Schritte auf sie zu. Als sie näher kam, merkte Grania, dass es sich bei der Gestalt um ein Kind und bei dem weißen Baumwollkleid um ein Nachthemd handelte. Über dem Meer ballten sich schwarze Sturmwolken zusammen, die ersten Regentropfen landeten auf ihren Wangen, und der Wind heulte ihr um die Ohren. Aus etwa zehn Metern Entfernung erkannte Grania, wie sich die blau gefrorenen Zehen der Kleinen am Fels festkrallten und Böen den schmalen Körper ins Wanken brachten. Wenn sie sie packte und erschreckte, konnte ein falscher Schritt zu einer Tragödie, zum sicheren Tod des Mädchens auf den gischtbedeckten Felsen dreißig Meter unter ihnen führen.
Grania überlegte verzweifelt, was zu tun sei. Bevor sie zu einer Entscheidung gelangen konnte, drehte sich die Kleine um und sah sie mit leerem Blick an. Grania streckte instinktiv die Arme aus. »Ich tu dir nichts. Komm zu mir.« Das Mädchen starrte sie weiter unverwandt an. »Wenn du mir sagst, wo du wohnst, bringe ich dich nach Hause. Hier draußen holst du dir den Tod. Bitte lass dir helfen «, flehte Grania sie an. Als sie einen Schritt auf das Kind zumachte, trat ein Ausdruck der Angst auf das Gesicht der Kleinen, als wäre sie aus einem Traum erwacht, und sie rannte von Grania weg, immer die Klippen entlang, bis sie außer Sichtweite war. »Ich wollte grade eine Suchmannschaft losschicken. Übler Sturm da draußen.« »Mam, ich bin einunddreißig Jahre alt und habe die letzten zehn in Manhattan gelebt«, erwiderte Grania, als sie die Küche betrat und ihre nasse Jacke vor den Rayburn-Herd hängte. »Um mich brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Ich bin ein großes Mädchen.« Sie gab ihrer Mutter, die den Tisch fürs Abendessen deckte, einen Kuss auf die Wange. »Wirklich.«
»Mag sein, aber solche Stürme haben schon starke Männer von den Klippen geweht.« Kathleen Ryan deutete zum Küchenfenster hinaus, gegen das die Äste des blütenlosen Glyzinien buschs peitschten. »Ich hab grade Tee gekocht.« Kath leen wischte sich die Hände an der Schürze ab und ging zum Herd. »Möchtest du eine Tasse?« »Gern, Mam. Setz dich hin und lass mich das machen, ja?« Grania drückte ihre Mutter sanft auf einen Küchenstuhl. »Bloß fünf Minuten. Um sechs kommen die Jungs heim und wollen ihren Tee.« Als Grania das starke Gebräu in zwei Tassen goss, runzelte sie die Stirn. In den zehn Jahren ihrer Abwesenheit hatte sich nichts verändert - Kathleen verwöhnte ihre Männer wie eh und je und ordnete ihre eigenen Bedürfnisse den ihren unter. Der Kontrast zwischen dem Leben ihrer Mutter und dem Granias, in dem Emanzipation und Gleichberechtigung elbstverständlich waren, verunsicherte Grania. Sie fragte sich, wer von ihnen beiden, Mutter oder Tochter, im Augenblick glücklicher war. Seufzend gab Grania Milch in Kathleens Tee. Die Antwort kannte sie.
»Möchtest du einen Keks?«, erkundigte sich Grania, stellte die Dose vor Kathleen und öffnete sie. Wie üblich war sie bis zum Rand voll. Granias figurbewusste New Yorker Zeitgenossinnen hätten diese Kekse, die Grania an ihre Kindheit erinnerten, sicher entsetzt beäugt. Kathleen nahm zwei und sagte: »Gönn dir doch auch einen, damit ich nicht allein bin. Du isst wie ein Spatz.« Grania nahm ebenfalls einen Keks und knabberte daran. Sie hatte das Gefühl, seit ihrer Heimkehr zehn Tage zuvor ständig zu essen. »Der Spaziergang hat dich ein bisschen durchgelüftet, was?«, erkundigte sich Kathleen, die bereits beim dritten Keks war. »Ich geh beim Nachdenken gern spazieren. Wenn ich wieder daheim bin, weiß ich meistens die Lösung meiner Probleme.« »Ich hab da draußen etwas Merkwürdiges gesehen.« Grania trank einen Schluck Tee. »Ein kleines Mädchen, vielleicht acht oder neun Jahre alt, mit wunderschönen langen roten Haaren, im Nachthemd am Rand der Klippe. Ich hatte den Eindruck, dass die Kleine schlafwandelt. Als sie sich zu mir umgedreht hat, war ihr Blick ...«, Grania suchte nach dem richtigen Wort, »... ausdruckslos. Als würde sie mich nicht wahrnehmen. Sie ist aufgewacht und wie ein erschrecktes Kaninchen den Klippenpfad entlanggerannt. Weißt du, wer das gewesen sein könnte?« Kathleen wurde blass. »Alles in Ordnung, Mam?« »Du hast sie gerade eben gesehen?« »Ja.« »Maria, Mutter Gottes.« Kathleen bekreuzigte sich. »Sie sind also wieder da.«
»Wer ist ›wieder da‹, Mam?«, fragte Grania. »Warum sind sie zurückgekommen?« Kathleen blickte durchs Fenster in die Nacht hinaus. »Warum nur? Ich dachte, sie wären endlich weg.« Kathleen ergriff Granias Hand. »Bist du dir sicher, dass das ein kleines Mädchen war, keine erwachsene Frau?«
»Ja, Mam. Ungefähr acht oder neun Jahre alt. Ich habe mir Sorgen gemacht. Die Kleine hatte keine Schuhe an; ihre Füße waren blau gefroren. Ich dachte zuerst, ich hätte einen Geist vor mir.«
»Da liegst du vielleicht gar nicht so falsch, Grania«, murmelte Kathleen. »Sie sind noch nicht lange wieder da. Ich bin letzten Freitag nach zehn abends an ihrem Haus vorbeigekommen und habe kein Licht gesehen.« »Welches Haus ist es?« »Dunworley House.«
»Das große verlassene Gebäude auf der Klippe?«, fragte Grania. »Das steht doch seit Jahren leer, oder?« »In deiner Kindheit, ja ...« Kathleen seufzte. »Während deiner Zeit in New York sind sie zurückgekommen und nach dem ... Unfall verschwunden. Niemand hätte gedacht, dass sie wieder hier auftauchen würden. Ehrlich gesagt, waren wir ganz froh darüber. Ihre und unsere Familie verbindet eine lange Geschichte. Aber«, Kathleen schlug mit der flachen Hand auf den Tisch und machte Anstalten aufzustehen, »vorbei ist vorbei. Ich würde dir raten, dich von ihnen fernzuhalten. Sie bringen uns nur Schwierigkeiten.« Kathleen trat an den Herd, um den schweren Topf mit dem Abendessen aus dem Ofen zu holen. »Wenn das Kind, das ich beobachtet habe, eine Mutter hat, sollte die doch erfahren, in was für einer gefährlichen Situation sich ihre Tochter heute befand, oder?«, meinte Grania. »Die Kleine hat keine Mutter.« Kathleen rührte mit einem Holzlöffel in dem Eintopf. »Sie ist tot?« »Ja.« »Verstehe ... Und wer kümmert sich um das arme Kind?« »Frag mich nicht.« Kathleen zuckte mit den Achseln. »Die Leute sind mir egal; sie interessieren mich nicht.«
Grania runzelte die Stirn. Diese Reaktion war völlig untypisch für Kathleen, deren großes Herz für alle notleidenden Wesen, besonders Kinder, schlug. »Wie ist ihre Mutter gestorben?« Kathleen hörte auf zu rühren; es herrschte Stille. Erst nach einer ganzen Weile drehte sie sich seufzend zu ihrer Tochter um. »Wenn ich es dir nicht erzähle, erfährst du's von jemand anders. Sie hat sich das Leben genommen.« »Selbstmord?« »Ja, so nennt man das wohl.« »Wie lange ist das her?« »Vier Jahre. Sie hat sich von der Klippe gestürzt. Ihre Leiche wurde zwei Tage später bei Inchydoney angeschwemmt.« Grania blieb einige Sekunden lang stumm, bevor sie sich erkundigte: »Wo genau ist sie gesprungen?«
»Ich vermute an der Stelle, an der du heute ihrer Tochter begegnet bist. Wahrscheinlich hat Aurora nach ihrer Mutter gesucht.« »Du kennst ihren Namen?« »Klar. Der ist kein Geheimnis. Früher hat den Lisles alles hier gehört, ganz Dunworley, dieses Haus eingeschlossen. Sie waren die Herren der Gegend. In den Sechzigern haben sie den Grund verkauft und nur das Gebäude auf der Klippe behalten. « »Der Name kommt mir bekannt vor ... Lisle...« »Der örtliche Friedhof ist voll mit ihren Gräbern.« »Du hast das Mädchen - Aurora - schon mal auf der Klippe beobachtet?«
»Deswegen hat ihr Daddy sie weggebracht. Nach dem Tod ihrer Mutter ist Aurora immer die Klippen entlanggelaufen und hat, halb wahnsinnig vor Kummer, nach ihr gerufen.« Grania fiel auf, dass die Miene ihrer Mutter sanfter wurde. »Arme Kleine«, sagte sie mit leiser Stimme. »Ja, ein solches Schicksal hat sie nicht verdient. Aber der Familie haftet etwas Düsteres an. Hör auf mich, Grania, und lass die Finger von diesen Leuten.« »Warum sie wohl zurückgekommen sind?«, murmelte Grania.
»Die Lisles machen, was sie wollen. Ich weiß es nicht, und es ist mir auch egal. Würdest du mir jetzt bitte helfen, den Tisch zu decken?«
Grania ging wie an jedem Abend seit ihrer Ankunft kurz nach zehn in ihr Zimmer. Währenddessen deckte ihre Mutter unten den Tisch fürs Frühstück, ihr Vater döste in einem Sessel vor dem Fernseher, und ihr Bruder Shane war im örtlichen Pub. Er bewirtschaftete mit seinem Vater die zweihundert-Hektar- Farm, hauptsächlich mit Milchkühen und Schafen. Trotz seiner neunundzwanzig Jahre schien »der Junge«, wie Shane immer noch liebevoll genannt wurde, keinen eigenen Haushalt gründen zu wollen. Frauen kamen und gingen in seinem Leben, doch kaum eine fand den Weg über die Schwelle seines Elternhauses. Obwohl Kathleen die Stirn darüber runzelte, wusste Grania, dass sie ohne ihren Sohn verloren gewesen wäre.
Grania lauschte vom Bett aus auf den Regen, der gegen die Fensterscheiben prasselte, und hoffte, dass die arme Aurora Lisle im warmen, sicheren Haus ihres Vaters war. Sie blätterte gähnend in einem Buch. Vielleicht machte die frische Luft hier sie müde; in New York schlief sie selten vor Mitternacht. Grania konnte sich an kaum einen Abend ihrer Kindheit erinnern, an dem ihre Mutter nicht zu Hause gewesen wäre. Wenn sie tatsächlich einmal beschloss, über Nacht wegzubleiben, weil sie sich um einen kranken Verwandten kümmern musste, plante sie ihre Abwesenheit generalstabsmäßig. Und Granias Vater hatte ihres Wissens keinen einzigen Abend seiner vierunddreißig Ehejahre außer Haus verbracht. Er stand jeden Morgen um halb sechs zum Melken auf und kam erst bei Einbruch der Dunkelheit wieder heim. Die beiden wussten immer genau, wo der andere sich gerade aufhielt. Ihre Leben waren untrennbar miteinander verbunden, nicht zuletzt durch die Kinder. Als Grania und Matt acht Jahre zuvor zusammengezogen waren, hatten sie fest damit gerechnet, eines Tages Kinder zu bekommen. Trotzdem hatten sie wie alle modernen Paare das Dasein genossen und Karriere gemacht.
Eines Morgens war Grania aufgewacht und in Jogginghose und Kapuzenshirt geschlüpft, um den Hudson entlang zum Battery Park zu laufen und sich an den Winter Gardens eine Latte und einen Bagel zu genehmigen. Dort war es passiert: Sie hatte in den Kinderwagen beim Nachbartisch geschaut und plötzlich das überwältigende Bedürfnis verspürt, das winzige Wesen aus dem Wagen zu holen und an ihre Brust zu drücken. Die Mutter hatte ihren Blick mit einem nervösen Lächeln quittiert und war aufgestanden und gegangen, während Grania, bestürzt über die Emotionen, die der Säugling in ihr auslöste, nach Hause joggte.
In der Erwartung, dass diese Gefühle sich verflüchtigen würden, hatte sie den Tag in ihrem Atelier verbracht und aus braunem Ton eine Figur geformt, eine Auftragsarbeit - ohne die Emotionen loszuwerden. Um sechs hatte sie das Atelier verlassen, sich für die Vernissage am Abend umgezogen, sich ein Glas Wein eingeschenkt und war an das Fenster getreten, das auf die funkelnden Lichter von New Jersey auf der anderen Seite des Hudson River ging. »Ich will ein Kind.«
Grania hatte einen großen Schluck Wein genommen und es noch einmal ausgesprochen, um sicher zu sein. Die Worte hatten nach wie vor richtig geklungen und ganz natürlich, als hätten der Gedanke und das Bedürfnis schon seit Ewigkeiten in ihr geschlummert.
Dann war Grania zu der Vernissage gegangen und hatte Small Talk mit den üblichen Künstlern und Sammlern gemacht, während sie über die praktischen Aspekte ihrer Entscheidung nachdachte. Würden sie umziehen müssen? Vermutlich nicht gleich - ihr Loft in TriBeCa war geräumig, und Matts Arbeitsraum ließ sich ohne Weiteres in ein Kinderzimmer verwandeln. Er nutzte ihn ohnehin nur selten und saß lieber mit seinem Laptop im Wohnbereich. Das Loft befand sich im dritten Stock; der Lastenaufzug war groß genug für einen Kinderwagen, und der Battery Park mit seinem gut ausgestatteten Spielplatz befand sich gleich in der Nähe. Grania hatte ihr Atelier ebenfalls zu Hause, so dass sie, selbst wenn sie ein Kindermädchen einstellen müssten, im Bedarfsfall immer schnell zur Stelle wäre. Später hatte Grania sich in das große leere Bett gelegt und frustriert geseufzt, weil sie Matt, der beruflich unterwegs war und erst in ein paar Tagen zurückkommen würde, ihre Pläne noch nicht mitteilen konnte. So etwas ließ sich nicht am Telefon verkünden. Matt war bei seiner Rückkehr genauso begeistert über die Idee gewesen wie sie, und sie hatten sich sofort an die Verwirklichung des Plans gemacht. Das Kind würde ihre Beziehung zementieren wie die von Granias Eltern und aus ihnen eine richtige Familie machen. Grania lauschte von ihrem schmalen Kinderbett aus auf den Wind, der um die Steinmauern des Farmhauses heulte, griff nach einem Papiertaschentuch und schnäuzte sich. Das war ein Jahr zuvor gewesen. Leider hatte sich herausgestellt, dass das Projekt ihre Beziehung nicht zementierte, sondern zerstörte.
2
Als Grania am nächsten Morgen aufwachte, hatte sich der Sturm verzogen, und die Sonne, im Winter ein seltener Gast, erhellte die sich schier endlos erstreckenden grünen Felder mit den weißen, wolligen Schafen. Grania wusste, dass dieses Wetter nicht lange anhalten würde; in West Cork ähnelte die Sonne einer launischen Diva. Da Grania des unaufhörlichen Regens in den vergangenen zehn Tagen wegen nicht wie sonst hatte joggen können, sprang sie aus dem Bett und holte ihr Kapuzenshirt, die Leggings und die Laufschuhe aus dem Koffer. »Du bist ziemlich früh auf heute Morgen«, bemerkte ihre Mutter, als Grania in die Küche kam. »Haferbrei?« »Wenn ich zurück bin. Ich geh joggen.« »Überanstreng dich nicht. Du siehst blass aus.« »Ich hoffe, dass ich beim Laufen ein bisschen Farbe kriege, Mam.« Grania verkniff sich ein Lächeln. »Bis später.« »Verkühl dich nicht, ja?«, rief Kathleen ihrer Tochter nach. Bei Granias Heimkehr war Kathleen schockiert gewesen. In den drei Jahren, die sie ihre hübsche, lebenslustige Tochter mit der rosigen Haut, den blonden Locken und den türkisblauen Augen nicht zu Gesicht bekommen hatte, schien sie ihre Vita lität verloren zu haben. Zu ihrem Mann John hatte Kathleen gesagt, Grania erinnere sie an ein leuchtend rosafarbenes Hemd, das in der dunklen Wäsche gelandet und grau eingefärbt worden war. Kathleen kannte den Grund, weil Grania ihr alles am Telefon erzählt und sie gefragt hatte, ob sie eine Weile nach Hause kommen könne. Natürlich hatte Kathleen Ja gesagt, da sie sich über diese unerwartete Gelegenheit, Zeit mit ihrer Tochter zu verbringen, freute. Allerdings begriff sie Granias Motive nicht - ihrer Ansicht nach war dies eine Zeit, in der sie und ihr Partner einander im Kummer beistehen sollten. Matt rief jeden Abend an, doch Grania weigerte sich beharrlich, mit ihm zu sprechen. Kathleen hatte immer eine Schwäche für ihn gehabt. Mit seinem guten Aussehen, dem leichten Connecticut-Akzent und den untadeligen Manieren erinnerte er sie an die Filmstars ihrer Mädchenzeit. Sie verglich Matt gern mit dem jungen Robert Redford. Warum Grania ihn nicht längst geheiratet hatte, war ihr ein Rätsel. Und nun stand ihre störrische Tochter kurz davor, ihn zu verlieren. Viel wusste Kathleen nicht über die Welt, aber mit dem männlichen Ego kannte sie sich aus. Männer waren anders gestrickt als Frauen - sie besaßen nicht deren Fähigkeit, Zurückweisungen hinzunehmen -, weswegen Matt mit Sicherheit über kurz oder lang aufhören würde, jeden Abend anzurufen. Seufzend räumte sie die Frühstücksteller weg und stellte sie in die Spüle. Grania war die einzige Ryan, die sich in die weite Welt hinausgewagt und ihre Familie, besonders ihre Mutter, stolz gemacht hatte. Das Kind, nach dem die Verwandten sich, fasziniert von den Zeitungsausschnitten anlässlich ihrer Ausstellungen in New York, erkundigten ... Es in Amerika zu schaffen war nach wie vor der irische Traum. Kathleen trocknete Geschirr und Besteck ab und verstaute alles in der Anrichte. Natürlich hatte niemand das perfekte Leben, das wusste Kathleen. Sie war immer davon ausgegangen, dass Grania sich nicht nach dem Getrippel kleiner Füße im Haus sehnte, und hatte das akzeptiert. Hatte sie nicht einen wohlgeratenen, kräftigen Sohn, der ihr eines Tages Enkel schenken würde? Doch offenbar hatte Kathleen sich getäuscht. Grania führte zwar ein interessantes Leben dort, wo sich für Kathleen der Nabel der Welt befand, aber die Kinder fehlten. Bis sie kamen, würde ihre Tochter nicht glücklich werden.
Übersetzung: Sonja Hauser
Riley All rights reserved. Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Autoren-Porträt von Lucinda Riley
Riley, LucindaLucinda Riley wurde in Irland geboren und verbrachte als Kind mehrere Jahre in Fernost. Sie liebt es zu reisen und ist nach wie vor den Orten ihrer Kindheit sehr verbunden. Nach einer Karriere als Theater- und Fernsehschauspielerin konzentriert sich Lucinda Riley heute ganz auf das Schreiben - und das mit sensationellem Erfolg: Seit ihrem gefeierten Roman »Das Orchideenhaus« stürmte jedes ihrer Bücher die internationalen Bestsellerlisten. Lucinda Riley lebt mit ihrem Mann und ihren vier Kindern im englischen Norfolk und in West Cork, Irland.
Bibliographische Angaben
- Autor: Lucinda Riley
- 2012, 464 Seiten, Kartoniert (TB), Deutsch
- Übersetzer: Sonja Hauser
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 3442477891
- ISBN-13: 9783442477890
- Erscheinungsdatum: 15.05.2012
Rezension zu „Das Mädchen auf den Klippen “
"Tragisch, mitreißend und unglaublich emotional."
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