Das Monster, die Hoffnung und ich
Sally ist nicht verrückt. Sie ist traurig. Ihre Trauer kennt weder Maß noch Grund, denn Sally leidet an Depression. Früher war sie voller Lebenslust, doch die Krankheit zieht sie in einen Abgrund, aus dem sie glaubt, nicht entkommen zu...
Leider schon ausverkauft
Weltbild Ausgabe
3.99 €
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Produktdetails
Produktinformationen zu „Das Monster, die Hoffnung und ich “
Sally ist nicht verrückt. Sie ist traurig. Ihre Trauer kennt weder Maß noch Grund, denn Sally leidet an Depression. Früher war sie voller Lebenslust, doch die Krankheit zieht sie in einen Abgrund, aus dem sie glaubt, nicht entkommen zu können.
Sally Brampton erzählt ihre Geschichte aufrichtig und mit bewundernswertem Humor. Sie hat die Krankheit überlebt. Und wie sie darüber spricht, macht Mut und gibt Hoffnung. Es gelingt ihr, einen unsichtbaren Gegner greifbar werden zu lassen, und sie gibt Betroffenen und Angehörigen die Kraft, um sich der Krankheit zu stellen.
"Ein mutiges und ehrliches Buch."
THE INDEPENDENT
"Dieses bewegende Buch stellt alle Klischees über psychische Krankheiten in Frage."
THE TIMES
Lese-Probe zu „Das Monster, die Hoffnung und ich “
Das Monster, die Hoffnung und ich von Sally BramptonAus dem Englischen von Veronika Dünninger
Einleitung
Dies ist der Erfahrungsbericht einer Depression. Und es ist meine Geschichte, denn ich glaube, dass wir aus Geschichten lernen.
Wir lernen, dass wir nicht allein sind.
Meine Geschichte ist nicht besser oder schlechter als jede andere auch, genau wie meine Depression nicht besser oder schlechter war, auch wenn es mir damals so vorkam. Ich glaubte, keine Hoffnung mehr zu haben, jemals an den Ort zurückzukehren, den ich Leben nannte. Und ich glaubte, die Einzige zu sein, die sich so fühlte. Die Depression erscheint einem wie der abgelegenste Ort der Erde. Kein Wunder, dass man sie auch eine Krankheit der Einsamkeit nennt.
Wenn Sie dieses Buch lesen und sich genauso fühlen, dann sind Sie nicht allein. Ich verstehe, wie Sie sich fühlen. Ich glaube, dass jeder, auch wenn er nur an einer leichten Depression gelitten hat, versteht, wie es sich anfühlt. Und doch vergessen wir, dass andere sich in unsere Lage versetzen können. Wir ziehen uns zurück, kapseln uns ab oder verschließen uns völlig. Wir verlieren uns in uns selbst und in der Krankheit.
Das muss nicht so sein. Wenn wir nur zu einem einzigen Menschen Verbindung aufnehmen, der es wirklich versteht, dann tun wir einen ersten Schritt aus der Krankheit. Im Leben geht es um Verbindung. Es gibt sonst nichts. Die Depression ist das Gegenteil, denn sie ist eine Krankheit, die durch Entfremdung definiert ist. Daher biete ich dieses Buch als Verbindung an. Es soll eine Quelle der Hoffnung sein. Mein Anliegen ist es, dass dieses Buch, indem ich darüber berichte, wie ich war, was passiert ist und wie ich jetzt bin, anderen Menschen vielleicht Trost spendet.
... mehr
Ich bin keine Expertin, aber ich habe aus Erfahrung gelernt. Fast vier Jahre lang habe ich Tag und Nacht mit der Depression gelebt. Ich glaubte, ich würde sie nicht überstehen. Ich glaubte, ohne es dramatisieren zu wollen, ich würde sterben. Ich wollte sterben. Eine Zeit lang war das alles, was ich wollte.
Das ist nichts, was man bereuen oder wofür man sich schämen muss. Sterben zu wollen (oder die »suizidale Ideation «, wie es Fachleute gern nennen) geht Hand in Hand mit der Krankheit. Es ist ein Symptom einer schweren Depression, kein Charakterfehler oder moralischer Makel. Ebenso wenig ist es wirklich das Bedürfnis zu sterben als vielmehr ein brennender Wunsch, nicht mehr weiterzuleben. Alle Depressiven verstehen diesen Unterschied.
Inzwischen will ich nicht mehr sterben. Es geht mir gut. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass ich glücklich bin. Es heißt, dass Glück nicht messbar ist. Vielleicht nicht. Wie die Depression ist es bei jedem Menschen anders. Aber genau wie wir die Depression in den Hintergrund drängen können, können wir auch das Glück zum Vorschein bringen. Anfangs hatte ich keine Ahnung, wo ich danach suchen sollte. Ich war kaum geübt in der Kunst oder der Erfahrung des Glücks, und der letzte Ort, an dem ich es zu finden glaubte, war in mir selbst.
Meine Genesung schritt nur langsam voran. Ich hatte das Gefühl, als würde ich wieder laufen lernen. Sehr oft bin ich gestolpert und gestürzt. An manchen Tagen konnte ich nicht mehr als ein paar Schritte bewältigen. Aber jeden Tag habe ich es versucht, und ganz allmählich bin ich aus dem Loch völliger Verzweiflung herausgekrabbelt. Es gibt keine Wunder. Gesund zu werden und gesund zu bleiben erfordert Zeit, Hingabe und ungeteilte Aufmerksamkeit. Es bedeutet, die Verantwortung für unsere eigene emotionale Gesundheit und unser Glück zu übernehmen. Absolute Ehrlichkeit und ständige Selbstprüfung sind dabei unerlässlich, genauso wie Demut, Geduld und Bereitschaft. Das hört sich nach harter Arbeit an, und das ist es auch. Aber es ist nicht annähernd so hart, wie mit einer schweren Depression zu leben.
Man könnte sagen, dass dies ein spirituelles Buch ist. In mancher Hinsicht ist das zutreffend. Es ist ein spirituelles Buch, verfasst von einer Atheistin. Wie ein genesender Alkoholiker einmal zu mir sagte: »Religion ist für Leute, die nicht in die Hölle kommen wollen. Spiritualität ist für Leute, die dort gewesen sind.«
Ich entschuldige mich nicht dafür. Sie können sich davon nehmen, was Sie brauchen, und den Rest liegen lassen. Um von meiner schweren Depression zu genesen, habe ich auf unterschiedliche Disziplinen zurückgegriffen - von moderner Therapie über den Buddhismus bis hin zum Zwölf- Schritte-Programm, dem spirituellen Ansatz der Anonymen Alkoholiker. Ich habe Hilfe von Psychiatern, Therapeuten, Freunden und völlig Fremden in Anspruch genommen. Ich habe Trost in Literatur, Wissenschaft und Gärten - vor allem meinem eigenen - gefunden.
Und es ist ein praktisches Buch insofern, als es Ideen dazu liefert, was helfen könnte. Es sind keine Versprechungen, nur Vorschläge. Auf meinen Reisen durch die Depression habe ich versucht, mich auf eine bestimmte Weise zu ernähren und jede Menge Vitamine, Aminosäuren und essenzielle Fette zu schlucken. Ich habe Yoga, Massage, Meditation, Homöopathie, Akupunktur und bioenergetisches Feedback ausprobiert. Ich vertraute mich Heilern an, die über mir standen und negative Energie aus meinem Nacken zogen, und andere, die Engel an meinem Tisch heraufbeschworen. Ich habe es mit jeder Form von Therapie versucht und jedes Buch über Depression gelesen, das ich in die Finger bekommen konnte. Manche Formulierungen von spirituellen Führern, Dichtern und Schriftstellern habe ich wie Mantras vor mich hin gemurmelt, in der Hoffnung, durch bloßes Wiederholen zu Gelassenheit zu finden. Natürlich hilft nicht alles, aber manches eben doch, und darüber kann ich Ihnen berichten. Auch davon können Sie sich nehmen, was Sie wollen, und den Rest liegen lassen.
Dass die Depression wiederkommen könnte, ist die Angst eines jeden Depressiven. Sie könnte. Sie könnte nicht. Ich kann es unmöglich wissen. Manchmal fühle ich mich immer noch niedergeschlagen, aber ich habe festgestellt, dass ich, wenn ich mit dieser Schwierigkeit umgehen kann, auf einem guten Weg bin, die Depression in Schach zu halten. Das Wichtigste ist, dass man sich nicht von der Angst fesseln lässt. Die Depression kommt einer Lähmung der Hoffnung gleich. Eines weiß ich mit Bestimmtheit: Versuchen Sie, nie die Hoffnung aufzugeben, denn wenn Sie das tun, dann wird die Hoffnung mit Sicherheit versuchen, Sie aufzugeben.
Deshalb hier meine Geschichte. Sie bewegt sich kreuz und quer in der Zeit. Manchmal verläuft sie rückwärts, denn wie der dänische Philosoph Søren Kierkegaard vor einigen hundert Jahren erklärte: »Verstehen kann man das Leben nur rückwärts, aber leben muss man es vorwärts.« Und er sagte auch: »Vergiss nicht, dich selbst zu lieben«, wofür ich ihn wirklich liebe. Meine Geschichte hält auch hin und wieder inne, um eine Richtung oder zumindest hilfreiche Ideen aufzuzeigen. Sie ist nicht ordentlich oder aufgeräumt, aber das ist mein Verstand auch nicht. Und ein Leben normalerweise auch nicht.
Meine Geschichte beginnt am Morgen meines fünfzigsten Geburtstags. Das erscheint mir als guter Ausgangspunkt. Jeder Tag ohne Depression ist ein guter Ausgangspunkt.
Ich wache früh auf und sitze mit einer Tasse Tee im Bett und denke nach. Über nichts Bestimmtes, das ist einfach meine Art, das Chaos in meinem Kopf zu entwirren und ein Gefühl von Frieden und Ordnung für den Tag, der vor mir liegt, zu schaffen. Das tue ich jeden Tag eine halbe Stunde lang, und anschließend meditiere ich zwanzig Minuten. Das ist eine Gewohnheit, die ich entwickelt habe, seit ich krank war. Ich will nicht wissen, wie oder warum es mir hilft. Ich weiß einfach, dass es mir hilft.
Mein Schlafzimmer ist weiß und lichtdurchflutet, mit einer Verandatür, die genau in den Garten hinausführt. Das Licht ist mir wichtig; es bekämpft das Dunkel in meinem Kopf.
In seinem wegweisenden Buch über die Depression, Saturns Schatten, schreibt Andrew Solomon, selbst depressiv: »Mit der Depression bekämpft man zugleich sich selbst.«1 Er hat recht, auch wenn ich diesen Satz bei der ersten Lektüre so verstand, dass man in der Depression zu seinem eigenen Feind wird. Bei dem rasenden Selbsthass, den man während einer Phase schwerer Depression empfindet, denke ich, stimmt das.
Ich habe mich selbst so sehr gehasst, dass ich versucht habe, mir das Leben zu nehmen.
Heute glaube ich, dass ich nicht so sehr mich selbst gehasst habe, sondern vielmehr das Selbst, zu dem ich während der Depression wurde. Ich wollte es tot sehen.
Es ist zwei Jahre her, seit ich aus der Depression wiederaufgetaucht bin, und ich will mich nicht mehr tot sehen. Ich will mich am Leben sehen. Ich bin nicht mehr mein eigener Feind. Die Depression ist der Feind. Das Monster lebt vor meiner Tür. Ich hoffe, dass ich, mit genügend Anstrengung und Glück, dafür sorgen kann, dass es dort bleibt. Und wenn das bedeutet, Dinge tun zu müssen, die ich einmal für untypisch hielt, wie zum Beispiel um sechs Uhr morgens aufzustehen, um zu meditieren, dann werde ich das tun.
Sobald ich meditiert und eine gewisse Ordnung in meinen Kopf gebracht habe, betrachte ich mich im Spiegel. Um zu sehen, ob ich anders aussehe, nehme ich an, jetzt, wo ich auf einmal älter bin. Ich sehe dasselbe blonde Haar, dieselben blauen Augen und dieselbe kindliche Stupsnase. Ich habe meine Brille nicht auf, sodass ich mein Spiegelbild leicht verschwommen sehe. Andererseits bin ich selbst, auch ohne diese gütige Unschärfe (eine der freundlicheren Entschädigungen von Mutter Natur für das Alter), mein unzuverlässigster Zeuge. Zu viel Geschichte ist mit meinem Gesicht verbunden, zu viele Erinnerungen hängen an den Rändern meiner Realität. Mich selbst kann ich nicht sehen. Aber ich kann sehen, dass die Spuren der Depression nicht mehr in meinem Gesicht sind. Heutzutage kann ich Depressive leicht erkennen. Die Krankheit zeigt sich wie ein Graffiti auf ihrem Gesicht.
Meine Tochter, Molly, schießt ein Foto, um meinen Geburtstag festzuhalten. »Mach die Augen auf, Mum«, sagt sie.
Meine Augen sind sehr tief liegend und verschwinden leicht völlig, wenn ich nicht aufpasse.
»Sie sind offen«, sage ich.
»Na, dann mach sie noch ein bisschen weiter auf. Blick überrascht.«
Ich tue es, denn ich bin es.
Ich bin überrascht, dass ich es bis zu meinem Fünfzigsten geschafft habe, während ich einmal dachte, ich würde es überhaupt nicht schaffen. Ich bin überrascht, dass ich friedlich im Sonnenschein im Garten sitze. Ich bin überrascht, dass meine Tochter, die fünfzehn ist, schön und beschwingt und größer als ich ist. Vor allem bin ich überrascht, dass ich glücklich bin, dass ich wieder die Fähigkeit zum Glücklich- sein besitze.
Als ich sehr krank war und Molly neun Jahre alt war, klebte sie gern Notizen an die Wand über meinem Bett. Eine lautete: »Liebe Engel, bitte bringt meiner Mummy all die Freude und all das Glück, das sie verdient hat.« Ich weinte, als ich diese Notiz las, denn ich war sicher, dass ich nichts davon verdient hatte.
Ich wünsche niemandem eine Depression. Und doch hat sie mich vieles gelehrt. Ich bin nicht plötzlich gefühlsselig dankbar für mein Leben, aber ich interessiere mich mehr dafür, lasse mich mehr darauf ein, könnte man sagen. Wenn man lange Jahre im Dunkeln verbracht hat, dann ist es eine Freude, Licht und Vergnügen vor allem in gewöhnlichen Dingen zu sehen.
Ich sehe hinaus auf meinen Garten. Es ist nicht mein erster Garten, aber es ist der erste, den ich selbst geschaffen habe. Als ich sehr krank war, hielt mich das Träumen von diesem Garten in den langen, dunklen Nächten und noch dunkleren Tagen am Leben, noch bevor er überhaupt existierte.
Ihn zu bepflanzen, die Hände in die Erde zu stecken, das war Therapie und Verbindung mit der Zukunft zugleich. Denn selbst in meiner tiefsten Verzweiflung war ich immer mit Pflanzen beschäftigt. Selbst in der Dunkelheit erschien mir das als Zeichen des Optimismus, der Hoffnung.
Als ich richtig krank war, lebte ich in einer Wohnung ohne Garten. Es ist symptomatisch dafür, wie wenig Freude ich finden konnte, selbst an Dingen, die mich normalerweise begeistern, dass ich diese Wohnung kaufte. Aber obwohl ich das Bett kaum verlassen konnte und es einem fast übermenschlichen Akt gleichkam, mich anzuziehen, fiel meinen Freunden auf, dass ich jedes Mal, wenn ich mich aus dem Haus gewagt hatte, mit einer Pflanze zurückkam; einer Geranie, einem Topf Jasmin, einer Kiste Lavendel. Es ist derselbe Jasmin, der jetzt an der Wand neben meiner Küche wuchert und den Raum jeden Sommer mit seinem Duft erfüllt, während Ableger der ursprünglichen Geranie in Töpfen vor meinem Schuppen blühen. Als ich den Garten fand, war er ein einziges Durcheinander, eine schlafende Schönheit unter einer Last von Lorbeer, Liguster und Dornengestrüpp so dick wie ein Männerarm. Ein kleiner Ahorn, um dessen Fuß jetzt Pfingstrosen wachsen, hat noch immer einen s-förmigen Knick in seinem Stamm, wo er sich zum Licht hin gereckt hat. Ich liebe diesen Baum.
Sobald ich das Schlimmste beseitigt hatte (ich, ein Mann mit einem Kleinlaster und tagelange Knochenarbeit), begann ich, mithilfe eines Maßbandes, einer Dose Sprühfarbe und etwas Schnur, den Garten anzulegen. Es war ein sehr heißer Sommer, sodass ich meistens noch spätabends im Nachthemd draußen war. Ich muss wie die Irre aus der Gegend ausgesehen haben (na ja, seien wir ehrlich, ich war die Irre aus der Gegend), aber meine Nachbarn sind zu charmant, um das je erwähnt zu haben.
Jetzt ist der Garten wunderschön. Ich beobachte, wie das Licht ihn durchflutet und wieder verschwindet, sehe den Frühling kommen und den Sommer gehen. Wenn ich, wie so manches Mal, das Gefühl habe, dass alle Hoffnung dahin ist, ruft er mir sanft in Erinnerung, dass, wenn etwas stirbt, etwas Neues an seine Stelle treten muss. Ich liebe die Natur wegen ihres unbeschwerten Gleichmuts, wegen der Beharrlichkeit, mit der sie alles in ihrem eigenen, sanften Tempo angeht. Die Narzissen werden ihre gelben Glocken entfalten, wenn sie selbst so weit sind, egal, wie oft ich sie dränge, dass sie und der Frühling sich endlich beeilen sollen. Die Wurzeln, unter der Erde verborgen, werden sich langsam entfalten, wie sie es sollen, genau wie sich das Leben so entfalten wird, wie es soll. Kein noch so großes Aufhebens meinerseits wird etwas daran ändern. In dieser Einsicht liegt Freiheit. Und es liegt Freude in dem Wissen, dass Schönheit unvermeidlich ist, in dem allmählichen Erblühen einer Rose, dem Geruch frisch gemähten Rasens, der Wärme des frühsommerlichen Sonnenscheins auf unseren Rücken.
Als ich Freunden erzählte, dass ich dieses Buch schreiben würde, sagten sie: »Warum tust du dir das an? Weißt du denn nicht mehr, wie krank du warst? Bist du verrückt?«
Na ja, schon.
Warum schreibe ich also dieses Buch? Ich schreibe es, denn auch wenn ich den Beichtstuhl missbillige, war ich (und bin noch immer) so angewidert von dem Stigma, das der Depression anhaftet, dass ich beschloss, aufzustehen und meine Stimme zu erheben, mich nicht aus Scham zu verstecken. Wenn ich ein Talent besitze, dann die Fähigkeit zu kommunizieren und veröffentlicht zu werden. Daher verfasste ich einen persönlichen Bericht über meine suizidale Depression für eine Tageszeitung, den Daily Telegraph.
Im Gegenzug erhielt ich zweitausend Briefe, und in jedem von ihnen stand: »Gott sei Dank bin ich nicht allein.«
Ich musste weinen, als ich diese Briefe las. Ich wusste einfach, wie den Leuten zumute war, und fühlte mich selbst beim Lesen dieser Briefe gleich weniger einsam. Das war der Augenblick, in dem mir klar wurde, dass ich dieses Buch schreiben musste, nicht nur für andere Leute, sondern für mich selbst. Ich will mich nie wieder so allein fühlen.
Als der Artikel im Daily Telegraph erschien, sagten viele Leute, ich sei mutig. Vielleicht bin ich das, auch wenn ich nicht unbedingt glaube, dass die Auseinandersetzung mit einer Krankheit eine couragierte Tat ist. Nur das Stigma, das der Depression anhaftet, vermittelt diesen Eindruck. Ich wünschte, ich könnte sagen, dass es Mut war, der mich dazu getrieben hat, mich wie ein Schmetterling auf die Seiten einer überregionalen Zeitung zu heften, aber tatsächlich war es Wut.
Ich gebe zu, dass ich von meiner Wut überrumpelt wurde. Aber das wurde ich von der Depression auch. Nie hatte ich über ihre Auswirkungen oder Konsequenzen nachgedacht, doch je länger ich in ihr gefangen war, desto deutlicher erkannte ich die Angst und die Scham, die ihr anhaften. Und je mehr Depressive ich kennenlernte, desto deutlicher begriff ich, dass wir nicht nur eine Krankheit bekämpfen, sondern auch die Art und Weise, wie mit ihr umgegangen wird.
Stellen Sie sich vor, Sie erzählen jemandem, dass Sie eine lebensbedrohliche Krankheit wie zum Beispiel Krebs haben, und Sie bekommen gesagt, Sie sollen sich zusammenreißen oder darüber hinwegkommen.
Stellen Sie sich vor, Sie sind entsetzlich krank und haben zu viel Angst davor, es jemandem zu sagen, um sich damit nicht Ihre Karriere zu verbauen.
Stellen Sie sich vor, Sie werden in eine Klinik eingewiesen, weil Sie zu krank sind, um noch zu funktionieren, und Sie schämen sich zu sehr, es jemandem zu sagen, da es eine psychiatrische Klinik ist.
Stellen Sie sich vor, Sie erzählen jemandem, dass Sie kürzlich aus einer psychiatrischen Klinik entlassen wurden, und sehen, wie er sich abwendet, vor Verlegenheit oder Abscheu oder Angst.
Vergleiche sind etwas Abscheuliches. Eine Krankheit zu stigmatisieren ist noch abscheulicher. Es ist schon schlimm genug, krank zu sein, aber sich gezwungen zu sehen, genau das zu leugnen, was einen, in seiner schlimmsten und aktivsten Phase, definiert, das ist wirklich eine Qual.
Es ist eine Krankheit. Nicht mehr und nicht weniger. Es ist weder ein moralischer Makel noch ein unmoralischer Zustand. Es ist kein Grund für Scham, Schuld oder Geheimnistuerei. Ich wünschte, ich hätte das gewusst, als ich zum ersten Mal krank wurde. Ich wünschte, ich hätte nicht so lange versucht, das Unbeherrschbare zu beherrschen, weil ich so beschämt war. Oder unwissend. Oder beides.
Es gibt keinen korrekten medizinischen Ausdruck für die Krankheit der Depression. Sie wird wahlweise als klinische, ernste oder schwere Depression bezeichnet. Ich werde mich im Wesentlichen auf den Begriff »schwere Depression « beschränken, einfach weil ich glaube, dass dieser Ausdruck die Krankheit am besten beschreibt.
Als ich schließlich irgendwann vor einem Psychiater saß, außerstande, mit dem Weinen aufzuhören, außerstande, noch zu funktionieren, und nur noch tot sein wollte, fragte er mich: »Wenn Sie eine Lungenentzündung hätten, würden Sie dann versuchen, sich selbst zu heilen?«
»Nein.«
Er zuckte mit den Schultern. »Warum glauben Sie dann, dass Sie Ihre Depression selbst heilen können?«
Warum? Weil ich dachte, ich hätte meinen eigenen Verstand im Griff. Ich war nie auf die Idee gekommen, dass ich an einer Krankheit litt, die ich zu der Zeit bereits kaum noch oder gar nicht mehr im Griff hatte. Ich wusste nichts über Depression. Ich wusste nur, dass ich ein Jahr lang gegen meinen Verstand angekämpft und dass ich verloren hatte.
»Sie sind krank«, sagte er. »Sie sind sehr, sehr krank.«
Damals war das für mich das Netteste, was irgendjemand zu mir sagen konnte. Ich war nicht verrückt. Ich war nur krank.
Als ich das später einem anderen Depressiven erzähle, lächelt er wissend und gibt zu, dass er, als seine Psychiaterin ihm erklärte, sie würde ihn eventuell zwangseinweisen müssen, wenn er sich weigerte, freiwillig in eine Klinik zu gehen, weder verängstigt noch wütend gewesen sei. Nur erleichtert. »Ich war krank. Ich musste in eine Klinik. Ich konnte endlich aufhören, so zu tun, als würde ich zurechtkommen. «
Manchmal denke ich, die Depression sollte die Krankheit des Zurechtkommens genannt werden. So viele von uns schlagen sich damit herum, wagen nicht, um Hilfe zu bitten, oder wissen nicht, wie sie es tun sollen. Noch größer und erschreckender ist die Anzahl derer, bei denen die Krankheit gar nicht erst diagnostiziert wird.
Das hier ist natürlich nur meine Geschichte. Jeder macht seine eigenen Erfahrungen mit der Depression. Ich kann nur sagen, wie es mir damit ergangen ist, in der Hoffnung, dass es vielleicht ein Licht auf das Leiden anderer wirft und ihnen ebenfalls hilft. Und es könnte denen helfen, die einen
depressiven Menschen lieben, besser zu verstehen, was der Betreffende durchmacht. Falls es mir geholfen hat, dann für ein besseres Verständnis meiner selbst und meiner tief sitzenden Verletzlichkeiten. Davon abgesehen würde ich mich lieber nicht mit ihnen befassen. Die Nabelschau hat nur einen begrenzten Reiz. Ich würde lieber zusehen, dass ich mein Leben weiterlebe, was das Gegenteil von Depression ist.
Aber das kann ich nicht, und das ist die Wahrheit, wie es sich auch niemand, der mit einer schweren, immer wiederkehrenden Krankheit lebt, erlauben kann, sich selbst oder die Symptome zu ignorieren. Ich halte ein Auge auf mich, mit einem wohlwollenden, objektiven Blick, der, so hoffe ich, meine Krankheit - und nicht so sehr mich selbst - ernst nimmt. Ebenso wenig bin ich (oder will es je sein) eine professionelle Depressive, die sich stets über die Melancholie definiert, die mich auf Schritt und Tritt zu verfolgen scheint; der »schwarze Hund«, als der sie auch bekannt ist. Offen gestanden würde ich diesen verdammten Hund am liebsten erschießen und die Sache damit als erledigt ansehen; aber ich habe gelernt zu akzeptieren, dass ich ihn nicht töten und, in gewisser Weise, auch nicht kennenlernen kann. Auf jeden Fall werde ich oft von ihm überrumpelt.
Der Teil von mir, der mir (natürlich) lieber ist, ist der Teil, den Molly mein »normales glückliches Selbst« nennt und der ebenso echt ist wie der depressive Teil meines Wesens, den ich als mein Schattenselbst ansehe. Im Grunde meines Herzens bin ich eine Optimistin. Ich liebe das Leben. Ich habe Freude an anderen Menschen. Ich habe viele gute Freunde. Ich schätze Freundschaft über alles, und es waren meine Freunde, die mir in den langen, dunklen Tagen der Depression zur Seite standen. Während meine Unfähigkeit, die Hand auszustrecken und mit ihnen zu kommunizieren, mich vor Schmerz fast um den Verstand brachte, wusste ich doch, dass sie da waren, selbst wenn ich außerstande war, mit ihnen zu sprechen. Und sie waren immer noch da, als ich wieder auftauchte. Dafür bin ich unsäglich dankbar.
Daher bin ich also kein Experte, sondern nur jemand, der an einer depressiven Krankheit leidet und ein Buch darüber schreibt. Mein Weg durch die Depression ist weder richtig noch falsch, er ist einfach nur meiner.
Ebenso wenig kann mein Bericht vollständig sein.
»Die Depression«, sagte mein Psychiater, als wir uns zum ersten Mal trafen und ich über meine Unfähigkeit klagte, durch Nachdenken aus ihr herauszufinden, »unterdrückt jeden einzelnen kognitiven Prozess. Konzentration, Gedächtnis, Logik, Vernunft, selbst die Interpretation von Fakten und tatsächlichen Ereignissen - alles wird unterbrochen. Wenn wir Sie jetzt testen würden, kann ich Ihnen garantieren, dass Ihr IQ mindestens dreißig Punkte niedriger ausfallen würde.«
Es ist, als ob der Verstand einen Schleier über sich selbst zieht. Teile meiner Erinnerung an jene Zeit sind noch immer ausgeblendet, darunter Bücher, die ich angeblich gelesen habe. Als ich sie mir später noch einmal ansah, stellte ich fest, dass sie mir fast völlig fremd waren. Dasselbe gilt für Filme. Teile von ihnen sind mir auf eine unheimliche Weise vertraut, so sehr, dass ich ein sofortiges Déjà-vu-Gefühl verspüre, aber ich kann mich weder an den Anfang noch an das Ende oder gar den mittleren Teil der Geschichte erinnern. Es gibt Gespräche, die ich geführt habe oder von denen Leute mir erzählt haben, ich hätte sie geführt, die für mich ein weißer Fleck sind, und ich bringe die Chronologie von Monaten oder gar Jahren gern durcheinander. Zum Glück, würden manche vielleicht sagen, denn die Depression ist kein Ort, an dem man länger verweilen will.
Andere Teile meiner Erinnerung an jene Zeit sind hingegen immer noch so ausgeprägt, dass ich nur an bestimmten Orten vorbeikommen oder bestimmte Gerüche wahrnehmen muss, um einen heftigen Schmerz zu verspüren. Er kehrt auf einer fast zellularen Ebene zu mir zurück. Es ist, als ob sowohl mein Körper als auch mein Geist sich erinnern, und ich glaube, dass eine depressive Krankheit körperlicher und geistiger Natur zugleich ist, dass der Körper imstande ist, an Erinnerungen und Erfahrungen festzuhalten, die der Geist lieber vergessen würde.
Ich bezweifle, dass ich die Einzige bin, die von ihrer Krankheit nach wie vor verfolgt wird. Alle Depressiven erinnern sich, wie krank sie einmal waren, wie krank manche von uns immer noch sind.
Kaptiel 1
Ich selbst bis jetzt
Ich war erfreut, sofort antworten zu können. Ich sagte: Ich weiß es nicht.
Mark Twain
Bevor ich von meiner Depression erzähle, sollte ich etwas von meinem bisherigen Leben erzählen. Oder vielleicht von mir selbst.
Ich bin in Brunei geboren, aber ich bin Engländerin und in vielen verschiedenen Ländern aufgewachsen. Von Brunei zogen wir nach Brasilien und von dort nach Aden, Oman und Angola. Wir verbrachten ungefähr drei Jahre in jedem Land, mit kurzen Zwischenaufenthalten in England. Mein Vater arbeitete nach dem Krieg für Shell und wurde ins Ausland versetzt. Wir folgten ihm, wo immer seine Arbeit ihn hinführte.
Von meinem elften Lebensjahr an ging ich in England aufs Internat, aber ich sah von diesem Land nicht mehr als die Schule. Es war kein Zuhause. Zuhause war jeweils das Land, in dem meine Eltern lebten. Endgültig nach England zog ich erst, als ich achtzehn Jahre alt war. Ich habe zwei Brüder. Mein älterer Bruder heißt Michael und mein jüngerer Tony. Den Großteil ihrer Kindheit haben sie ebenfalls im Internat verbracht.
Dad stammt aus Südlondon und ist das älteste von vier Kindern. Sein Vater, Reg, war ein Cockney, geboren, wie er immer stolz sagte, in Hörweite der Bow-Glocken, also in der Nähe der bekannten Londoner Bow Church, wie es sich für einen echten Cockney gehört. Reg arbeitete als Mann für alles; später zog er aufs Land, um eine Tankstelle zu führen. Zumindest war das die Version meines Opas vom Land: ein kleiner Bungalow vor einer Reihe Zapfsäulen inmitten eines Lkw-Parkplatzes an einem belebten Kreisverkehr am Stadtrand von Norwich. Selbstbedienung gab es damals noch nicht, sodass Reg zu jeder Tages- und Nachtzeit mit seiner Schirmmütze und seinem braunen Baumwollkittel draußen auf den Beinen war. Auf uns wirkte er immer fröhlich und war für jeden Spaß zu haben. Seinem Wellensittich brachte er bei, unsinniges Zeug zu reden, und uns Kinder jagte er ohne sein falsches Gebiss im Mund durch seinen Bungalow, sodass wir uns über sein zahnloses Grinsen halb totlachten.
Meine Großmutter Maisie war winzig klein, kaum einen Meter fünfzig groß, mit rotem Haar und blauen Augen. Sie hielt alles, ihr Haus, Reg und die vier Kinder, tipptopp in Ordnung. Und sie machte eine höllisch gute Zitronencreme.
Meine Mutter ist ebenfalls Londonerin, aber vornehmer, in Richmond geboren. Ihr Vater, Phil Ray, war ein Schauspieler, der in Konzerthallen und auf der Bühne auftrat. Später fand er Arbeit bei Film und Fernsehen, spielte hauptsächlich Nebenrollen in über vierzig Filmen, von Söhne und Liebhaber über Blut für Dracula bis hin zu Frankenstein schuf ein Weib. Er gab immer einen guten Priester ab und war regelmäßig in Doctor Who, Z Cars und für kurze Zeit sogar in Hancock's Half Hour zu sehen. Als schüchterner, stiller Mann mit einem Hang zur Melancholie liebte er das Schauspielern, da es ihm, wie er sagte, erlaubte, jemand anders zu sein.
Seine größte Leidenschaft war meine Großmutter Dorothy. Ihr Künstlername war Jackie, und sie arbeitete als Tänzerin und Model. Ausgesprochen elegant, obwohl sie nie Geld besaß, fertigte sie all ihre Kleider, einschließlich ihrer Hüte und Mäntel, selbst an und brachte mir das Nähen bei. Während meine Eltern im Ausland waren, verbrachte ich viel Zeit mit ihr: jedes Wochenende, an dem ich das Internat in England verlassen durfte. Als sie starb, errichtete mein Großvater zur Erinnerung in einer Ecke ihrer Wohnung eine Art Altar mit Fotografien von ihr. Und dann welkte er nur noch still vor sich hin.
Meine Tochter Molly ist ebenfalls Londonerin. Genau wie ich.
Ich bin blond und blauäugig, einen Meter achtundsechzig groß und wiege vierundsechzig Kilo, mehr oder weniger. Etwas weniger wäre mir lieber. Ich liebe Mode, vielleicht durch den Einfluss meiner Großmutter, und habe am Central Saint Martin's College Mode studiert, wo ich jetzt, nachdem ich dort viele Jahre unterrichtet habe, eine Gastprofessur innehabe. Schöne Kleider liebe ich noch immer.
Nach dem College habe ich für Vogue über Mode geschrieben. Hier begann meine Karriere, nachdem ich den Vogue-Talentwettbewerb gewonnen hatte. Danach arbeitete ich vier Jahre lang als Moderedakteurin für den Observer.
Ich bin eine Mutter - für Molly, die ich über alles liebe und die mich liebt. »So viel«, sagt sie und breitet die Arme weit aus.
Ich liebe Wörter. Und Bücher. Ich bin eine erfolgreiche Journalistin. Erfolgreich insofern, als Leute mich dafür bezahlen, dass ich für sie schreibe, wofür ich immer dankbar bin. Als Kind wäre ich nie auf die Idee gekommen, dass Leute mir Geld dafür geben würden, das zu tun, was ich am liebsten tue.
Außerdem bin ich eine erfolgreiche Romanautorin. Ich habe vier Romane geschrieben, die sich allesamt ganz gut verkauft haben. Zumindest so gut, dass der Verleger mich jedes Mal bat, noch einen zu schreiben.
Ich war auch als Herausgeberin einer Zeitschrift erfolgreich. Mitte der Achtzigerjahre startete ich Elle, für die ich vier Jahre lang verantwortlich war. Es war ein erfreulicher und sofortiger Erfolg und setzte, so hieß es zumindest, Maßstäbe für eine neue Richtung bei Frauenzeitschriften. Zehn Jahre später gab ich eine andere Zeitschrift, Red, heraus, nur für ein Jahr und mit weitaus weniger Erfolg. Manche Leute waren begeistert, andere verabscheuten sie. Ich tröste mich mit dem Gedanken, dass ihr offenbar niemand gleichgültig gegenüberstand.
Weniger erfolgreich bin ich in meinen Beziehungen. Ich war zweimal verheiratet, worüber ich nicht sehr froh bin. Zumindest über das Scheitern bin ich nicht froh, über die Ehen hingegen schon, die ich beide zu ihrer Zeit sehr schön fand. Mit meinen beiden Ex-Männern bin ich noch immer gut befreundet.
Momentan bin ich verliebt in jemanden, von dem ich auch geliebt werde, und ich hoffe, dass ich ihn besser zu lieben vermag, als ich es bei meinen beiden Ex-Ehemännern vermochte. Ich vermute, er hofft dasselbe.
Gärtnern ist meine Leidenschaft. Und gutes Essen. Ich koche sehr gern. Es gibt nur wenig, was mir mehr Freude bereitet, als für meine Freunde zu kochen.
In all diesen Dingen kann ich mich glücklich schätzen.
Und ich bin depressiv. Das passt nicht recht ins Bild, oder?
Kapitel 2
Irrenhaus und Blutegel
Sei gütig, denn alle Menschen, denen du begegnest, kämpfen einen schwereren Kampf.
Platon
Kürzlich fuhr ich einen guten Freund, Nigel, zu einer Ultraschall- Untersuchung. Es gab einen Verdacht auf Tumore in seiner Lunge und in seiner Leber.
»Blockaden« haben sie sie genannt und die Überweisung mit dem Vermerk »dringend« versehen. Er schlägt einen witzigen Ton an, als er mir davon berichtet, spricht das Wort überspitzt aus. Wir wissen beide, was das heißt, Blockaden gegenüber dem Leben, aber wir haben einen stillschweigenden Pakt, nicht darüber zu reden.
Wir erreichen die Klinik. Nigel verschwindet durch eine Doppeltür mit einem großen roten Stoppschild. Ich sehe ihm nach. Ich bin ein Wrack, aber ich lächele, auch wenn das dumm ist, denn er kann mich gar nicht sehen. Wir sind schon einmal zusammen in einer Klinik gewesen, einer psychiatrischen Klinik. Dort haben wir uns kennengelernt. Es macht uns diebischen Spaß, die Geschichte auf Partys zu erzählen: »Wir haben uns in der Klapsmühle kennengelernt.« Die Leute wissen nie, ob sie uns glauben sollen. Aber wenn wir lachen, lachen sie auch. Es ist nur witzig, weil es so unglaublich klingt. Wir sehen nicht aus wie Leute, die an Depressionen leiden. Aber ich bin in drei psychiatrischen Kliniken gewesen. Niemand dort sah aus wie jemand, der an einer Depression leidet. Sie macht keinen Halt vor dem Typ. Oder dem Geschlecht. Oder der Schicht. Oder dem Geld. Oder dem Erfolg.
Meine Tochter Molly hat viel von Nigel gelernt. Sie weiß, woher ich ihn kenne. Sie hat ihn zum ersten Mal getroffen, als sie mich in der psychiatrischen Klinik besucht hat. Und sie liebt ihn.
»Wenn er verrückt ist«, sagt sie, »dann liebe ich verrückte Leute.«
»Nicht verrückt, Darling, nur depressiv.«
»Egal.«
Als Nigel und ich uns kennenlernten, waren wir beide wahnsinnig - und ich verwende dieses Wort bewusst - suizidgefährdet. Nigels bevorzugte Methode, sich das Leben zu nehmen, oder zu planen, sich das Leben zu nehmen, war es, mit seinem Wagen in hohem Tempo gegen eine Wand zu rasen. Er hatte schon alle Straßenbiegungen und Schnellstrecken in der Nähe seines Hauses unter die Lupe genommen. Er kannte die besten Kurven.
Ich war in der Klinik, da ich eine Gefahr für mich selbst darstellte. Ich verstand es ebenso gut, mir das Leben zu nehmen, wie mir eine Tasse Tee zu kochen. Damals hätte ich nicht sagen können, was mir lieber war.
Wir lernten uns ungewöhnlich gut kennen, verbunden durch unsere Krankheit und eine plötzliche, wenn auch nicht unbedingt erwünschte Verletzlichkeit. Ich selbst kenne jedenfalls keinen schnelleren Weg zu Intimität als den katastrophalen Zerfall im Verlauf einer Depression oder die absolute Ehrlichkeit, die einem in der Gruppentherapie abverlangt wird. Natürlich halten nicht alle Freundschaften, die auf psychiatrischen Stationen geschlossen werden. Warum sollten sie auch? Wir sind in erster Linie Menschen, und erst in zweiter Depressive. Es gibt andere, wichtigere Bande, die Menschen zusammenschweißen, als eine gemeinsame Geisteskrankheit.
Nachdem wir die Klinik verlassen hatten, verband uns unsere Liebe zu Büchern und Gärten oder der letzten Rea- lity-TV-Show ebenso sehr wie unser vertrauter Umgang mit dem Suizid. Heutzutage sprechen wir nur noch selten über unsere Krankheit. Wir sind nicht, wie Nigel meist rasch erklärt, »zwei sensationslüsterne Neurotiker«. Dennoch ist es der dunkle, unerwünschte Schatten, den die Depression bisweilen über uns wirft, der uns so eng zusammenschweißt. Wir können in Zeiten miteinander reden, in denen wir mit sonst niemandem reden können. Wir können uns Dinge sagen, die wir niemandem sonst sagen könnten.
Eines Tages, bald nachdem wir die Klinik verlassen hatten, rief Nigel mich an. Ich saß tief in meinem schwarzen Loch, und ich weinte. Er hörte mir eine Weile schweigend zu. Dieses Schweigen war unbeschreiblich tröstlich. Er würde nie, wie es andere tun, versuchen, mir meine eigene Realität auszureden. Er würde mir nie einreden, dass ich etwas empfinde, was ich nicht empfinde.
Als ich schwer krank war, wurde ich all die Leute so leid, die mir sagten, es würde mir bald besser gehen. Ich hatte immer das Gefühl, dass ich versuchen musste, sie zu trösten, indem ich ihnen beipflichtete. Entweder das oder schweigen. Es gab keine Worte, um die Tiefen meiner Verzweiflung zu erklären. Ich verstand es selbst nicht.
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2009 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln
Ich bin keine Expertin, aber ich habe aus Erfahrung gelernt. Fast vier Jahre lang habe ich Tag und Nacht mit der Depression gelebt. Ich glaubte, ich würde sie nicht überstehen. Ich glaubte, ohne es dramatisieren zu wollen, ich würde sterben. Ich wollte sterben. Eine Zeit lang war das alles, was ich wollte.
Das ist nichts, was man bereuen oder wofür man sich schämen muss. Sterben zu wollen (oder die »suizidale Ideation «, wie es Fachleute gern nennen) geht Hand in Hand mit der Krankheit. Es ist ein Symptom einer schweren Depression, kein Charakterfehler oder moralischer Makel. Ebenso wenig ist es wirklich das Bedürfnis zu sterben als vielmehr ein brennender Wunsch, nicht mehr weiterzuleben. Alle Depressiven verstehen diesen Unterschied.
Inzwischen will ich nicht mehr sterben. Es geht mir gut. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass ich glücklich bin. Es heißt, dass Glück nicht messbar ist. Vielleicht nicht. Wie die Depression ist es bei jedem Menschen anders. Aber genau wie wir die Depression in den Hintergrund drängen können, können wir auch das Glück zum Vorschein bringen. Anfangs hatte ich keine Ahnung, wo ich danach suchen sollte. Ich war kaum geübt in der Kunst oder der Erfahrung des Glücks, und der letzte Ort, an dem ich es zu finden glaubte, war in mir selbst.
Meine Genesung schritt nur langsam voran. Ich hatte das Gefühl, als würde ich wieder laufen lernen. Sehr oft bin ich gestolpert und gestürzt. An manchen Tagen konnte ich nicht mehr als ein paar Schritte bewältigen. Aber jeden Tag habe ich es versucht, und ganz allmählich bin ich aus dem Loch völliger Verzweiflung herausgekrabbelt. Es gibt keine Wunder. Gesund zu werden und gesund zu bleiben erfordert Zeit, Hingabe und ungeteilte Aufmerksamkeit. Es bedeutet, die Verantwortung für unsere eigene emotionale Gesundheit und unser Glück zu übernehmen. Absolute Ehrlichkeit und ständige Selbstprüfung sind dabei unerlässlich, genauso wie Demut, Geduld und Bereitschaft. Das hört sich nach harter Arbeit an, und das ist es auch. Aber es ist nicht annähernd so hart, wie mit einer schweren Depression zu leben.
Man könnte sagen, dass dies ein spirituelles Buch ist. In mancher Hinsicht ist das zutreffend. Es ist ein spirituelles Buch, verfasst von einer Atheistin. Wie ein genesender Alkoholiker einmal zu mir sagte: »Religion ist für Leute, die nicht in die Hölle kommen wollen. Spiritualität ist für Leute, die dort gewesen sind.«
Ich entschuldige mich nicht dafür. Sie können sich davon nehmen, was Sie brauchen, und den Rest liegen lassen. Um von meiner schweren Depression zu genesen, habe ich auf unterschiedliche Disziplinen zurückgegriffen - von moderner Therapie über den Buddhismus bis hin zum Zwölf- Schritte-Programm, dem spirituellen Ansatz der Anonymen Alkoholiker. Ich habe Hilfe von Psychiatern, Therapeuten, Freunden und völlig Fremden in Anspruch genommen. Ich habe Trost in Literatur, Wissenschaft und Gärten - vor allem meinem eigenen - gefunden.
Und es ist ein praktisches Buch insofern, als es Ideen dazu liefert, was helfen könnte. Es sind keine Versprechungen, nur Vorschläge. Auf meinen Reisen durch die Depression habe ich versucht, mich auf eine bestimmte Weise zu ernähren und jede Menge Vitamine, Aminosäuren und essenzielle Fette zu schlucken. Ich habe Yoga, Massage, Meditation, Homöopathie, Akupunktur und bioenergetisches Feedback ausprobiert. Ich vertraute mich Heilern an, die über mir standen und negative Energie aus meinem Nacken zogen, und andere, die Engel an meinem Tisch heraufbeschworen. Ich habe es mit jeder Form von Therapie versucht und jedes Buch über Depression gelesen, das ich in die Finger bekommen konnte. Manche Formulierungen von spirituellen Führern, Dichtern und Schriftstellern habe ich wie Mantras vor mich hin gemurmelt, in der Hoffnung, durch bloßes Wiederholen zu Gelassenheit zu finden. Natürlich hilft nicht alles, aber manches eben doch, und darüber kann ich Ihnen berichten. Auch davon können Sie sich nehmen, was Sie wollen, und den Rest liegen lassen.
Dass die Depression wiederkommen könnte, ist die Angst eines jeden Depressiven. Sie könnte. Sie könnte nicht. Ich kann es unmöglich wissen. Manchmal fühle ich mich immer noch niedergeschlagen, aber ich habe festgestellt, dass ich, wenn ich mit dieser Schwierigkeit umgehen kann, auf einem guten Weg bin, die Depression in Schach zu halten. Das Wichtigste ist, dass man sich nicht von der Angst fesseln lässt. Die Depression kommt einer Lähmung der Hoffnung gleich. Eines weiß ich mit Bestimmtheit: Versuchen Sie, nie die Hoffnung aufzugeben, denn wenn Sie das tun, dann wird die Hoffnung mit Sicherheit versuchen, Sie aufzugeben.
Deshalb hier meine Geschichte. Sie bewegt sich kreuz und quer in der Zeit. Manchmal verläuft sie rückwärts, denn wie der dänische Philosoph Søren Kierkegaard vor einigen hundert Jahren erklärte: »Verstehen kann man das Leben nur rückwärts, aber leben muss man es vorwärts.« Und er sagte auch: »Vergiss nicht, dich selbst zu lieben«, wofür ich ihn wirklich liebe. Meine Geschichte hält auch hin und wieder inne, um eine Richtung oder zumindest hilfreiche Ideen aufzuzeigen. Sie ist nicht ordentlich oder aufgeräumt, aber das ist mein Verstand auch nicht. Und ein Leben normalerweise auch nicht.
Meine Geschichte beginnt am Morgen meines fünfzigsten Geburtstags. Das erscheint mir als guter Ausgangspunkt. Jeder Tag ohne Depression ist ein guter Ausgangspunkt.
Ich wache früh auf und sitze mit einer Tasse Tee im Bett und denke nach. Über nichts Bestimmtes, das ist einfach meine Art, das Chaos in meinem Kopf zu entwirren und ein Gefühl von Frieden und Ordnung für den Tag, der vor mir liegt, zu schaffen. Das tue ich jeden Tag eine halbe Stunde lang, und anschließend meditiere ich zwanzig Minuten. Das ist eine Gewohnheit, die ich entwickelt habe, seit ich krank war. Ich will nicht wissen, wie oder warum es mir hilft. Ich weiß einfach, dass es mir hilft.
Mein Schlafzimmer ist weiß und lichtdurchflutet, mit einer Verandatür, die genau in den Garten hinausführt. Das Licht ist mir wichtig; es bekämpft das Dunkel in meinem Kopf.
In seinem wegweisenden Buch über die Depression, Saturns Schatten, schreibt Andrew Solomon, selbst depressiv: »Mit der Depression bekämpft man zugleich sich selbst.«1 Er hat recht, auch wenn ich diesen Satz bei der ersten Lektüre so verstand, dass man in der Depression zu seinem eigenen Feind wird. Bei dem rasenden Selbsthass, den man während einer Phase schwerer Depression empfindet, denke ich, stimmt das.
Ich habe mich selbst so sehr gehasst, dass ich versucht habe, mir das Leben zu nehmen.
Heute glaube ich, dass ich nicht so sehr mich selbst gehasst habe, sondern vielmehr das Selbst, zu dem ich während der Depression wurde. Ich wollte es tot sehen.
Es ist zwei Jahre her, seit ich aus der Depression wiederaufgetaucht bin, und ich will mich nicht mehr tot sehen. Ich will mich am Leben sehen. Ich bin nicht mehr mein eigener Feind. Die Depression ist der Feind. Das Monster lebt vor meiner Tür. Ich hoffe, dass ich, mit genügend Anstrengung und Glück, dafür sorgen kann, dass es dort bleibt. Und wenn das bedeutet, Dinge tun zu müssen, die ich einmal für untypisch hielt, wie zum Beispiel um sechs Uhr morgens aufzustehen, um zu meditieren, dann werde ich das tun.
Sobald ich meditiert und eine gewisse Ordnung in meinen Kopf gebracht habe, betrachte ich mich im Spiegel. Um zu sehen, ob ich anders aussehe, nehme ich an, jetzt, wo ich auf einmal älter bin. Ich sehe dasselbe blonde Haar, dieselben blauen Augen und dieselbe kindliche Stupsnase. Ich habe meine Brille nicht auf, sodass ich mein Spiegelbild leicht verschwommen sehe. Andererseits bin ich selbst, auch ohne diese gütige Unschärfe (eine der freundlicheren Entschädigungen von Mutter Natur für das Alter), mein unzuverlässigster Zeuge. Zu viel Geschichte ist mit meinem Gesicht verbunden, zu viele Erinnerungen hängen an den Rändern meiner Realität. Mich selbst kann ich nicht sehen. Aber ich kann sehen, dass die Spuren der Depression nicht mehr in meinem Gesicht sind. Heutzutage kann ich Depressive leicht erkennen. Die Krankheit zeigt sich wie ein Graffiti auf ihrem Gesicht.
Meine Tochter, Molly, schießt ein Foto, um meinen Geburtstag festzuhalten. »Mach die Augen auf, Mum«, sagt sie.
Meine Augen sind sehr tief liegend und verschwinden leicht völlig, wenn ich nicht aufpasse.
»Sie sind offen«, sage ich.
»Na, dann mach sie noch ein bisschen weiter auf. Blick überrascht.«
Ich tue es, denn ich bin es.
Ich bin überrascht, dass ich es bis zu meinem Fünfzigsten geschafft habe, während ich einmal dachte, ich würde es überhaupt nicht schaffen. Ich bin überrascht, dass ich friedlich im Sonnenschein im Garten sitze. Ich bin überrascht, dass meine Tochter, die fünfzehn ist, schön und beschwingt und größer als ich ist. Vor allem bin ich überrascht, dass ich glücklich bin, dass ich wieder die Fähigkeit zum Glücklich- sein besitze.
Als ich sehr krank war und Molly neun Jahre alt war, klebte sie gern Notizen an die Wand über meinem Bett. Eine lautete: »Liebe Engel, bitte bringt meiner Mummy all die Freude und all das Glück, das sie verdient hat.« Ich weinte, als ich diese Notiz las, denn ich war sicher, dass ich nichts davon verdient hatte.
Ich wünsche niemandem eine Depression. Und doch hat sie mich vieles gelehrt. Ich bin nicht plötzlich gefühlsselig dankbar für mein Leben, aber ich interessiere mich mehr dafür, lasse mich mehr darauf ein, könnte man sagen. Wenn man lange Jahre im Dunkeln verbracht hat, dann ist es eine Freude, Licht und Vergnügen vor allem in gewöhnlichen Dingen zu sehen.
Ich sehe hinaus auf meinen Garten. Es ist nicht mein erster Garten, aber es ist der erste, den ich selbst geschaffen habe. Als ich sehr krank war, hielt mich das Träumen von diesem Garten in den langen, dunklen Nächten und noch dunkleren Tagen am Leben, noch bevor er überhaupt existierte.
Ihn zu bepflanzen, die Hände in die Erde zu stecken, das war Therapie und Verbindung mit der Zukunft zugleich. Denn selbst in meiner tiefsten Verzweiflung war ich immer mit Pflanzen beschäftigt. Selbst in der Dunkelheit erschien mir das als Zeichen des Optimismus, der Hoffnung.
Als ich richtig krank war, lebte ich in einer Wohnung ohne Garten. Es ist symptomatisch dafür, wie wenig Freude ich finden konnte, selbst an Dingen, die mich normalerweise begeistern, dass ich diese Wohnung kaufte. Aber obwohl ich das Bett kaum verlassen konnte und es einem fast übermenschlichen Akt gleichkam, mich anzuziehen, fiel meinen Freunden auf, dass ich jedes Mal, wenn ich mich aus dem Haus gewagt hatte, mit einer Pflanze zurückkam; einer Geranie, einem Topf Jasmin, einer Kiste Lavendel. Es ist derselbe Jasmin, der jetzt an der Wand neben meiner Küche wuchert und den Raum jeden Sommer mit seinem Duft erfüllt, während Ableger der ursprünglichen Geranie in Töpfen vor meinem Schuppen blühen. Als ich den Garten fand, war er ein einziges Durcheinander, eine schlafende Schönheit unter einer Last von Lorbeer, Liguster und Dornengestrüpp so dick wie ein Männerarm. Ein kleiner Ahorn, um dessen Fuß jetzt Pfingstrosen wachsen, hat noch immer einen s-förmigen Knick in seinem Stamm, wo er sich zum Licht hin gereckt hat. Ich liebe diesen Baum.
Sobald ich das Schlimmste beseitigt hatte (ich, ein Mann mit einem Kleinlaster und tagelange Knochenarbeit), begann ich, mithilfe eines Maßbandes, einer Dose Sprühfarbe und etwas Schnur, den Garten anzulegen. Es war ein sehr heißer Sommer, sodass ich meistens noch spätabends im Nachthemd draußen war. Ich muss wie die Irre aus der Gegend ausgesehen haben (na ja, seien wir ehrlich, ich war die Irre aus der Gegend), aber meine Nachbarn sind zu charmant, um das je erwähnt zu haben.
Jetzt ist der Garten wunderschön. Ich beobachte, wie das Licht ihn durchflutet und wieder verschwindet, sehe den Frühling kommen und den Sommer gehen. Wenn ich, wie so manches Mal, das Gefühl habe, dass alle Hoffnung dahin ist, ruft er mir sanft in Erinnerung, dass, wenn etwas stirbt, etwas Neues an seine Stelle treten muss. Ich liebe die Natur wegen ihres unbeschwerten Gleichmuts, wegen der Beharrlichkeit, mit der sie alles in ihrem eigenen, sanften Tempo angeht. Die Narzissen werden ihre gelben Glocken entfalten, wenn sie selbst so weit sind, egal, wie oft ich sie dränge, dass sie und der Frühling sich endlich beeilen sollen. Die Wurzeln, unter der Erde verborgen, werden sich langsam entfalten, wie sie es sollen, genau wie sich das Leben so entfalten wird, wie es soll. Kein noch so großes Aufhebens meinerseits wird etwas daran ändern. In dieser Einsicht liegt Freiheit. Und es liegt Freude in dem Wissen, dass Schönheit unvermeidlich ist, in dem allmählichen Erblühen einer Rose, dem Geruch frisch gemähten Rasens, der Wärme des frühsommerlichen Sonnenscheins auf unseren Rücken.
Als ich Freunden erzählte, dass ich dieses Buch schreiben würde, sagten sie: »Warum tust du dir das an? Weißt du denn nicht mehr, wie krank du warst? Bist du verrückt?«
Na ja, schon.
Warum schreibe ich also dieses Buch? Ich schreibe es, denn auch wenn ich den Beichtstuhl missbillige, war ich (und bin noch immer) so angewidert von dem Stigma, das der Depression anhaftet, dass ich beschloss, aufzustehen und meine Stimme zu erheben, mich nicht aus Scham zu verstecken. Wenn ich ein Talent besitze, dann die Fähigkeit zu kommunizieren und veröffentlicht zu werden. Daher verfasste ich einen persönlichen Bericht über meine suizidale Depression für eine Tageszeitung, den Daily Telegraph.
Im Gegenzug erhielt ich zweitausend Briefe, und in jedem von ihnen stand: »Gott sei Dank bin ich nicht allein.«
Ich musste weinen, als ich diese Briefe las. Ich wusste einfach, wie den Leuten zumute war, und fühlte mich selbst beim Lesen dieser Briefe gleich weniger einsam. Das war der Augenblick, in dem mir klar wurde, dass ich dieses Buch schreiben musste, nicht nur für andere Leute, sondern für mich selbst. Ich will mich nie wieder so allein fühlen.
Als der Artikel im Daily Telegraph erschien, sagten viele Leute, ich sei mutig. Vielleicht bin ich das, auch wenn ich nicht unbedingt glaube, dass die Auseinandersetzung mit einer Krankheit eine couragierte Tat ist. Nur das Stigma, das der Depression anhaftet, vermittelt diesen Eindruck. Ich wünschte, ich könnte sagen, dass es Mut war, der mich dazu getrieben hat, mich wie ein Schmetterling auf die Seiten einer überregionalen Zeitung zu heften, aber tatsächlich war es Wut.
Ich gebe zu, dass ich von meiner Wut überrumpelt wurde. Aber das wurde ich von der Depression auch. Nie hatte ich über ihre Auswirkungen oder Konsequenzen nachgedacht, doch je länger ich in ihr gefangen war, desto deutlicher erkannte ich die Angst und die Scham, die ihr anhaften. Und je mehr Depressive ich kennenlernte, desto deutlicher begriff ich, dass wir nicht nur eine Krankheit bekämpfen, sondern auch die Art und Weise, wie mit ihr umgegangen wird.
Stellen Sie sich vor, Sie erzählen jemandem, dass Sie eine lebensbedrohliche Krankheit wie zum Beispiel Krebs haben, und Sie bekommen gesagt, Sie sollen sich zusammenreißen oder darüber hinwegkommen.
Stellen Sie sich vor, Sie sind entsetzlich krank und haben zu viel Angst davor, es jemandem zu sagen, um sich damit nicht Ihre Karriere zu verbauen.
Stellen Sie sich vor, Sie werden in eine Klinik eingewiesen, weil Sie zu krank sind, um noch zu funktionieren, und Sie schämen sich zu sehr, es jemandem zu sagen, da es eine psychiatrische Klinik ist.
Stellen Sie sich vor, Sie erzählen jemandem, dass Sie kürzlich aus einer psychiatrischen Klinik entlassen wurden, und sehen, wie er sich abwendet, vor Verlegenheit oder Abscheu oder Angst.
Vergleiche sind etwas Abscheuliches. Eine Krankheit zu stigmatisieren ist noch abscheulicher. Es ist schon schlimm genug, krank zu sein, aber sich gezwungen zu sehen, genau das zu leugnen, was einen, in seiner schlimmsten und aktivsten Phase, definiert, das ist wirklich eine Qual.
Es ist eine Krankheit. Nicht mehr und nicht weniger. Es ist weder ein moralischer Makel noch ein unmoralischer Zustand. Es ist kein Grund für Scham, Schuld oder Geheimnistuerei. Ich wünschte, ich hätte das gewusst, als ich zum ersten Mal krank wurde. Ich wünschte, ich hätte nicht so lange versucht, das Unbeherrschbare zu beherrschen, weil ich so beschämt war. Oder unwissend. Oder beides.
Es gibt keinen korrekten medizinischen Ausdruck für die Krankheit der Depression. Sie wird wahlweise als klinische, ernste oder schwere Depression bezeichnet. Ich werde mich im Wesentlichen auf den Begriff »schwere Depression « beschränken, einfach weil ich glaube, dass dieser Ausdruck die Krankheit am besten beschreibt.
Als ich schließlich irgendwann vor einem Psychiater saß, außerstande, mit dem Weinen aufzuhören, außerstande, noch zu funktionieren, und nur noch tot sein wollte, fragte er mich: »Wenn Sie eine Lungenentzündung hätten, würden Sie dann versuchen, sich selbst zu heilen?«
»Nein.«
Er zuckte mit den Schultern. »Warum glauben Sie dann, dass Sie Ihre Depression selbst heilen können?«
Warum? Weil ich dachte, ich hätte meinen eigenen Verstand im Griff. Ich war nie auf die Idee gekommen, dass ich an einer Krankheit litt, die ich zu der Zeit bereits kaum noch oder gar nicht mehr im Griff hatte. Ich wusste nichts über Depression. Ich wusste nur, dass ich ein Jahr lang gegen meinen Verstand angekämpft und dass ich verloren hatte.
»Sie sind krank«, sagte er. »Sie sind sehr, sehr krank.«
Damals war das für mich das Netteste, was irgendjemand zu mir sagen konnte. Ich war nicht verrückt. Ich war nur krank.
Als ich das später einem anderen Depressiven erzähle, lächelt er wissend und gibt zu, dass er, als seine Psychiaterin ihm erklärte, sie würde ihn eventuell zwangseinweisen müssen, wenn er sich weigerte, freiwillig in eine Klinik zu gehen, weder verängstigt noch wütend gewesen sei. Nur erleichtert. »Ich war krank. Ich musste in eine Klinik. Ich konnte endlich aufhören, so zu tun, als würde ich zurechtkommen. «
Manchmal denke ich, die Depression sollte die Krankheit des Zurechtkommens genannt werden. So viele von uns schlagen sich damit herum, wagen nicht, um Hilfe zu bitten, oder wissen nicht, wie sie es tun sollen. Noch größer und erschreckender ist die Anzahl derer, bei denen die Krankheit gar nicht erst diagnostiziert wird.
Das hier ist natürlich nur meine Geschichte. Jeder macht seine eigenen Erfahrungen mit der Depression. Ich kann nur sagen, wie es mir damit ergangen ist, in der Hoffnung, dass es vielleicht ein Licht auf das Leiden anderer wirft und ihnen ebenfalls hilft. Und es könnte denen helfen, die einen
depressiven Menschen lieben, besser zu verstehen, was der Betreffende durchmacht. Falls es mir geholfen hat, dann für ein besseres Verständnis meiner selbst und meiner tief sitzenden Verletzlichkeiten. Davon abgesehen würde ich mich lieber nicht mit ihnen befassen. Die Nabelschau hat nur einen begrenzten Reiz. Ich würde lieber zusehen, dass ich mein Leben weiterlebe, was das Gegenteil von Depression ist.
Aber das kann ich nicht, und das ist die Wahrheit, wie es sich auch niemand, der mit einer schweren, immer wiederkehrenden Krankheit lebt, erlauben kann, sich selbst oder die Symptome zu ignorieren. Ich halte ein Auge auf mich, mit einem wohlwollenden, objektiven Blick, der, so hoffe ich, meine Krankheit - und nicht so sehr mich selbst - ernst nimmt. Ebenso wenig bin ich (oder will es je sein) eine professionelle Depressive, die sich stets über die Melancholie definiert, die mich auf Schritt und Tritt zu verfolgen scheint; der »schwarze Hund«, als der sie auch bekannt ist. Offen gestanden würde ich diesen verdammten Hund am liebsten erschießen und die Sache damit als erledigt ansehen; aber ich habe gelernt zu akzeptieren, dass ich ihn nicht töten und, in gewisser Weise, auch nicht kennenlernen kann. Auf jeden Fall werde ich oft von ihm überrumpelt.
Der Teil von mir, der mir (natürlich) lieber ist, ist der Teil, den Molly mein »normales glückliches Selbst« nennt und der ebenso echt ist wie der depressive Teil meines Wesens, den ich als mein Schattenselbst ansehe. Im Grunde meines Herzens bin ich eine Optimistin. Ich liebe das Leben. Ich habe Freude an anderen Menschen. Ich habe viele gute Freunde. Ich schätze Freundschaft über alles, und es waren meine Freunde, die mir in den langen, dunklen Tagen der Depression zur Seite standen. Während meine Unfähigkeit, die Hand auszustrecken und mit ihnen zu kommunizieren, mich vor Schmerz fast um den Verstand brachte, wusste ich doch, dass sie da waren, selbst wenn ich außerstande war, mit ihnen zu sprechen. Und sie waren immer noch da, als ich wieder auftauchte. Dafür bin ich unsäglich dankbar.
Daher bin ich also kein Experte, sondern nur jemand, der an einer depressiven Krankheit leidet und ein Buch darüber schreibt. Mein Weg durch die Depression ist weder richtig noch falsch, er ist einfach nur meiner.
Ebenso wenig kann mein Bericht vollständig sein.
»Die Depression«, sagte mein Psychiater, als wir uns zum ersten Mal trafen und ich über meine Unfähigkeit klagte, durch Nachdenken aus ihr herauszufinden, »unterdrückt jeden einzelnen kognitiven Prozess. Konzentration, Gedächtnis, Logik, Vernunft, selbst die Interpretation von Fakten und tatsächlichen Ereignissen - alles wird unterbrochen. Wenn wir Sie jetzt testen würden, kann ich Ihnen garantieren, dass Ihr IQ mindestens dreißig Punkte niedriger ausfallen würde.«
Es ist, als ob der Verstand einen Schleier über sich selbst zieht. Teile meiner Erinnerung an jene Zeit sind noch immer ausgeblendet, darunter Bücher, die ich angeblich gelesen habe. Als ich sie mir später noch einmal ansah, stellte ich fest, dass sie mir fast völlig fremd waren. Dasselbe gilt für Filme. Teile von ihnen sind mir auf eine unheimliche Weise vertraut, so sehr, dass ich ein sofortiges Déjà-vu-Gefühl verspüre, aber ich kann mich weder an den Anfang noch an das Ende oder gar den mittleren Teil der Geschichte erinnern. Es gibt Gespräche, die ich geführt habe oder von denen Leute mir erzählt haben, ich hätte sie geführt, die für mich ein weißer Fleck sind, und ich bringe die Chronologie von Monaten oder gar Jahren gern durcheinander. Zum Glück, würden manche vielleicht sagen, denn die Depression ist kein Ort, an dem man länger verweilen will.
Andere Teile meiner Erinnerung an jene Zeit sind hingegen immer noch so ausgeprägt, dass ich nur an bestimmten Orten vorbeikommen oder bestimmte Gerüche wahrnehmen muss, um einen heftigen Schmerz zu verspüren. Er kehrt auf einer fast zellularen Ebene zu mir zurück. Es ist, als ob sowohl mein Körper als auch mein Geist sich erinnern, und ich glaube, dass eine depressive Krankheit körperlicher und geistiger Natur zugleich ist, dass der Körper imstande ist, an Erinnerungen und Erfahrungen festzuhalten, die der Geist lieber vergessen würde.
Ich bezweifle, dass ich die Einzige bin, die von ihrer Krankheit nach wie vor verfolgt wird. Alle Depressiven erinnern sich, wie krank sie einmal waren, wie krank manche von uns immer noch sind.
Kaptiel 1
Ich selbst bis jetzt
Ich war erfreut, sofort antworten zu können. Ich sagte: Ich weiß es nicht.
Mark Twain
Bevor ich von meiner Depression erzähle, sollte ich etwas von meinem bisherigen Leben erzählen. Oder vielleicht von mir selbst.
Ich bin in Brunei geboren, aber ich bin Engländerin und in vielen verschiedenen Ländern aufgewachsen. Von Brunei zogen wir nach Brasilien und von dort nach Aden, Oman und Angola. Wir verbrachten ungefähr drei Jahre in jedem Land, mit kurzen Zwischenaufenthalten in England. Mein Vater arbeitete nach dem Krieg für Shell und wurde ins Ausland versetzt. Wir folgten ihm, wo immer seine Arbeit ihn hinführte.
Von meinem elften Lebensjahr an ging ich in England aufs Internat, aber ich sah von diesem Land nicht mehr als die Schule. Es war kein Zuhause. Zuhause war jeweils das Land, in dem meine Eltern lebten. Endgültig nach England zog ich erst, als ich achtzehn Jahre alt war. Ich habe zwei Brüder. Mein älterer Bruder heißt Michael und mein jüngerer Tony. Den Großteil ihrer Kindheit haben sie ebenfalls im Internat verbracht.
Dad stammt aus Südlondon und ist das älteste von vier Kindern. Sein Vater, Reg, war ein Cockney, geboren, wie er immer stolz sagte, in Hörweite der Bow-Glocken, also in der Nähe der bekannten Londoner Bow Church, wie es sich für einen echten Cockney gehört. Reg arbeitete als Mann für alles; später zog er aufs Land, um eine Tankstelle zu führen. Zumindest war das die Version meines Opas vom Land: ein kleiner Bungalow vor einer Reihe Zapfsäulen inmitten eines Lkw-Parkplatzes an einem belebten Kreisverkehr am Stadtrand von Norwich. Selbstbedienung gab es damals noch nicht, sodass Reg zu jeder Tages- und Nachtzeit mit seiner Schirmmütze und seinem braunen Baumwollkittel draußen auf den Beinen war. Auf uns wirkte er immer fröhlich und war für jeden Spaß zu haben. Seinem Wellensittich brachte er bei, unsinniges Zeug zu reden, und uns Kinder jagte er ohne sein falsches Gebiss im Mund durch seinen Bungalow, sodass wir uns über sein zahnloses Grinsen halb totlachten.
Meine Großmutter Maisie war winzig klein, kaum einen Meter fünfzig groß, mit rotem Haar und blauen Augen. Sie hielt alles, ihr Haus, Reg und die vier Kinder, tipptopp in Ordnung. Und sie machte eine höllisch gute Zitronencreme.
Meine Mutter ist ebenfalls Londonerin, aber vornehmer, in Richmond geboren. Ihr Vater, Phil Ray, war ein Schauspieler, der in Konzerthallen und auf der Bühne auftrat. Später fand er Arbeit bei Film und Fernsehen, spielte hauptsächlich Nebenrollen in über vierzig Filmen, von Söhne und Liebhaber über Blut für Dracula bis hin zu Frankenstein schuf ein Weib. Er gab immer einen guten Priester ab und war regelmäßig in Doctor Who, Z Cars und für kurze Zeit sogar in Hancock's Half Hour zu sehen. Als schüchterner, stiller Mann mit einem Hang zur Melancholie liebte er das Schauspielern, da es ihm, wie er sagte, erlaubte, jemand anders zu sein.
Seine größte Leidenschaft war meine Großmutter Dorothy. Ihr Künstlername war Jackie, und sie arbeitete als Tänzerin und Model. Ausgesprochen elegant, obwohl sie nie Geld besaß, fertigte sie all ihre Kleider, einschließlich ihrer Hüte und Mäntel, selbst an und brachte mir das Nähen bei. Während meine Eltern im Ausland waren, verbrachte ich viel Zeit mit ihr: jedes Wochenende, an dem ich das Internat in England verlassen durfte. Als sie starb, errichtete mein Großvater zur Erinnerung in einer Ecke ihrer Wohnung eine Art Altar mit Fotografien von ihr. Und dann welkte er nur noch still vor sich hin.
Meine Tochter Molly ist ebenfalls Londonerin. Genau wie ich.
Ich bin blond und blauäugig, einen Meter achtundsechzig groß und wiege vierundsechzig Kilo, mehr oder weniger. Etwas weniger wäre mir lieber. Ich liebe Mode, vielleicht durch den Einfluss meiner Großmutter, und habe am Central Saint Martin's College Mode studiert, wo ich jetzt, nachdem ich dort viele Jahre unterrichtet habe, eine Gastprofessur innehabe. Schöne Kleider liebe ich noch immer.
Nach dem College habe ich für Vogue über Mode geschrieben. Hier begann meine Karriere, nachdem ich den Vogue-Talentwettbewerb gewonnen hatte. Danach arbeitete ich vier Jahre lang als Moderedakteurin für den Observer.
Ich bin eine Mutter - für Molly, die ich über alles liebe und die mich liebt. »So viel«, sagt sie und breitet die Arme weit aus.
Ich liebe Wörter. Und Bücher. Ich bin eine erfolgreiche Journalistin. Erfolgreich insofern, als Leute mich dafür bezahlen, dass ich für sie schreibe, wofür ich immer dankbar bin. Als Kind wäre ich nie auf die Idee gekommen, dass Leute mir Geld dafür geben würden, das zu tun, was ich am liebsten tue.
Außerdem bin ich eine erfolgreiche Romanautorin. Ich habe vier Romane geschrieben, die sich allesamt ganz gut verkauft haben. Zumindest so gut, dass der Verleger mich jedes Mal bat, noch einen zu schreiben.
Ich war auch als Herausgeberin einer Zeitschrift erfolgreich. Mitte der Achtzigerjahre startete ich Elle, für die ich vier Jahre lang verantwortlich war. Es war ein erfreulicher und sofortiger Erfolg und setzte, so hieß es zumindest, Maßstäbe für eine neue Richtung bei Frauenzeitschriften. Zehn Jahre später gab ich eine andere Zeitschrift, Red, heraus, nur für ein Jahr und mit weitaus weniger Erfolg. Manche Leute waren begeistert, andere verabscheuten sie. Ich tröste mich mit dem Gedanken, dass ihr offenbar niemand gleichgültig gegenüberstand.
Weniger erfolgreich bin ich in meinen Beziehungen. Ich war zweimal verheiratet, worüber ich nicht sehr froh bin. Zumindest über das Scheitern bin ich nicht froh, über die Ehen hingegen schon, die ich beide zu ihrer Zeit sehr schön fand. Mit meinen beiden Ex-Männern bin ich noch immer gut befreundet.
Momentan bin ich verliebt in jemanden, von dem ich auch geliebt werde, und ich hoffe, dass ich ihn besser zu lieben vermag, als ich es bei meinen beiden Ex-Ehemännern vermochte. Ich vermute, er hofft dasselbe.
Gärtnern ist meine Leidenschaft. Und gutes Essen. Ich koche sehr gern. Es gibt nur wenig, was mir mehr Freude bereitet, als für meine Freunde zu kochen.
In all diesen Dingen kann ich mich glücklich schätzen.
Und ich bin depressiv. Das passt nicht recht ins Bild, oder?
Kapitel 2
Irrenhaus und Blutegel
Sei gütig, denn alle Menschen, denen du begegnest, kämpfen einen schwereren Kampf.
Platon
Kürzlich fuhr ich einen guten Freund, Nigel, zu einer Ultraschall- Untersuchung. Es gab einen Verdacht auf Tumore in seiner Lunge und in seiner Leber.
»Blockaden« haben sie sie genannt und die Überweisung mit dem Vermerk »dringend« versehen. Er schlägt einen witzigen Ton an, als er mir davon berichtet, spricht das Wort überspitzt aus. Wir wissen beide, was das heißt, Blockaden gegenüber dem Leben, aber wir haben einen stillschweigenden Pakt, nicht darüber zu reden.
Wir erreichen die Klinik. Nigel verschwindet durch eine Doppeltür mit einem großen roten Stoppschild. Ich sehe ihm nach. Ich bin ein Wrack, aber ich lächele, auch wenn das dumm ist, denn er kann mich gar nicht sehen. Wir sind schon einmal zusammen in einer Klinik gewesen, einer psychiatrischen Klinik. Dort haben wir uns kennengelernt. Es macht uns diebischen Spaß, die Geschichte auf Partys zu erzählen: »Wir haben uns in der Klapsmühle kennengelernt.« Die Leute wissen nie, ob sie uns glauben sollen. Aber wenn wir lachen, lachen sie auch. Es ist nur witzig, weil es so unglaublich klingt. Wir sehen nicht aus wie Leute, die an Depressionen leiden. Aber ich bin in drei psychiatrischen Kliniken gewesen. Niemand dort sah aus wie jemand, der an einer Depression leidet. Sie macht keinen Halt vor dem Typ. Oder dem Geschlecht. Oder der Schicht. Oder dem Geld. Oder dem Erfolg.
Meine Tochter Molly hat viel von Nigel gelernt. Sie weiß, woher ich ihn kenne. Sie hat ihn zum ersten Mal getroffen, als sie mich in der psychiatrischen Klinik besucht hat. Und sie liebt ihn.
»Wenn er verrückt ist«, sagt sie, »dann liebe ich verrückte Leute.«
»Nicht verrückt, Darling, nur depressiv.«
»Egal.«
Als Nigel und ich uns kennenlernten, waren wir beide wahnsinnig - und ich verwende dieses Wort bewusst - suizidgefährdet. Nigels bevorzugte Methode, sich das Leben zu nehmen, oder zu planen, sich das Leben zu nehmen, war es, mit seinem Wagen in hohem Tempo gegen eine Wand zu rasen. Er hatte schon alle Straßenbiegungen und Schnellstrecken in der Nähe seines Hauses unter die Lupe genommen. Er kannte die besten Kurven.
Ich war in der Klinik, da ich eine Gefahr für mich selbst darstellte. Ich verstand es ebenso gut, mir das Leben zu nehmen, wie mir eine Tasse Tee zu kochen. Damals hätte ich nicht sagen können, was mir lieber war.
Wir lernten uns ungewöhnlich gut kennen, verbunden durch unsere Krankheit und eine plötzliche, wenn auch nicht unbedingt erwünschte Verletzlichkeit. Ich selbst kenne jedenfalls keinen schnelleren Weg zu Intimität als den katastrophalen Zerfall im Verlauf einer Depression oder die absolute Ehrlichkeit, die einem in der Gruppentherapie abverlangt wird. Natürlich halten nicht alle Freundschaften, die auf psychiatrischen Stationen geschlossen werden. Warum sollten sie auch? Wir sind in erster Linie Menschen, und erst in zweiter Depressive. Es gibt andere, wichtigere Bande, die Menschen zusammenschweißen, als eine gemeinsame Geisteskrankheit.
Nachdem wir die Klinik verlassen hatten, verband uns unsere Liebe zu Büchern und Gärten oder der letzten Rea- lity-TV-Show ebenso sehr wie unser vertrauter Umgang mit dem Suizid. Heutzutage sprechen wir nur noch selten über unsere Krankheit. Wir sind nicht, wie Nigel meist rasch erklärt, »zwei sensationslüsterne Neurotiker«. Dennoch ist es der dunkle, unerwünschte Schatten, den die Depression bisweilen über uns wirft, der uns so eng zusammenschweißt. Wir können in Zeiten miteinander reden, in denen wir mit sonst niemandem reden können. Wir können uns Dinge sagen, die wir niemandem sonst sagen könnten.
Eines Tages, bald nachdem wir die Klinik verlassen hatten, rief Nigel mich an. Ich saß tief in meinem schwarzen Loch, und ich weinte. Er hörte mir eine Weile schweigend zu. Dieses Schweigen war unbeschreiblich tröstlich. Er würde nie, wie es andere tun, versuchen, mir meine eigene Realität auszureden. Er würde mir nie einreden, dass ich etwas empfinde, was ich nicht empfinde.
Als ich schwer krank war, wurde ich all die Leute so leid, die mir sagten, es würde mir bald besser gehen. Ich hatte immer das Gefühl, dass ich versuchen musste, sie zu trösten, indem ich ihnen beipflichtete. Entweder das oder schweigen. Es gab keine Worte, um die Tiefen meiner Verzweiflung zu erklären. Ich verstand es selbst nicht.
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2009 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln
... weniger
Autoren-Porträt von Sally Brampton
Sally Brampton begann ihre Karriere bei der Vogue bevor sie als Fashion Editor beim Observer anfing. Se war beteiligt am Launch von Elle in England, bei der sie fünf Jahre lang als Redakteurin arbeitete, danach widmete sie sich ganz dem Schreiben. Sie hat einige Romane veröffentlicht, außerdem einen Dokumentarfilm und ein Theaterstück, und hat für alle größeren Zeitungen und Magazine Englands geschrieben.
Bibliographische Angaben
- Autor: Sally Brampton
- 448 Seiten, Maße: 13,3 x 19,1 cm, Flex. Einband
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863651820
- ISBN-13: 9783863651824
Kommentare zu "Das Monster, die Hoffnung und ich"
0 Gebrauchte Artikel zu „Das Monster, die Hoffnung und ich“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
3.5 von 5 Sternen
5 Sterne 0Schreiben Sie einen Kommentar zu "Das Monster, die Hoffnung und ich".
Kommentar verfassen