Das Revuemädchen
New York, 1925: Die Irin Amy ist Näherin in einem Revuepalast. Aber sie träumt eigentlich davon, ein berümtes Showgirl zu werden. Und dann wird ihr Traum tatsächlich wahr: Sie bekommt ein Engagement am Theater. Dort verliebt sie sich...
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Produktinformationen zu „Das Revuemädchen “
New York, 1925: Die Irin Amy ist Näherin in einem Revuepalast. Aber sie träumt eigentlich davon, ein berümtes Showgirl zu werden. Und dann wird ihr Traum tatsächlich wahr: Sie bekommt ein Engagement am Theater. Dort verliebt sie sich leidenschaftlich in den Flieger Jack, den sie jedoch nie ganz für sich gewinnen kann. Erst Jahre später begegnen sie sich wieder.
Lese-Probe zu „Das Revuemädchen “
Das Revuemädchen von Julia von DrosteKapitel eins
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Die letzten Minuten vor Vorstellungsbeginn waren die schönsten, fand Amy. Auf Zehenspitzen tastete sich die
Fünfzehnjährige ein paar Zentimeter weiter vor, auch wenn sie wusste, dass die Bühne bis auf einen einzelnen Mikrophonständer noch leer und dunkel war. Einen halben Meter vor ihr, wo der Seitenflügel endete, wartete bereits Oliver Dressler, der Conférencier. Elegant sah er aus in seinem schwarzen Frack. Den Zylinder drehte er zwischen den Händen, und als Amy sich neben ihn schob, bemerkte sie, dass er lautlos die Lippen bewegte. »Hi Oliver, probst du deine Ansage?«, raunte Amy.
Er nickte. »Weißt du doch, Feuerkopf«, flüsterte er zurück, wobei er mit diesem Spitznamen sowohl auf ihre Haarfarbe als auch auf ihr Temperament anspielte. Dann nahm sein Gesicht wieder einen konzentrierten Ausdruck an, und er setzte sein stummes Rezitieren fort. Amy spähte nach oben, wo sie schemenhaft die Umrisse der Kulissen erkannte, die an Seilzügen über der Bühne hängend auf ihren Einsatz warteten. Blickte sie dagegen in Richtung Zuschauerraum, versperrte noch der schwere burgunderrote Samtvorhang die Sicht. Aber Amy wusste auch so, dass wieder alle siebenhundert Plätze des National Wintergarden vom Parkett bis zum Balkon, vom rechten bis zum linken Seitenrang besetzt waren.
Durch den Vorhang hörte sie gedämpftes Stimmengewirr, erwartungsvolles Rascheln und Füßescharren, vereinzeltes Lachen. Sie schnupperte Tabakqualm, der sich mit den Parfüms der Frauen mischte. Aus dem Orchestergraben summte, klimperte und tutete es. Die vierzehn Musiker - außer einem Klavierspieler, einem Schlagzeuger und ein paar Streichern hauptsächlich Blechbläser - stimmten ihre Instrumente.
In den Gängen und Räumen hinter der Bühne herrschte währenddessen fieberhafte Aufregung. Immer wieder hörte Amy Türenschlagen, eiliges Füßetrappeln, gebellte Anweisungen, wenn eine Requisite nicht an ihrem Platz war oder ein Kostüm vermisst wurde.
Dann gingen die Scheinwerfer an, und die Bühne wurde in rosiges Licht getaucht - ein Licht, das gleich die Haut der Tänzerinnen so weich und samtig schimmern lassen würde wie die eines Babys. Amy kannte die Fähigkeiten der Techniker. Je nachdem, wie sie die Beleuchtung platzierten, konnten sie Falten wegzaubern, Beine verlängern und die Darsteller auf magische Weise um Jahre verjüngen. Deshalb versuchte sich auch jeder, der sein Brot auf einer Theaterbühne verdiente, mit den Zauberern am Leuchtpult gut zu stellen.
Nun ertönte aus dem Zuschauerraum vereinzeltes Klatschen. Der Dirigent hatte das Podium betreten. Der Conférencier setzte seinen Zylinder auf und nahm Haltung an.
»Toi, toi, toi«, wisperte Amy Oliver zu, und er hob zur Bestätigung den rechten Daumen.
Dann wurde es totenstill - die Stille vor dem Sturm, wie Amy die Sekunden nannte, in denen sich die Anspannung vor und hinter der Bühne ins Unerträgliche steigerte. Sie spürte selbst, wie sie vor Aufregung eine Gänsehaut bekam. Gleich darauf setzten die Musiker ein und stimmten das Publikum mit ihren mitreißend schnellen Rhythmen auf die nächsten zweieinhalb Stunden voller Spannung und Magie ein. Der schwere Samtvorhang glitt lautlos zu beiden Seiten auseinander und gab Amy den Blick auf den jetzt dunklen Zuschauerraum frei. Oliver schritt würdevoll zum Mikrophon, um die Gäste zu begrüßen und das Programm anzukündigen. Wieder einmal war es so weit: Die Show im berühmtesten Revuetheater New Yorks konnte beginnen!
»Weg da, Kröte! Was hast du hier schon wieder verloren?« Ein unsanfter Stoß mit dem Ellbogen beförderte Amy gegen die Seitenwand des Bühneneingangs. Es polterte dumpf, und Oliver wandte den Blick irritiert in Richtung des Lärms. Gleich darauf drängten sich Tom und Harry Osborne durch den engen Gang. Vor einem Auftritt herrschte oft ein rauher Ton im Theater - Lampenfieber, Amy kannte das schon. Kein Schauspieler, kein Komiker, keine Tänzerin - niemand, der auf einer Bühne stand, war davor sicher. Auch nicht die Osborne-Brüder, die seit vielen Jahren in sämtlichen Varietétheatern Amerikas ihre Späße aufführten.
»Pass doch selber auf, du aufgeblasener Luftballon«, zischte sie Tom hinterher, der Hälfte des Duos, die sie so grob aus dem Weg geboxt hatte. Aber wirklich wütend war Amy nicht. Nach der Vorstellung, wenn Tom das Kissen unter seinem Hemd hervorgezerrt und Harry seine bierernste Miene abgelegt hatte, waren sie wieder die gewohnt umgänglichen Gesellen, die Amy schon als kleines Mädchen auf den Knien geschaukelt hatten. Außerdem hatte Tom recht mit seiner barschen Bemerkung. Während der Vorstellung hatte Amy hinter der Bühne nichts zu suchen. Ihr Arbeitsplatz war die Garderobe der Revuetänzerinnen, wo sie den Girls beim Umkleiden helfen und, falls nötig, letzte Verbesserungen an den Kostümen vornehmen sollte. Doch wie so oft hatte sich Amy davongeschlichen, um den Komikern und Tänzerinnen zuzusehen. Wenn sie schon nicht selbst auf den Brettern, die die Welt bedeuten, stehen konnte, wollte sie ihnen zumindest so nah wie möglich sein!
Während sich Amy die schmerzenden Rippen rieb, sah sie den beiden Brüdern nach, wie sie auf Olivers Stichwort hin auf die Bühne stolperten. Tom und Harry Osborne waren das typische Komikerpaar: ein dummer Augustin mit blauer Perücke, roter Pappnase und Schlabberhose und ein scheinbar völlig humorloser Stichwortgeber mit einem flachen, »Kreissäge« genannten Hut, kariertem Jackett und Spazierstock, den er gewöhnlich einsetzte, um den dummen Augustin zu malträtieren. Auf der Bühne führten sie kurze spritzige Nummern auf, in denen ein Gag den nächsten jagte und es vor Anzüglichkeiten nur so wimmelte.
»He, Harry«, krähte Tom, der dumme Augustin, in diesem Moment und spannte seine Hosenträger mit den Daumen, bis sie ein gutes Stück von seinem Kissenbauch abstanden. »Weißt du eigentlich, woran mich deine Glatze erinnert?«
»Keine Ahnung«, antwortete Harry und wirbelte lässig den Spazierstock durch die Luft.
Tom ließ seine Hosenträger geräuschvoll zurückschnellen, streckte eine Hand aus und schnappte sich Harrys »Kreissäge«. Darunter kam eine blanke, rosarote Gummiglatze zum Vorschein. Tom setzte sich den Hut auf die blauen Haare, während er nachdenklich Harrys Glatze musterte. Dann holte er mit der Hand aus und streichelte die Gummitonsur zärtlich. »Deine Rübe ist sooo schön glatt ...« Er machte eine Kunstpause, die im Publikum bereits erste Lacher zur Folge hatte. »... sooo schön glatt«, fuhr Tom unschuldig fort. »Wie die besten Stücke meiner Frau!«
Wie auf Kommando grölte das überwiegend männliche Publikum los, vor allem als einer der Zuschauer, ein junger Matrose, vom Seitenbalkon aus lauthals forderte: »Das will ich sehen! Zeig uns deine Frau!«
Der Junge war offensichtlich angeheitert, denn er beugte sich so weit über die Brüstung, dass er unter dem jubelnden Beifall der im Parkett Sitzenden fast in den Orchestergraben gestürzt wäre. Seine Kumpel hielten ihn in letzter Sekunde an der blau-weißen Seemannskluft fest. Die Stimmung wurde noch ausgelassener, als Tom sich zum Publikum drehte, verschwörerisch zwinkerte und in das Gelächter und Gegröle rief: »Aber meine Frau hat zwei von den Kugeln!«
Worauf Harry ihm mit seinem Spazierstock ein paar gut gezielte Stiche in den gepolsterten Bauch verpasste.
Amy kicherte hinter vorgehaltener Hand. Sie hatte die Szene schon unzählige Male von ihrem Lieblingsplatz im Seiten¬flügel aus verfolgt und kannte sie bis ins kleinste Detail. Aber sie fand Toms tomatenrote Pappnase und Harrys ewig trübe Miene so komisch wie eh und je.
Einer der Bühnenhelfer tauchte neben ihr im Gang auf. Er balancierte die Requisite für den nächsten Gag auf einem Tablett: Es handelte sich um eine prächtige Sahnetorte, die in wenigen Minuten Harrys Gesicht verzieren würde, und auch er zwinkerte Amy freundlich zu. Sie war das Küken der großen Theaterfamilie, aufgewachsen in den Garderoben, Werkstätten und hinter der Bühne, und sie kannte keinen Ort auf der Welt, den sie schöner und aufregender fand als das National Wintergarden Revue theater an der Lower Eastside von Manhattan.
Fast ihr ganzes Leben hatten Amy und ihre Schwester Megan hier verbracht. Ihre Mutter, die sich mit Fleiß und Geschick von einer kleinen Näherin zur Leiterin der Kostümschneiderei hochgearbeitet hatte, nahm ihre Töchter schon ins Theater mit, als Amy und Megan noch ganz klein waren. Während Fiona Kennedy Korsetts für die Tänzerinnen und Clownshosen für die Komiker geschneidert hatte, krabbelten Amy und Megan in der Garderobe zwischen den Beinen der Showgirls herum. Als sie älter wurden, spielten sie in der Requisitenkammer Verstecken.
Billy Minsky, Sohn russisch-jüdischer Einwanderer, hatte das National Wintergarden 1916 ins Leben gerufen. Den Namen verdankte es seiner Lage im obersten Stockwerk eines fast hundert Jahre alten ehemaligen Opernhauses. Dachgarten-Theater waren vor dem Krieg der letzte Schrei, und Minskys National Wintergarden lockte Besucher aus ganz New York an.
Inzwischen swingte und steppte sich Amerika durch das Jahr 1925, und das National Wintergarden genoss noch immer einen legendären Ruf. Schließlich warb Minsky damit, dass seine Gäste »die verruchtesten Shows und schönsten Mädchen der Stadt« zu sehen bekamen. Der Name Minsky stand in New York für Showerlebnisse der Extraklasse - Revuen, bei denen die Gäste immer ein bisschen mehr zu sehen und zu hören bekamen, als gesellschaftlich erlaubt war. Und das in einem wunderbaren Theater mit rotem Samt und Plüsch, mit goldenem Stuck und einem Laufsteg, auf dem die Tänzerinnen dem Publikum so nah kamen, dass man ihren Atem hören und ihr Parfüm riechen konnte. Zu verdanken war dieser Erfolg Minsky. Geschäftliche Härte hatte ihm sein Vater eingebleut, der sich vom Hausierer zu einem der größten Warenhausbesitzer der Lower Eastside hochgearbeitet hatte. Pfiffige Werbekampagnen und den Umgang mit den Medien hingegen hatte Minsky in jungen Jahren als Gesellschaftsreporter für die New York World von der Pike auf gelernt. Kein Wunder also, dass die Menschen in sein Theater strömten. Mit einem Dollar fünfzig auf den hinteren Rängen und zwei Dollar zwanzig direkt vor der Bühne waren die Eintrittspreise für jedermann erschwinglich. Doch Amy entdeckte neben Ar beitern aus den umliegenden Textilfabriken, Studenten der Columbia-Universität und Matrosen auf Landgang regelmäßig auch Upper-Eastside-Tycoons vom Schlage eines Astor oder Vanderbilt im Publikum. Ein Ausflug in die Slums war nämlich in den »wilden Zwanzigern« für die vergnügungssüchtige Oberschicht Manhattans ein beliebter Zeitvertreib. Für Fiona und ihre Töchter bildete das National Wintergarden die Existenzgrundlage. Matthew Kennedy, Amys und Megans Vater, war im Frühjahr 1919 als Invalide von den europäischen Schlachtfeldern zurückgekehrt. Er konnte fortan nicht mehr als Packer an den Hudson Piers arbeiten, sondern musste sich für ein paar Cents als Hausierer verdingen - mit einem Karren voller Töpfe und Pfannen, den er langsam durch die Straßen seines Viertels schob. Für Amy und Megan war es seit damals vorbei mit den Versteckspielen in der Requisitenkammer. Sie mussten ihren Teil zum Familienunterhalt beitragen. Ihre Mutter verschaffte ihnen Arbeit in der Schneiderei. Ihre dünnen Kinderfinger waren gut geeignet, Pailletten aufzufädeln oder lose Fäden zu vernähen. Für die Schule blieb daneben nur noch wenig Zeit. Und als die Mädchen vierzehn wurden, war es mit der Bildung ein für alle Mal vorbei. Seither arbeiteten sie ganz im National Wintergarden. Megan schneiderte wie ihre Mutter, während Amy als »Mädchen für alles« arbeitete, Garderobiere, Kassiererin oder Pausenverkäuferin, je nachdem, wo noch eine Hand fehlte.
Amy bedauerte es nicht, dass die Schulzeit seit einem Jahr hinter ihr lag. Sie hatte ohnehin wenig Sitzfleisch und war in Gedanken immer woanders, nur nicht bei ihren Aufgaben. Schon als Zehnjährige, wenn sie in der Garderobe der Revuegirls an einem der langen Schminktische über ihren Schulbüchern gehockt hatte, konnte sie im Rechnen und Schreibenlernen wenig Sinn sehen.
»Ich will Tänzerin am Theater werden, so wie du«, erklärte sie Mae Dix. Mae war ihr großes Vorbild, nicht zuletzt deshalb, weil sie ebenso rotes Haar wie Amy hatte. Alles, was Mae tat, begeisterte sie. Deshalb verfolgte sie auch jetzt fasziniert, wie Mae mit einem Schwämmchen pastenartige Bühnenschminke auf Stirn und Wangen tupfte, bis ihr Gesicht zu einer glatten, marmorweißen Maske wurde. Mae Dix war seit der Eröffnung 1916 die Starsolistin des National Wintergarden. Ihre Auftritte riefen beim Publikum derartige Begeisterungsstürme hervor, dass Minsky sie sehr publicitywirksam nach jeder Vorstellung von seinen Leibwächtern Albert und Walter in ihr Hotel eskortieren ließ.
»Weißt du«, sagte Mae nachdenklich, während sie ihren Make-up-Tiegel verschloss und nach einer Dose mit losem Puder griff. »Wenn man nicht richtig lesen kann, versteht man seine Verträge nicht, und wenn man nicht richtig rechnen kann, wird man bei der Gage übers Ohr gehauen.«
»Das passiert mir nicht«, erklärte Amy mit gerunzelter Stirn. Schließlich war sie in Hell's Kitchen geboren, einem verrufenen Viertel. Hier wussten sich Kinder von klein auf gegen Gangs, Kriminalität und drohende Gewalt zu wehren. Auch Amy hatte in den rattenverseuchten Hinterhöfen von Hell's Kitchen gelernt, sich zu behaupten - mal mit einem Paar schneller Beine, mal mit Tritten und Fäusten. Vor allem galt es, niemals Angst zu zeigen.
Mae tauchte eine flauschige rosa Quaste in ihre Puderdose, beugte sich vor und tupfte sie auf Amys Nasenspitze. »Wart's ab«, antwortete sie. »Und denk an mich. Wenn ich schlau wäre, hätte ich Minsky hundert Dollar die Woche mehr aus den Rippen geleiert.«
Danach hatte Amy ihre Schularbeiten eine Zeitlang etwas gewissenhafter erledigt, aber bald hatte die Faszination für das Treiben auf der Bühne wieder die Oberhand gewonnen. Bis heute schlich Amy sich lieber hinter die Bühne und beobachtete die Komiker und Revuetänzerinnen, statt an der Nähmaschine zu sitzen oder ihre Rechenaufgaben zu lösen, und träumte davon, eines Tages selbst dort oben auf der Bühne zu stehen, bewundert und umjubelt von der Menschenmenge im Zuschauerraum.
Tom und Harry Osborne hatten ihre Nummer inzwischen beendet. Die Sahnetorte war zur Gaudi des Publikums in Harrys Gesicht gelandet. Schlagsahne tropfte ihm in den Kragen und klatschte auf den Boden. Mit seinem weiß verschmierten Gesicht, in dem wie zwei dunkle Rosinen die Augen prangten, glich er einem traurigen Gespenst, dem es einfach nicht gelingen wollte, die Leute zu erschrecken. Amy drückte sich rasch an die Seitenwand, damit sie Tom und Harry bei deren Abgang nicht wieder behinderte. Vor ihr stand bereits eine Putzfrau mit Mopp und Eimer, um Sahne- und Teigreste vom Bühnenboden zu wischen, und hinter ihr wartete Mae Dix auf ihren Einsatz. Sie tanzte den Cooch, der seinen Ursprung in den Schwarzenvierteln Louisianas hatte und hauptsächlich aus aufreizendem Hüftkreisen und eindeutigen Beckenbewegungen bestand. Kein Wunder, dass die »Gesellschaft zur Bekämpfung des Lasters« unter Führung von John Sumner zu einem erbitterten Kreuzzug gegen Minsky aufgerufen hatte. Die Gäste des National Wintergarden aber liebten Mae und ihre sinnlichen Hüftschwünge, und solange sie in Scharen kamen und Tickets kauften, sah Minsky keinen Grund, die Nummer zu verändern. Mae tippte Amy mit einem Finger auf die Schulter. »Kannst du die Lampen sehen?«, flüsterte sie.
Amy warf einen prüfenden Blick zum vorderen Bühnenrand.
Dort verbarg sich, für die Zuschauer unsichtbar, Minskys Polizistenfrühwarnsystem: eine Reihe roter und weißer Glühbirnen, die durch Drähte mit dem Kassenhäuschen verbunden waren. Befand sich ein Polizeibeamter oder gar John Sumner selbst im Publikum, drückte die Kassiererin einen Knopf neben der Kasse, und die roten Lampen leuchteten. Achtung!, hieß das für die Komiker und die Revuegirls. Heute keine zweideutigen Witze und keine aufreizenden Tanznummern, heute wird nur die zahme Version der Show präsentiert.
Leuchteten dagegen die weißen Lampen an der Bühnenkante, war die Luft rein.
»Alles in Ordnung«, raunte Amy über die Schulter. Mae lächelte ihr kurz zu und tänzelte dann auf die Bühne. Sobald sie im Blickfeld des Publikums auftauchte, ertönten die ersten bewundernden Pfiffe. Mae war eine dralle Schönheit mit ausladenden Hüften und vollen Brüsten, die bei jeder Tanzbewegung verlockend wippten.
Amy verfolgte fasziniert, wie Mae die Zuschauer mit rasanten Hüftschwüngen in ihren Bann schlug.
»Hab ich mir doch gedacht, dass du dich hier rumtreibst!« Eine Hand packte Amy unsanft an der Schulter und schüttelte sie. »Los, mitkommen, aber zackig!«
»Au! Lass mich, Meggie!« Amy wand sich vergeblich unter dem harten Griff ihrer Schwester. Megan schleifte sie mit sich den Gang hinunter und schimpfte dabei weiter: »Du weißt genau, dass kurz vor dem Auftritt jede Hand gebraucht wird - aber Fräulein Amy hat mal wieder nur dummes Zeug im Kopf!«
»Ich wollte doch nur kurz ...«, begann Amy.
In diesem Moment brandete hinter ihnen Applaus auf und übertönte nicht nur die Band, sondern auch Amys Einwand. »Jetzt habe ich Mae nicht gesehen«, jammerte Amy. »Dabei wollte sie heute ein paar neue Schritte ausprobieren.«
Megan blieb stehen und fuhr so plötzlich herum, dass Amy ihr fast auf die Füße getreten wäre. »Bist du eigentlich noch zu retten?«, fauchte sie Amy wütend an. »Was in der Garderobe los ist, brauche ich dir wohl nicht zu erklären. Auf deine Entschuldigung bei Mama bin ich schon sehr gespannt. Die ist nämlich stocksauer!« Die Schwestern standen sich wie zwei kampfbereite Katzen gegenüber und funkelten einander an. Prompt flog eine Tür auf, ein derber Männerstiefel sauste an den Köpfen der Mädchen vorbei, prallte an die gegenüberliegende Wand und plumpste auf den Linoleumboden.
»Kann man sich hier nicht mal in Ruhe vorbereiten?«, donnerte eine zornige Stimme, und Mel Silvers steckte sein halb mit weißer Theaterschminke bemaltes Gesicht aus der Tür. Er war ein weiterer Komiker und sollte zusammen mit seiner Frau Betty nach der Pause auftreten. Er als trotteliger Clown und Betty als Quasselstrippe galten als Publikumsrenner, auch wenn Mel in diesem Moment der Humor abhanden gekommen war.
»Was ist denn hier los?«, knurrte auch ein Techniker, der sich im Laufschritt mit einem Werkzeugkasten von der anderen Seite näherte. »Könnt ihr das nicht woanders regeln?«
»Ganz meine Meinung!« Mel knallte die Garderobentür wieder zu. Megan packte ihre Schwester am Handgelenk und zerrte sie weiter. Amy wäre fast gegen ein lebensgroßes Sperrholzpferd gestolpert, das gegen die graue Betonwand gelehnt auf seinen Einsatz in der Cowgirlnummer wartete. Aber auch sie beeilte sich jetzt. Bis zum Auftritt der Girlstruppe blieb ihnen nur noch wenig Zeit.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Die letzten Minuten vor Vorstellungsbeginn waren die schönsten, fand Amy. Auf Zehenspitzen tastete sich die
Fünfzehnjährige ein paar Zentimeter weiter vor, auch wenn sie wusste, dass die Bühne bis auf einen einzelnen Mikrophonständer noch leer und dunkel war. Einen halben Meter vor ihr, wo der Seitenflügel endete, wartete bereits Oliver Dressler, der Conférencier. Elegant sah er aus in seinem schwarzen Frack. Den Zylinder drehte er zwischen den Händen, und als Amy sich neben ihn schob, bemerkte sie, dass er lautlos die Lippen bewegte. »Hi Oliver, probst du deine Ansage?«, raunte Amy.
Er nickte. »Weißt du doch, Feuerkopf«, flüsterte er zurück, wobei er mit diesem Spitznamen sowohl auf ihre Haarfarbe als auch auf ihr Temperament anspielte. Dann nahm sein Gesicht wieder einen konzentrierten Ausdruck an, und er setzte sein stummes Rezitieren fort. Amy spähte nach oben, wo sie schemenhaft die Umrisse der Kulissen erkannte, die an Seilzügen über der Bühne hängend auf ihren Einsatz warteten. Blickte sie dagegen in Richtung Zuschauerraum, versperrte noch der schwere burgunderrote Samtvorhang die Sicht. Aber Amy wusste auch so, dass wieder alle siebenhundert Plätze des National Wintergarden vom Parkett bis zum Balkon, vom rechten bis zum linken Seitenrang besetzt waren.
Durch den Vorhang hörte sie gedämpftes Stimmengewirr, erwartungsvolles Rascheln und Füßescharren, vereinzeltes Lachen. Sie schnupperte Tabakqualm, der sich mit den Parfüms der Frauen mischte. Aus dem Orchestergraben summte, klimperte und tutete es. Die vierzehn Musiker - außer einem Klavierspieler, einem Schlagzeuger und ein paar Streichern hauptsächlich Blechbläser - stimmten ihre Instrumente.
In den Gängen und Räumen hinter der Bühne herrschte währenddessen fieberhafte Aufregung. Immer wieder hörte Amy Türenschlagen, eiliges Füßetrappeln, gebellte Anweisungen, wenn eine Requisite nicht an ihrem Platz war oder ein Kostüm vermisst wurde.
Dann gingen die Scheinwerfer an, und die Bühne wurde in rosiges Licht getaucht - ein Licht, das gleich die Haut der Tänzerinnen so weich und samtig schimmern lassen würde wie die eines Babys. Amy kannte die Fähigkeiten der Techniker. Je nachdem, wie sie die Beleuchtung platzierten, konnten sie Falten wegzaubern, Beine verlängern und die Darsteller auf magische Weise um Jahre verjüngen. Deshalb versuchte sich auch jeder, der sein Brot auf einer Theaterbühne verdiente, mit den Zauberern am Leuchtpult gut zu stellen.
Nun ertönte aus dem Zuschauerraum vereinzeltes Klatschen. Der Dirigent hatte das Podium betreten. Der Conférencier setzte seinen Zylinder auf und nahm Haltung an.
»Toi, toi, toi«, wisperte Amy Oliver zu, und er hob zur Bestätigung den rechten Daumen.
Dann wurde es totenstill - die Stille vor dem Sturm, wie Amy die Sekunden nannte, in denen sich die Anspannung vor und hinter der Bühne ins Unerträgliche steigerte. Sie spürte selbst, wie sie vor Aufregung eine Gänsehaut bekam. Gleich darauf setzten die Musiker ein und stimmten das Publikum mit ihren mitreißend schnellen Rhythmen auf die nächsten zweieinhalb Stunden voller Spannung und Magie ein. Der schwere Samtvorhang glitt lautlos zu beiden Seiten auseinander und gab Amy den Blick auf den jetzt dunklen Zuschauerraum frei. Oliver schritt würdevoll zum Mikrophon, um die Gäste zu begrüßen und das Programm anzukündigen. Wieder einmal war es so weit: Die Show im berühmtesten Revuetheater New Yorks konnte beginnen!
»Weg da, Kröte! Was hast du hier schon wieder verloren?« Ein unsanfter Stoß mit dem Ellbogen beförderte Amy gegen die Seitenwand des Bühneneingangs. Es polterte dumpf, und Oliver wandte den Blick irritiert in Richtung des Lärms. Gleich darauf drängten sich Tom und Harry Osborne durch den engen Gang. Vor einem Auftritt herrschte oft ein rauher Ton im Theater - Lampenfieber, Amy kannte das schon. Kein Schauspieler, kein Komiker, keine Tänzerin - niemand, der auf einer Bühne stand, war davor sicher. Auch nicht die Osborne-Brüder, die seit vielen Jahren in sämtlichen Varietétheatern Amerikas ihre Späße aufführten.
»Pass doch selber auf, du aufgeblasener Luftballon«, zischte sie Tom hinterher, der Hälfte des Duos, die sie so grob aus dem Weg geboxt hatte. Aber wirklich wütend war Amy nicht. Nach der Vorstellung, wenn Tom das Kissen unter seinem Hemd hervorgezerrt und Harry seine bierernste Miene abgelegt hatte, waren sie wieder die gewohnt umgänglichen Gesellen, die Amy schon als kleines Mädchen auf den Knien geschaukelt hatten. Außerdem hatte Tom recht mit seiner barschen Bemerkung. Während der Vorstellung hatte Amy hinter der Bühne nichts zu suchen. Ihr Arbeitsplatz war die Garderobe der Revuetänzerinnen, wo sie den Girls beim Umkleiden helfen und, falls nötig, letzte Verbesserungen an den Kostümen vornehmen sollte. Doch wie so oft hatte sich Amy davongeschlichen, um den Komikern und Tänzerinnen zuzusehen. Wenn sie schon nicht selbst auf den Brettern, die die Welt bedeuten, stehen konnte, wollte sie ihnen zumindest so nah wie möglich sein!
Während sich Amy die schmerzenden Rippen rieb, sah sie den beiden Brüdern nach, wie sie auf Olivers Stichwort hin auf die Bühne stolperten. Tom und Harry Osborne waren das typische Komikerpaar: ein dummer Augustin mit blauer Perücke, roter Pappnase und Schlabberhose und ein scheinbar völlig humorloser Stichwortgeber mit einem flachen, »Kreissäge« genannten Hut, kariertem Jackett und Spazierstock, den er gewöhnlich einsetzte, um den dummen Augustin zu malträtieren. Auf der Bühne führten sie kurze spritzige Nummern auf, in denen ein Gag den nächsten jagte und es vor Anzüglichkeiten nur so wimmelte.
»He, Harry«, krähte Tom, der dumme Augustin, in diesem Moment und spannte seine Hosenträger mit den Daumen, bis sie ein gutes Stück von seinem Kissenbauch abstanden. »Weißt du eigentlich, woran mich deine Glatze erinnert?«
»Keine Ahnung«, antwortete Harry und wirbelte lässig den Spazierstock durch die Luft.
Tom ließ seine Hosenträger geräuschvoll zurückschnellen, streckte eine Hand aus und schnappte sich Harrys »Kreissäge«. Darunter kam eine blanke, rosarote Gummiglatze zum Vorschein. Tom setzte sich den Hut auf die blauen Haare, während er nachdenklich Harrys Glatze musterte. Dann holte er mit der Hand aus und streichelte die Gummitonsur zärtlich. »Deine Rübe ist sooo schön glatt ...« Er machte eine Kunstpause, die im Publikum bereits erste Lacher zur Folge hatte. »... sooo schön glatt«, fuhr Tom unschuldig fort. »Wie die besten Stücke meiner Frau!«
Wie auf Kommando grölte das überwiegend männliche Publikum los, vor allem als einer der Zuschauer, ein junger Matrose, vom Seitenbalkon aus lauthals forderte: »Das will ich sehen! Zeig uns deine Frau!«
Der Junge war offensichtlich angeheitert, denn er beugte sich so weit über die Brüstung, dass er unter dem jubelnden Beifall der im Parkett Sitzenden fast in den Orchestergraben gestürzt wäre. Seine Kumpel hielten ihn in letzter Sekunde an der blau-weißen Seemannskluft fest. Die Stimmung wurde noch ausgelassener, als Tom sich zum Publikum drehte, verschwörerisch zwinkerte und in das Gelächter und Gegröle rief: »Aber meine Frau hat zwei von den Kugeln!«
Worauf Harry ihm mit seinem Spazierstock ein paar gut gezielte Stiche in den gepolsterten Bauch verpasste.
Amy kicherte hinter vorgehaltener Hand. Sie hatte die Szene schon unzählige Male von ihrem Lieblingsplatz im Seiten¬flügel aus verfolgt und kannte sie bis ins kleinste Detail. Aber sie fand Toms tomatenrote Pappnase und Harrys ewig trübe Miene so komisch wie eh und je.
Einer der Bühnenhelfer tauchte neben ihr im Gang auf. Er balancierte die Requisite für den nächsten Gag auf einem Tablett: Es handelte sich um eine prächtige Sahnetorte, die in wenigen Minuten Harrys Gesicht verzieren würde, und auch er zwinkerte Amy freundlich zu. Sie war das Küken der großen Theaterfamilie, aufgewachsen in den Garderoben, Werkstätten und hinter der Bühne, und sie kannte keinen Ort auf der Welt, den sie schöner und aufregender fand als das National Wintergarden Revue theater an der Lower Eastside von Manhattan.
Fast ihr ganzes Leben hatten Amy und ihre Schwester Megan hier verbracht. Ihre Mutter, die sich mit Fleiß und Geschick von einer kleinen Näherin zur Leiterin der Kostümschneiderei hochgearbeitet hatte, nahm ihre Töchter schon ins Theater mit, als Amy und Megan noch ganz klein waren. Während Fiona Kennedy Korsetts für die Tänzerinnen und Clownshosen für die Komiker geschneidert hatte, krabbelten Amy und Megan in der Garderobe zwischen den Beinen der Showgirls herum. Als sie älter wurden, spielten sie in der Requisitenkammer Verstecken.
Billy Minsky, Sohn russisch-jüdischer Einwanderer, hatte das National Wintergarden 1916 ins Leben gerufen. Den Namen verdankte es seiner Lage im obersten Stockwerk eines fast hundert Jahre alten ehemaligen Opernhauses. Dachgarten-Theater waren vor dem Krieg der letzte Schrei, und Minskys National Wintergarden lockte Besucher aus ganz New York an.
Inzwischen swingte und steppte sich Amerika durch das Jahr 1925, und das National Wintergarden genoss noch immer einen legendären Ruf. Schließlich warb Minsky damit, dass seine Gäste »die verruchtesten Shows und schönsten Mädchen der Stadt« zu sehen bekamen. Der Name Minsky stand in New York für Showerlebnisse der Extraklasse - Revuen, bei denen die Gäste immer ein bisschen mehr zu sehen und zu hören bekamen, als gesellschaftlich erlaubt war. Und das in einem wunderbaren Theater mit rotem Samt und Plüsch, mit goldenem Stuck und einem Laufsteg, auf dem die Tänzerinnen dem Publikum so nah kamen, dass man ihren Atem hören und ihr Parfüm riechen konnte. Zu verdanken war dieser Erfolg Minsky. Geschäftliche Härte hatte ihm sein Vater eingebleut, der sich vom Hausierer zu einem der größten Warenhausbesitzer der Lower Eastside hochgearbeitet hatte. Pfiffige Werbekampagnen und den Umgang mit den Medien hingegen hatte Minsky in jungen Jahren als Gesellschaftsreporter für die New York World von der Pike auf gelernt. Kein Wunder also, dass die Menschen in sein Theater strömten. Mit einem Dollar fünfzig auf den hinteren Rängen und zwei Dollar zwanzig direkt vor der Bühne waren die Eintrittspreise für jedermann erschwinglich. Doch Amy entdeckte neben Ar beitern aus den umliegenden Textilfabriken, Studenten der Columbia-Universität und Matrosen auf Landgang regelmäßig auch Upper-Eastside-Tycoons vom Schlage eines Astor oder Vanderbilt im Publikum. Ein Ausflug in die Slums war nämlich in den »wilden Zwanzigern« für die vergnügungssüchtige Oberschicht Manhattans ein beliebter Zeitvertreib. Für Fiona und ihre Töchter bildete das National Wintergarden die Existenzgrundlage. Matthew Kennedy, Amys und Megans Vater, war im Frühjahr 1919 als Invalide von den europäischen Schlachtfeldern zurückgekehrt. Er konnte fortan nicht mehr als Packer an den Hudson Piers arbeiten, sondern musste sich für ein paar Cents als Hausierer verdingen - mit einem Karren voller Töpfe und Pfannen, den er langsam durch die Straßen seines Viertels schob. Für Amy und Megan war es seit damals vorbei mit den Versteckspielen in der Requisitenkammer. Sie mussten ihren Teil zum Familienunterhalt beitragen. Ihre Mutter verschaffte ihnen Arbeit in der Schneiderei. Ihre dünnen Kinderfinger waren gut geeignet, Pailletten aufzufädeln oder lose Fäden zu vernähen. Für die Schule blieb daneben nur noch wenig Zeit. Und als die Mädchen vierzehn wurden, war es mit der Bildung ein für alle Mal vorbei. Seither arbeiteten sie ganz im National Wintergarden. Megan schneiderte wie ihre Mutter, während Amy als »Mädchen für alles« arbeitete, Garderobiere, Kassiererin oder Pausenverkäuferin, je nachdem, wo noch eine Hand fehlte.
Amy bedauerte es nicht, dass die Schulzeit seit einem Jahr hinter ihr lag. Sie hatte ohnehin wenig Sitzfleisch und war in Gedanken immer woanders, nur nicht bei ihren Aufgaben. Schon als Zehnjährige, wenn sie in der Garderobe der Revuegirls an einem der langen Schminktische über ihren Schulbüchern gehockt hatte, konnte sie im Rechnen und Schreibenlernen wenig Sinn sehen.
»Ich will Tänzerin am Theater werden, so wie du«, erklärte sie Mae Dix. Mae war ihr großes Vorbild, nicht zuletzt deshalb, weil sie ebenso rotes Haar wie Amy hatte. Alles, was Mae tat, begeisterte sie. Deshalb verfolgte sie auch jetzt fasziniert, wie Mae mit einem Schwämmchen pastenartige Bühnenschminke auf Stirn und Wangen tupfte, bis ihr Gesicht zu einer glatten, marmorweißen Maske wurde. Mae Dix war seit der Eröffnung 1916 die Starsolistin des National Wintergarden. Ihre Auftritte riefen beim Publikum derartige Begeisterungsstürme hervor, dass Minsky sie sehr publicitywirksam nach jeder Vorstellung von seinen Leibwächtern Albert und Walter in ihr Hotel eskortieren ließ.
»Weißt du«, sagte Mae nachdenklich, während sie ihren Make-up-Tiegel verschloss und nach einer Dose mit losem Puder griff. »Wenn man nicht richtig lesen kann, versteht man seine Verträge nicht, und wenn man nicht richtig rechnen kann, wird man bei der Gage übers Ohr gehauen.«
»Das passiert mir nicht«, erklärte Amy mit gerunzelter Stirn. Schließlich war sie in Hell's Kitchen geboren, einem verrufenen Viertel. Hier wussten sich Kinder von klein auf gegen Gangs, Kriminalität und drohende Gewalt zu wehren. Auch Amy hatte in den rattenverseuchten Hinterhöfen von Hell's Kitchen gelernt, sich zu behaupten - mal mit einem Paar schneller Beine, mal mit Tritten und Fäusten. Vor allem galt es, niemals Angst zu zeigen.
Mae tauchte eine flauschige rosa Quaste in ihre Puderdose, beugte sich vor und tupfte sie auf Amys Nasenspitze. »Wart's ab«, antwortete sie. »Und denk an mich. Wenn ich schlau wäre, hätte ich Minsky hundert Dollar die Woche mehr aus den Rippen geleiert.«
Danach hatte Amy ihre Schularbeiten eine Zeitlang etwas gewissenhafter erledigt, aber bald hatte die Faszination für das Treiben auf der Bühne wieder die Oberhand gewonnen. Bis heute schlich Amy sich lieber hinter die Bühne und beobachtete die Komiker und Revuetänzerinnen, statt an der Nähmaschine zu sitzen oder ihre Rechenaufgaben zu lösen, und träumte davon, eines Tages selbst dort oben auf der Bühne zu stehen, bewundert und umjubelt von der Menschenmenge im Zuschauerraum.
Tom und Harry Osborne hatten ihre Nummer inzwischen beendet. Die Sahnetorte war zur Gaudi des Publikums in Harrys Gesicht gelandet. Schlagsahne tropfte ihm in den Kragen und klatschte auf den Boden. Mit seinem weiß verschmierten Gesicht, in dem wie zwei dunkle Rosinen die Augen prangten, glich er einem traurigen Gespenst, dem es einfach nicht gelingen wollte, die Leute zu erschrecken. Amy drückte sich rasch an die Seitenwand, damit sie Tom und Harry bei deren Abgang nicht wieder behinderte. Vor ihr stand bereits eine Putzfrau mit Mopp und Eimer, um Sahne- und Teigreste vom Bühnenboden zu wischen, und hinter ihr wartete Mae Dix auf ihren Einsatz. Sie tanzte den Cooch, der seinen Ursprung in den Schwarzenvierteln Louisianas hatte und hauptsächlich aus aufreizendem Hüftkreisen und eindeutigen Beckenbewegungen bestand. Kein Wunder, dass die »Gesellschaft zur Bekämpfung des Lasters« unter Führung von John Sumner zu einem erbitterten Kreuzzug gegen Minsky aufgerufen hatte. Die Gäste des National Wintergarden aber liebten Mae und ihre sinnlichen Hüftschwünge, und solange sie in Scharen kamen und Tickets kauften, sah Minsky keinen Grund, die Nummer zu verändern. Mae tippte Amy mit einem Finger auf die Schulter. »Kannst du die Lampen sehen?«, flüsterte sie.
Amy warf einen prüfenden Blick zum vorderen Bühnenrand.
Dort verbarg sich, für die Zuschauer unsichtbar, Minskys Polizistenfrühwarnsystem: eine Reihe roter und weißer Glühbirnen, die durch Drähte mit dem Kassenhäuschen verbunden waren. Befand sich ein Polizeibeamter oder gar John Sumner selbst im Publikum, drückte die Kassiererin einen Knopf neben der Kasse, und die roten Lampen leuchteten. Achtung!, hieß das für die Komiker und die Revuegirls. Heute keine zweideutigen Witze und keine aufreizenden Tanznummern, heute wird nur die zahme Version der Show präsentiert.
Leuchteten dagegen die weißen Lampen an der Bühnenkante, war die Luft rein.
»Alles in Ordnung«, raunte Amy über die Schulter. Mae lächelte ihr kurz zu und tänzelte dann auf die Bühne. Sobald sie im Blickfeld des Publikums auftauchte, ertönten die ersten bewundernden Pfiffe. Mae war eine dralle Schönheit mit ausladenden Hüften und vollen Brüsten, die bei jeder Tanzbewegung verlockend wippten.
Amy verfolgte fasziniert, wie Mae die Zuschauer mit rasanten Hüftschwüngen in ihren Bann schlug.
»Hab ich mir doch gedacht, dass du dich hier rumtreibst!« Eine Hand packte Amy unsanft an der Schulter und schüttelte sie. »Los, mitkommen, aber zackig!«
»Au! Lass mich, Meggie!« Amy wand sich vergeblich unter dem harten Griff ihrer Schwester. Megan schleifte sie mit sich den Gang hinunter und schimpfte dabei weiter: »Du weißt genau, dass kurz vor dem Auftritt jede Hand gebraucht wird - aber Fräulein Amy hat mal wieder nur dummes Zeug im Kopf!«
»Ich wollte doch nur kurz ...«, begann Amy.
In diesem Moment brandete hinter ihnen Applaus auf und übertönte nicht nur die Band, sondern auch Amys Einwand. »Jetzt habe ich Mae nicht gesehen«, jammerte Amy. »Dabei wollte sie heute ein paar neue Schritte ausprobieren.«
Megan blieb stehen und fuhr so plötzlich herum, dass Amy ihr fast auf die Füße getreten wäre. »Bist du eigentlich noch zu retten?«, fauchte sie Amy wütend an. »Was in der Garderobe los ist, brauche ich dir wohl nicht zu erklären. Auf deine Entschuldigung bei Mama bin ich schon sehr gespannt. Die ist nämlich stocksauer!« Die Schwestern standen sich wie zwei kampfbereite Katzen gegenüber und funkelten einander an. Prompt flog eine Tür auf, ein derber Männerstiefel sauste an den Köpfen der Mädchen vorbei, prallte an die gegenüberliegende Wand und plumpste auf den Linoleumboden.
»Kann man sich hier nicht mal in Ruhe vorbereiten?«, donnerte eine zornige Stimme, und Mel Silvers steckte sein halb mit weißer Theaterschminke bemaltes Gesicht aus der Tür. Er war ein weiterer Komiker und sollte zusammen mit seiner Frau Betty nach der Pause auftreten. Er als trotteliger Clown und Betty als Quasselstrippe galten als Publikumsrenner, auch wenn Mel in diesem Moment der Humor abhanden gekommen war.
»Was ist denn hier los?«, knurrte auch ein Techniker, der sich im Laufschritt mit einem Werkzeugkasten von der anderen Seite näherte. »Könnt ihr das nicht woanders regeln?«
»Ganz meine Meinung!« Mel knallte die Garderobentür wieder zu. Megan packte ihre Schwester am Handgelenk und zerrte sie weiter. Amy wäre fast gegen ein lebensgroßes Sperrholzpferd gestolpert, das gegen die graue Betonwand gelehnt auf seinen Einsatz in der Cowgirlnummer wartete. Aber auch sie beeilte sich jetzt. Bis zum Auftritt der Girlstruppe blieb ihnen nur noch wenig Zeit.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Bibliographische Angaben
- Autor: JULIA VON DROSTE
- 502 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868006133
- ISBN-13: 9783868006131
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