Das Riff der roten Haie
Tonu’Ata heißt die vergessene Insel im Pazifik, auf der Ron Edwards sein ganz persönliches Paradies gefunden hat. Doch seit zwei Jahren machen gefährliche Mörerhaie die Gewässer rund um Tonu’Ata unsicher. Haie, die Ron...
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Produktinformationen zu „Das Riff der roten Haie “
Tonu’Ata heißt die vergessene Insel im Pazifik, auf der Ron Edwards sein ganz persönliches Paradies gefunden hat. Doch seit zwei Jahren machen gefährliche Mörerhaie die Gewässer rund um Tonu’Ata unsicher. Haie, die Ron und seine bezaubernde Frau Tama daran hindern, weiter nach den heißbegehrten grauschwarzen Perlen zu tauchen. Aber Ron, der Kämpfer, will auch dieses Hindernis auf dem Weg zu Reichtum und totaler Unabhängigkeit beseitigen.
Lese-Probe zu „Das Riff der roten Haie “
Das Riff der roten Haie von Konsalik1
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»Ich gehe«, sagte sie.
»Und ich komme mit, Tama.«
Sie sah ihn nur an. Es wurde ein langer Blick, den er nicht deuten konnte. In den dunklen, mandelförmigen Augen stand etwas, von dem er nicht wusste, was es war - Schmerz, Zorn oder beides zugleich.
Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich um.
Sie nahm den Sandweg, der am Garten und am Haus ihrer Schwester vorbei zum Berg führte.
Ron folgte.
Der Wind zerrte an ihrem Kleid, und als sie höher kamen, ließ er Tamas dunkle Haare fliegen. Während der ganzen Zeit warf sie nicht einen einzigen Blick zurück, ging einfach voraus, bergan, mit dieser unglaublich fließenden Geschmeidigkeit, die ihn schon immer fasziniert hatte. Sie war ihm so fremd und entrückt wie nie.
Am Hügeleinschnitt, wo mannshoher Farn wuchs und der Regenwald begann und wo man bereits die Linien der Bucht erkennen konnte, waren zwei Götterköpfe in den Basalt gehauen. Im Grunde waren sie nicht viel mehr als dreieckige Formen, die gerade noch Nase, Kinn und Schädel erkennen ließen. Sand, den der Wind herantrug, und auch die Berührung ungezählter Hände hatten sie glatt geschliffen.
Zur Zeit von Rons Ankun auf Tonu'Ata hatten hier stets kunstvolle Geschenke gelegen, geflochten aus verschiedenen Pflanzen und geschmückt mit rotem Hibiskus und dem zarten Weiß und Gelb der Frangipani-Blüten. Doch nach dem Tod Nomuka'las, des Medizinmannes des Stammes, waren die Göttergaben verschwunden.
Nun aber - nun leuchteten wieder Blumenornamente vor dem dunklen Lavagrund. Und sie waren mit Vogelfedern geschmückt!
So, als sei der Alte zurückgekehrt, dachte Ron.
Tamas braunrotes Kleid leuchtete schon unten zwischen den Farnen hindurch. Sie hatte den Hang über der Bucht erreicht. Sie wartete auf ihn und blickte ihm entgegen. Es war ein Blick wie zuvor - ein Blick wie eine Schranke.
»Geh nicht weiter, Owaku ... You stay ... Bleib hier.«
Sie deutete auf den Stein, der unterhalb einer kleinen Felswand lag, und sprach weiter englisch: »Yes. Sit down, Owaku.«
Sit down, setz dich! - Es war eine Art Schock, der Schock des totalen Nichtbegreifens. Ron hatte die Unterlippe zwischen die Zähne gezogen, und als er darauf iss, spürte er es gar nicht. Zorn kroch in ihm hoch, Zorn gegen diesen ewigen, idiotischen Aberglauben, gegen die Ignoranz, die die Tatsachen nicht hinnehmen wollte, aber auch Zorn gegen sich selbst und die Ohnmacht, die er spürte.
Du darfst nicht in die Bucht, Owaku, you know ... Nie mehr, Owaku ... Die Bucht ist tabu, Owaku ...
Er hatte es hingenommen, zu lange wahrscheinlich. Er hatte sich gesagt: Lass sie, sie wissen es nicht besser. Sie haben nun mal ihre Geister, ihre Götter, ihre Dämonen, und die sagen ihnen, was tabu ist und was nicht. Zerbrich dir nicht den Kopf darüber, und wenn Tapana, ihr Chef, sagt: »Es ist so, Owaku«, dann ist es auch so. Die Bucht ist tabu, Owaku. - »Jawohl, Tapana.«
Das ist die korrekte Antwort.
Aber nun kam auch Tama mit diesem Unsinn, nun war es auch für sie selbstverständlich geworden. »You must understand, Owaku ... «
You must understand. - Du musst verstehen.
Und da hatte er sich nun zwei Jahre hindurch abgemüht, ihr nicht nur Englisch beizubringen, sondern ihr auch eine andere Welt zu erschließen, in der es weder Gespenster noch Aberglauben gab. Er hatte daran geglaubt, es erreicht zu haben. Und trotzdem - nie war sie ihm so fremd gewesen, nicht einmal in den ersten Tagen, als sie zu ihm in die Hütte kam und die ganze Verständigung zwischen ihnen darin bestand, sich anzulächeln, anzufassen und Dinge in den Sand zu zeichnen, mit dem Finger darauf zu deuten und sie zu benennen.
Hatte sie alles vergessen? -
You understand, Owaku ...
Das Rauschen des Wassers, das dort unten gegen den schwarzen Fels schlug, schien ihm noch lauter und stärker zu werden. Es war, als dröhne es in seinem Kopf.
»Du bist meine Frau, Tama«, hörte er sich sagen. »Und das war immer unsere Bucht. Deine und meine.«
Sie gab keine Antwort. Ihre Augen schienen fast schwarz. Ein kühles, hartes Schwarz.
»Gut!« Nun schrie er. »Die Bucht ist tabu! Für mich allein. Und wenn ich mich nicht daran halte? Was dann? Dann kommt irgendeiner und knallt mir seinen Knüppel aufs Hirn. Wirst du dann zuschauen? Schaffst du das, Tama?«
»Nein.« Ihr Gesicht war glatt, ausdruckslos und ruhig. »Wenn du stirbst, Owaku, sterbe ich auch. Du bist mein Mann.«
»Na wunderbar. Großartig!« Es sollte ironisch klingen, vielleicht aber war es genau die Antwort, die er sich von ihr erhofft hatte. Vielleicht wäre es das Beste, sie an den Schultern zu nehmen und an sich zu ziehen. Ihr Blick hielt ihn davon ab.
»Du sagst, dass Nomuka'la das Tabu ausgesprochen hat, Tama. Doch Nomuka'la ist tot! Es gibt keine Geister. Und es gibt keine Bannflüche. Für mich nicht! Nicht länger. Das ist Unsinn, Aberglaube! Wahnsinn ist das alles, hörst du?!«
Er merkte, dass er weiterschrie und nahm sich zusammen: »Tama, hör zu ... Nein: Wach auf!«
Langsam schüttelte sie den Kopf. »Er ist nicht tot. Nomuka'la war nie tot. Und die anderen auch nicht. Sie sind alle hier. - So wie die Haie.«
Er schloss die Augen. Aus dem Dröhnen in seinem Kopf wurden nun Schmerzen, plötzliche, heftige, hämmernde Schmerzen. Er gab es auf, sich in diese Welt hineinzuversetzen, eine Welt der Dämonen und Geister, der Geister der Toten, der Ahnen, der Vorfahren. Geister, die alles wussten, die einen bei jedem Schritt und jeder Handlung belauerten, Geister, die beschützten - oh ja, - das auch, die Insel, diese Bucht, den Stamm und die Kinder ... Verflucht viel zu tun hatten sie, die Geister.
Und auch jetzt, natürlich, auch jetzt waren sie wieder da: Sie, die Geister der Männer, die dort unten in der Bucht gestorben waren. Aus der Perlenbucht war die Bucht der Toten geworden. Nein, die Bucht der Haie ...
Als er die Augen wieder öffnete, war Tama bereits zwischen den dunklen Felsbrocken verschwunden. Sie ging schnell. Nun war sie bereits unten an der Küste. Ihr rotbraunes Kleid leuchtete zu ihm hoch.
Sehr verloren sah sie aus, wie sie dort kauerte, dicht am Wasser, reglos.
Ron spürte, wie Zärtlichkeit in ihm hochstieg, eine süße und bittere Zärtlichkeit: Zu wem betet sie? Zu den Geistern, zu Onaha, der Göttin der Schildkröten, zu ihrem Bruder G'erenge, dem Gott der Haie und des Sturms? Oder sprach sie mit den Toten?
Warum nur war sie ihm so fremd geworden?
In ohnmächtiger Wut schlug sich Ron die Faust an die Stirn.
Die Sonne, diese riesige, glühende Metallscheibe, begann hinter den Horizont zu versinken, und auch jetzt wieder war das Schauspiel von so grandioser Pracht, dass Ron den Atem anhielt.
Der Himmel - eine Kuppel aus Gold von unerträglichem Glanz. Davor gewaltige, hochgetürmte Wolkenschiffe; purpurfarben, flamingorosa und violett segelten sie langsam nach Westen.
Hoch oben, in den Senken und Tälern, die die drei stumpfen Bergkuppen der Vulkane bildeten, stürzten Wasserfälle in die Tiefe, Schleier umwehten die Baumkronen. Hier unten aber herrschte Fels: Vulkanfels in allen Formen und Farben. Manche Brocken erinnerten an vorzeitliche Götter oder Tierfiguren, andere wiederum an Säulen und Burgzinnen. Schwarz standen sie vor dem funkelnden Meer.
Über dem zirkelklaren, wie mit einem Messer geschnittenen Horizont warf die Sonne ihre rotgoldenen Lanzen und sandte eine breite Lichtstraße zur Bucht, die sich nun mit einem tiefen Rot füllte.
Rot. Purpurrot.
Rot wie Wein. Nein, wie Blut ...
Lass es, dachte er. Nicht einmal denken solltest du es. Schalt ab. Vergiss!
Er lehnte den Rücken gegen den harten Vulkanstein.
Doch auch jetzt tauchten die Bilder wieder in ihm auf. Er sah den weißen Steven der »Roi« an den beiden Felsen vor der Buchteinfahrt vorübergleiten, hörte die gedrosselten, schweren Motoren, und neben ihm schrie Nomuka'la: »Da sind sie, die Fremden! - Und du wolltest es so, Owaku ... «
Dann fiel der erste Schuss. Und dann schossen alle. Das Inferno begann ...
»Sie sind nie fortgegangen«, hatte Tama gesagt.
Eine Stimme in ihm flüsterte wieder einmal die Namen der Toten in sein Bewusstsein: Fai'Fa, Tamas Lieblingsbruder, der stolze, verschlossene Fai'Fa. Von den Haien zerrissen. So wie Nomuka'la. - Jack Willmore, mit dessen Hilfe er ein wenig Zivilisation auf die Insel bringen wollte, obwohl er ihn zuerst wie einen Gefangenen behandelt hatte, Jack, der beste Freund, den es je gab. Piero de Luca, der Pilot des Bord-Hubschraubers der »Roi«, die ganze Besatzung der »Roi de Tahiti« ... Pandelli, dem sie das ganze Grauen zu verdanken hatten und den es schon in der Luf erwischte, so dass die Monster-Haie nur noch seinen toten Körper zum Fraß bekamen.
»... du hast es so gewollt ... «
Die Fremden, die »Palangi«, starben. Es waren die Haie, die die Macht in der Bucht übernahmen.
Niemals wieder würde er mit Tama die Austernbänke dort unten abschwimmen, niemals wieder eine Perle finden, nie wieder würde ein neugeborenes Kind nach der Perle greifen können, die ihm der Vater aus der Tiefe holte. Das »Mana«, die göttliche Kraf , die alles durchdrang, war erloschen.
Das ist es, dachte Ron. Sie geben dir die Schuld. Nur dir. Deshalb wurde das Tabu ausgesprochen, daher ist für dich die Bucht mit dem Bannf uch belegt. Und vielleicht haben sie damit auch noch recht.
Die Felsen sogen sich mit Schatten voll.
Über ihm, am Weg, kollerte ein Stein. Er hörte Tama näher kommen, doch er blickte nicht hoch. Die Hände hingen zwischen seinen Knien. Er starrte hinunter auf das dunkel werdende Wasser der Bucht. Er sah nichts. Keine Dreiecksflosse. Keinen Schatten. Nur Stille.
»Komm«, bat sie. »Komm, Owaku, lass uns gehen.«
Er bewegte sich nicht. Er gab auch keine Antwort. Aber er wusste jetzt, was er tun würde, nein - was er zu tun hatte ...
Sacht und rasch wie immer kam die Dämmerung. Der Weg war nur noch ein helles Band zwischen den Büschen, doch die ganze Zeit hielt sie seine Hand, so, wie man die Hand eines Kindes hält, das beruhigt und getröstet werden will.
Auch jetzt sprachen sie kaum ein Wort. Da war nur das leise Geräusch ihrer Schritte. Was gab es auch schon zu sagen? Nichts. Aber die Berührung tat ihm gut.
Auch bei den beiden Götterbildern hielt sie nicht an. Sie ging daran vorüber, als existierten sie nicht. Und dann kam die Wegbiegung, von der man das Dorf sehen konnte.
Vor den Häusern und Hütten brannten die Feuerstellen. Rote, blinzelnde Lichtnester im Grau der Schatten. Hundegebell klang zu ihnen hoch und das Geschrei der Kinder. Die Dorfbewohner waren dabei, das Abendessen zuzubereiten.
Vor zwei Jahren hatte Ron in seinen Anwandlungen von euphorischem technischem Missionarsgeist daran gedacht, das ganze Dorf mit elektrischem Strom zu versorgen. Der Generator, den er den ganzen Weg von Tahiti bis zur Insel gebracht hatte, war schließlich potent genug. Den notwendigen Sprit hätte er bei seinen Fahrten nach Pangai oder Neiafu, den Häfen der nächsten der Tonga-Inseln, besorgen können.
Aber Tapana, Tamas Vater, hatte nur abgewinkt: »Wir wollen das nicht, Owaku.« Und warum sollten sie auch? Die Nacht zum Tag zu machen, wieso? Wer arbeitet schon bei Nacht? »Die Nacht ist zum Schlafen da oder um Liebe zu machen. - Du bist wirklich verrückt, Owaku.«
Und er hatte recht! Seit der französische Händler, der früher, vor Rons Ankunft, gelegentlich die Insel angelaufen hatte, nicht mehr erschien, blieb er der einzige, der wusste, dass Menschen auf Tonu'Ata wohnten. Auf den Seekarten war die Insel nirgends zu finden, sie lag außerhalb aller Seefahrtsrouten in einer ungünstigen Strömungszone. Vermutlich existierte sie auf irgendwelchen Satelliten-Aufnahmen, doch das wusste er nicht. In den Verwaltungen des Insel-Königreichs Tonga jedenfalls, zu dessen Gebiet sie ja eigentlich gehörte, nahm man keine Kenntnis von ihr. Und wann immer ein Linien- oder Privatpilot, den eine Sturmmeldung zum Ausweichen zwang, oder ein Yacht-Skipper, den eine falsche Peilung oder die Strömung vom Kurs brachte, die Insel zu Gesicht bekam, hatte er sie wohl für unbewohnt gehalten - so wie er selbst damals.
Damals ... er war als Schiffbrüchiger nach Tonu'Ata gekommen, hatte sich in der letzten Sekunde noch ins Schlauchboot retten können, ehe der Sturm die Reste seines Bootes an den Riffkorallen zersäbelte.
Er war glücklich geworden auf dem kleinen Eiland, das ja. Und er hatte sich vorgenommen, das Geheimnis von Tonu'Ata mit allen Mitteln und um jeden Preis zu bewahren und zu verteidigen. Es war ihm gelungen - selbst gegen die Bande, die damals mit der »Roi« in die Bucht gekommen war.
Und ausgerechnet du, dachte er nun, ausgerechnet du Idiot hattest es dir in den Kopf gesetzt, Lichterketten zwischen den Häusern aufzuhängen! Du hast das halbe Dorf verkabelt, damit auch jeder, der zufällig in irgendeiner Mistmaschine darüberkriecht, sofort erkennt: Junge, da unten ist was los!
Die Eingeborenen aber wussten es besser. Und so blieb am Ende die ganze technische Pracht auf sein eigenes Haus, die Werkstatt und die Häuser von Tamas Vater und ihrer Schwester beschränkt. - Und das war gut so ...
In dieser Nacht fand Ron keinen Schlaf. Seine Haut war schweißnass. Er spürte es, als er schwankend, halb im Bett aufgerichtet, wild um sich griff und dabei das Gleichgewicht zu verlieren drohte.
Mondlicht brach durch den Raum und verwandelte das Moskitonetz über dem Bett in ein weißes, geheimnisvolles Etwas, das ihn zu ersticken drohte.
Er schob es zur Seite.
Vom Nebenbett kam Tamas ruhiger Atem. In den Palmwedellagen des Daches huschten die Geckos, und von draußen, von der Riffkarriere, hörte er das ewige Auf und Ab der Brandung, die gegen die Korallen schlug. Auch dieses Geräusch war wie Atem. Ron hatte es immer geliebt, heute aber beruhigte es ihn nicht.
Er stand auf, ohne den Lichtschalter zu drücken, und ging in die Küche. Das bläuliche Licht zog breite, klar abgegrenzte Bahnen durch den großen Raum und ließ alle Gegenstände, Schrank, Spiegel und die Rechtecke der Bastmatten, die Tama als Schmuck an die Wand gehängt hatte, fremd, schwarz und streng erscheinen.
In der Küche holte er Ananassa aus dem Eisschrank und goss ihn aus dem Krug in sein Glas. Dann schaltete er den Weltempfänger an, der auf dem Tisch für die Frühstücks-Nachrichten bereitstand.
»Ob Sie's nun glauben oder nicht«, sagte eine glockenreine, helle Mädchenstimme auf Englisch, »aber ich gebe mich nie mit der Hälfte zufrieden, ich verlange hundert Prozent. Deshalb: Wenn schon eine Vitamin-Creme, dann nur ... « Das war's wohl nicht.
Er trug das Glas zum Fenster und blickte hinaus: Das Riff, die Palmen, das Kristallfunkeln der See ... An der linken Seite ragten dunkel die Silhouetten der beiden neuen Gebäude hoch. Solide Basaltblöcke, alle zementverfugt. Der größere beherbergte die Werkstatt mit ihren Maschinen, diente aber auch als Gerätelager für das Dorf. In den anderen würde die neue Krankenstation einziehen, wenn alles fertig war. Aber noch war das Ganze nur ein Rohbau.
Dieses Mal spürte Ron nichts von dem kindlichen Stolz, der ihn bei diesem Anblick immer befiel. Das sonderbare, beklemmende Gefühl, die Ahnung, dass sich bald irgendetwas ändern würde, blieb stärker ...
Als er am nächsten Morgen erwachte, stellte er als Erstes fest, dass der Wind fast völlig nachgelassen hatte. Nichts regte sich draußen. Selbst das stete metallene Rascheln der Palmblätter war verstummt.
Er sah auf seine Uhr. Kurz vor acht.
Tama schlief. Sie schlief wie ein Kind, das Gesicht friedlich auf den Händen. Er wollte sie nicht wecken. In der Küche wärmte er Kaffee auf, schaltete »ZAP-Tonga« an, um den Wetterbericht zu hören. Aber ZAP brachte Rockmusik und Werbung. Nicht viel besser ging es ihm mit der UKW-Station von Pangai. Sie hatten einen langatmigen Bericht über australischen Thunfischfang zu bieten. Auf Tongaisch.
Der Pazifik dort draußen war nun eine unbewegte, stumpfschimmernde, riesige Zinnscheibe. Selbst der Strand schien grau, und in Rons Schläfen meldete sich ein feiner, schabender Druck, den auch der Kaffee nicht verscheuchen konnte.
Wenn der Passat vollkommen zusammengebrochen war, konnte das nur eines bedeuten: Irgendwo baute sich eine Wetterfront auf. Ein Hurrikan? Ausgeschlossen! Davon hätte er schon gestern im Radio gehört. Hurrikane wurden schon bei ihrem Entstehen beobachtet, und dann gab es pausenlos Nachrichten über sie. Außerdem, es war März und nicht ihre Zeit, wenigstens nicht im Gebiet der Tonga-Gruppe. Gut, manchmal kamen sie auch im März, aber doch nur äußerst selten.
Er lief die Treppe hinab.
Hinter den Bananenstauden, über dem Dach von Lanai'tas Haus, hing ein dünner Rauchfaden in der Luft. Ron war erleichtert, dass sie noch nicht draußen war, um mit ihm zu reden, an diesem Morgen wollte er niemanden sehen, auch nicht Tamas Schwester.
Er warf einen kurzen Blick zu seiner Teleskop-Antenne hoch. Am Gerüst hatte er einen Luftsack angebracht, um jederzeit die Windrichtung feststellen zu können. Tama hatte ihn genäht. Er hing jetzt schlaff herab und rührte sich nicht.
Ron begann zu laufen, rannte den Sandweg hinunter zur Lagune, wich einem kleinen Hund aus, der ihn kläffend verfolgte.
An der Anlegestelle waren ein paar Männer dabei, die Ausleger-Kanus den Strand hochzuziehen. Auch ihnen schien das Wetter nicht zu gefallen.
Ron winkte Afä Tolou zu, einem der beiden Brüder Tamas. Afa überragte die anderen braunen, muskulösen Männerkörper um einen Kopf. Nun ja, auch seine Schwester war die größte der Frauen und Mädchen des Dorfes.
Ron hatte die kleine Steinmole erreicht, die er im vorigen Jahr mühsam, Basaltbrocken nach Basaltbrocken, in die Lagune hinausgebaut hatte. Da lag sein Beiboot. Es lag völlig still. Die Schale war flach, weiß und ähnelte einer kleinen Badewanne.
Er warf den Johnson an, der Außenborder knatterte auf und trieb das Boot mit schäumender Heckwelle auf die »Paradies« zu, die dort unten, in der Mitte der Lagune, verankert war. Ihr leuchtendes Weiß wirkte vor all dem Grau fast unwirklich.
Er liebte dieses Schiff! Liebte es, wie nur ein Mann sein Boot lieben kann. Er liebte es nicht allein wegen der Vollkommenheit der Linie und der hervorragenden Fahreigenschaften, er liebte es auch, wie ein Gefangener den Gefängnisschlüssel liebt. Die »Paradies« war sein Symbol der Freiheit. Tonu'Ata, die vergessene Insel, mochte hundertmal seine Heimat geworden sein, aber ihr Geheimnis, ihre Verlorenheit, die Tatsache, dass sie auf keiner Karte verzeichnet war, umschloss sie wie die Wasserwüste. Die »Paradies« gab Ron die Möglichkeit, Tonu'Ata zu versorgen - aber auch jederzeit von hier auszubrechen.
Er machte die Leine an der Heckleiter fest und kletterte hoch. Am rechten der beiden Leiterholme hatten sich schon wieder Muscheln angesetzt. Die mussten weg. Aber das hatte Zeit.
Und jetzt, als er oben stand, beide Hände aufs Schanzdeck gestützt, und den vertrauten Geruch in sich einsog, den Geruch des Ozeans und der Mangroven, die dort drüben wuchsen, jetzt wusste Ron Edwards glasklar, dass es gut war, was er vorhatte, und dass es für ihn keinen anderen Weg mehr gab als diesen ...
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Steinerne Furt, 86167 Augsburg
»Ich gehe«, sagte sie.
»Und ich komme mit, Tama.«
Sie sah ihn nur an. Es wurde ein langer Blick, den er nicht deuten konnte. In den dunklen, mandelförmigen Augen stand etwas, von dem er nicht wusste, was es war - Schmerz, Zorn oder beides zugleich.
Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich um.
Sie nahm den Sandweg, der am Garten und am Haus ihrer Schwester vorbei zum Berg führte.
Ron folgte.
Der Wind zerrte an ihrem Kleid, und als sie höher kamen, ließ er Tamas dunkle Haare fliegen. Während der ganzen Zeit warf sie nicht einen einzigen Blick zurück, ging einfach voraus, bergan, mit dieser unglaublich fließenden Geschmeidigkeit, die ihn schon immer fasziniert hatte. Sie war ihm so fremd und entrückt wie nie.
Am Hügeleinschnitt, wo mannshoher Farn wuchs und der Regenwald begann und wo man bereits die Linien der Bucht erkennen konnte, waren zwei Götterköpfe in den Basalt gehauen. Im Grunde waren sie nicht viel mehr als dreieckige Formen, die gerade noch Nase, Kinn und Schädel erkennen ließen. Sand, den der Wind herantrug, und auch die Berührung ungezählter Hände hatten sie glatt geschliffen.
Zur Zeit von Rons Ankun auf Tonu'Ata hatten hier stets kunstvolle Geschenke gelegen, geflochten aus verschiedenen Pflanzen und geschmückt mit rotem Hibiskus und dem zarten Weiß und Gelb der Frangipani-Blüten. Doch nach dem Tod Nomuka'las, des Medizinmannes des Stammes, waren die Göttergaben verschwunden.
Nun aber - nun leuchteten wieder Blumenornamente vor dem dunklen Lavagrund. Und sie waren mit Vogelfedern geschmückt!
So, als sei der Alte zurückgekehrt, dachte Ron.
Tamas braunrotes Kleid leuchtete schon unten zwischen den Farnen hindurch. Sie hatte den Hang über der Bucht erreicht. Sie wartete auf ihn und blickte ihm entgegen. Es war ein Blick wie zuvor - ein Blick wie eine Schranke.
»Geh nicht weiter, Owaku ... You stay ... Bleib hier.«
Sie deutete auf den Stein, der unterhalb einer kleinen Felswand lag, und sprach weiter englisch: »Yes. Sit down, Owaku.«
Sit down, setz dich! - Es war eine Art Schock, der Schock des totalen Nichtbegreifens. Ron hatte die Unterlippe zwischen die Zähne gezogen, und als er darauf iss, spürte er es gar nicht. Zorn kroch in ihm hoch, Zorn gegen diesen ewigen, idiotischen Aberglauben, gegen die Ignoranz, die die Tatsachen nicht hinnehmen wollte, aber auch Zorn gegen sich selbst und die Ohnmacht, die er spürte.
Du darfst nicht in die Bucht, Owaku, you know ... Nie mehr, Owaku ... Die Bucht ist tabu, Owaku ...
Er hatte es hingenommen, zu lange wahrscheinlich. Er hatte sich gesagt: Lass sie, sie wissen es nicht besser. Sie haben nun mal ihre Geister, ihre Götter, ihre Dämonen, und die sagen ihnen, was tabu ist und was nicht. Zerbrich dir nicht den Kopf darüber, und wenn Tapana, ihr Chef, sagt: »Es ist so, Owaku«, dann ist es auch so. Die Bucht ist tabu, Owaku. - »Jawohl, Tapana.«
Das ist die korrekte Antwort.
Aber nun kam auch Tama mit diesem Unsinn, nun war es auch für sie selbstverständlich geworden. »You must understand, Owaku ... «
You must understand. - Du musst verstehen.
Und da hatte er sich nun zwei Jahre hindurch abgemüht, ihr nicht nur Englisch beizubringen, sondern ihr auch eine andere Welt zu erschließen, in der es weder Gespenster noch Aberglauben gab. Er hatte daran geglaubt, es erreicht zu haben. Und trotzdem - nie war sie ihm so fremd gewesen, nicht einmal in den ersten Tagen, als sie zu ihm in die Hütte kam und die ganze Verständigung zwischen ihnen darin bestand, sich anzulächeln, anzufassen und Dinge in den Sand zu zeichnen, mit dem Finger darauf zu deuten und sie zu benennen.
Hatte sie alles vergessen? -
You understand, Owaku ...
Das Rauschen des Wassers, das dort unten gegen den schwarzen Fels schlug, schien ihm noch lauter und stärker zu werden. Es war, als dröhne es in seinem Kopf.
»Du bist meine Frau, Tama«, hörte er sich sagen. »Und das war immer unsere Bucht. Deine und meine.«
Sie gab keine Antwort. Ihre Augen schienen fast schwarz. Ein kühles, hartes Schwarz.
»Gut!« Nun schrie er. »Die Bucht ist tabu! Für mich allein. Und wenn ich mich nicht daran halte? Was dann? Dann kommt irgendeiner und knallt mir seinen Knüppel aufs Hirn. Wirst du dann zuschauen? Schaffst du das, Tama?«
»Nein.« Ihr Gesicht war glatt, ausdruckslos und ruhig. »Wenn du stirbst, Owaku, sterbe ich auch. Du bist mein Mann.«
»Na wunderbar. Großartig!« Es sollte ironisch klingen, vielleicht aber war es genau die Antwort, die er sich von ihr erhofft hatte. Vielleicht wäre es das Beste, sie an den Schultern zu nehmen und an sich zu ziehen. Ihr Blick hielt ihn davon ab.
»Du sagst, dass Nomuka'la das Tabu ausgesprochen hat, Tama. Doch Nomuka'la ist tot! Es gibt keine Geister. Und es gibt keine Bannflüche. Für mich nicht! Nicht länger. Das ist Unsinn, Aberglaube! Wahnsinn ist das alles, hörst du?!«
Er merkte, dass er weiterschrie und nahm sich zusammen: »Tama, hör zu ... Nein: Wach auf!«
Langsam schüttelte sie den Kopf. »Er ist nicht tot. Nomuka'la war nie tot. Und die anderen auch nicht. Sie sind alle hier. - So wie die Haie.«
Er schloss die Augen. Aus dem Dröhnen in seinem Kopf wurden nun Schmerzen, plötzliche, heftige, hämmernde Schmerzen. Er gab es auf, sich in diese Welt hineinzuversetzen, eine Welt der Dämonen und Geister, der Geister der Toten, der Ahnen, der Vorfahren. Geister, die alles wussten, die einen bei jedem Schritt und jeder Handlung belauerten, Geister, die beschützten - oh ja, - das auch, die Insel, diese Bucht, den Stamm und die Kinder ... Verflucht viel zu tun hatten sie, die Geister.
Und auch jetzt, natürlich, auch jetzt waren sie wieder da: Sie, die Geister der Männer, die dort unten in der Bucht gestorben waren. Aus der Perlenbucht war die Bucht der Toten geworden. Nein, die Bucht der Haie ...
Als er die Augen wieder öffnete, war Tama bereits zwischen den dunklen Felsbrocken verschwunden. Sie ging schnell. Nun war sie bereits unten an der Küste. Ihr rotbraunes Kleid leuchtete zu ihm hoch.
Sehr verloren sah sie aus, wie sie dort kauerte, dicht am Wasser, reglos.
Ron spürte, wie Zärtlichkeit in ihm hochstieg, eine süße und bittere Zärtlichkeit: Zu wem betet sie? Zu den Geistern, zu Onaha, der Göttin der Schildkröten, zu ihrem Bruder G'erenge, dem Gott der Haie und des Sturms? Oder sprach sie mit den Toten?
Warum nur war sie ihm so fremd geworden?
In ohnmächtiger Wut schlug sich Ron die Faust an die Stirn.
Die Sonne, diese riesige, glühende Metallscheibe, begann hinter den Horizont zu versinken, und auch jetzt wieder war das Schauspiel von so grandioser Pracht, dass Ron den Atem anhielt.
Der Himmel - eine Kuppel aus Gold von unerträglichem Glanz. Davor gewaltige, hochgetürmte Wolkenschiffe; purpurfarben, flamingorosa und violett segelten sie langsam nach Westen.
Hoch oben, in den Senken und Tälern, die die drei stumpfen Bergkuppen der Vulkane bildeten, stürzten Wasserfälle in die Tiefe, Schleier umwehten die Baumkronen. Hier unten aber herrschte Fels: Vulkanfels in allen Formen und Farben. Manche Brocken erinnerten an vorzeitliche Götter oder Tierfiguren, andere wiederum an Säulen und Burgzinnen. Schwarz standen sie vor dem funkelnden Meer.
Über dem zirkelklaren, wie mit einem Messer geschnittenen Horizont warf die Sonne ihre rotgoldenen Lanzen und sandte eine breite Lichtstraße zur Bucht, die sich nun mit einem tiefen Rot füllte.
Rot. Purpurrot.
Rot wie Wein. Nein, wie Blut ...
Lass es, dachte er. Nicht einmal denken solltest du es. Schalt ab. Vergiss!
Er lehnte den Rücken gegen den harten Vulkanstein.
Doch auch jetzt tauchten die Bilder wieder in ihm auf. Er sah den weißen Steven der »Roi« an den beiden Felsen vor der Buchteinfahrt vorübergleiten, hörte die gedrosselten, schweren Motoren, und neben ihm schrie Nomuka'la: »Da sind sie, die Fremden! - Und du wolltest es so, Owaku ... «
Dann fiel der erste Schuss. Und dann schossen alle. Das Inferno begann ...
»Sie sind nie fortgegangen«, hatte Tama gesagt.
Eine Stimme in ihm flüsterte wieder einmal die Namen der Toten in sein Bewusstsein: Fai'Fa, Tamas Lieblingsbruder, der stolze, verschlossene Fai'Fa. Von den Haien zerrissen. So wie Nomuka'la. - Jack Willmore, mit dessen Hilfe er ein wenig Zivilisation auf die Insel bringen wollte, obwohl er ihn zuerst wie einen Gefangenen behandelt hatte, Jack, der beste Freund, den es je gab. Piero de Luca, der Pilot des Bord-Hubschraubers der »Roi«, die ganze Besatzung der »Roi de Tahiti« ... Pandelli, dem sie das ganze Grauen zu verdanken hatten und den es schon in der Luf erwischte, so dass die Monster-Haie nur noch seinen toten Körper zum Fraß bekamen.
»... du hast es so gewollt ... «
Die Fremden, die »Palangi«, starben. Es waren die Haie, die die Macht in der Bucht übernahmen.
Niemals wieder würde er mit Tama die Austernbänke dort unten abschwimmen, niemals wieder eine Perle finden, nie wieder würde ein neugeborenes Kind nach der Perle greifen können, die ihm der Vater aus der Tiefe holte. Das »Mana«, die göttliche Kraf , die alles durchdrang, war erloschen.
Das ist es, dachte Ron. Sie geben dir die Schuld. Nur dir. Deshalb wurde das Tabu ausgesprochen, daher ist für dich die Bucht mit dem Bannf uch belegt. Und vielleicht haben sie damit auch noch recht.
Die Felsen sogen sich mit Schatten voll.
Über ihm, am Weg, kollerte ein Stein. Er hörte Tama näher kommen, doch er blickte nicht hoch. Die Hände hingen zwischen seinen Knien. Er starrte hinunter auf das dunkel werdende Wasser der Bucht. Er sah nichts. Keine Dreiecksflosse. Keinen Schatten. Nur Stille.
»Komm«, bat sie. »Komm, Owaku, lass uns gehen.«
Er bewegte sich nicht. Er gab auch keine Antwort. Aber er wusste jetzt, was er tun würde, nein - was er zu tun hatte ...
Sacht und rasch wie immer kam die Dämmerung. Der Weg war nur noch ein helles Band zwischen den Büschen, doch die ganze Zeit hielt sie seine Hand, so, wie man die Hand eines Kindes hält, das beruhigt und getröstet werden will.
Auch jetzt sprachen sie kaum ein Wort. Da war nur das leise Geräusch ihrer Schritte. Was gab es auch schon zu sagen? Nichts. Aber die Berührung tat ihm gut.
Auch bei den beiden Götterbildern hielt sie nicht an. Sie ging daran vorüber, als existierten sie nicht. Und dann kam die Wegbiegung, von der man das Dorf sehen konnte.
Vor den Häusern und Hütten brannten die Feuerstellen. Rote, blinzelnde Lichtnester im Grau der Schatten. Hundegebell klang zu ihnen hoch und das Geschrei der Kinder. Die Dorfbewohner waren dabei, das Abendessen zuzubereiten.
Vor zwei Jahren hatte Ron in seinen Anwandlungen von euphorischem technischem Missionarsgeist daran gedacht, das ganze Dorf mit elektrischem Strom zu versorgen. Der Generator, den er den ganzen Weg von Tahiti bis zur Insel gebracht hatte, war schließlich potent genug. Den notwendigen Sprit hätte er bei seinen Fahrten nach Pangai oder Neiafu, den Häfen der nächsten der Tonga-Inseln, besorgen können.
Aber Tapana, Tamas Vater, hatte nur abgewinkt: »Wir wollen das nicht, Owaku.« Und warum sollten sie auch? Die Nacht zum Tag zu machen, wieso? Wer arbeitet schon bei Nacht? »Die Nacht ist zum Schlafen da oder um Liebe zu machen. - Du bist wirklich verrückt, Owaku.«
Und er hatte recht! Seit der französische Händler, der früher, vor Rons Ankunft, gelegentlich die Insel angelaufen hatte, nicht mehr erschien, blieb er der einzige, der wusste, dass Menschen auf Tonu'Ata wohnten. Auf den Seekarten war die Insel nirgends zu finden, sie lag außerhalb aller Seefahrtsrouten in einer ungünstigen Strömungszone. Vermutlich existierte sie auf irgendwelchen Satelliten-Aufnahmen, doch das wusste er nicht. In den Verwaltungen des Insel-Königreichs Tonga jedenfalls, zu dessen Gebiet sie ja eigentlich gehörte, nahm man keine Kenntnis von ihr. Und wann immer ein Linien- oder Privatpilot, den eine Sturmmeldung zum Ausweichen zwang, oder ein Yacht-Skipper, den eine falsche Peilung oder die Strömung vom Kurs brachte, die Insel zu Gesicht bekam, hatte er sie wohl für unbewohnt gehalten - so wie er selbst damals.
Damals ... er war als Schiffbrüchiger nach Tonu'Ata gekommen, hatte sich in der letzten Sekunde noch ins Schlauchboot retten können, ehe der Sturm die Reste seines Bootes an den Riffkorallen zersäbelte.
Er war glücklich geworden auf dem kleinen Eiland, das ja. Und er hatte sich vorgenommen, das Geheimnis von Tonu'Ata mit allen Mitteln und um jeden Preis zu bewahren und zu verteidigen. Es war ihm gelungen - selbst gegen die Bande, die damals mit der »Roi« in die Bucht gekommen war.
Und ausgerechnet du, dachte er nun, ausgerechnet du Idiot hattest es dir in den Kopf gesetzt, Lichterketten zwischen den Häusern aufzuhängen! Du hast das halbe Dorf verkabelt, damit auch jeder, der zufällig in irgendeiner Mistmaschine darüberkriecht, sofort erkennt: Junge, da unten ist was los!
Die Eingeborenen aber wussten es besser. Und so blieb am Ende die ganze technische Pracht auf sein eigenes Haus, die Werkstatt und die Häuser von Tamas Vater und ihrer Schwester beschränkt. - Und das war gut so ...
In dieser Nacht fand Ron keinen Schlaf. Seine Haut war schweißnass. Er spürte es, als er schwankend, halb im Bett aufgerichtet, wild um sich griff und dabei das Gleichgewicht zu verlieren drohte.
Mondlicht brach durch den Raum und verwandelte das Moskitonetz über dem Bett in ein weißes, geheimnisvolles Etwas, das ihn zu ersticken drohte.
Er schob es zur Seite.
Vom Nebenbett kam Tamas ruhiger Atem. In den Palmwedellagen des Daches huschten die Geckos, und von draußen, von der Riffkarriere, hörte er das ewige Auf und Ab der Brandung, die gegen die Korallen schlug. Auch dieses Geräusch war wie Atem. Ron hatte es immer geliebt, heute aber beruhigte es ihn nicht.
Er stand auf, ohne den Lichtschalter zu drücken, und ging in die Küche. Das bläuliche Licht zog breite, klar abgegrenzte Bahnen durch den großen Raum und ließ alle Gegenstände, Schrank, Spiegel und die Rechtecke der Bastmatten, die Tama als Schmuck an die Wand gehängt hatte, fremd, schwarz und streng erscheinen.
In der Küche holte er Ananassa aus dem Eisschrank und goss ihn aus dem Krug in sein Glas. Dann schaltete er den Weltempfänger an, der auf dem Tisch für die Frühstücks-Nachrichten bereitstand.
»Ob Sie's nun glauben oder nicht«, sagte eine glockenreine, helle Mädchenstimme auf Englisch, »aber ich gebe mich nie mit der Hälfte zufrieden, ich verlange hundert Prozent. Deshalb: Wenn schon eine Vitamin-Creme, dann nur ... « Das war's wohl nicht.
Er trug das Glas zum Fenster und blickte hinaus: Das Riff, die Palmen, das Kristallfunkeln der See ... An der linken Seite ragten dunkel die Silhouetten der beiden neuen Gebäude hoch. Solide Basaltblöcke, alle zementverfugt. Der größere beherbergte die Werkstatt mit ihren Maschinen, diente aber auch als Gerätelager für das Dorf. In den anderen würde die neue Krankenstation einziehen, wenn alles fertig war. Aber noch war das Ganze nur ein Rohbau.
Dieses Mal spürte Ron nichts von dem kindlichen Stolz, der ihn bei diesem Anblick immer befiel. Das sonderbare, beklemmende Gefühl, die Ahnung, dass sich bald irgendetwas ändern würde, blieb stärker ...
Als er am nächsten Morgen erwachte, stellte er als Erstes fest, dass der Wind fast völlig nachgelassen hatte. Nichts regte sich draußen. Selbst das stete metallene Rascheln der Palmblätter war verstummt.
Er sah auf seine Uhr. Kurz vor acht.
Tama schlief. Sie schlief wie ein Kind, das Gesicht friedlich auf den Händen. Er wollte sie nicht wecken. In der Küche wärmte er Kaffee auf, schaltete »ZAP-Tonga« an, um den Wetterbericht zu hören. Aber ZAP brachte Rockmusik und Werbung. Nicht viel besser ging es ihm mit der UKW-Station von Pangai. Sie hatten einen langatmigen Bericht über australischen Thunfischfang zu bieten. Auf Tongaisch.
Der Pazifik dort draußen war nun eine unbewegte, stumpfschimmernde, riesige Zinnscheibe. Selbst der Strand schien grau, und in Rons Schläfen meldete sich ein feiner, schabender Druck, den auch der Kaffee nicht verscheuchen konnte.
Wenn der Passat vollkommen zusammengebrochen war, konnte das nur eines bedeuten: Irgendwo baute sich eine Wetterfront auf. Ein Hurrikan? Ausgeschlossen! Davon hätte er schon gestern im Radio gehört. Hurrikane wurden schon bei ihrem Entstehen beobachtet, und dann gab es pausenlos Nachrichten über sie. Außerdem, es war März und nicht ihre Zeit, wenigstens nicht im Gebiet der Tonga-Gruppe. Gut, manchmal kamen sie auch im März, aber doch nur äußerst selten.
Er lief die Treppe hinab.
Hinter den Bananenstauden, über dem Dach von Lanai'tas Haus, hing ein dünner Rauchfaden in der Luft. Ron war erleichtert, dass sie noch nicht draußen war, um mit ihm zu reden, an diesem Morgen wollte er niemanden sehen, auch nicht Tamas Schwester.
Er warf einen kurzen Blick zu seiner Teleskop-Antenne hoch. Am Gerüst hatte er einen Luftsack angebracht, um jederzeit die Windrichtung feststellen zu können. Tama hatte ihn genäht. Er hing jetzt schlaff herab und rührte sich nicht.
Ron begann zu laufen, rannte den Sandweg hinunter zur Lagune, wich einem kleinen Hund aus, der ihn kläffend verfolgte.
An der Anlegestelle waren ein paar Männer dabei, die Ausleger-Kanus den Strand hochzuziehen. Auch ihnen schien das Wetter nicht zu gefallen.
Ron winkte Afä Tolou zu, einem der beiden Brüder Tamas. Afa überragte die anderen braunen, muskulösen Männerkörper um einen Kopf. Nun ja, auch seine Schwester war die größte der Frauen und Mädchen des Dorfes.
Ron hatte die kleine Steinmole erreicht, die er im vorigen Jahr mühsam, Basaltbrocken nach Basaltbrocken, in die Lagune hinausgebaut hatte. Da lag sein Beiboot. Es lag völlig still. Die Schale war flach, weiß und ähnelte einer kleinen Badewanne.
Er warf den Johnson an, der Außenborder knatterte auf und trieb das Boot mit schäumender Heckwelle auf die »Paradies« zu, die dort unten, in der Mitte der Lagune, verankert war. Ihr leuchtendes Weiß wirkte vor all dem Grau fast unwirklich.
Er liebte dieses Schiff! Liebte es, wie nur ein Mann sein Boot lieben kann. Er liebte es nicht allein wegen der Vollkommenheit der Linie und der hervorragenden Fahreigenschaften, er liebte es auch, wie ein Gefangener den Gefängnisschlüssel liebt. Die »Paradies« war sein Symbol der Freiheit. Tonu'Ata, die vergessene Insel, mochte hundertmal seine Heimat geworden sein, aber ihr Geheimnis, ihre Verlorenheit, die Tatsache, dass sie auf keiner Karte verzeichnet war, umschloss sie wie die Wasserwüste. Die »Paradies« gab Ron die Möglichkeit, Tonu'Ata zu versorgen - aber auch jederzeit von hier auszubrechen.
Er machte die Leine an der Heckleiter fest und kletterte hoch. Am rechten der beiden Leiterholme hatten sich schon wieder Muscheln angesetzt. Die mussten weg. Aber das hatte Zeit.
Und jetzt, als er oben stand, beide Hände aufs Schanzdeck gestützt, und den vertrauten Geruch in sich einsog, den Geruch des Ozeans und der Mangroven, die dort drüben wuchsen, jetzt wusste Ron Edwards glasklar, dass es gut war, was er vorhatte, und dass es für ihn keinen anderen Weg mehr gab als diesen ...
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von Heinz G. Konsalik
Heinz G. Konsalik, 1921 in Köln geboren, begann schon früh zuschreiben. Der Durchbruch kam 1958 mit der Veröffentlichung des Romans Der Arzt von Stalingrad. Er wurde einer der erfolgreichsten Autoren der Gegenwart und hat weit mehr als hundert Bücher geschrieben. Alle Romane Konsaliks wurden Bestseller, in viele Sprachen übersetzt und einige davon auch verfi lmt. Die Weltaufl age beträgt über 80 Millionen Exemplare. Heinz G. Konsalik verstarb im Herbst 1999.
Bibliographische Angaben
- Autor: Heinz G. Konsalik
- 2011, 1, 400 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868008721
- ISBN-13: 9783868008722
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