Das Tagebuch der Maria Meinhof
Renate Meinhof ist Redakteurin der SZ. Sie geht auf Spurensuche in Pommern, wo ihre Großeltern den Einmarsch der Roten Armee durchlitten haben. Das Tagebuch ihrer Großmutter 1945/46 schildert unvorstellbares Grauen und die Suche nach Menschen, die den Krieg überlebt haben.
Renate Meinhof ist Redakteurin der SZ. Sie geht auf Spurensuche in Pommern, wo ihre Großeltern den Einmarsch der Roten Armee durchlitten haben. Das Tagebuch ihrer Großmutter 1945/46 schildert unvorstellbares Grauen und die Suche nach Menschen, die den Krieg überlebt haben.
Knapp 58 Jahre später entdeckt ihre Enkeltochter Renate Meinhof, Redakteurin der Süddeutschen Zeitung, diese Aufzeichnungen im Hause ihres Vaters wieder. Sie liest dieses "Tagebuch aus schwerer Zeit", wie Maria Meinhof es genannt hat, das in großer Nüchternheit davon berichtet, wie Hitlers Verbrechen auf die Deutschen zurückschlugen und die Rote Armee den Ducherowern Schrecken brachte, den sie nie vergaßen: "Am Nachmittag hörten wir plötzlich ein furchtbares Kindergeschrei an unserem Teich. Frau Schöttler war in ihrer Verzweiflung, die Russen verfolgten sie, ins Wasser gegangen und rief Ernst, der sie retten wollte, zu: 'Werfen Sie mir meine Kinder nach!' Nach vieler Mühe konnte Frau Sch. gerettet werden."
Renate Meinhof hat sich aufgemacht, die Schicksalslinien nachzuziehen, die das Tagebuch ihrer Großmutter andeutet. Entstanden ist so ein unvergleichliches Buch: Es enthält Maria Meinhofs erschütterndes Tagebuch und berichtet davon, wie die Menschen von Ducherow versuchten, mit dem weiterzuleben, was sich für immer in ihr Gedächtnis eingegraben hatte.
Das Tagebuch der Maria Meinhof von Renate Meinhof
LESEPROBE
»Ihr Hurensöhne, das Gericht komme über euch«
Anna Boysen
Um überAnna Boysen zu schreiben, bedarf es keiner großen Recherche. Nur meineErinnerung muss ich bemühen, Anna Boysen war meine Tante. Jedenfalls hatte ichnichts dagegen, sie als solche zu bezeichnen. Jedenfalls in guten Zeiten.
In gutenZeiten kam sie fast täglich in unser Haus. Sie hatte zwar eine eigene Wohnungam Ort, aber die meiste Zeit des Tages verbrachte sie bei uns, im Pfarrhaus. AmVormittag, so gegen neun, stand sie vor der Tür und ging erst spät, wenn alleArbeit getan war. Sie half meiner Mutter im Haushalt. Sie kochte, bügelte,pflückte Johannisbeeren im Sommer, kochte Marmelade daraus, bezog Betten fürdie Gäste. Es kamen viele Gäste. In guten Zeiten haben wir, wenn ich aus der Schulekam, zusammen Kaffee getrunken, »guten Kaffee«, also Westkaffee. Wir hattenschon eine Kaffeemaschine, was immerhin etwas Besonderes war, Tante Annchenaber mochte diese Maschine nicht. Sie mochte Flohkaffee, also »Kaffeetürkisch«.
Wenn ichkam, war schon alles vorbereitet: Der Tauchsieder hatte das Wasser zum Kochengebracht, und in zwei Bechern warteten Häufchen duftenden Pulvers. Es warensparsame Häufchen. Erst wenn ich sagte: »Komm, Tante Annchen, nun nimm dir dochnoch einen Löffel«, nahm sie sich noch einen Löffel. Als wartete sie auf diesesSignal. »Aus dem Kaffeesatz haben wir in Ducherow noch Kuchen gebacken«, sagtesie, aber das sagte sie nicht jeden Tag.
Dann gosssie Wasser auf, einen Schwapp Milch dazu, der die Flöhe zum Tanzen brachte.Sie trank mit gierigen Schlucken. Sie verbrannte sich dabei. Hatte Tränen inden Augen, nahm ein Taschentuch. Sie muss im Mund eine Hornhaut haben, dachteich, dass sie das aushält.
DieseHastigkeit war es, die unserem Ritual etwas Verbotenes anheftete, das ihmnicht zukam. Die Hastigkeit setzte dem Genuss, noch ehe er begonnen hatte, eineGrenze: Morgens eine Tasse, mittags eine, das muss genug sein, alles andereist Verschwendung. Das las ich dahinter.
So sehe ichsie: Im Sessel sitzen, den linken Arm auf die Lehne gestützt, um die rechteHüfte zu entlasten. Die hatte es mit einem verkürzten Bein zu tun. Ein langes undein kurzes Bein. Das Schwanken im Gang, diese Ungleichheit, verlieh der ganzenPerson etwas Verwirrendes. Vielleicht auch etwas Bedrohliches.
In gutenZeiten sah man sie leuchten vor Glück, wenn ein Westpaket kam, und Wilhelm oderRudi (sie sagte: Onkel Wilhelm und Onkel Rudi), die Brüder meines Vaters,hatten ihr Seifenpulver geschickt. Ihr, der Pflegeschwester, Seifenpulvergeschickt. Sie sagte immer »Seifenpulver«, wie meine Großmutter; niemalssprach sie von »Waschpulver«.
Wäschewaschenwar neben dem Kaffeetrinken ihre zweite Leidenschaft. Selbst da noch, als siedick und unbeweglich in stinkenden blutigen Laken saß, die Handgelenke mitBandagen umwickelt, hatte sie stets Eingeweichtes neben sich stehen, auf demBoden, in Schüsseln voll geflockter Lauge. Mit der einstigen Leidenschafthatte das nichts mehr zu tun.
Es war, wasmeine Mutter als »Kütern« zu bezeichnen pflegte. Nichts Halbes, nichts Ganzes.Tante Annchen, so nannten wir Kinder sie, küterte mit der Wäsche nur noch soherum. Eigentlich waren ihre letzten Lebensjahre eine einzige Küterei.
Als wirihre Vorratskammer räumten, nach dem Tod, nach der Wende, die auch dasWestseifenpulver in den Osten brachte, war da ein ganzes Seifenpulverlager. Bisunter die Decke hatte sie die Kartons gestapelt. Ein Luftzug aus dem Flurwirbelte die Düfte durcheinander, die sich durchbissen bis in die letztenWinkel des Hauses, als die Tür geöffnet wurde. Sie öffnete mit einem Seufzen.Es war kein Knarren, kein Quietschen. Es war Seufzen. Eine hellgrüneAllerweltskammertür, durch die man Tante Annchens Verschwendungstempel betrat, öffnetemit Seufzen.
Da fühltenwir uns wie Eindringlinge.
Sie lagschon lange unter der Erde, da hat die ganze Familie noch mit Tante AnnchensSeifenpulver Wäsche gewaschen.
Anna Golembowski
Annuschka
Nuschka
Annchen
Anna Boysen
Tante Annchen
( )
© 2005 by Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg
- Autor: Renate Meinhof
- 2005, 189 Seiten, mit Abbildungen, Maße: 12,5 x 19,3 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Hoffmann und Campe
- ISBN-10: 3455094252
- ISBN-13: 9783455094251
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
3 von 5 Sternen
5 Sterne 0Schreiben Sie einen Kommentar zu "Das Tagebuch der Maria Meinhof".
Kommentar verfassen